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1 Einleitung

Die Teilhabeplanung ist ein Instrument zur Feststellung des individuellen Bedarfs einer Person im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit (drohender) Behinderung. Ziel der Eingliederungshilfe ist es, die leistungsberechtigten Personen mithilfe von Sozialleistungen so zu befähigen, dass diese „ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen“ können [§ 90 Abs. 1 SGB IX n. F.]. Um geeignete Maßnahmen und Vorgehen für die potenziellen Leistungsberechtigten zu bestimmen, müssen daher zunächst innerhalb des Antragsverfahrens die individuellen, gesellschaftlichen Teilhabebeschränkungen umfänglich dargelegt werden. Häufig werden in diesem Zusammenhang nicht nur die „systematische[n] Arbeitsprozesse und standardisierte[n] Arbeitsmittel (Instrumente)“ [§ 13 Abs. 1 SGB IX n. F.] zur Feststellung des individuellen Bedarfs der PersonFootnote 1, sondern auch der zyklische Prozess als solcher als Teilhabeplanung bezeichnet. Die doppelte Bedeutung des Wortes ist in diesem Zusammenhang zu betonen, denn der individuelle Bedarf einer Person ist je nach ihren Fortschritten und Lebenszielen stetig neu zu ermitteln, um die jeweiligen Sozialleistungen anzupassen.

Im Rahmen des interdisziplinären Projekts MAEWINFootnote 2 (2018–2021) wird u. a. analysiert, wie die aktuelle Praxis des Dokumentierens innerhalb sozialer Organisationen aussieht. Zwischen Januar und Juni 2020 wurden daher insgesamt 20 leitfadengestützte Interviews mit Personen aus dem Feld der Eingliederungshilfe geführt. Im Zuge der Erhebung wurde deutlich, dass die Problematik der Privatsphäre der Menschen mit (drohender) Behinderung eine entscheidende Rolle spielt. Denn die im Rahmen der Dokumentation erhobenen Daten gehören i. d. R. zu der Kategorie besonderer personenbezogener Daten, denen ein hohes Schutzniveau zugesprochen wird [19]. Gleichzeitig spielt der Datenschutz innerhalb der Praxis Sozialer Arbeit „eine ambivalente und somit wenig klare Rolle“ [19, S. 414]. So ist nach Pudelko und Richter [19] zwar ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Umsetzung rechtlicher Rahmenbedingungen zum Schutz personenbezogener Daten vorhanden, die nicht zuletzt durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) an Relevanz erhalten haben, doch verbindet sich damit auch die Herausforderung, wie genau diese Anforderungen in der Praxis umgesetzt werden können. Denn mit der Anwendung der DSGVO werden Personen adressiert, die zu einer informierten Einwilligung fähig sein sollen; eine Annahme, die im Tätigkeitsfeld Sozialer Arbeit nicht überall vorausgesetzt werden kann. Sozialarbeiterisches Handeln versucht daher, diese Diskrepanz mittels ihres Doppelmandates aufzufangen: indem sich die Fachkräfte nicht nur dem Staat als Geld- und Auftraggeber gegenüber verpflichtet sehen, sondern sich auch an den Bedürfnissen und Bedarfen ihrer Adressatinnen und Adressaten orientieren [vgl. 7, S. 47]. Beispielsweise, indem Privatheitsbedürfnisse vulnerabler Personen wie im Rahmen der Teilhabeplanung nicht nur gegenüber Dritten, sondern auch organisationsintern geschützt werden. So deuten die Ergebnisse aus den 20 Interviews darauf hin, dass die interviewten Personen ein differenzielles Verständnis von Privatheit vertreten, welches sich auch im Umgang mit der Dokumentation niederschlägt. Im vorliegenden Beitrag werden daher zunächst die Funktionen sowie Leerstellen von Dokumentation sozialer Organisationen herausgearbeitet. Gerade, weil die Nutzung von Daten sozialer Organisationen durch andere Berufsgruppen (bspw. IT-Entwicklerinnen und IT-Entwickler) innerhalb Deutschlands noch am Anfang steht, sollen die Ergebnisse auch dafür genutzt werden, um für das Verständnis von Privatheit in diesem Anwendungsfeld zu sensibilisieren.

2 Einblicke in die Daten und die Dokumentationspraxis

Zunehmend, wenn auch noch nicht umfassend und flächendeckend, erfolgt die Dokumentation innerhalb sozialer Organisationen Deutschlands in digitalen Dokumentationssystemen (oftmals auch Fachsoftware bzw. digitale Fachverfahren genannt). Diese IT-gestützten Verfahren beinhalten sowohl lokal-gebundene als auch webbasierte Lösungen der Dokumentation [vgl. 17]. Mit Blick auf IT-basierte Anwendungen für die SozialwirtschaftFootnote 3 lässt sich feststellen, dass eine Vielzahl an Systemen und Verfahren existieren, welche teils durch eigenkonstruierte Softwarelösungen einzelner Organisationen ergänzt werden [11, 12]. Während das Für und Wider solcher digitalen Verfahren in der Literatur bereits stark diskutiert wird [vgl. 10, 12, 13, 15, 17, 18], fällt der Blick vergleichsweise selten auf die intendierten Leerstellen solcher Dokumentationen. Also auf das, was nicht dokumentiert wird, obwohl es bekannt und für den weiteren Verlauf relevant ist. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, nach vorhandenen und nicht-vorhandenen Daten der Dokumentation zu unterscheiden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Grenzen zwischen dem, was notiert wird, und dem, was fehlen könnte bzw. fehlt, durchaus fließend sind.

