1 Hintergrund

Schätzungen zufolge wird die Zahl pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund über 60 Jahren in den kommenden Jahren stark ansteigen (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015). Die Datenlage zur pflegerischen Versorgung von älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist insgesamt lückenhaft und tendenziell veraltet. So zeigt eine ältere Studie von Okken und Kolleg*innen (2008) auf, dass lediglich 2 % der pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund stationäre Pflegeleistungen in Anspruch nehmen und zu 98 % zu Hause gepflegt werden, wobei nur 8 % ambulante Pflegeleistungen beanspruchen. Aktuellere Zahlen einer repräsentativen Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge konzentrieren sich ausschließlich auf muslimische Menschen und zeigen auf, dass die Vorstellungen sich im Hinblick auf die Nutzung professioneller Pflegeangebote von der tatsächlichen Inanspruchnahme unterscheiden (Volkert & Risch, 2017). Von den befragten 2.045 Personen aus sechs Herkunftsregionen gaben 29 % an, dass sie sich bei Pflegebedürftigkeit die Pflege in einem Pflegeheim vorstellen können, den Einzug in eine Pflege-Wohngemeinschaft können sich 41 % vorstellen, die Tagespflege 65 % und ambulante Pflege 95 %. Diese Pflegevorstellungen unterscheiden sich von den bisherigen Erkenntnissen, die auf eine geringere Bereitschaft zur Inanspruchnahme professioneller Pflege deuten (Carnein & Baykara-Krumme, 2013; Schenk, 2014). Liegt jedoch bereits eine Pflegebedürftigkeit bei der Person oder einer angehörigen Person vor, werden 68 % der Betroffenen zu Hause ausschließlich durch Angehörige gepflegt, 16 % nehmen ambulante Pflege und 13 % Pflege-Wohngemeinschaften oder -heime in Anspruch (Volkert & Risch, 2017). Qualitative Studien zeigen auf, dass die Bereitschaft und Möglichkeit von Familienangehörigen, Pflege zu übernehmen, sehr unterschiedlich sein kann und ein Wandel dahin gehend zu erwarten ist, dass sich innerfamiliale Bindungen und kollektivorientierte Familienkonstellationen verändern könnten, woraus sich ein höherer Bedarf an professionellen, kultur- bzw. diversitätssensiblen Pflegeangeboten ergibt (Dibelius et al., 2016; Matthäi, 2015; Mogar & von Kutzleben, 2013; Schenk, 2014; Tezcan-Güntekin, 2018a).

Zusätzlich ist der Lebensstil älterer Menschen mit Migrationshintergrund oft geprägt von transnationalen Lebensweisen. Es wird als Lebensstil verstanden, jeweils mehrere Monate im Jahr im Herkunftsland und Zielland zu verbringen. Die sogenannten Pendelmigrant*innen gestalten sich einen “Wohlfahrts-Mix” und wünschen sich, das Pendeln möglichst lange aufrechtzuerhalten (Strumpen, 2018).

Studien zur Situation pflegender Angehöriger demenzerkrankter Menschen haben aufgezeigt, dass die häusliche Pflege mit zunehmender Schwere der Erkrankung zu hohen Belastungen bei den pflegenden Angehörigen führt und es nicht allen Angehörigen gelingt, konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen und Selbstmanagement-Kompetenzen zu entwickeln (Tezcan-Güntekin & Razum, 2017; Tezcan-Güntekin et al., 2020; Yilmaz-Aslan et al., 2021a). Auch wenn die wenigen Studien belegen, dass die Pflege zumeist in der Häuslichkeit der pflegebedürftigen Person durchgeführt wird, liegen bislang kaum Erkenntnisse dazu vor, wie die häuslichen Pflegearrangements konkret gestaltet sind. In der folgenden Sekundärdatenanalyse wird mit einem deskriptiven Vorgehen der Forschungsfrage nachgegangen, wie Pflegearrangements und Wohnsituationen bei türkeistämmigen Menschen mit Demenz gestaltet sind und welche Implikationen sich dadurch für die Ausgestaltung informeller und formeller Pflegearrangements ergeben.

