Bis hierher haben wir auf der Grundlage unserer empirischen Daten dargestellt, wie ProfessorInnen im deutschen Hochschulsystem dessen Reformen deuten und mit diesen umgehen. Diese Daten aus den Jahren 2015 und 2016 sind zwar bereits wieder ein paar Jahre alt. Es dürften sich aber seitdem keine ganz umwälzenden Veränderungen vollzogen haben. Es wurden keine völlig neuen Reformmaßnahmen oder -korrekturen auf den Weg gebracht; und auch andere Rahmenbedingungen haben sich nicht grundlegend geändert. Das deutsche Hochschulsystem ist, allein schon aufgrund des Föderalismus, generell eines, in dem Wandel eher träge verläuft und revolutionäre Umgestaltungen sehr unwahrscheinlich sind. Dennoch lohnt sich die Frage, wie es denn weitergehen könnte.

Dieser Frage wenden wir uns im vorliegenden Kapitel zu – was auf der Grundlage unserer Daten zwar nur spekulativ geschehen, aber für zukunftsgerichtete Gestaltungsüberlegungen dennoch ein Ausgangspunkt sein kann. In einem ersten Schritt stellen wir Überlegungen dazu an, wie sich die sieben von uns ermittelten Typen des Umgangs mit den Reformen quantitativ in der Gesamtheit aller ProfessorInnen verteilen, und wie sich diese Verteilung im weiteren Verlauf durch typische Trajektorien verändern könnte. In einem zweiten Schritt stellen wir darauf aufbauend drei Szenarien der künftigen Entwicklung vor, die als Ergebnis sehr unterschiedliche künftige Ausgestaltungen des deutschen Hochschulsystems zur Folge hätten.

6.1 Typenverteilung – gegenwärtig und zukünftig

Die qualitative Anlage unserer empirischen Untersuchung lässt keine gesicherten Schlüsse darauf zu, wie häufig die sieben von uns unterschiedenen Typen des Umgangs mit den Reformen gegenwärtig – was den Zeitraum seit 2015 meint – vorkommen.Footnote 1 Und selbst wenn wir diese quantitative Verteilung wüssten, ließe diese sich nicht einfach in die Zukunft extrapolieren. Weil aber die Beantwortung beider Fragen insbesondere dafür wichtig ist, wie die weitere Gestaltung der Reformen aussehen sollte, wollen wir hier Vermutungen dazu zur Diskussion stellen.

Unsere einleitend in Kap. 1 genannten drei Gründe, warum eine differenzierte Typologie, die unterschiedliche Reformerfahrungen und Umgangsweisen mit den Reformen sortiert, wichtig ist, sind bis hierher, wie wir hoffen, plausibel geworden. Es wird, um es plakativ auf den Punkt zu bringen, der vielschichtigen empirischen Wirklichkeit des Reformgeschehens in keiner Weise gerecht, beispielsweise Wehrhafte und SympathisantInnen oder wohl gar alle sieben Typen in einen Topf zu werfen. Nichts anderes aber bleibt einem übrig, wenn man nicht über die von uns erarbeiteten typologischen Unterscheidungen – oder bessere andere – verfügt. Ohne sie kann man nur eine sozialwissenschaftlich untaugliche Analyse des Untersuchungsgegenstands vorlegen; und ein angemessenes Verständnis des hochschulpolitischen Gestaltungsgegenstands – ‚von oben‘ wie ‚von unten‘ betrachtet – kann aus solchen Simplifikationen ebenfalls nicht hervorgehen. Anders gesagt: Sozialwissenschaftlich wie hochschulpolitisch kommt man fortan nur um den Preis des Dilletantismus an einer differenzierten Betrachtungsweise vorbei.

Wir müssen zwar nun den gesicherten Boden unserer qualitativen Rekonstruktion der Typen verlassen, um unsere Analyse zumindest als informierten Ausblick noch einen Schritt weiter zu treiben. Da die Fragen der weiteren Gestaltung der Reformen aber hochschulpolitisch nach wie vor drängen, sollen die folgenden Überlegungen zur Strukturierung der zu führenden Diskussionen und als Richtungsweisung für künftige empirische Untersuchungen dienen.

Gegenwärtige Verteilung der Typen

Fragt man also danach, welcher der sieben Typen wie häufig vorkommt, ist zunächst einmal – völlig unabhängig vom Gegenstandsbereich – die Faustformel hilfreich, dass die Extreme der Merkmalsausprägungen, auch in ihrer Summe, seltener vorkommen als mittlere Ausprägungen. Zwar gibt es immer wieder in die Extreme gehende Verteilungen – doch solange man keinen spezifischen Grund dafür hat, warum sie bei dem betrachteten Phänomen vorliegen könnten, sollte man erst einmal davon ausgehen, dass die mittleren Ausprägungen überwiegen. Das hieße hier: Opfer und ProfiteurInnen kämen, auch aufaddiert, weniger oft vor als die Summe der anderen fünf Typen.

Ein Blick auf das deutsche Hochschulsystem bestärkt diese Annahme mit gegenstandsspezifischen Argumenten weiter. Im internationalen Vergleich ist das deutsche Hochschulsystem, was auch für andere gesellschaftliche Sektoren gilt, als ein im doppelten Sinne träges einzustufen:Footnote 2

  • Erstens gibt es keine schnellen weitreichenden Veränderungen – anders als z. B. in Großbritannien. Auch ein Hin-und-her-springen zwischen Extremzuständen ist dabei unwahrscheinlich. Stattdessen hat das System einen starken Hang zu mittleren Zuständen – die sich auch dadurch auszeichnen, dass sich dort die meisten Akteure finden.

  • Zweitens handelt es sich um ein System, das auch hinsichtlich der Konsequenzen, die für Akteure aus Erfolg, nachlassendem Erfolg, überwundenem oder fortschreitendem Misserfolg resultieren, träge reagiert. Einen rasanten tiefen Fall oder blitzartigen Aufstieg kann es hier kaum geben, nur sich in kleinen Schritten vollziehende individuelle oder organisationale Trajektorien.

Vor diesem Hintergrund – und mit den genannten weiteren Argumenten – lässt sich annehmen, dass eher wenige ProfessorInnen den folgenden fünf Typen angehören dürften:

  • Reformopfer: ProfessorInnen sind im Vergleich zu anderen Berufsgruppen, die ebenfalls von Leistungsbewertungen betroffen sind, immer noch vielfältig privilegiert bezüglich der Möglichkeiten, solche als Zumutungen erlebte Maßnahmen auszusitzen oder zu sabotieren. Auch deshalb sind Leistungsbewertungen in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes konsequenter implementiert worden als an den Universitäten. Nur die Besoldungsreform hat es so nirgends sonst gegeben. Beide Gründe zusammengenommen sprechen dafür, dass es bislang wenige ProfessorInnen gibt, die man tatsächlich ernsthaft als Reformopfer einstufen kann. Im Gegenteil sprechen nach wie vor viele von ihnen, trotz aller Kritik, von einem – wie ein Befragter es ausdrückte – „Traumjob“ (LIT9). Auch die in Abschn. 5.2.2 angesprochenen Fälle haben ja durchaus gezeigt, dass selbst die Reformopfer über Möglichkeiten der Gegenwehr verfügen – wenn gar nichts anderes mehr geht, bleibt immer noch die versteckte Renitenz. Am ehesten könnte man sich als Reformopfer jüngere ProfessorInnen vorstellen, wenn sie den jetzigen Standarderwartungen in der Forschung nur schwer entsprechen können, was insbesondere in den Geisteswissenschaften der Fall sein kann.

  • SympathisantInnen: Kaum jemand in der Professorenschaft hält die Reformen für samt und sonders sinnvoll und durchschlagend erfolgreich, auch wenn durchaus immer wieder konzediert wird, dass einiges schon in die richtige Richtung gehe. Unter den SympathisantInnen dürfte es daher eher enttäuschte denn rundum zufriedene geben – anders als unter den ProfiteurInnen, die auch schon damit zufrieden sein können, dass sie persönlich ReformgewinnerInnen sind. SympathisantInnen können demgegenüber nur dann zufrieden sein, wenn sie die Reformen als überwiegend erfolgreich ansehen können, gerade weil sie selbst ja nichts davon haben. Die Variante des enttäuschten Sympathisanten wiederum befindet sich in einer eher instabilen Lage: Früher oder später muss er eigentlich zum Reformgegner werden, weil die Reformen – obwohl in ihren Zielen für prinzipiell gut befunden – ja offensichtlich unter den gegebenen Umständen oder mit den gewählten Maßnahmen nicht erfolgreich umsetzbar sind. Das liefe dann auf eine spezielle Variante des Verschonten hinaus: Man wird kein Opfer, ist aber gründlich desillusioniert – im Unterschied zu den von vornherein Verschonten, die gleich schon reformkritisch waren. Die vermutlich ganz wenigen zufriedenen SympathisantInnen und die häufigeren enttäuschten SympathisantInnen – ein Zustand, der nur ein Durchgangsstadium darstellen kann – addieren sich wohl zu keiner größeren Zahl von ProfessorInnen auf.