Basis der vorliegenden Ergebnisse stellen die zwischen Januar und Juni 2020 geführten, leitfadengestützten Interviews mit 20 Personen aus dem Feld der Eingliederungshilfe dar. Die interviewten Personen arbeite(te)n entweder bei einem Leistungserbringer oder einem Leistungsträger der Sozialhilfe oder EingliederungshilfeFootnote 4 in Nordrhein-Westfalen oder Berlin und waren zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 29 und 63 Jahren alt; einige Personen übernehmen FührungsaufgabenFootnote 5.

2.1 Vorhandene Daten

Zunächst wird auf diejenigen Daten eingegangen, die im Rahmen der Eingliederungshilfe in digitalen Dokumentationssystemen festgehalten werden und für mögliche Datenanalysen bspw. im Rahmen algorithmischer Verfahren zur Verfügung stehen würden. Insbesondere im zweiten Teil werden zudem Ergebnisse aus den Interviews thematisiert und mit vereinzelten Zitaten aus den Interviews unterlegt.

2.1.1 Daten (in) der Teilhabeplanung

Da die Teilhabeplanung als Verfahren und Instrument der Eingliederungshilfe den gesetzlichen Regelungen derselben unterliegt, lassen sich die notwendigen Kriterien für eine „individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung“ sowie deren Dokumentation und Nachprüfbarkeit dem dazugehörigen Gesetzestext entnehmen [§ 13 Abs. 2 SGB IX n. F.]; diese sollen insbesondere erfassen,

  1. 1.

    ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,

  2. 2.

    welche Auswirkungen die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat,

  3. 3.

    welche Ziele mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen und

  4. 4.

    welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.

Ausgehend von dieser Bestimmung werden im Rahmen der Teilhabeplanung neben sozialrechtlich relevanten Daten einer Person zur Abwicklung des Antrags, auch besondere, personenbezogene Daten wie medizinische Diagnosen und (fach-) ärztliche Gutachten sowie Berichte (bspw. Arztbriefe, Krankenhausunterlagen) über die (drohende) Behinderung eines Menschen erfasst. Hierbei kommt es weniger auf die medizinische Diagnose gemäß der aktuellen International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) an sich, sondern vielmehr auf die Wesentlichkeit der Einschränkung von Teilhabe aufgrund dieser medizinisch festgestellten Behinderung an. Häufig wird in diesem Zusammenhang daher von der „wesentlichen Behinderung“ gesprochen [2]. Eine wesentliche Behinderung liegt dann vor, wenn die körperliche, geistige oder seelische Behinderung so gravierend ist, dass die Menschen mit diesen Behinderungen „in erheblichen Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt sind“ [2, S. 5, Hervorhebung im Original]. Für die Bestimmung der wesentlichen Behinderung müssen daher neben den medizinischen Diagnosen auch die „resultierenden Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit“ bekannt sein [2, S. 7]. Spätestens mit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG, 2017–2023) soll sich hierfür an der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) orientiert werden [§ 118 Abs. 1 SGB IX n. F.]Footnote 6.

Zum Nachweis dieser Wesentlichkeit bedarf es je nach Art der Behinderung und Einschränkung der Teilhabe unterschiedlicher Dokumente. Im Rahmen der geführten Interviews wurde deutlich, dass dies trotz aller Individualität jedes Falls u. a. die folgenden Datensätze umfasst: detaillierte Beschreibung über die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Ressourcen und Vorlieben eines Menschen sowie über (außer-)häusliche Probleme, Barrieren und Herausforderungen, welche die Person in ihrem Alltag beeinflussen. Darüber hinaus gibt es biografische Berichte zur Person, ihrer aktuellen Lebenssituation und ihrer (bisherigen) Lebensentwicklung. Diese liegen i. d. R. in Form von (Selbst-)Beschreibungen vor und werden durch fachliche Stellungnahmen bspw. der Bezugsbetreuungen ergänzt und eingeordnet. Diese fachlichen Stellungnahmen sind dann besonders wichtig, wenn die betreffenden Personen ihre Bedarfe nicht direkt formulieren (bspw. aus Schamgefühl) oder, wie im folgenden Interviewzitat, wenn die bezugsbetreuenden Personen bestimmte Wünsche und Ideen hinter getätigten Aussagen und Wünschen vermuten, jene jedoch unausgesprochen bleiben:

„Wenn Klienten sagen: Ich will eine Familie gründen, aber nicht wirklich verstehen, was das eigentlich heißt, was damit verbunden ist. Aber sie verbinden damit ein Gefühl. […] Und dann […] zu entwickeln, was verbindet sich hinter diesem Gefühl?“

Mittels der Informationen und Interpretationen sowie weiteren Daten werden Förderungsschwerpunkte identifiziert und geplante Fern- und Nahziele mit den sie betreffenden Personen definiert. Diese werden mit sogenannten Maßnahmen bzw. Vorgehen hinterlegt und konkretisiert. Das sind bspw. inhaltliche Verabredungen darüber, was in Zukunft umgesetzt werden soll, welcher Zeitbedarf dafür veranschlagt wird und ggf., ob die Unterstützung in Form einer Fachleistungsstunde oder einer Assistenzleistung erbracht werden könnte. Auch diese Daten werden meist im Rahmen des Instruments zur individuellen Bedarfsermittlung erfragt, definiert und festgehalten. Sofern es sich bei dem Teilhabeplan nicht um einen Erstantrag handelt, kann zudem auf vergangene Maßnahmen, Vorgehen und Ziele sowie auf die zur Verfügung gestellten Ressourcen (d. h. Anzahl und Umfang der bewilligten Leistungen zur Teilhabe) Bezug genommen und diese hinsichtlich ihrer Angemessenheit zur Erreichung der definierten Ziele bewertet werden.