2 Wohnsituationen in der Pflege – Spektrum zwischen einem gemeinsamen Haushalt und Distance Caregiving

Studien zur Pflegesituation in Deutschland, die nicht explizit Menschen mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen, zeigen auf, dass 76 % der Pflegebedürftigen im Jahr 2017 in der eigenen Häuslichkeit gepflegt wurden (Statistisches Bundesamt, 2018).

Durch die zunehmende Mobilität innerhalb der Bevölkerung steigt auch der Anteil von Pflegebedürftigen, deren Angehörige weiter entfernt oder sehr weit entfernt wohnen und über eine längere Distanz hinweg Care-Aufgaben übernehmen bzw. die Pflege organisieren. Das sogenannte „Distance Caregiving“ bedeutet, dass zwischen den Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen eine geografische Entfernung von mindestens 100 km vorhanden ist (National Alliance for Caregiving, 2004, zitiert nach Bischofberger et al., 2017, S. 85). Es sind vor allem „koordinierende, organisatorische und administrative Hilfen, aber auch emotionale und motivierende Unterstützung für die pflegebedürftigen Angehörigen“, die durch Angehörige aus der Ferne übernommen werden (Myrczik & Franke, 2019, S. 552). Ein stabiles Netzwerk innerhalb der Familie und gute Kooperationen mit externen Dienstleistenden vor Ort werden von Bischofsberger und Kolleg*innen (2017) als zentrale Voraussetzung für funktionierendes Distance Caregiving betrachtet. Kommunikation kann bei bestehenden Netzwerken vor Ort digital oder per Telefon erfolgen. Eine Studie auf der Basis von Interviews, die mit Akteur*innen im pflegerischen bzw. gesundheitspolitischen Feld in Deutschland durchgeführt wurden, zeigt, dass „Distance Caregiving“ eine untergeordnete Rolle in der Wahrnehmung der Expert*innen zukommt, das Thema in den letzten Jahren jedoch insbesondere in der Beratung präsenter geworden ist. Die Befragten konnten auch von Erfahrungen aus ihrem eigenen Umfeld berichten – insbesondere wenn die Befragten nicht unmittelbar in der Pflege tätig waren – und es wurde eine geringe institutionelle Auseinandersetzung mit dem Thema beobachtet. Der Aspekt „räumliche Distanz“ bei der Pflege bedürfe den Autor*innen zufolge einer Enttabuisierung und öffentlichen sowie politischen Verankerung, insbesondere um bislang fehlende sozialpolitische Auseinandersetzungen und perspektivisch eine Abbildung in der Pflegeversicherung gewährleisten zu können (ebd.).

Insgesamt wird in der bisherigen Literatur zu Distance Caregiving davon ausgegangen, dass externe Dienstleistende in die Versorgung eingebunden sind, was allerdings nicht auf alle Bevölkerungsgruppen mit einer Pflegebedürftigkeit zutrifft (vgl. Ergebnisse von Okken et al., 2008). Wie sich Pflegearrangements im nahen Sozialraum und unter Distance-Caregiving-Bedingungen in der pflegebedürftigen Bevölkerung mit Migrationshintergrund ausgestalten, ist bislang wissenschaftlich nicht untersucht worden und wird im Folgenden am Beispiel türkeistämmiger Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen analysiert.

3 Vorstellung der drei qualitativen Studien mit pflegenden Angehörigen von türkeistämmigen demenzerkrankten Menschen

In Deutschland wurden in den letzten Jahren drei verschiedene Forschungsprojekte mit türkeistämmigen pflegenden Angehörigen demenzerkrankter Menschen durchgeführt, um die Belastungen, Ressourcen und Selbstmanagement-Kompetenzen der Pflegenden sowie ihre Möglichkeiten zur eigenen Stärkung (z. B. Selbsthilfe und ambulante Beratung) zu analysieren.

3.1 Projekt 1: “Stärkung der Selbstmanagement-Kompetenzen pflegender Angehöriger türkeistämmiger Menschen mit Demenz“ (Universität Bielefeld)

Das erste Projekt „Stärkung der Selbstmanagementfähigkeiten türkischer pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz“ wurde von 2013 bis 2017 an der Universität Bielefeld durchgeführt und konzentrierte sich auf die Bedürfnisse, Ressourcen und Selbstmanagementkompetenzen pflegender Angehöriger türkeistämmiger Menschen mit Demenz. Es wurden zehn Interviews mit Expert*innen und zehn problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) mit 12 Pflegenden durchgeführt. Das Konzept der Selbstmanagementkompetenz (Haslbeck & Schaeffer, 2007) und die Theorie der Fremdheit nach Alfred Schütz (1972) flossen in die theoriegeleitete Erstellung des Interviewleitfadens ein.