  • Verschonte: Das war vermutlich anfangs ein häufiger Typus, der dann immer seltener geworden ist, sobald die Wirkungen der Reformen zu greifen begonnen haben – auch wenn sie immer noch nur begrenzt greifen. In zwei Hinsichten sind die Zonen des Verschontseins definitiv kleiner geworden: Erstens sind die C-Besoldeten ein Auslaufmodell, und zweitens ist „Bologna“ mittlerweile vollständig umgesetzt worden. Damit dürften viele der Verschonten entweder in Wehrhafte oder in Reformopfer übergegangen sein. Letzteres ist dann der Fall, wenn die negative Betroffenheit sehr stark geworden ist und Möglichkeiten der Gegenwehr nicht im erforderlichen Maße gegeben gewesen sind.

  • Gelassene: Nicht erst im Zuge der Reformumsetzung, sondern von Anfang an dürfte dieser Typus sehr selten gewesen sein. Nicht nur – wie die Verschonte – zu meinen, dass man selbst nicht von negativen Auswirkungen der Reformen behelligt werden wird, sondern dies auch für das Universitätssystem insgesamt und dauerhaft anzunehmen, stellt sich als eine Einschätzung dar, deren subjektive Plausibilität sehr voraussetzungsvoll ist und deshalb selten anzutreffen sein dürfte.

  • ProfiteurInnen: Insbesondere stark und in allen Belangen von den Reformen Profitierende dürfte es sehr wenige gegeben haben und bis heute geben. Das Gros der ProfiteurInnen sind wohl solche gewesen, die in spürbarem, aber begrenztem Maße profitiert haben – was auch wieder auf die Grenzen des Umgesetzten, verglichen mit den Hoffnungen, die vollmundige Reformankündigungen versprachen, zurückgeht. Dass ProfiteurInnen eine eher kleinere Gruppe sein dürften, liegt letztlich darin begründet, dass Konkurrenz meistens deutlich mehr Verlierer als Gewinner produziert – und sich längst nicht alle GewinnerInnen auch sicher sind, sich auf Dauer auf der Gewinnerseite halten zu können.

Die meisten ProfessorInnen sollten demgemäß Zuversichtliche oder Wehrhafte sein. Beide Typen, die oftmals nahe beieinander liegen, haben gemeinsam, dass die Betreffenden nicht zufrieden mit ihrem persönlichen Status quo sind, jedoch Chancen der Verbesserung sehen. Beide haben durch die Reformen etwas zu gewinnen – aber auch etwas zu verlieren. Diese Ambivalenz des Reformprozesses ist für beide Typen konstitutiv. Sie unterscheiden sich darin, wie sie diese Ambivalenz einschätzen: Die Zuversichtliche stuft ihre Chance des Gewinnens als höher ein als das Risiko des Verlierens; beim Wehrhaften ist es umgekehrt. Die Zuversichtliche sieht sich damit als mögliche künftige Profiteurin. Für den Wehrhaften bestünde die Verbesserung, die er für sich erhofft, hingegen lediglich darin, das Sich-zur-Wehr-setzen aufhören zu können, weil er sich entweder zum Verschonten wandelt, also selbst nicht länger negativ von den Reformen betroffen ist, oder aber – wenn sich über die Abwehr von ihn betreffenden negativen Reformfolgen hinaus Chancen des künftigen Profitierens von den Reformen am Horizont abzeichnen – zum Zuversichtlichen wird.

Ein weiterer Unterschied beider Typen betrifft deren zeitliche Extension. Zuversichtlichsein ist kein Dauerzustand. Wenn sich die Hoffnungen immer wieder nicht erfüllen, wird die Zuversichtliche früher oder später ihren Zukunftsoptimismus verlieren und sich bestenfalls zur Verschonten, schlimmstenfalls zum Opfer wandeln. Der Wehrhafte hingegen kann seine Haltung und das entsprechende Agieren sehr wohl auf Dauer an den Tag legen, selbst wenn sich dadurch nichts für ihn verbessert – weil er es muss, damit seine Lage sich wenigstens nicht noch weiter verschlechtert. Überdies verspricht die offen praktizierte Wehrhaftigkeit auch soziale Bestätigungen der Identitätsbehauptung. So kann man z. B. die in Kap. 2 zitierte, spöttisch gemeinte und auf den Deutschen Hochschulverband (DHV) gemünzte Titulierung als „Humboldts letzte Krieger“ auch je persönlich als Ehrentitel verstehen. Man mag am Ende unterliegen, aber hat sich nicht gebeugt.

Jede zahlenmäßige Spezifikation der Anteile der sieben Typen an der Gesamtheit der Professorenschaft wäre hochgradig irrtumsanfällig und bestreitbar. Um dennoch auf Grundlage der präsentierten Argumente und sehr an der Normalverteilung ausgerichtet eine ungefähre Größenordnung zu schätzen: Die ersten fünf Typen machen aktuell zusammengenommen etwa die Hälfte der ProfessorInnen aus, die beiden zuletzt angesprochenen jeweils ein Viertel.

Trajektorien zwischen den Typen

Wenn man nicht bloß die Anteile der Typen zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmen oder wenigstens schätzen will, sondern sich dafür interessiert, welche Anteilsverschiebungen die Reformdynamiken mit sich bringen könnten, muss man Überlegungen dazu anstellen, wann ein Professor oder eine Professorin von einem bestimmten Typus zu einem bestimmten anderen übergehen könnte. Immer wieder sind von uns anhand konkreter Fälle bereits solche Übergänge von einem Typus zu einem anderen angesprochen worden. Wenn wir solche Trajektorien nun noch etwas systematischer betrachten, geht es nicht darum, alle 42 logischen Möglichkeiten zu diskutieren. Vielmehr konzentrieren wir uns auf diejenigen, die am häufigsten vorkommen dürften und die angesichts der aktuellen Verteilung in dem Sinne am wichtigsten sind, dass sie mögliche dynamisierende Faktoren sein, also die Verteilung in bestimmte Richtungen verändern könnten.

Dabei lassen wir insbesondere solche Trajektorien eher außer Betracht, die – bildlich gesprochen – ‚weite Wege‘ für die Betreffenden bedeuteten. Das gilt etwa für einen Wandel vom Opfer zum Profiteur oder umgekehrt. Hierfür müssten sich bei den Betreffenden sowohl die Bewertungen der Reformen als auch der Erfolg im Umgang mit ihnen simultan in ihr genaues Gegenteil umkehren. Psychologisch ist zwar – wenn man den Weg vom Opfer zum Profiteur betrachtet – durchaus plausibel, dass eine persönliche Nutzung der Reformen deren Einschätzungen durch die Person verschiebt. Aber wieso sollte die Person überhaupt erst auf den Gedanken kommen, etwas von ihr Abgelehntes mitzumachen? Vorstellbar wäre, dass sie als ausgeprägtes Opfer durch die Umstände, in die die Reformen sie gebracht haben, dazu gezwungen wird und dann auf einmal merkt, dass alles gar nicht so schlimm, sondern im Gegenteil ‚ganz toll‘ ist. Diesen starken Opferstatus haben die ProfessorInnen aber, wie angesprochen, sehr selten. Dann bleibt nur noch die Möglichkeit, dass sich die Reformen so grundlegend verändern, dass sie der Person auf einmal als wünschenswert erscheinen und ihr zugleich auch Chancen bieten. Solche schnellen weitreichenden Veränderungen sind aber in einem trägen Hochschulsystem wie dem deutschen unwahrscheinlich. Der umgekehrte direkte Übergang vom Profiteur zum Opfer ist ebenso als wenig wahrscheinlich einzustufen, weil das deutsche System auch hinsichtlich individueller Trajektorien träge ist. Die Verschonte, die Zuversichtliche oder der Sympathisant würden wohl nicht in einem Schritt zum Opfer, sondern nähmen mindestens den Zwischenschritt über den Wehrhaften; und in der anderen Richtung würde der Wehrhafte kaum in einem Schritt zum Profiteur, sondern müsste erst einmal zum Zuversichtlichen werden.