2.1.2 Die Frage nach Relevanz und Subjektivität

Neben dem Instrument zur Ermittlung des individuellen Bedarfs einer Person werden bei den Leistungserbringern und Leistungsträgern der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe weitere Daten und Informationen festgehalten. Das Dokumentieren innerhalb sozialer Organisationen ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient bestimmten Funktionen [6, 16]. Merchel und Tenhaken [17, S. 171 f.] benennen sechs Intentionen, die mit Dokumentation einhergehen können:

  • als Tätigkeitsbeleg – entweder als einfacher Nachweis für ein tatsächliches Handeln oder in Form eines legitimatorischen Nachweises korrekt erbrachter, im Sinne einer vorherigen Handlungsanweisung realisierten Leistung […];

  • als Dokument zur Absicherung in Situationen, die künftig möglicherweise eine Rekonstruktion des Handelns in legitimatorischer Absicht erfordern […];

  • zur Planung und Steuerung von Hilfen […];

  • als Strukturierungs- und Bewertungshilfe für eine intensive fachliche Auseinandersetzung mit dem Verlauf und den Ergebnissen von Hilfen […];

  • als Grundlage für (möglicherweise künftig erforderliche) gutachterliche Stellungnahmen gegenüber Gerichten […];

  • oder als Grundlage für (qualitative) Evaluation […].

Auffallend ist, dass der Blick in die unsichere Zukunft und die Unwissenheit, ob dort bestimmte Informationen benötigt werden könnten, eine zentrale Leitfrage im Dokumentationsprozess einnimmt. Fehlen in den Einrichtungen und sozialen Organisationen klare Kriterien bzw. festgelegte Dokumentationsroutinen [20] oder werden diese als unzureichend wahrgenommen, liegt die Bestimmung der Relevanz bestimmter Informationen im individuellen Ermessen der dokumentierenden Personen [vgl. auch 1, 24]. Exemplarisch werden folgend drei Kriterien zur Beurteilung der Relevanz vorgestelltFootnote 7.

Zum einen kann die Relevanz einer Information mit Verweis auf einen impliziten und/oder expliziten Handlungsauftrag innerhalb der Betreuung begründet werden. Die neuen Informationen haben dann direkte Auswirkung auf die Gestaltung der fachlichen Arbeit und sind entsprechend als Nachweis oder zur Rekonstruktion des Falls zu notieren. In knapp der Hälfte aller Interviews wurde hierbei die Zweckgebundenheit der Dokumentation zum direkt vorliegenden Betreuungsauftrag betont. Das folgende Interviewzitat verdeutlicht jedoch, dass die Abwägung beileibe nicht immer eindeutig ist und der implizite Handlungsauftrag auch als ein zukünftiger verstanden werden kann:

„Wenn sich ein Klient verliebt, ist das eine sehr, sehr persönliche Geschichte. Wenn der mir das anvertraut: Habe mich da verliebt. Dann ist das zu dokumentieren, wenn sich darauf ein Unterstützungsbedarf ergibt. Wenn das aber nicht relevant ist/ wobei, bei diesem Thema hat es an vielen Stellen Relevanz.“

Zum anderen können bestimmte Hintergrundinformationen (ggf. in Verbindung mit ihrem Neuheitswert) als relevant eingestuft werden. Dies betrifft neben allgemeinen Informationen des täglichen Arbeitens, bspw. Absprachen mit den Angehörigen oder Veränderungen der Wohnsituation, mitunter auch intime Informationen der betroffenen Personen, die diese unter Umständen nicht dokumentiert sehen möchten. Im Rahmen des Abwägens wird dann nicht nur entschieden, ob diese Informationen so wichtig sind, dass sie dennoch notiert werden (und dies gegenüber der betroffenen Person transparent gemacht wird), sondern auch, ob diese Informationen im Zweifelsfall sogar gegen den ausdrücklichen Willen der Personen (und mitunter ohne deren Kenntnis) an Dritte weitervermittelt werden, wie das folgende Zitat zeigt:

„Das hört sich jetzt ganz böse an, weil eigentlich ist das ein Vertrauensmissbrauch des Bezugsbetreuers gegenüber den Menschen mit Behinderung. Wenn er uns Dinge mitteilt, wo der Leistungsberechtigte nicht möchte, dass wir sie wissen. Aber diese Aussagen sind so wichtig, weil wir sonst bestimmte Dinge nicht verstehen. Weil das sind ja die unausgesprochenen Lücken.“

Die letzten beiden Interviewzitate geben einen ersten Hinweis darauf, dass die Beurteilung der Relevanz unter Umständen eng mit der (gewährten) Privatheit gegenüber derjenigen Person verbunden ist, die diese Informationen betrifft. Wird eine Relevanz für den Fall festgestellt, kann die Wahrung der Privatheit von Menschen mit (drohender) Behinderung demnach zweitrangig werden. In extremen Fällen kommt es sogar zu einer Datenweitergabe, obgleich die betreffende Person dieser (ausdrücklich) nicht zugestimmt hat. Für den letzten Fall lassen sich dabei durchaus berechtigte Gründe anführen, bspw. bei Gefahr in Verzug oder geregelten Schweigepflichtentbindungen bei drohendem Schaden für die betroffene Person bzw. Dritte.