3.2 Projekt 2: „Selbsthilfe Aktiv – (Inter-)aktive Selbsthilfe für türkeistämmige pflegende Angehörige demenzerkrankter Menschen“ (Alice Salomon Hochschule Berlin)

Das zweite Projekt wurde von der Alzheimer Gesellschaft e. V. gefördert und von 2017 bis 2019 an der Alice Salomon Hochschule Berlin durchgeführt. Im Mittelpunkt standen die Implementierung und Evaluation eines interaktiven Selbsthilfeprogramms. Vor und nach der Teilnahme an der Selbsthilfegruppe (6–10 Monate) wurden qualitative Interviews mit den pflegenden Angehörigen durchgeführt. Das Konzept des Selbstmanagements (Haslbeck & Schaeffer, 2007) wurde in die theoriegeleitete Entwicklung des Leitfadens einbezogen.

3.3 Projekt 3: „Entwicklung und Validierung einer Intervention zur Stärkung der Selbstmanagementkompetenzen türkeistämmiger Menschen bei der Pflege von Angehörigen mit Demenz (FörGes 5)“ (Universität Bielefeld)

In dieser Interventionsstudie, die von April 2018 bis März 2021 an der Universität Bielefeld durchgeführt wurde, wurden mit zehn türkeistämmigen Angehörigen von Menschen mit Demenz vor und nach einer aufsuchenden Intervention qualitative Interviews in ihrer Muttersprache durchgeführt, um ihre Gesundheits- und Selbstmanagementkompetenzen zu stärken. Konzepte zur Gesundheitskompetenz, zum Selbstmanagement (Haslbeck & Schaeffer, 2007) und zur motivierenden Befragung (Miller et al., 2015) wurden in die theoriegeleitete Entwicklung des Leitfadens einbezogen.

In allen drei Studien diente die zusammenfassende und/oder strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) als Analysemethode. Die Kategorienbildung erfolgte sowohl induktiv als auch deduktiv. Für die Studien liegen Ethik-Voten vor.

Für die Sekundärdatenanalyse wurde das gesamte Datenmaterial der drei Studien im Hinblick auf die Fragestellung „Wie sind PflegearrangementsFootnote 1 und Wohnsituationen bei türkeistämmigen Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen gestaltet und welche Implikationen ergeben sich dadurch für die Ausgestaltung informeller und formeller Pflegearrangements?“ analysiert.

4 Heterogenität von Pflegearrangements und Wohnsituationen in der Datenbasis

Im Folgenden werden tabellarisch Wohnsituationen und Pflegearrangements aus den drei Studien dargestellt (Tab. 10.1, 10.2 und 10.3).

Tab. 10.1 Pflegearrangements aus der Studie „Stärkung der Selbstmanagement-Kompetenzen pflegender Angehöriger türkeistämmiger Menschen mit Demenz“
Tab. 10.2 Pflegearrangements aus der Studie „Selbsthilfe Aktiv“
Tab. 10.3 Pflegearrangements aus der Studie „FörGes 5“

Die Tabellen zeigen auf, wie heterogen die einzelnen Pflegearrangements sind und wie unterschiedlich sich diese auf die Wohnsituation der demenzerkrankten Menschen und ihrer Angehörigen auswirken. Quantifizierungsversuche der Pflegearrangemements sind aufgrund der Heterogenität schwierig zu vollziehen. Die Annäherung an eine Quantifizierung zeigt die Tendenz auf, dass die überwiegende Mehrzahl der Pflegebedürftigen gemeinsam mit der Hauptpflegeperson (und ggf. deren Partner*in und Kinder) in einem gemeinsamen Haushalt leben, gefolgt von dem Pflegearrangement, dass die Hauptpflegeperson und die pflegebedürftige Person in ihren eigenen Wohnungen in räumlicher Nähe leben. Etwa in ähnlicher Häufigkeit werden Pflegebedürftige in einer Demenz-Wohngemeinschaft gepflegt oder wohnen in der eigenen Wohnung, die sich im selben Haus befindet wie die Wohnung der Hauptpflegeperson. In zwei Fällen wird ein stationäres Pflegeheim präferiert und drei der Befragten leben im Sinne des Distance Caregiving in erheblicher Entfernung von der pflegebedürftigen Person.