Von den vier Dimensionen der Typologie kann für die weitere Betrachtung die wahrgenommene Wirksamkeit der Reformen außer Acht gelassen werden, weil sie bei allen Typen – außer dem aus den bekannten Gründen hier nicht weiter betrachteten Gelassenen – die gleiche ist: Alle attestieren den Leistungsbewertungen erhebliche Folgen. Will man Trajektorien zwischen diesen sechs Typen beschreiben, muss man die anderen drei Dimensionen heranziehen: das Ausmaß der Betroffenheit von den Reformen, deren Bewertung sowie den persönlichen Erfolg im Umgang mit ihnen. Als Erklärungsfaktoren dafür, dass sich in diesen Dimensionen etwas verändern kann, sind zum einen Veränderungen der Reformen vorstellbar, zum anderen Veränderungen der beruflichen Situationen der betrachteten Personen; und beide Arten von Erklärungsfaktoren sind, wie wir in den Kap. 4 und 5 vielfach schon an spezifischen Fällen aufgezeigt haben, in dynamischer Wechselwirkung miteinander: Veränderungen der Reform bewirken – zusammen mit dem persönlichen Umgang mit ihnen – Veränderungen der beruflichen Situation einer Person; und umgekehrt bringt eine veränderte berufliche Situation auch eine veränderte Sichtweise der Reformen mit sich.

Insgesamt ergibt sich also folgendes Modell, mittels dessen im Weiteren neun anhand der genannten Kriterien ausgewählte Trajektorien kurz charakterisiert werden (Abb 6.1). Ausgangspunkte sind die beiden, wie wir vermuten, am häufigsten vorkommenden Typen:

Abb. 6.1
figure 1

Wechselwirkungen von Reformveränderungen und beruflicher Situation

  • Wie kann jemand zur Zuversichtlichen werden? Und was kann aus der Zuversichtlichen werden?

  • Wie kann jemand zum Wehrhaften werden? Und was kann aus ihm werden?

Die erste betrachtete Trajektorie Sympathisant → Zuversichtlicher beruht darauf, dass ein Professor realisiert, dass er doch von den Leistungsbewertungen betroffen ist – oder sich seine berufliche Situation so verändert, dass dies nun der Fall ist. Letzteres könnte etwa dann der Fall sein, wenn studentische Evaluationen von Lehrveranstaltungen verbindlich gemacht werden oder stärkere Konsequenzen haben; oder der bisherige C-Professor wechselt – womit er seine eigene Betroffenheit selbst herbeiführt – freiwillig oder wegen einer Rufannahme an eine andere Universität in die W-Besoldung. Er bleibt jedoch dabei, die Reformen positiv einzuschätzen. Auch wenn er selbst zunächst keine unmittelbaren eigenen Vorteile von den Reformen hat, rechnet er sich doch solche für die Zukunft aus. Ein Zellbiologe hat diese Trajektorie zwar noch nicht vollzogen, reflektiert seine Zukunftsaussichten jedoch auf dieser Linie:

„Wenn ich wüsste, wenn ich mit einem DFG-Antrag oder einer Forschergruppe die Möglichkeit habe, diese zusätzlichen leistungsorientierten Zulagen zu bekommen, klar wäre das ein Ansporn, natürlich. Ja, auf jeden Fall.“ (BIO12)

Er stellt diese Überlegungen vor dem Hintergrund ihm intransparent erscheinender Ressourcen- und Gehaltszuweisungen für die Kollegen an. Für diese Trajektorie kommt es also darauf an, dass eine konsequente und transparente Umsetzung der Leistungsbewertungen erfolgt.

Der Zuversichtliche kommt weiterhin in der Variante vor, dass er zunächst noch negativ von Leistungsbewertungen betroffen ist, aber davon ausgeht, dass sich für ihn das Blatt noch wenden wird. Ein Sympathisant kann auch zunächst zu solch einem Zuversichtlichen werden – wenn z. B. an seiner Universität Leistungsbewertungen eingeführt werden, die er prinzipiell für geboten hält, bei denen er aber erst einmal nicht so gut abschneidet. Solange er sich zukünftig bessere Chancen dabei ausrechnet, kann er Zuversichtlicher bleiben.

Die zweite Trajektorie Wehrhafter → Zuversichtlicher setzt eine Neubewertung der eigenen Situation voraus. Ein Professor muss erkennen, dass für ihn mehr drin ist, als sich nur gegen die identitätsbedrohenden Folgen bestimmter Reformmaßnahmen zur Wehr setzen zu können. Er muss Gelegenheiten dafür sehen, dass ihm die Reformen umgekehrt auch Identitätschancen bieten können. Dies ist umso wahrscheinlicher, je weniger sich ihm die Reformen als durchgängig und eindeutig negativ darstellen. In der Tat sind die von uns untersuchten Fälle von Wehrhaften solche, die die Reformen nicht in allen Belangen ablehnen, sondern bestimmte Aspekte zumindest als potenziell sinnvoll einstufen – z. B. zwar gegen die eingesetzten Verfahren der Forschungsevaluation sind, aber durchaus den möglichen Nutzen von Lehrevaluationen durch Studierende erkennen. Solche Ambivalenzen können dazu führen, dass durch konkrete positive eigene Erfahrungen das Gewicht dieser Aspekte in der subjektiven Bilanzierung der Reformen zunimmt. Eine genauere Betrachtung würde ohnehin vermutlich zeigen, dass viele als Wehrhafte eingestufte in verschiedenen Hinsichten und Situationen auch Zuversichtlichen entsprechen, also zwischen beiden Typen changieren.Footnote 3 In diesem Changieren ist die Trajektorie bereits angebahnt – freilich keineswegs zwingend vorbestimmt. Es kann auch umgekehrt so sein, dass sich die subjektive Bilanz der Reformen immer stärker zum Negativen hin vereindeutigt, womit der Betreffende immer mehr zum Wehrhaften hin gedrängt wird.

Die dritte Trajektorie Zuversichtliche → Profiteurin haben wir bereits in Abschn. 5.2.7 bei der Charakterisierung der Zuversichtlichen angesprochen. Sie ergibt sich dann, wenn sich die Erwartungen der Zuversichtlichen, wie sich bestimmte Reformmaßnahmen zukünftig positiv für sie auswirken können, erfüllen – sei es, dass die weitere Umsetzung der Maßnahmen dies ohne eigenes Zutun der Betreffenden herbeiführt, sei es, dass ein entsprechend geänderter eigener Umgang mit den Maßnahmen die erhofften Früchte einbringt. Diese positive Wendung kann sich unter Umständen lange hinziehen, sodass die Person große Geduld aufbringen muss. Bei einem solchen, von Durststrecken geprägten Verlauf der Trajektorie ist wichtig, dass es immer wieder zumindest kleine Hoffnungsschimmer gibt, da sich die Zuversichtliche ansonsten eher in Richtung Opfer, Wehrhafte oder – bestenfalls – Verschonte bewegt.

Diesen drei Trajektorien wenden wir uns nun zu. Sie unterscheiden sich von den bislang betrachteten darin, dass es sich nicht um subjektiv positiv, sondern negativ eingestufte Entwicklungen handelt. Denn während die Übergänge vom Sympathisanten oder vom Wehrhaften zum Zuversichtlichen sowie von der Zuversichtlichen zur Profiteurin als Verbesserungen der persönlichen Lage nicht nur hinsichtlich der eigenen Interessenverfolgung, sondern – was uns hier interessiert – für die eigene Identitätsbehauptung angesehen werden, laufen die folgenden drei möglichen Trajektorien der Zuversichtlichen auf wachsende Identitätsbedrohungen und verschlechterte Möglichkeiten der Identitätsbehauptung hinaus.