Zum dritten können Informationen Relevanz bekommen, wenn sich die dokumentierende Person im Sinne ihres professionellen Verständnisses dazu verpflichtet sieht, bestimmte Aspekte, Beobachtungen oder Interpretationen festzuhalten. Dies trifft dann zu, wenn die organisationsintern vereinbarten, IT-gestützten Dokumentationsroutinen als unvollständig, unpassend oder unklar wahrgenommen werden [8]. In diesen Fällen werden, wenn möglich, die vorhandenen Dokumentationsmöglichkeiten hinsichtlich eigener Ansprüche an Fachlichkeit angepasst oder umgangen, indem bspw. bestimmte Beobachtungen in anderen digitalen Eingabefeldern oder separat notiert werden.

„Ja, wir haben dieses Standardprotokoll, was jeder […] ausfüllt. Die sehen auch alle gleich aus. Wenn es dazu ein Gespräch gab, dann gibt es dazu immer noch ein Blanko-Bogen. Weil dieses Protokoll, diese Möglichkeit, dass man da ein Gespräch aufnehmen kann oder Sachen festhalten kann, eben so nicht hergibt. Da muss man einfach erfinderisch sein.“

Die Beurteilung der Relevanz kann also verschiedenen Gründen folgen und wird im Zweifelsfall subjektiv entschieden. Die Subjektivität wird auch in den Interviews mehrfach thematisiert; so nimmt bspw. das individuelle (Lebens- und Berufs-)Erfahrungswissen eine wichtige Rolle innerhalb der professionellen Arbeit ein. Eine Dokumentation gibt damit gleichsam „Auskunft […] über die Sichtweise und die Interpretationen der dokumentierenden Person(en), über ihre (selektiven) Wahrnehmungen, über ihre Selbstdarstellungsbedürfnisse, ihre Interessen, ihre Kategorien und »theoretischen« Denkmuster“ [17, S. 172]. Ihre Betonung stellt damit an mancher Stelle auch eine Abgrenzung zur Objektivität und StandardisierungFootnote 8 dar, die dem professionellen Verständnis der Sozialen Arbeit, nämlich der ganzheitlichen Betrachtung des individuellen Falls [9] nicht gerecht zu werden scheinen und stattdessen mit der „Gefahr von Reduktion und Verfälschung komplexer Lebenswelten“ einhergingen [17, S. 184].

Gleichzeitig hat die Wertschätzung der Klientinnen und Klienten einen hohen Wert innerhalb des professionellen Verständnisses der Sozialen Arbeit. Diese Wertschätzung soll sich zwar nach Ansicht der interviewten Personen auch in der Dokumentation selbst niederschlagen, dies ist jedoch nicht überall gelebte Praxis, wie das folgende Zitat verdeutlicht:

„Und, es sind immer menschliche Urteile. (…) Und die können auch einmal richtig gemein, falsch, unprofessionell, unflätig sein. Erlebe ich auch. (…) Also, die Anforderung ist: Die müssen professionell sein. Verantwortlich.“

Dieser Punkt ist in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen macht er deutlich, dass der Anspruch an und Praxis der Dokumentation nicht zwingend übereinstimmen. Folglich enthalten die nach Merchel und Tenhaken [17] in der Dokumentation dargestellten Sichtweisen und Wahrnehmungen einer Person eben auch deren Schattenseiten wie Vorurteile, einseitige Perspektiven oder versteckte Verzerrungen [3, 22]. Zum anderen verweist die Anforderung bei konsequenter Umsetzung nicht nur auf die angestrebte Wertneutralität (in) der Dokumentation, sondern auch auf eine bestimmte Sprachpraxis (bis hin zu einer ggf. „positiven Verzerrung“ der dokumentierten Inhalte). Diese können sowohl innerhalb eines eigenen Arbeitsbereiches als auch besonders durch professionsfremde Personen fehlinterpretiert werden. So wurde in zwei Interviews angemerkt, dass bestimmte Wörter (bspw. das Wort „Begleitung“) oder Perspektiven der Dokumentation durch das Gegenüber anders interpretiert werden (könnten) als beabsichtigt.

2.2 Nicht-vorhandene Daten

Während die Frage, was alles dokumentiert wird, mit Blick auf die rechtlichen Anforderungen von Dokumentation und die Dokumentationsroutinen sozialer Einrichtungen recht umfassend beantwortet werden kann, ist dies für nicht-vorhandene Daten weitaus schwerer zu bestimmen. Zumal an dieser Stelle durchaus zwischen dem, was nicht an Daten in ein elektronisches System eingespeist wird, und tatsächlichem Nichtwissen um diese Informationen unterschieden werden sollte. Letzteres ist für das Verständnis von Privatheit und der Weiterverwendung vorhandener Daten entscheidend.