Im Hinblick auf die familiäre Pflegeverantwortung bei den häuslich gepflegten Personen liegt diese bei etwas mehr als der Hälfte der Befragten bei einer einzelnen Person, die in wenigen Fällen vereinzelt von anderen Angehörigen unterstützt wird. Knapp die Hälfte der Befragten wird durch Familiennetzwerke gepflegt, in denen die Pflege unter verschiedenen Familienangehörigen aufgeteilt ist. In den einzelnen Studien war die Inanspruchnahme ambulanter Pflegeangebote unterschiedlich. In der ersten Studie nahmen von den häuslich gepflegten Personen drei ambulante Pflege kontinuierlich in Anspruch (eine Person wurde von einem kultursensibel ausgerichteten Pflegedienst gepflegt, eine Person im Rahmen einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung), gleichwohl nahezu alle Befragten im Krankheitsverlauf die ambulante Pflege erprobt hatten. In der zweiten Studie nahmen nur zwei von zehn Pflegebedürftigen ambulante Pflegeangebote in Anspruch, wobei eines der Angebote explizit kultursensibel ausgerichtet war. In der dritten Studie wurden die Pflegebedürftigen ausschließlich durch Angehörige gepflegt, wobei häufig eine Haushaltshilfe beansprucht wurde; in zwei Fällen wurde Tagespflege in Anspruch genommen.

Im Folgenden werden drei Kategorien herausgearbeitet, die für Wohnsituationen und Pflegearrangements demenzerkrankter türkeistämmiger Menschen eine besondere Herausforderung darstellen:

  • Pflege in räumlicher Nähe

  • Distance Caregiving

  • Pendelmigration als Herausforderung für die Pflege

5 Ergebnisse der Sekundärdatenanalyse

5.1 Pflege in räumlicher Nähe

Die Pflegeübernahme einer demenzerkrankten Person kann bedeuten, dass bei zunehmender Desorientierung die Angehörigen die erkrankte Person entweder in den eigenen Haushalt holen oder sie selbst (zeitweise) im Haushalt der erkrankten Person leben. Die Entscheidung, in den Haushalt der erkrankten Person zu ziehen, kann unterschiedlich begründet sein. In einem Fall zog der Sohn in den Haushalt des erkrankten Vaters, nachdem er sich von seiner Partnerin getrennt hatte:

„Okay, das hat sich auch ein bisschen so ergeben, weil mein Bruder sich zu dem Zeitpunkt von seiner Frau getrennt hat. Das hat also zeitlich dann ganz gut gepasst. Und er wollte auf keinen Fall sich eine eigene Wohnung nehmen. Also, er ist auch selber berufstätig, sondern wollte einfach meinen Vater nicht alleine lassen. Und das ist heute immer noch so, obwohl es manchmal schwierig ist für ihn, mit einem 78-Jährigen dann in seinem Haushalt zu leben. Aber trotzdem möchte er in dieser Wohnung mit ihm zusammenbleiben. Er will da nicht ’raus.“ (Studie 1; Interview 8, Zeile 96).

In dieser Pflegesituation teilt sich der gemeinsam mit dem Vater lebende Bruder die Pflege mit seiner Schwester, die etwa eine Stunde entfernt wohnt und die Betreuung, Pflege und den Haushalt des Vaters am Wochenende verantwortet.