Die vierte Trajektorie Zuversichtliche → Verschonte ist von den dreien diejenige, die das geringste Ausmaß an Verschlechterungen mit sich bringt. Eine Professorin gelangt zwar mit der Zeit zu einer Ablehnung der Reformen, was zum einen darauf zurückgehen kann, dass mit deren voranschreitender Umsetzung immer klarer wird, dass sie sich ganz anders als erhofft auswirken. Zum anderen kann es auch sein, dass eigene Versuche, zur Profiteurin der Reformen zu werden, erfolglos im Sande verlaufen. Die so oder so eintretende Desillusionierung bleibt jedoch in der Hinsicht begrenzt, dass man sich nicht selbst von den nunmehr negativ bewerteten Reformfolgen betroffen sieht – etwa, weil man inzwischen den baldigen Ruhestand vor Augen hat.Footnote 4

Die fünfte Trajektorie Zuversichtliche → Wehrhafte stellt gegenüber der vierten eine erste Steigerung der Verschlechterungen dar. Die nun Wehrhafte muss konstatieren, dass die Reformfolgen nicht positiv, sondern negativ sind; und sie bleibt von ihnen nicht verschont. Die Desillusionierung sitzt insofern noch tiefer: Nicht nur ist man enttäuscht darüber, dass die Reformen, von denen man sowohl für das deutsche Hochschulsystem insgesamt als auch für die eigene berufliche Situation Substanzielles erhofft hatte, negativ bewertete Wirkungen zeitigen: Man sieht sich darüber hinaus auch selbst mit diesen Wirkungen konfrontiert und muss sich ihrer erwehren, will man die eigene berufliche Identität behaupten. Eine Politikwissenschaftlerin beispielsweise, die durchaus die von der Hochschulleitung an sie adressierte Herausforderung der Drittmitteleinwerbung aufgenommen und sich davon auch persönlich etwas versprochen hat, muss dann – nach erfolgreicher Einwerbung eines größeren Projektes – feststellen: Sie bekommt keine Lehrreduktion bewilligt, um solch aufwendige Projekte durchführen zu können, ohne dass die Qualität der Lehre oder der Forschung leidet; ihre Leistungszulage steigt nicht mit der Höhe der eingeworbenen Drittmittel; und auch auf andere Weisen sieht die Professorin diesen persönlichen Erfolg nicht gewürdigt. Im Gegenteil fühlt sie sich „so ein bisschen als Cash Cow, ja, die halt so für die Universität ähm, die Drittmittel ran schleppen“ (POL7) müsse. Sie betont im Anschluss:

„[S]o ein großes Projekt, das ist unheimlich schwer, in der Höhe noch mal einzuwerben, ja. Also, ich möchte das eigentlich nicht alle drei Jahre machen müssen.“

Hier sieht sie für sich zumindest das zukünftige Risiko, zur Wehrhaften werden zu müssen.

Die sechste Trajektorie Zuversichtliche → Opfer schließlich stellt die Zuspitzung der fünften dar. Die Betreffende muss die nunmehr von ihr abgelehnten Reformen über sich ergehen lassen, ohne etwas dagegen tun zu können. Diese Trajektorie verläuft im deutschen Hochschulsystem aufgrund seiner angesprochenen doppelten Trägheit vermutlich – außer in Ausnahmen – nicht auf direktem Weg. Ein solch tiefer Fall wird vielmehr durch Zwischenebenen abgefedert. In der großen Mehrzahl der Fälle wird sich diese Trajektorie daher als Zweischritt vollziehen: Eine Zuversichtliche wird zunächst zur Wehrhaften; und erst wenn sie als solche scheitert, lässt sie das zum mehr oder weniger widerstandslosen Opfer werden. Das kann u. a. dann geschehen, wenn die KollegInnen die eigene Wehrhaftigkeit nicht mehr mittragen oder decken, oder wenn die Umsetzung der Reformen immer weiter ausgreift. So ist einem bislang als Wehrhafter agierenden Literaturwissenschaftler (LIT7) durchaus bewusst, wie abhängig er davon ist, dass die KollegInnen seine Praktiken des Rückzugs tolerieren.

Die bisher betrachteten Trajektorien drehen sich um die Zuversichtliche als den einen der beiden Typen, die wir als am häufigsten vorkommend vermuten. In Richtung welcher anderen Typen könnte sich die Zuversichtliche am wahrscheinlichsten entwickeln, und welche anderen Typen könnten am wahrscheinlichsten zur Zuversichtlichen werden? Nun betrachten wir mit den gleichen beiden Fragerichtungen den Wehrhaften als den anderen der beiden – wie wir denken – am häufigsten vorkommenden Typen.

Drei Übergänge in Richtung Wehrhaftigkeit heben wir hervor: vom Opfer, vom Verschonten und – bereits behandelt – von der Zuversichtlichen. Die siebte Trajektorie Opfer → Wehrhafter bedeutet ein Empowerment solcher ProfessorInnen, die sich bis dahin als Ausgelieferte der Reformen gefühlt haben. Sie entdecken, dass sie den von ihnen empfundenen Zumutungen etwas entgegensetzen können. Insbesondere die kollektive Solidarität unter KollegInnen kann hierfür wichtig sein. Aber auch das je individuelle Bewusstsein, was Unkündbarkeit bedeutet, kann schlussfolgern lassen, dass man manchen Zumutungen mit der klassischen Antwort von Herman Melville‘s (1856) Helden Bartleby begegnet: „I prefer not to.“ Höflich, aber bestimmt! Das ist die leise Form von Wehrhaftigkeit.Footnote 5 Die laute besteht in Meinungskundgebungen in Forschung & Lehre sowie in Klagen beim Bundesverfassungsgericht. Und im tagtäglichen Betrieb demonstriert man ein Spektrum von Praktiken des Nicht-gehört-habens bis hin zum tadelnden „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ Wenn all das nichts hilft, begibt man sich durch jahrelange Instanzenzüge hindurch auf den Rechtsweg – wohl wissend, dass einem letztlich nichts passieren, sondern man höchstens, wie unwahrscheinlich auch immer, gewinnen kann.

Die achte Trajektorie Verschonter → Wehrhafter besteht darin, dass man nunmehr auch selbst von den negativ bewerteten Reformfolgen betroffen ist, gegen die man daher Widerstand leistet. Während es für das Opfer eine Verbesserung darstellt, wenn es zur Wehrhaftigkeit fähig wird, stellt der Übergang zur Wehrhaftigkeit für den Verschonten eine Verschlechterung dar. Vor allem eine weiterreichende und konsequentere Umsetzung der Reformen kann diese Trajektorie herbeiführen.

Zwei Übergänge vom Wehrhaften sehen wir als beachtenswert an. Der Übergang von der Wehrhaften zur Zuversichtlichen wurde bereits angesprochen, sodass als neunte Trajektorie Wehrhafter → Verschonter in den Blick zu nehmen ist. Die als negativ bewerteten Reformfolgen betreffen einen dann nicht mehr selbst. Dies kann sich vor allem auf drei Weisen vollziehen. Erstens kann die eigene Gegenwehr gegen negativ bewertete Reformfolgen einen Professor in eine neue Situation bringen, in der er fortan von diesen verschont wird. Beispielsweise kann man manchmal zulassen oder auch aktiv forcieren, dass die Module, die man zu betreuen hat, nicht mehr zum Pflicht- oder Wahlpflichtbereich der Studiengänge gehören, wodurch man sich viele „Bologna“-Ärgernisse erspart. Oder man wechselt an eine solche ausländische Universität, wo vergleichbare Reformmaßnahmen schwächer als in Deutschland etabliert sind, oder bemüht sich um temporäre Fellowships und Forschungssemester. Zweitens muss man sich, je mehr man sich dem Ruhestand nähert, nicht mehr unbedingt weiter in die Drittmittelkonkurrenz begeben oder um Leistungszulagen bemühen. Drittens schließlich könnte man in dem Maße zum Verschonten werden, wie der Umsetzungselan der Reformpromotoren zumindest an der eigenen Universität erlahmt.

Damit ergibt sich insgesamt ein Geflecht von Trajektorien, auf denen sich derzeit nicht wenige der ProfessorInnen bewegen dürften (Abb. 6.2).

Abb 6.2
figure 2

Trajektorien zwischen den Typen des Umgangs mit Leistungsbewertungen

Ergeben diese Trajektorien in der Summe in absehbarer Zeit eine Verschiebung der Anteile der verschiedenen Typen an der gesamten Professorenschaft? Vor dem Hintergrund der äußerst vagen Schätzung von zusammen 50 Prozent Zuversichtlichen und Wehrhaften sowie 50 Prozent der übrigen fünf Typen, die wir zur Diskussion gestellt haben, lassen sich hierzu folgende Überlegungen anstellen:

  • Die zweite und fünfte Trajektorie ergeben keine Anteilsverschiebungen zwischen den beiden quantitativ vorherrschenden Typen des Wehrhaften und der Zuversichtlichen auf der einen und den weiteren Typen auf der anderen Seite, sondern nur Verschiebungen zwischen den beiden erstgenannten.

  • Die dritte, vierte, sechste und neunte Trajektorie ergeben zusammen einen Schwund von Wehrhaften und Zuversichtlichen.

  • Dem müssen die erste, siebte und achte Trajektorie gegenübergestellt werden, die auf einen Zuwachs dieser beiden Typen hinauslaufen.

  • Je nachdem, welche dieser beiden Tendenzen größer ist, steigt oder fällt der Anteil von Wehrhaften und Zuversichtlichen.