2.2.1 Fehlende und verborgene Daten

Wird mit einer IT-gestützten Form der Dokumentation gearbeitet, können zunächst technische Rahmenbedingen als Ursache für nicht-vorhandene Daten benannt werden. Dies beinhaltet beileibe nicht nur fehlende oder begrenzte Hardware (bspw. geringe PC-Dichte in den sozialen Einrichtungen, fehlende mobile Endgeräte zur Erfassung außerhalb der Büroräumlichkeiten), sondern vor allem auch Einschränkungen durch die IT-gestützten Verfahren bzw. Software selbst. Dies reicht von einer schlichten Begrenzung der Zeichenanzahl bis zu einer durch die Software intendierten Aufzeichnungspraktik, die nicht mit dem Praxishandeln der Fachkräfte kompatibel ist [5, 8, 13, 17, 23]. Das ist bspw. dann der Fall, wenn eine Systematik (bspw. bestimmte Items) durch das System vorgeben wird, mit dieser jedoch Querschnittsthemen, Wechselwirkungen oder komplexe Strukturen zwischen den Einzelfaktoren nicht (mehr) transparent gemacht werden können. Oder auch, wenn innerhalb IT-basierter Verfahren nicht die Möglichkeit besteht, jenseits festgelegter Items zu dokumentieren (d. h. zu enge Dokumentationsroutinen bestehen) und damit o. g. Umgehungsstrategien beim Dokumentieren verhindert werden. Zudem sind mit dem Medienbruch selbst, also dem Wechsel von Papier- auf elektronische Akten, unter Umständen irreversible Datenverluste einhergegangen.

Darüber hinaus gibt es personenbezogene Faktoren, die Auswirkungen auf die Qualität und den Umfang einer Dokumentation haben können. In den Interviews wurden hierfür bspw. das fehlende Verständnis für die Wichtigkeit der Dokumentation [vgl. auch 17], Unsicherheit im Umgang mit der Software, Lustlosigkeit, Vergesslichkeit sowie fehlende Sprach- und Schreibkompetenzen beim Personal (bspw. Rechtschreibprobleme oder eingeschränkte deutsche Sprachkenntnisse) genannt. Darüber hinaus werden oftmals auch konkrete Einschränkungen durch organisatorische Rahmenbedingungen (bspw. mangelnde zeitliche und/oder personale Ressourcen, hohes Arbeitsaufkommen) sowie Vorbehalte gegenüber der Technik im Allgemeinen oder der mit der Dokumentation einhergehenden Verbindlichkeit und Exaktheit im Besonderen angeführt [13, 15, 17], um die herausfordernde Zusammenarbeit zwischen IT-Technik und dem Sozialsektor zu beschreiben. Dies kann dazu führen, dass die Dokumentation auf ein Minimum beschränkt wird. Zudem werden häufig diejenigen Informationen nicht (elektronisch) erfasst, denen entweder im Abwägungsprozess hinsichtlich der Relevanz ein geringerer Stellenwert zugesprochen wird oder aber, die schlichtweg zu kurzfristige Informationen enthalten, um sie in ein digitales System einzuspeisen. Gerade im letzteren Fall sind stattdessen bspw. handgeschriebene Zettel oder Telefonate das bevorzugtere Medium der Kommunikation:

„… wenn jetzt jemand aufschreibt, dass irgendwelche Kompressionsstrümpfe abgeholt werden können, dann findet man das in der Regel nicht im digitalen Netz wieder. Dann wird das auf Papier irgendwo ein Zettel hinterlegt (lacht) oder man wird angerufen […]. Dann schreibt man das in der Regel nirgendwo auf.“

Nicht zuletzt kann schließlich auch die Perspektive der betroffenen Menschen mit Behinderung im Verborgenen bleiben, deren Möglichkeiten zur Darstellung ihrer eigenen Perspektive bspw. durch das Instrument der Bedarfsermittlung selbst, organisationsinterne Dokumentationsroutinen und/oder aufgrund ihrer eigenen kommunikativen Fähigkeiten limitiert sein können. Gerade in extremen Fällen kann sich so die Darstellung der eigenen Perspektive auf stellvertretende AussagenFootnote 9 oder vereinzelte Wunschäußerungen bzgl. der eigenen Lebensplanung beschränken; eine interviewte Person betonte hierbei das „Machtgefälle“, das hinsichtlich der Dokumentationsmöglichkeiten besteht. Im Rahmen einzelner Interviews wurde zudem geäußert, dass die Partizipation der Klientinnen und Klienten gerade auch in der Dokumentation wünschenswert wäre:

„… ich fände es optimaler/ das ist auch gerade im Gespräch bei uns […] [d]ass man sich kurz hinsetzt am Ende eines Kontakts und guckt: Okay, was war heute wichtig? Was wollen wir reinschreiben? Man kann die also involvieren.“

Eine solche Partizipation hätte mehrere Funktionen: Zum einen würde sie zu einer Entmystifizierung der Dokumentation beitragen, weil zunächst Transparenz hinsichtlich der dokumentierten Inhalte hergestellt werden würde. Im Sinne einer Überprüfung könnte darüber hinaus bestimmt werden, ob alle Akteure mit den dokumentierten Inhalten übereinstimmen. Beides sind Aspekte, die auch mit der DSGVO gefordert werden. Die Klientinnen und Klienten wären zudem nicht mehr bloß „Objekte der Datenerhebung“ [14, S. 87, auch 6, 16], sondern aktiver Part im Prozess des Dokumentierens selbst; bspw., weil fehlerhafte Inhalte (schneller) korrigiert oder eigene Perspektiven ergänzt werden könnten.