In einem weiteren Fall sind die Tochter und der Sohn in die Wohnung der erkrankten Person gezogen. Der Sohn hat seine Berufstätigkeit in der Türkei aufgegeben, um seine Schwester bei der Pflege der Mutter zu unterstützen. In diesem Fall stellt der kleine Wohnraum der Mutter eine Herausforderung dar, da sie selbst einen großen Bewegungsdrang hat und die Wohnung nicht für das Zusammenleben von drei Erwachsenen ausgerichtet ist. Trotz der Aufteilung der Pflegeverantwortung auf zwei Personen finden die pflegenden Geschwister kaum Zeit, sich von der Pflege zu erholen. Eine zeitweise Abgrenzung von der Pflegeverantwortung erscheint sehr schwer, da dadurch die Last für die zweite Person verstärkt werden würde. Auch wenn die Pflegepersonen die große Belastung durch die Pflegeübernahme reflektieren, können sie sich eine andere Form der Pflege nicht vorstellen. In Bezug auf Pflegeheime äußern sie:

„Aber das sind wirklich keine passenden Orte, schon gar nicht für unsere Familie. Wenn wir ihr Kopftuch nur berühren, um es erneut umzubinden, hält sie es sofort fest, weil sie Angst hat, dass ich es nehme. Dort achten sie auf so etwas nicht.“ (Studie 1; Interview 4, Zeile 3).

In einem anderen Fall wird die Pflegeübernahme durch die Familie – durch das Wohnen in einem Wohnhaus – mit der Türkeistämmigkeit und den damit einhergehend wahrgenommenen Traditionen begründet:

„Wir machen sowieso das Essen und das Putzen für sie. Wir wohnen ja auf zwei Etagen im selben Haus, übereinander. Wir wissen, wie sie gestrickt ist, jemand anderes könnte die Pflege nicht machen. Sowieso, wir sind ja Türken, Sie wissen das auch, um die Älteren kümmert man sich.“ (Studie 3; Interview 7, Zeile 63).

Es wird deutlich, dass die normativen Vorstellungen innerhalb türkeistämmiger Communities auf die Haltung der Angehörigen zur Pflegeübernahme wirken.

Die Isolation der Familie, die sich durch das Zusammenleben mit einer an Demenz erkrankten Person verstärken kann, wird durch die Angehörigen als Belastung empfunden. Kontakte, die früher lebhaft gepflegt wurden, haben sich durch die Pflegeverantwortung verändert:

„Isoliert, komplett isoliert, die ganze Familie ist 24 h zu Hause, außer, wenn es Arzttermine gibt.“ (Studie 1; Interview 3, Zeile 129)

„Wir waren viel weg. Die Nachbarn waren da, ich war dort, bis um zehn oder elf saßen wir dort zusammen. Aber jetzt möchte sie nicht, dass ich weggehe.“ (Studie 3; Interview 1, Zeile 287)

„(Die) sozialen Kontakte dann irgendwann nach und nach verloren gehen. Ich sag immer: (…) ‚man verliert mit der kranken Person auch ein Stück von seinem eigenen Leben.‘ Das heißt, man verliert die eigene Freizeit, man verliert die eigenen Freunde, man ist total isoliert und man ist nur noch mit dieser Pflege beschäftigt.“ (Studie 1; Interview 6, Zeile 340).

Die räumliche Nähe wird in einem Fall zwar als hilfreich, die Distanz, die sich durch die eigene Wohnung der pflegenden Angehörigen ergibt, jedoch auch als Autonomieraum empfunden:

„Ich wohne zum Glück nicht weit weg, aber ich hab´ auch ja mein eigenes Leben.“ (Studie 3, Interview 8, Zeile 117)

Eine Angehörige reflektiert das gemeinsame Leben mit der pflegebedürftigen Person und die eigene Bereitschaft, die Pflege zu übernehmen, in Abgrenzung zu der geringeren Pflegeverantwortung der Geschwister:

„Meine Geschwister sind weiter weg, eine von uns trägt die Verantwortung. Ich weiß nicht, aber mein Gewissen war stärker, vielleicht hätte ich es auch wie die anderen machen können. Ich hätte ausziehen und meine eigene Wohnung haben können, aber ich habe es nicht gemacht. Vielleicht weil mein Gewissen stärker ist, wahrscheinlich, so denke ich mir das. Das war stärker, ich habe von meinem eigenen Leben genommen und meiner Mutter gegeben. Ich bereue es auch nicht, aber ich bin sehr erschöpft.“ (Studie 3; Interview 10, Zeile 115).