Bei der Betrachtung der verschiedenen Trajektorien sind immer wieder vor allem zwei Faktoren ins Spiel gekommen, die bestimmte Übergänge zwischen den Typen wahrscheinlicher machen: das Alter der ProfessorInnen sowie die weiteren Reformdynamiken. Das Alter wirkt sich auf Karrierestatus und -verlauf ebenso wie auf die Möglichkeit der Nichtbetroffenheit von Reformfolgen aus. Allerdings kann hier das Alter als Wirkgröße ausgeblendet werden, weil in einer konstanten Populationsgröße – was seit etlichen Jahren näherungsweise auf die deutsche Professorenschaft zutrifft – älter Werdende in gleichem Maße von Jüngeren ersetzt werden, sodass die Altersverteilung ebenfalls konstant bleibt. Wie die weiteren Reformdynamiken verlaufen, könnte hingegen einen Unterschied dafür machen, welche Trajektorien häufiger oder seltener werden. Vergleicht man auf der einen Seite erlahmende mit forcierten Reformdynamiken auf der anderen Seite, lässt sich vermuten:

  • Erlahmende Reformdynamiken verstärken die erste, dritte, siebte und neunte Trajektorie – also zwei Trajektorien, die die Anteile von Wehrhaften und Zuversichtlichen erhöhen, sowie zwei, die diese Anteile verringern. Solange man nichts Genaueres über die relativen Größen der vier Trajektorien sagen kann, sollte man annehmen, dass anteilserhöhende und anteilsverringernde Trajektorien einander ungefähr ausgleichen, sodass bei erlahmenden Reformdynamiken in der Summe die Anteile der beiden häufigsten Typen in etwa konstant bleiben. Von den beiden zwischen ihnen ablaufenden Trajektorien dürfte die zweite stärker sein als die fünfte, was auf eine Gewichtsverschiebung zugunsten der Zuversichtlichen hinausliefe.

  • Forcierte Reformdynamiken verstärken demgegenüber die vierte, sechste und achte Trajektorie, also mit Blick auf Wehrhafte und Zuversichtliche zwei anteilsverringernde und eine anteilserhöhende. Mit aller Vorsicht könnte das in der Summe eine leichte Gesamtverringerung ihres Anteils bedeuten, während der Anteil der Opfer zunähme.Footnote 6 Umgekehrt zu erlahmenden Reformdynamiken verschöbe sich die Balance zwischen Zuversichtlichen und Wehrhaften zugunsten letzterer.

Insgesamt lässt sich allerdings schließen, dass es wohl übertrieben wäre, die beiden denkbaren Reformdynamiken entweder als große Stunde der Zuversichtlichen oder der Wehrhaften einzustufen. Zum einen dürften beide Typen zusammengenommen im einen Fall konstant bleiben, im anderen vielleicht etwas schrumpfen; und auch die Verschiebungen zwischen beiden dürften sich jeweils in Grenzen halten. Erst wenn derselbe Typ von Reformdynamik sich über längere Zeit – und hier sprechen wir angesichts der erwähnten Trägheit des deutschen Hochschulsystems wohl nicht von mehreren Jahren, sondern eher von Jahrzehnten – fortsetzt, dürften sich massivere Verschiebungen im Gefüge aller Typen einstellen. Dass das wiederum sehr wahrscheinlich ist, kann man bezweifeln.

6.2 Drei Zukunftsszenarien

Aber auch wenn es für die Anteilsverteilung der von uns identifizierten Typen womöglich gar keinen so großen Unterschied macht, wie die Reformdynamiken sich zukünftig weiter entwickeln werden, sind letztere natürlich dennoch aus vielerlei Gründen interessant. Wir unterscheiden hier nicht nur die beiden gerade angesprochenen Möglichkeiten, sondern drei vorstellbare grundsätzliche Richtungen, die die Reformpromotoren einschlagen könnten:

  • Erlahmende Reformen: Es werden keine weiteren Fortführungen der Reformen unternommen, und auch das auf den Weg Gebrachte bleibt stecken.

  • Forcierte Reformen: Die Reformen werden entschlossen weiter vorangetrieben und sowohl in der sachlichen und räumlichen Breite als auch in der Tiefe des Zugriffs ausgeweitet.

  • Lernende Reformen: Die Reformen werden reflektiert und, wo nötig, korrigiert – sowohl in den generellen Zielsetzungen als auch in den spezifischen Maßnahmen.

Während die ersten beiden Alternativen bereits in die vorausgegangenen Überlegungen eingegangen sind, stellt die dritte Alternative einen mittleren Weg zwischen beiden dar, den wir nun – auch weil wir ihn für den für alle Seiten vielversprechendsten halten – zusätzlich noch ins Gespräch bringen wollen. Je nachdem, welche dieser Richtungen eingeschlagen wird, ergeben sich sehr unterschiedliche mittel- und längerfristige Szenarien.

Szenario 1: Erlahmende Reformen

In diesem Szenario gibt es wenig zukünftige Veränderungen gegenüber dem jetzigen Status quo. Das bedeutet, dass ein in vielen Hinsichten auf halbem Wege festgefahrener Reformtorso zum Dauerzustand wird, der dann ritualistisch exekutiert wird. Hochschulleitungen arbeiten an Profilbildung, ohne über Machtressourcen zu verfügen, die es ihnen erlaubten, sich über den Widerstand größerer Teile der Professorenschaft hinwegsetzen zu können; Lehrevaluationen durch Studierende werden regelmäßig durchgeführt, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen werden; immer neue befristete Projekte zur Qualität der Lehre werden aufgelegt, die keinerlei nachhaltige Wirkung entfalten und angesichts der viel zu hohen Betreuungsrelationen in den meisten Studiengängen ohnehin Oberflächenkosmetik bleiben; Forschungsrankings werden anhand bekanntermaßen unzulänglicher Indikatoren durchgeführt, die Fehlanreize setzen, aber leicht erhebbar sind; das Antragschreiben sowie das Berichtswesen nehmen einen immer größeren Teil der Arbeitszeit zuungunsten von Lehre wie Forschung ein … Zahlreichere weitere problematische Phänomene könnten geschildert werden, die in der Summe zeigten, dass die Reformen, an den ursprünglichen Zielsetzungen der Reformpromotoren gemessen, keine großen positiven Wirkungen zeitigen. Doch die meisten ProfessorInnen müssten für sie spürbare negative Wirkungen erleiden. Aus Sicht der Promotoren hieße das: Man machte sich Ärger, ohne dass es sich lohnte.

Dieses Szenario ist insofern am wahrscheinlichsten, weil es den in einer entscheidenden Hinsicht wenig veränderten Kräfteverhältnissen der hochschulpolitischen und hochschulorganisatorischen Konstellation entspricht. Zwar haben die ProfessorInnen durchaus an individueller und kollektiver Macht und Autonomie eingebüßt. Sie mussten sich Leistungsbewertungen unterwerfen, die in Berufungs- und Ausstattungsverhandlungen gegen sie verwendet werden können; sie sind immer drittmittelabhängiger in der Forschung geworden und müssen ihre Studiengänge akkreditieren lassen; und die Gremien der akademischen Selbstverwaltung, in denen sie traditionell am einflussreichsten waren, haben gegenüber den Hochschulleitungen an Macht verloren. Doch die formelle und faktische Vetomacht der ProfessorInnen ist immer noch groß genug, um wirksam Reformmaßnahmen, die sie nicht überzeugen, auszubremsen – sei es durch offenen, sei es durch verdeckten Widerstand. HochschulpolitikerInnen und Hochschulleitungen mussten lernen, dass ihre Einflusspotenziale nicht ausreichen, um Maßnahmen gegen größere Teile der Professorenschaft so durchsetzen zu können, dass diese die erwarteten positiven Wirkungen zeitigen.Footnote 7 Ohne ein – wie es so treffend heißt – „Mitnehmen“ der ProfessorInnen können Hochschulleitungen nach wie vor nicht viel ausrichten; wo die ProfessorInnen nicht gewillt sind, sich „mitnehmen“ zu lassen, kann die Leitung nicht viel ausrichten (Kleimann 2016a, 2016b).

Politik und Hochschulleitungen befinden sich hier in einem Dilemma. Sie wollen die ihrer Meinung nach teilweise falschen oder zumindest unvollständigen Vorstellungen ‚guter‘ Lehre und Forschung aufseiten der ProfessorInnen korrigieren, haben sich aber zu wenig klar gemacht, dass sie auf deren berufliches Engagement angewiesen sind – insbesondere angesichts chronisch unterfinanzierter Universitäten, in denen die Funktionsfähigkeit von Lehre und Forschung davon abhängt, dass nicht nur, aber auch die ProfessorInnen durch besondere Anstrengungen die Folgen der Mangelwirtschaft in Grenzen halten. Noch geschieht dies. Die Reformfolgen dürften allerdings schon einiges an gutem Willen gekostet haben; und sollte sich das fortsetzen, weil der Reformtorso bestehen bleibt, könnte irgendwann der Punkt erreicht sein, wo vielerorts Dienst nach Vorschrift um sich greift. Zwar haben inzwischen einige der Reformpromotoren erkannt, dass sie die Abhängigkeit der Leistungsfähigkeit der Universitäten von einer willigen Professorenschaft unterschätzt und umgekehrt die eigene Fähigkeit überschätzt haben, die ProfessorInnen durch Anreize, Überzeugung und Macht auf die Linie der Reformen zu bringen. Doch zu einem neuerlichen großen Kraftakt ist man in diesem Szenario nicht bereit.