Diese genannten Einschränkungen führen dazu, dass der Aussagengehalt der vorhandenen Dokumentation in den Interviews als „lückenhaft“ bezeichnet wird [siehe auch 9]. Da die vorhandene Dokumentation durch die dokumentierenden Personen mitunter nur als eine von vielen möglichen Interpretationen wahrgenommen wird, bleibt in der alltäglichen Arbeit der Professionellen eine permanente Unsicherheit bzgl. der Korrektheit dieser Interpretationen bestehen. Diese muss nicht nur ausgehalten werden, sondern nimmt eine prägnante Rolle im professionellen Verständnis ein. Das, was verschriftlicht werden kann – sei es, weil es externalisiert wurde oder, weil es die Dokumentationsroutinen hergeben – und demnach als explizites Wissen zur Verfügung steht, stellt trotz allem häufig nur einen Ausschnitt von Wirklichkeit dar. Diese Wahrnehmung drückt sich besonders prägnant im folgenden Zitat aus: „Papier ist geduldig. Man kann sich viel vorstellen, aber eben auch viel Falsches.“ Die Diskrepanz zwischen dem, was verschriftlicht wird, und dem, was die Personen im alltäglichen Umgang mit den Klientinnen und Klienten erleben, schließt damit an die bereits genannte Kritik von Verbindlichkeit und Exaktheit der Dokumentation an [13, 17]. Mehr noch: Der teils starke Fokus auf die Eindeutigkeit der Dokumentation und die Relevanz der Inhalte verhindert mancherorts den reflexiven Aspekt des Schreibens, um Inhalte zu ordnen, Verbindungen zu konstruieren und Interventionen zu entwickeln.

2.2.2 Persönliche Informationen und Technik

Trotz einer fehlenden arbeitsfeldübergreifenden oder auch arbeitsfeldinternen Vereinheitlichung von Dokumentationsanforderungen [17], sprechen sich nur zwei Personen explizit dafür aus, dass es nichts geben dürfe, was nicht auch dokumentiert werden solle. Eine der beiden Personen verweist dabei insbesondere auf die Notwendigkeit einer offenen Fehlerkultur innerhalb sozialer Organisationen:

„… es wäre falsch, nicht festzuhalten, dass es auch einmal scheitert. Dass man auch vielleicht mit seiner Einschätzung verkehrt liegt, finde ich auch richtig, dass man es dokumentiert.“

In den meisten Interviews können jedoch Indizien für einen normativen Konsens gesammelt werden, dass bestimmte Informationen über die leistungsberechtigten Personen nicht erfasst werden sollten. Dies betrifft nicht nur die bereits thematisierten, persönlichen Wertungen der dokumentierenden Personen, sondern vor allem den Umgang mit Informationen im Rahmen der Dokumentation selbst. So sprechen sich neun Personen dafür aus, dass bestimmte Themen gar nicht oder zumindest nicht detailliert dokumentiert werden sollten. Genannt werden neben Traumata oder Gewalterfahrungen, in der Vergangenheit liegende Lebensereignisse ohne Auswirkung auf die aktuelle Situation (bspw. Haftaufenthalte), Partnerschaft inkl. Sexualität (bspw. Partnerschaftsprobleme, Geschlechtskrankheiten oder die Häufigkeit der Sexualkontakte) auch die eigene Weltanschauung sowie psychische Themen, die bspw. im Rahmen von Therapien durch die Klientinnen oder Klienten aufgearbeitet werden.

Begründet wird ein solch bewusstes Nicht-Dokumentieren bzw. sparsames Dokumentieren zum einen mit der Intimität der Informationen. So verweist bspw. eine Person auf ihr Wissen um das Schamgefühl bei Menschen mit Behinderung, wenn diese ihren eigenen Hilfebedarf gegenüber Dritten kommunizieren müssen. In zwei weiteren Interviews wird betont, dass eine fachliche Dokumentation nicht der eigenen psychischen Verarbeitung von belastenden Informationen dient. Stattdessen sollten nur diejenigen Informationen festgehalten werden, welche die o. g. Funktionen erfüllen, also bspw. Informationen, die zur Rekonstruktion des Falls notwendig sind. Alle drei Aspekte, nämlich der Ausschluss bestimmter Themen, die Thematisierung des Schamgefühls und die Betonung dieser auch verarbeitenden Funktion des Schreibens unterstreichen die wahrgenommene Intimität der nicht bzw. nur sparsam dokumentierten Inhalte durch die dokumentierende Person. Sie werden eben deswegen nicht bzw. nicht in dieser Detailtiefe notiert, weil um ihren sensiblen Inhalt für die betroffene Person gewusst wird. Prägnant wird dies durch eine Person wie folgt formuliert: nämlich, „dass es durchaus Geschichten gibt, die nirgendwo zwingend dokumentiert werden müssen.“

Zum anderen führt aber gerade auch das Wissen um die potenzielle Weiterverwendung der Informationen bspw. im Rahmen des Antrags auf Leistungen zur Teilhabe dazu, dass insbesondere bei sensiblen Themen äußerst vorsichtig und umsichtig dokumentiert wird. So wird in fünf Interviews explizit darauf verwiesen, dass die im IT-gestützten Verfahren dokumentierten Daten bspw. aufgrund einer gemeinsam geteilten, digitalen Akte durch organisationsinterne Kolleginnen und Kollegen anderer Organisationseinheiten eingesehen werden könnten. In einigen Fällen wird deswegen von einer detaillierten Darstellung abgesehen:

„Aber ich würde keine intimen oder sehr privaten Details einer Person dort festhalten, weil das natürlich tendenziell auch immer Daten sind, die auch, wenn sie geschützt sind, vielleicht irgendwo mal einzusehen werden und ja auch gespeichert werden und ja existieren.“

In solchen Fällen wird gerade so viel notiert, dass mit dem Fall vertraute Personen eine hinreichende Arbeitsgrundlage haben. Die so resultierende sparsame Dokumentation wurde dann bspw. als Dokumentation „auf einer Metaebene“ bezeichnet.