In einer Familie, bei der die erwachsene Enkelin die pflegebedürftige Großmutter bei sich zu Hause pflegt und gemeinsam mit ihrem Mann und drei Kindern wohnt, wurde deutlich, dass das enge Zusammenleben seit längerer Zeit dazu führt, dass die Großmutter sich – obwohl die Enkelin bereits lange erwachsen ist – in den Lebensstil der Enkelin einmischt. In diesem Fall reflektiert die Enkelin diesen Zustand und grenzt sich von der Beurteilung bzw. Kontrolle der Großmutter ab. Sie richtet sich und ihrer Kernfamilie „Freizeit“ ein, indem sie einmal im Jahr Kurzzeitpflege für die Großmutter in Anspruch nimmt, obwohl sie nicht verreisen, sondern die Zeit zusammen zu Hause verbringen.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Zusammenleben mit einer an Demenz erkrankten Person dazu führt, dass sich das Umfeld und die pflegenden Angehörigen möglicherweise auch selbst stärker zurückziehen, als wenn die pflegebedürftige Person nicht im gleichen Haushalt lebt. Ein Grund hierfür könnte die weiterhin starke Tabuisierung der Demenzerkrankung in türkeistämmigen Communities sein. Die eigenen Lebensentwürfe werden durch die Angehörigen reflektiert, ebenso die kulturell bedingten Tradierungen, die eine Pflegeübernahme begünstigen und möglicherweise die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung verringern.

5.2 Pflege aus der Ferne organisieren – Distance Caregiving

Die Pflege und Versorgung aus der Ferne zu organisieren, birgt für die pflegenden Angehörigen besondere Herausforderungen. Teilweise werden die Wochenenden von den Angehörigen genutzt, um die Distanz zu der erkrankten Person zurückzulegen und den Haushalt in Ordnung zu bringen oder einzukaufen:

„Sie kann nicht so gut aufräumen. So schnell, ok aufgeräumt denkt sie, es ist dreckig, wenn wir da sind, dann machen wir gründlich, putzen alles.“ (Studie 1, Interview 9, Zeile 96).

Das führt dazu, dass die zumeist berufstätigen Angehörigen die Wochenenden nicht zur Erholung nutzen können und dadurch zusätzlich belastet sind.

In einem anderen Fall wird räumliche Distanz in Kauf genommen, um eine sprach- und kultursensible Pflege in einer Demenz-WG zu gewährleisten. Hier werden Abstriche in Bezug auf das Wohnumfeld gemacht, um die Kommunikation zwischen der Erkrankten und den Betreuenden gewährleisten zu können:

„Dass sie sich familiär aufgehoben fühlt, das fand ich ganz schön mit diesen kleinen Wohngruppen und Wohneinheiten, dass jeder sein eigenes, selbst eingerichtetes Zimmer hat, dass nicht dieses Klinik-Feeling ’rüberkommt, das war mir alles ganz wichtig. Und was ich blöd finde, ist, dass es so weit weg ist. Das sind 3,5 h von uns und dass es eine Großstadt ist. Also wir beide sind eigentlich keine Großstadtmenschen, lieber wäre es mir, es wäre irgendwie auf dem Land. Aber es geht halt nicht.“ (Studie 1; Interview 1, Zeile 62).

Der Aspekt der Muttersprachlichkeit professioneller Pflegeeinrichtungen wäre – auch wenn sie sich in räumlicher Entfernung befinden – ein ausschlaggebender Grund für die Inanspruchnahme:

„Wenn es eine türkische Einrichtung wäre, ich meine die Sprache, weil er wird mit den Damen dort immer versuchen türkisch zu sprechen, aber wenn es eine türkische Einrichtung wäre… Wäre es für ihn auch leichter. Vielleicht wird er der Frau sagen: Kannst du mir Wasser geben oder was anderes.“ (Studie 3; Interview 4, Zeile 470).

Angehörigen, die weiter weg wohnen und den Alltag mit der erkrankten Person nicht unmittelbar miterleben, fällt es schwerer, die Erkrankung zu akzeptieren, die abnehmenden Kompetenzen der erkrankten Person können von ihnen nur schwer nachvollzogen werden. Für die Angehörigen, die unmittelbar in die Pflege involviert sind, bedeutet das, dass sie einerseits die Pflegeverantwortung tragen und andererseits nicht genügend innerfamiliale Wertschätzung dafür erhalten, weil der hohe Pflegebedarf von weiter entfernt wohnenden Angehörigen nicht adäquat eingeschätzt wird.