Wie schon geschildert, dürfte hier die wichtigste Verschiebung zwischen den betrachteten Typen von ProfessorInnen darin bestehen, dass einige Wehrhafte zu Zuversichtlichen werden; SympathisantInnen und Verschonte könnten etwas zunehmen, ReformprofiteurInnen genau wie Opfer nicht. All diese Veränderungen würden sich aber in einem sehr begrenzten, wenngleich wenig erquicklichen Rahmen halten. Die auf die Gegenwart bezogene Einschätzung eines Zellbiologen könnte unter diesen Umständen dann zu einer geteilten Zukunftseinschätzung vieler ProfessorInnen werden:

„Im Grunde genommen ändert sich nix. Also klar, nach unten ändert sich auch nix, da fällt man weich, ja. Aber alles, was als Möglichkeit der Motivation, als Werkzeuge der Motivation zur Verfügung stehen sollte, hat null gegriffen, meines Erachtens, ja. Und im Gegenteil, also man hat mir zum Beispiel persönlich Leistungsbezüge weggenommen, und dann sage ich mir: ‚Okay, also, tut mir leid‘.“ (BIO12)

Die in diesem Szenario zu erwartenden Folgen für Lehre und Forschung sind ebenfalls nicht dramatisch, sondern eher schleichend. Ein Sich-Einrichten im wenig Erquicklichen kann negative Auswirkungen auf die Qualität der Forschung nicht völlig verhindern und vor allem die jetzt schon zu beobachtenden Folgen nicht korrigieren. Aber auch weiterhin dürfte aufgrund intrinsischer Motivation, die einen teilweise erfindungsreichen Umgang mit Ressourcenmangel hervorbringt, gute oder auch sehr gute Forschung entstehen. In der Lehre hingegen könnte der Dienst nach Vorschrift stärker um sich greifen. Das muss nicht unbedingt heißen, dass keine AbsolventInnen mehr ‚produziert‘ werden; aber man schaut besser nicht genauer hin, wie das Gros von ihnen ausgebildet ist. Und diejenigen ProfessorInnen, die auch in der Lehre aufgrund einer intrinsischen Motivation keinen Dienst nach Vorschrift ableisten, könnten noch überlasteter und angesichts mangelnder Anerkennung noch frustrierter werden.

Szenario 2: Forcierte Reformen

In diesem Szenario werden „New Public Management“ (NPM), „Bologna“ und die „Exzellenzinitiative“ konsequent weiter umgesetzt und die Stellschrauben insgesamt angezogen. Es werden – um nur einige denkbare Beispiele zu nennen – größere Anteile der Grundausstattung als bisher über die Leistungsorientierte Mittelvergabe (LOM) vergeben; der Anteil der Besoldung eines Professors, der aus Leistungszulagen besteht, wird erhöht, und diese können bei Leistungsrückgang auch wieder gekürzt oder ganz gestrichen werden; wer schlechte Lehrevaluationen erhält, muss Didaktik-Weiterbildungen besuchen; die Leistungsindikatoren werden auf ein standardisiertes Set für sämtliche Fächer hin weiterentwickelt; die Hochschulleitungen erhalten zusätzliche Machtbefugnisse …

Dieses entschlossene Weiter-voran setzt vor allem voraus, dass die Reformkoalition – Ministerialbürokratien, Think Tanks wie das CHE, das Gros der Hochschulleitungen und Hochschulräte – hält und noch enger zusammenrückt, und dass sie nicht durch Verfassungsgerichtsurteile ‚zurückgepfiffen‘ wird.Footnote 8 Wenn man trotz weiterer Durststrecken – nur zähe Umsetzung von Maßnahmen, ausbleibende oder lediglich geringe Erfolge, negative Nebenwirkungen – und der Notwendigkeit, dass alle Reformpromotoren den größten Teil ihrer knappen Aufmerksamkeit unentwegt dem Reformgeschehen widmen, lange genug durchhält und keinen Zweifel an der eigenen Entschlossenheit erkennen lässt, könnte der Effekt eintreten, dass mehr und mehr ProfessorInnen ihren Widerstand aufgeben und ‚kleinlaut‘ Fügsamkeit in Bezug auf die Reformen anbieten. Dies kann in der Hoffnung geschehen, zu denen zu gehören, die dann die besten Chancen haben, ReformprofiteurInnen werden zu können – weil man zu den frühen Überläufern gehört, weil das eigene Fach vergleichsweise reformaffin ist oder weil der eigene Karriereverlauf in Richtung Reformaffinität weist. ProfessorInnen können aber auch über die Zeit ‚mürbe‘ gemacht werden, sodass sie irgendwann nicht noch mehr Energie in Widerstand investieren wollen, der erkennbar die andere Seite nicht zum Einlenken bringen wird, sondern sich endlich wieder mehr ums ‚Kerngeschäft‘ in Forschung und Lehre kümmern wollen – in der weiteren Hoffnung, dass das eigene Einlenken zumindest gewisse Zugeständnisse evozieren wird.

Es ist schwer abzuschätzen, ob ein solches Kalkül der Reformpromotoren aufgehen könnte; und wie wahrscheinlich es ist, dass sie die erforderliche Entschlossenheit auf breiter Front durchhalten können, kann man ebenso schwer sagen. Für Letzteres müssen ja genügend Reformpromotoren ein hinreichend großes Vertrauen in die Entschlossenheit der anderen Promotoren haben; denn sonst lohnt es sich für den einzelnen Akteur nicht, selbst Entschlossenheit zu praktizieren und dadurch einigen ‚Ärger‘ zu bekommen. Dieses Vertrauen ist leicht erschütterbar, was schnell zu einem Dominoeffekt werden kann. Anders gesagt, könnte dieses Szenario in einen ‚Nervenkrieg‘ nach Art des spieltheoretischen „Chicken Game“ zwischen ProfessorInnen und Reformpromotoren münden: Auf welcher Seite knickt man als erster ein?Footnote 9

Vorstellbar ist aber auch, dass der Versuch, den Widerstand der ProfessorInnen durch Entschlossenheit zu brechen, ins Gegenteil umschlägt. Bislang gibt es keinen nennenswerten kollektiven Widerstand der ProfessorInnen gegen die Reformen – überlokal jenseits von wirkungslosen Erklärungen des DHV gar nicht, auf der lokalen Ebene einzelner Universitäten nur in wenigen Extremfällen, wenn eine Hochschulleitung oder ein Hochschulrat sich wie ein ‚Elefant im Porzellanladen‘ benommen haben. Willem Halffman und Hans Radder (2015) rufen in einer Brandschrift gegen die „occupied university“ zwar zu kollektivem Widerstand auf, müssen in einer realistischen Sondierung der Möglichkeiten allerdings einräumen, dass keine davon sonderlich wahrscheinlich und Erfolg versprechend ist. Doch vielleicht ist, jenseits kritischer Meinungsäußerungen und individueller klammheimlicher Subversion, der offene Protest bislang deshalb ausgeblieben, weil nach wie vor – sogar in Ländern wie Großbritannien, wo insbesondere NPM deutlich weiter gegangen ist als in Deutschland – die Schwelle noch nicht überschritten wurde, ab der es einer größeren Zahl von ProfessorInnen‘zu weit geht‘. Solange das, was an Leistungsbewertungen vor Ort für den einzelnen Professor tagtäglich spürbar umgesetzt wird, noch immer deutlich hinter dem markigen Reden mancher Reformpromotoren zurückbleibt, könnte der Test noch ausstehen; und ein entschlossenes Weiter-voran der Promotoren würde ihn – das genaue Gegenteil beabsichtigend – herbeiführen.

Die Forcierung der Reformen ist in ihren Konsequenzen also deutlich unsicherer als das erste Szenario; und diese Unsicherheiten mögen die Reformpromotoren nicht ganz so entschlossen in diese Richtung gehen lassen. Was man jedoch vielleicht halbwegs gesichert sagen kann, ist, dass die Reformpromotoren – wenn sie die Option des Weiter-voran wählen – den ProfessorInnen bereits kurz- und mittelfristig das Leben schwerer machen können, während sich die gesellschaftlichen Folgen eines Dienstes nach Vorschrift der ProfessorInnen erst längerfristig bemerkbar machten. Diese Zeitdifferenz stellt einen Durchsetzungsvorteil der Promotoren dar, wodurch das zweite Szenario, wenn hinreichend entschlossen agiert wird, durchaus wirkungsvoll umgesetzt werden könnte – was immer die Wirkungen dann sein werden.