3 Ein Erklärungsversuch

Die Ergebnisse können durchaus überraschen: Nicht nur kann es in seltenen Fällen dazu kommen, dass sensible Informationen trotz fehlendem Einverständnis mit Verweis auf die Relevanz an Dritte übermittelt werden. Darüber hinaus werden manche intimen Informationen gar nicht erst (so detailliert) digital dokumentiert, um sie so vor dem Zugriff Dritter innerhalb der eigenen Organisation zu schützen. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich unter Hinzunahme der Relationstheorien zur Privatheit erklären, in denen die Privatheit als Bedingung für eine vertrauensvolle, personelle Beziehungen (im Folgenden: intime BeziehungFootnote 10) unterstrichen wird [4, 21].

Rössler [21] erweitert diese Theorien, wenn sie diese mit informationeller Privatheit verbindet: Demnach wird mithilfe der Theorien relationaler Privatheit nicht nur „die Differenz zwischen öffentlichen und privaten Beziehungen präzise“ bestimmt, in denen es „wesentlich um die Funktionsbestimmung des Privaten als Austausch bestimmter Informationen geht“ [21, S. 235]. Vielmehr verortet sie im Setting intimer Beziehungen den Versuch einer Person, „zu erproben, was ein selbstbestimmtes und authentisches Verhalten, Leben sein könnte, welche Inszenierungen von Selbstdarstellung möglich, erwünscht, authentisch usf. wären“ [21, S. 235]. Wird diese Theorie mit der Sozialen Arbeit in Verbindung gebracht, die „wie kaum ein anderes Berufsfeld auf eine ungestörte, vertrauensvolle Beziehung zu den Ratsuchenden angewiesen“ ist [19, S. 415], so wird deutlich, dass Beziehungen im Kontext der Eingliederungshilfe stets potenziell intime Beziehungen sein können. Dies gilt besonders, wenn Menschen mit Behinderung im Rahmen der Teilhabeplanung "Fragen der eigenen praktischen Identität" und "Grundfragen ihres Lebens" thematisieren [21, S. 240].

Mit Blick auf ihre Ausführungen ist eine solche These mindestens gewagt; spricht Rössler doch davon, dass die Beziehung bspw. zu einer Psychoanalytikerin nicht allein deswegen intim ist, weil ihr Details über das eigene Leben mitgeteilt werden [vgl. 21, S. 237]. Wohl aber kann es zu einer intimen Beziehung werden, nämlich dann, wenn in dem „symbolischen Raum“ mit dem Gegenüber „Prozesse der intersubjektiven Auseinandersetzung statt[finden], die als konstitutiv für die Identität und Autonomie der Betroffenen begriffen werden müssen“ [21, S. 238–239]. Ein solch intimes Setting mag einseitig und temporär in einer ansonsten professionellen Beziehung sein; gleichwohl zeugen Aussagen wie „[w]enn der mir das anvertraut“ oder etwas wurde „im Vertrauen“ erzählt für ihre Existenz. Hier wird die rein professionelle Beziehung verlassen und Informationen ausgetauscht, die in anderer Konstellation unter Umständen nicht mitgeteilt worden wären.

Zugleich ist die Ausbildung der eigenen Identität „auf Beziehungen angewiesen […], in denen […] konstitutive Liebe und Wertschätzung vermittelt wird: nur in solchen Beziehungen kann nämlich das für gelingende Identitäten notwendige Selbstvertrauen überhaupt erlangt werden“ [21, S. 239]. Die o. g. Forderung an die Dokumentation, dass diese wertschätzend ausfallen solle, kann demnach als Indiz für eben jene vertrauensvermittelnde Beziehung herhalten. Noch deutlicher wird es bspw. im Setting besonderer Wohnformen (ehemals: stationäre Einrichtungen), wo die Unterscheidung in Wohn- und Arbeitsräume nicht mehr trennscharf zu ermitteln ist: Was der Wohnort des einen ist, ist der Arbeitsort des anderen. Werden in einem solchen Setting „selbstbestimmtes und authentisches Verhalten“ und die „Inszenierungen von Selbstdarstellung“ erprobt [21, S. 235], ist damit zugleich die Anforderung an das Gegenüber verbunden, solche Erprobungen und Versuche nicht öffentlich zu machen [21, S. 244 ff.]. Die Öffentlichkeit beginnt dabei nicht erst, wenn Informationen in die Hände Dritter außerhalb der eigenen Organisation gelangen, sondern bereits mit dem Niederschreiben in ein digitales, organisationsinternes Dokumentationssystem, wo „bestimmte andere“ [21] diese privaten Informationen über die betreffende Person einsehen können. Das in solch (semi-) intimen Settings gewonnene Wissen muss daher hinsichtlich der Relevanz für die fachliche Arbeit bewertet und anschließend ggf. in das Dokumentationssystem transformiert werden (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Relationale Beziehungen und deren Auswirkung auf die fachliche Dokumentation (in Anlehnung an Rössler [21], eigene Darstellung)

Wird der Informationserhalt durch die dokumentierende Person in einem (beidseitig) intimen Setting verortet, so ist die Dokumentation der Inhalte unwahrscheinlich, aber möglich. Zu vermuten ist, dass eine ggf. doch vorhandene Dokumentation dann durch Dritte bspw. als „Hetze“ [Interview], „Gerede, Tratsch“ oder Kollusion wahrgenommen wird [21, S. 242]. Stellen sich die mitgeteilten Informationen jedoch als relevant für die weitere professionelle Arbeit heraus, so ist eine Dokumentation erforderlich. Für die dokumentierende Person kann dies eine Dilemma-Situation darstellen: Einerseits muss die Kontrolle über relevante, intime Informationen abgegeben werden, da im Rahmen des Antragsverfahrens eine gewisse Pflicht zur Offenlegung besteht, um eine plausible und nachvollziehbare Legitimation zur Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe nachweisen zu können. Andererseits können die Informationen nicht mitgeteilt werden, ohne damit die vertrauensvolle Beziehung zur Klientin bzw. zum Klienten ggf. nachhaltig zu gefährden und sich der Kollusion schuldig zu machen.

Ein potenzieller Ausweg scheint im advokatorischen Handeln der dokumentierenden Person zu liegen, nämlich, indem sie stellvertretend für die betroffene Person von der Weitergabe der intimen Details absieht, d. h. eine sparsame Dokumentation vornimmt. Damit belegen die dokumentierenden Personen eine Schlüsselposition im Setting der Eingliederungshilfe: Als Protektoren bzw. Gatekeeper sorgen sie für eine Informationsreduktion, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen; gleichzeitig vermitteln sie als Advokaten zwischen den Bedürfnissen der Betroffenen und den Anforderungen des Staates innerhalb der Eingliederungshilfe, indem gerade so viele Informationen zur Verfügung gestellt werden, wie notwendig sind.

Ein solches Verhalten ist jedoch nur erfolgreich, wenn das Wissen um Nichtwissen ausgehalten wird: Denn Auslassungen von Details sind nur dann möglich, wenn das die Informationen empfangende Gegenüber diese offensichtlichen Leerstellen akzeptieren kann. Gerade, weil mithilfe der dokumentierten Inhalte auch die Wesentlichkeit der Einschränkung von Teilhabe im Rahmen des Antrags auf Leistungen zur Teilhabe nachvollziehbar und plausibel belegt wird, sind Leerstellen nur als fallspezifische Aushandlungsprozesse zwischen allen am Prozess beteiligten Akteuren zu verstehen und daher in aller Regel eher Ausnahmen. Dabei werden insbesondere die Mitarbeitenden der Leistungsträger herausgefordert: Reichen ihnen diejenigen Informationen aus, die in schriftlicher Form in den Antrag einfließen, um zu einem Urteil über den Bescheid von Leistungen zu kommen? Eine positive Antwort auf diese Frage erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Privatheit der Menschen mit Behinderung geschützt und gewährleistet wird. Zugleich hat es einen stabilisierenden Charakter in der Vertrauensbeziehung aller beteiligten Akteure zur Folge.

4 Fazit

Obgleich Pudelko und Richter [19, S. 414] von einer „wenig klare[n] Rolle“ des Datenschutzes innerhalb der Praxis Sozialer Arbeit sprechen, verdeutlichen die Ergebnisse der Interviews, dass einige Datenschutzprinzipien wie die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung, Zweckbindung und Richtigkeit der Daten sowie die Datenminimierung bereits implizit bedacht, teils sogar schon umgesetzt werden. Gleichwohl wird deutlich, dass vorhandene Daten stark von der dokumentierenden Person und ihrer subjektiven Perspektive auf eine Situation [5, 17, 22,23,24] sowie von organisationsintern festgelegten Dokumentationsroutinen und deren Umsetzung durch die dokumentierende Person [5, 8, 9, 17, 20, 24] abhängen; ein Umstand, der bspw. mit Blick auf die Anforderungen von Richtigkeit und Speicherbegrenzung der Daten gemäß DSGVO nur schwer zu rechtfertigen ist. Gerade, weil innerhalb der Teilhabeplanung besondere personenbezogene Daten über die betroffenen Personen erhoben werden, erscheint partizipative Dokumentation bzw. die Mitsprache der Klientinnen und Klienten, wenigstens jedoch eine umfassende Transparenz hinsichtlich der Fragen, welche Daten vorhanden sind, ob diese auch aus Perspektive der Menschen mit Behinderung korrekt sind und wann welche Daten nicht mehr relevant sind und folglich nach Ablauf der Speicherfristen gelöscht werden müssten, als unabdingbar.

Zugleich zeigt der vorliegende Beitrag, dass die Frage, wo öffentlicher Raum beginnt und an welcher Stelle datenschutzrechtliche, technische und organisatorische Maßnahmen (TOM) getroffen werden (müssten), nicht zwangsläufig mit dem Zuweisen von Zugriffsrechten innerhalb digitaler Dokumentationssysteme abgetan werden kann. Stattdessen erscheint auch hier eine professionelle Auseinandersetzung notwendig; gerade, wenn es die Wahrung von Privatheitsbedürfnissen vulnerabler Personengruppen in der professionellen Praxis betrifft. Denn öffentlicher Raum kann mitunter schon dadurch entstehen, weil Informationen im digitalen Dokumentationssystem erfasst werden.