Hinsichtlich der Anteile der verschiedenen Typen von ProfessorInnen gilt auch hier, dass kurz- und mittelfristig keine größeren Verschiebungen zu erwarten wären. Reformopfer könnten zunehmen, Verschonte und SympathisantInnen geringer werden; und einige Zuversichtliche könnten zu Wehrhaften werden. Ob es mehr ProfiteurInnen gäbe, ist unklar, ebenso wie es die Auswirkungen auf die Kollegialität sind. Je nachdem ist eine stärkere Entsolidarisierung als individuelle Rette-sich-wer-kann-Haltung ebenso vorstellbar wie eine stärkere kollektive Solidarisierung gegen die Reformen.

Der Nexus zwischen Forschung und Lehre wird lockerer, je mehr Konsequenzen die Leistungsbewertungen für beides haben. In der Forschung könnte es eine stärkere Polarisierung in wenige Begünstigte und viele Benachteiligte und einen Diversitätsverlust als Folge einer verstärkten Mainstream-Ausrichtung geben. In der Lehre ist ein Verlust an Engagement erwartbar, weil Lehren-müssen als Bestrafung für Minderleistungen in der Forschung gilt und eingesetzt werden wird. Längerfristig könnte sich aus diesen Folgen – wie ein Befragter es ausdrückte – „eine Sprengkraft, die nicht mehr zu kontrollieren ist“, aufstauen, wodurch „der Laden“ letztlich „auseinanderkrach[e]“ (LIT9).

Szenario 3: Lernende Reformen

Die beiden bislang geschilderten Szenarien sind aus Sicht der ProfessorInnen wenig attraktiv; und auch aus Sicht der Reformpromotoren ist das erste Szenario definitiv nicht attraktiv, und das zweite ist es nur dann, wenn ihre Rechnung – mit vielen Unbekannten – aufgeht. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass neuer Schwung in die Reformen kommt. Wenn also das für beide Seiten suboptimale erste Szenario zum Dauerzustand zu werden droht, lohnt es sich, noch einmal zu sondieren, ob es nicht doch eine weitere und vielversprechendere Alternative geben könnte.

Für die bisherigen Reformen gilt ja, wie wir mit unserer Analyse der medialen Diskussion im Kap. 2 gezeigt haben, dass die Reformbefürworter sich über die Bedenken der ReformgegnerInnen – hauptsächlich ProfessorInnen – ziemlich ungerührt hinweggesetzt haben. Diese Bedenken wurden als ‚ewiggestrig‘ eingestuft und daher nicht in ihrer Stichhaltigkeit geprüft, sondern als weiteres Symptom des Reformbedarfs, also als Bestätigung der Richtigkeit der eigenen Reformpläne gewertet. Ein solcher kommunikativer Duktus erzeugt schnell eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, was auch hier geschehen ist. Weil sich die ReformgegnerInnen – zutreffenderweise – mit ihren Sachargumenten nicht ernst genommen vorkamen, wechselten sie schnell zu teils pathetischen Zuspitzungen und Verallgemeinerungen, was sich dann als ‚beinharte‘ partikularistische Interessenpolitik ohne Rücksicht auf legitime übergeordnete gesellschaftliche Ansprüche an Universitäten abtun ließ. So wurden ReformbefürworterInnen und -gegnerInnen bereits zu Anfang der Reformen „geschiedene Leute“ und sind es bis heute geblieben, was sich darin ausdrückt, dass sie: „nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander reden – und zwar ziemlich schlecht.“ (Schimank 2001).

Wenn man überhaupt eine Chance haben will, ein drittes Szenario zu entdecken, das für alle Seiten vorteilhafter sein könnte als die beiden bisher betrachteten, muss dieses wechselseitige Einander-schlechtreden, das bisweilen in unverhohlene Verachtung des Gegenübers ausartet, gestoppt und in einen verständigungsorientierten Dialog überführt werden.Footnote 10 Dies heißt nicht weniger, als eine seit längerem eingefahrene kommunikative Eigendynamik, die sich immer wieder selbst reproduziert, aufzubrechen.

Wie man dies angehen könnte, wäre eine eigene Betrachtung wert, die wir hier nicht leisten können. Drei generelle Voraussetzungen lassen sich aber andeuten. Man müsste erstens vermutlich auf zwei Ebenen gleichzeitig vorgehen: Zum einen müsste auf der Universitätsebene ein Dialog zwischen Leitung und Professorenschaft auf den Weg gebracht werden, zum anderen auf der hochschulpolitischen Ebene zwischen DHV auf der einen Seite, den zuständigen Ministerien des Bundes und der Länder auf der anderen.Footnote 11 Als Vermittler und Arena auf letzterer Ebene könnte der Wissenschaftsrat fungieren. Auf hochschulpolitischer Ebene wäre über Grundsätze und generelle Maßnahmen zu sprechen, auf Universitätsebene über Umsetzungen, wobei die generellen Maßnahmen Spielräume für lokale Variationen und Fächerspezifika lassen sollten.

Damit solche Dialoge auf beiden Ebenen zustande kommen und fruchtbar werden können, müssen zweitens viele auf beiden Seiten über ihre Schatten springen. Sie müssen zumindest in Erwägung ziehen, dass sie sich in manchem oder sogar vielem geirrt oder zu einseitige Sichtweisen gehabt haben könnten. Keiner müsste diese Selbst-Infragestellung offen bekennen; niemand soll gezwungen werden, sein Gesicht zu verlieren. Doch zumindest implizit müsste unmissverständlich zu verstehen gegeben werden, dass dies von nun an die selbst angebotene Gesprächsgrundlage ist, die man aber auch von der anderen Seite erwartet. Bei den von uns befragten ProfessorInnen, im Gegensatz zu den medialen Statements aus dieser Gruppe, haben wir, wie in den Kap 4 und 5 dargestellt, durchaus Zwischentöne und Gesprächsbereitschaft festgestellt. Nachdenklichere Stimmen sind, zumindest hinter vorgehaltener Hand, auch aus den Ministerien zu hören. Die journalistische Berichterstattung ist ebenfalls – siehe Kap. 2 – differenzierter geworden. Und mit seinen „Empfehlungen zur Bewertung und Steuerung von Forschungsleistungen“ aus dem Jahr 2011 hat der Wissenschaftsrat (2011), in dem ja RepräsentantInnen der Ministerien auf der einen, der ProfessorInnen auf der anderen Seite zusammenwirken, vorgeführt, wie eine abwägende Reflexion von Reformen vorgenommen werden kann.Footnote 12

Drittens schließlich dürften Empathie und wechselseitiges Lernen voneinander allerdings, selbst bei gutem Willen auf beiden Seiten, ohne Moderatoren kaum gelingen. Neben entsprechend ausgebildeten Organisationsberatern könnte eine der beteiligten Gruppen, an die man zunächst einmal nicht gerade denken würde, diese Rolle übernehmen: die Hochschulleitungen. Positional sind sie dafür prädestiniert, weil sie zwischen den ProfessorInnen auf der einen, den Ministerien auf der anderen Seite stehen. In dieser Position haben viele – wenn auch nicht alle – Leitungspersonen sich allerdings, wie in Kap. 5 deutlich geworden ist, im Zuge der Reformen mehr und mehr auf die Seite der Ministerien begeben und dadurch Vertrauen bei den ProfessorInnen eingebüßt. Das könnten sie jedoch zurückgewinnen, wenn sie in beiden Richtungen auf achtsamen „double talk“ (Schimank 2014a) – was erst einmal nach einer ‚contradictio in adiecto‘ klingt – umschalten würden. Die eine Hälfte dessen praktizieren sie bereits: Sie versuchen, den ProfessorInnen die Anliegen der Ministerien nahe zu bringen – meist mit wenig Erfolg. Die ProfessorInnen würden aber möglicherweise aufhorchen, wenn die Hochschulleitungen auch in der anderen Richtung die Anliegen der ProfessorInnen in die Ministerien tragen würden. Anders gesagt, müssten die Leitungen als unparteiische ‚ehrliche Makler‘ auftreten, die mit beiden Seiten reden, für die Belange beider Seiten Verständnis zeigen und beide Seiten letztlich auch an einen Tisch bringen wollen.

Am sprichwörtlichen ‚Runden Tisch‘ könnten dann nicht mehr wie bisher konfrontativ unverrückbare Standpunkte präsentiert und auch nicht bloß Kompromisszonen eruiert werden, wobei Letzteres immerhin schon deutlich mehr als der Status quo wäre. Sondern nun ginge es darum, sich gemeinsam die relative Berechtigung der Anliegen auch der jeweils anderen vor Augen zu führen und vor diesem Hintergrund eine vielschichtige Reformbilanz zu ziehen. Was an dem, was die Promotoren als Erfolge ansehen, könnte es auch aus Sicht der ReformgegnerInnen sein, und was nicht? Was ist aus Sicht der Promotoren falsch gelaufen und sollte korrigiert werden? Welche Nebenwirkungen an sich wünschenswerter Maßnahmen sind aufgetreten, und wie sieht dabei der Korrekturbedarf aus? Welche anderen Mängel des Status quo sehen die ReformgegnerInnen, und was für Veränderungen schweben ihnen vor? Wo haben Reformmaßnahmen Bedrohungen professoraler Identität zur Folge, die von den Promotoren bisher nicht berücksichtigt wurden? Was insgesamt aus solchen sicher nicht einfachen und ihre Zeit benötigenden Verhandlungen herauskommen könnte, wäre ein Reformpaket, hinter dem auf beiden Seiten viele stehen könnten.

Soweit zur Vorgehensweise! Lässt sich etwas über die generelle Richtung sagen, in die eine solche Reform der Reformen streben sollte? Abstrakt formuliert könnte die Devise lauten: vom bisherigen Entweder-oder zu einem Sowohl-als-auch. Um das an zwei Beispielen zu erläutern, die bereits ein Stück weit dieser Devise folgen:

  • Auf der Ebene einzelner Universitäten kann eine Maßnahme wie die LOM, der die Universität als Ganze unterliegt, intern entsprechend weitergegeben werden, und zwar nicht nur auf Fakultäten heruntergebrochen, sondern bis zur einzelnen Professur. Hier und da ist aber zu beobachten, dass diese rigorose Leistungsbezogenheit der Zuweisung finanzieller Mittel anhand sehr simplifizierender Indikatoren universitätsintern gar nicht erst eingeführt oder aber wieder zurückgenommen wurde. Die Hochschulleitungen entschieden in diesen Fällen, die Mittel wieder wie zuvor auf die Fakultäten zu verteilen; oder zumindest wurde den Fakultäten gewährt, bei der Verteilung der Mittel an ihre Professuren nicht die LOM anzuwenden. So schildert ein Zellbiologe die Erfahrungen seiner Fakultät: „Das ist ganz klar: LOM war da für uns nicht zielführend. Weil das eher dann dazu geführt hat, dass man weniger zusammenarbeitet, sondern jeder mehr für sich …, und wenn man von der Drittmittelsituation abhängt, dann ist natürlich kooperatives Vorgehen, wenn man größere Kooperationsprojekte plant, kommt man da als Einzelkämpfer natürlich nicht so besonders weit.“ (BIO4) Die LOM ist in solchen Fällen also nicht zur Gänze zurückgenommen worden, wurde aber nicht bis zur letzten Konsequenz ausgereizt, sondern ein ganzes Stück weit außer Kraft gesetzt – aufgrund von Erfahrungen, die zu einer von breiter Zustimmung getragenen Entscheidung in der Fakultät geführt haben – was dann auch von der Hochschulleitung akzeptiert wurde.

  • In der gerade begonnenen Förderphase des Exzellenzwettbewerbs ist durch die Vergabekriterien festgelegt worden, dass die Hochschulleitungen für jedes von ihrer Universität eingeworbene Exzellenzcluster einen finanziellen Overhead beantragen können, um ihn zur strategischen Weiterentwicklung und Profilbildung der Forschung einzusetzen. Die bewilligten „Strategiezuschläge“ wurden von den Leitungen durchweg nicht dafür beantragt, die Cluster weiter auszubauen, sondern im Gegenteil zur Vermeidung von „Unwuchten“:Footnote 13 Andere Forschungsfelder der jeweiligen Universitäten, die teils schon spezifiziert worden sind, teils noch identifiziert werden müssen, erhalten diese Mittel. Damit wird im Exzellenzwettbewerb nicht nur dem ansonsten praktizierten „Matthäus-Prinzip“ eine Grenze gesetzt, sondern es wird sogar ein Gegenprinzip dazu installiert: Auch solche Forschungsfelder einer Universität werden in gewissem Maße finanziell unterstützt, die nicht zum Förderformat Cluster passen oder die erst noch zur Clusterfähigkeit entwickelt werden müssen.

Genereller und plakativ zugespitzt formuliert: Nicht entweder Individualforschung oder große Forschungsverbünde, nicht entweder Monografien oder Zeitschriftenartikel, nicht entweder „Employability“ oder fachliche Vertiefung, nicht entweder starke Leitungen oder starke Selbstverwaltungsgremien, nicht entweder ProfessorInnenautonomie oder Rechenschaftspflicht – sondern in all diesen und weiteren Fragen anstelle schlechter Gegensätze sowohl das eine als auch das andere!

Die Reformen kritisch überprüfen und, wo nötig, korrigieren oder begrenzen, aber nicht völlig abschaffen, als hätte es ihrer überhaupt nicht bedurft: Das müssten die ProfessorInnen den Ministerien zugestehen. In der umgekehrten Richtung müsste das Zugeständnis lauten: Die Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsystems darf nicht länger totgeschwiegen werden – ohne sie zur alleinigen Ursache oder auch nur Hauptursache der Mängel des Systems zu erklären. Die erheblichen Finanzmittel, die insbesondere der Bund in den zurückliegenden zwanzig Jahren über die verschiedenen ‚Pakte‘ einschließlich „Exzellenzinitiative“ in die Hochschulen gegeben hat, haben nicht einmal kompensiert, was die Länder an erforderlichem finanziellem Aufwuchs – entsprechend den gestiegenen Studierendenzahlen – nicht haben leisten können; und schon der Ausgangszustand Anfang des Jahrtausends war einer der starken Unterfinanzierung. Zur Knappheit der Finanzen kommt bislang die Ungewissheit hinzu, ob die temporär gewährten Gelder nach Auslaufen der jeweiligen Förderperioden weiter fließen werden, und in welcher Höhe – oder ob Schluss mit der ‚künstlichen Beatmung‘ ist. Inzwischen zeichnet sich ab, dass einiges verstetigt werden könnte, was auch zum Ausdruck bringt, dass die Politik die Unterfinanzierung nicht länger leugnet, wenngleich sie sie nicht offen zugibt; doch an planbare Steigerungen, wie sie den von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen seit längerem gewährt werden, ist vorerst für die Universitäten nicht zu denken.

Immerhin: Manches auf allen Seiten bewegt sich zumindest ganz langsam in Richtung dessen, was Szenario 3 skizziert. In dem Maße, in dem das Fahrt aufnähme, ergäben sich nicht nur die gerade angesprochenen positiven Effekte auf Forschung und Lehre – wobei nochmals zu betonen ist, dass es dabei nicht allein um die Beseitigung von Reformschäden ginge, sondern um solche Verbesserungen der Leistungsfähigkeit in Forschung und Lehre, die Mängel ein Stück weit beheben, die bereits vor Einsetzen der Reformen bestanden und Beweggründe für diese waren. Mit diesen Verbesserungen gingen weiterhin auch positiv zu bewertende Verschiebungen der Anteile der sieben ProfessorInnentypen einher: ReformprofiteurInnen und Zuversichtliche dürften zunehmen, Reformopfer und Verschonte nähmen ab; Wehrhafte könnten zu Zuversichtlichen werden, und SympathisantInnen müssten darauf aus sein, ProfiteurInnen zu werden, anstatt bloß zuzuschauen. Das liefe insgesamt auf eine deutliche Stärkung der ReformbefürworterInnen hinaus; und die Kollegialität zwischen den ProfessorInnen könnte ähnlich gestärkt werden, wenn Konkurrenzen und schlechte Stimmung einer kooperativen Aufbruchsstimmung weichen würden.

Wenn dieses Szenario nicht nur im Vergleich mit den anderen beiden Szenarien, sondern auch bereits für sich betrachtet als gute Alternative erscheint, könnte es sich aufseiten aller Beteiligten lohnen, Anstrengungen zu dessen Herbeiführung zu unternehmen – am besten miteinander abgestimmte. Selbst wenn man es vielleicht etwas überzogen – und ausgesprochen holprig formuliert – findet, „daß das höhere Bildungswesen einschließlich des Forschungskomplexes zur wichtigsten einzelnen Größe in der Entwicklung der Struktur moderner Gesellschaften geworden ist“:Footnote 14 Völlig gleichgültig sollte das Funktionieren der Universitäten nicht nur – aufgrund eigener Betroffenheit – ProfessorInnen, sondern auch HochschulpolitikerInnen nicht sein.