Doch auch entfernt wohnende Angehörige können Pflegeverantwortung tragen und die Distanz kann eine Herausforderung darstellen. Eine Angehörige, die ihre Mutter am Wochenende pflegt und betreut, äußert, dass ihr Tag auch am Wochenende früh am Morgen beginnt. Sie versucht den Vater, der 78 Jahre alt und Hauptpflegeperson ist, zu entlasten, damit dieser etwas Zeit zur Erholung hat. Eine Pflege aus der Nähe stellt sie sich als Chance vor:

„Rausnehmen, wenn sie aggressiv wird, weiß ich nicht, wie ich damit umzugehen habe. Manchmal ist es gut und manchmal klappt es nicht, was ich so vorhabe. Ja, das sind so die einzige- Und die Zeit für sie zu finden, das ist für mich eine schwierige Situation. Ich würde gerne, dass sie bei mir in der Nähe ist, dann wird man sie auch mal, wenn man eine Stunde Zeit hat, auch mal zu sich nehmen oder hingehen, damit der Vater auch entlastet wird. Aber es ist einfach zu weit für mich, deswegen muss ich einen Tag für sie immer planen.“ (Studie 3; Interview 9, Zeile 263).

5.3 Pendelmigration als Herausforderung für die Pflege demenzerkrankter Menschen

Transnationale Lebensweisen werden auch in Familien mit einer demenzerkrankten Person möglichst lange aufrechterhalten. Die Pendelsituation verdeutlicht den Angehörigen, welche Kompetenzen bei der erkrankten Person nicht mehr vorhanden sind, beispielsweise das Reisen mit einem Flugzeug oder die Orientierung an einem Ort. Das Pendeln mit einer an Demenz erkrankten Person geht mit erhöhter Unsicherheit einher. Dies bezieht sich sowohl auf das Reisen als auch auf die Reaktionen der entfernteren Angehörigen im Herkunftsland auf die veränderte Persönlichkeit und verringerten Kompetenzen der erkrankten Person. In einem Fall verlief sich der erkrankte Mann in seinem Heimatland und nur durch das große Netzwerk der Familie vor Ort konnte er gefunden werden. An diesem Beispiel wurde der ethische Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge deutlich, der anhand eines Falls differenziert in einer anderen Publikation beschrieben wurde (Tezcan-Güntekin, 2018b).

Eine Angehörige war enttäuscht, dass die Geschwister des erkrankten Mannes es ablehnten, Zeit mit ihm zu verbringen, weil er sich nicht verhielt, wie sie es von ihm kannten und erwartet hatten:

„Das letzte Mal, als wir da waren, haben sie uns hinausgeworfen. ‚Nehmt ihn, wir wollen den nicht‘, haben sie gesagt. (…) Seine Geschwister. Drei Geschwister, die zusammenwohnen. (…) Sie haben es offen gesagt: ‚Wir möchten ihn nicht.‘ (Studie 1; Interview 9, Zeile 110).

Die Reaktion der Geschwister des erkranken Mannes bestürzte die Frau sehr, zumal der Mann in dem dörflichen Umfeld, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, sehr gut zurechtkam. Diese Erfahrung erfolgte im vierten Jahr der Erkrankung, die vorherigen drei Jahre war der Erkrankte trotz der diagnostizierten Demenzerkrankung allein in die Türkei gependelt. In anderen Fällen werden die Erkrankten von ihren Angehörigen beim Pendeln begleitet. Die begleitenden Personen verbringen dann entweder die Zeit gemeinsam in der Türkei oder sie begleiten die erkrankte Person nur auf dem Hin- und Rückweg in das Heimatland. Erfolgt keine Begleitung durch die pflegenden Angehörigen, wird die Betreuung und Pflege auch in der Pendelsituation aus der Ferne organisiert:

„Ja, sie ist jetzt da, aber nur, weil ich dafür gesorgt habe, dass sie nicht alleine ist. Also meine Cousinen, Cousins sind jeden Tag da. Die war in Istanbul, dann, ich glaube, zwei, drei Wochen auch alleine, wo meine Schwester zurück war. Und meine Tante wohnt eine Etage drüber und meine Cousins haben mir versprochen und haben’s auch gemacht, dass sie jeden Tag mehrmals an die Tür klopfen. Und nachschauen und reingehen auch in die Wohnung und nach dem Rechten schauen. Und nur so konnte ich sie dalassen. Und jetzt ist sie so mit Familie in XY (Name einer Stadt in der Türkei). Also, da hab’ ich auch die Sicherheit“ (Studie 2; Interview 10; Zeile 143).

Wenn die Betreuung nicht durch die Hauptpflegeperson selbst erfolgen kann, werden alternative Betreuungsnetzwerke aktiviert, die darauf achten, dass alles funktioniert, wobei nicht expliziert wird, was genau „nach dem Rechten schauen“ bedeutet. In einem Fall unterstützen die Geschwister und deren Ehefrauen die Hauptpflegeperson bei der Pflege. Ein bis zwei Monate verbringt die Erkrankte in der Türkei. In dieser Zeit übernimmt die Schwiegermutter der Befragten die Pflege und Betreuung:

„Wir lassen sie eh nicht lange in der Türkei. Zur Abwechslung, ein oder zwei Monate, die verbringt sie bei meiner Schwiegermutter.“ (Studie 3, Interview 7, Zeile 15)

Das Pendeln stellt bei allen Befragten eine Herausforderung dar und trotzdem versuchen die Angehörigen, die demenzerkrankten Personen weiterhin (und so lange wie möglich) darin zu unterstützen, diesen Lebensstil ausleben zu können.

6 Diskussion

Insgesamt wird deutlich, dass die Pflegearrangements und Wohnsituationen sehr heterogen sind, was sich in der Forschung zum Thema Demenz und Migration bislang nur wenig abbildet. Betrachtet man in diesem Kontext die bisherigen Erkenntnisse zum Distance Caregiving, wird deutlich, dass bislang „Migration“ und andere Differenzkategorien und transnationale Lebensstile kaum berücksichtigt wurden. Die Pflege in räumlicher Nähe kann aufgrund von eingeschränktem Wohnraum und fehlenden zeitlichen und räumlichen Ressourcen, in denen die pflegenden Angehörigen sich erholen können oder eigenen Lebensentwürfen nachgehen, erschwert werden. Individuelle Rückzugsräume müssen legitimiert werden, gleichzeitig erfolgt ein Rückzug des gesamten Pflegearrangements aus der Gesamtgesellschaft oder der Community, in der die Erkrankten und ihre Familien vormals vernetzt waren.

Eine Pflegeform, die in diesem Beitrag nicht näher beleuchtet wurde, ist das Wohnen in der Nähe, jedoch in unterschiedlichen Haushalten, was damit einhergeht, dass sich die Angehörigen um beide Haushalte (und möglicherweise Care-Aufgaben auch in der eigenen Kernfamilie) kümmern müssen.

Erfolgt die Betreuung im Sinne eines Distance Caregivings aus der Ferne, stellen sich andere Herausforderungen, wie fehlende Regenerationszeit am Wochenende, wenn die weit entfernte Person am Wochenende anreist, um die Hauptpflegeperson zu entlasten und den Haushalt zu organisieren, oder aber die Schwierigkeit der Pflegepersonen, anderen Angehörigen in der Ferne das Voranschreiten der Krankheit und die herausfordernde Pflegesituation zu vermitteln.

Kultursensible ambulante Dienste sind in den letzten Jahren in vielen urbanen Regionen in Deutschland entstanden und werden von Betroffenen auch angenommen. Der Aspekt der Unterstützung durch kultursensible ambulante Dienste könnte in den kommenden Jahren noch stärker an Bedeutung gewinnen, da Studien aufgezeigt haben, dass die Bereitschaft, im Pflegefall ambulante Pflege anzunehmen, bei türkeistämmigen Menschen (Schenk, 2014) und muslimischen Menschen (Volkert & Risch, 2017) als hoch erachtet wird.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass weitere Diversitätsmerkmale neben dem Merkmal Migration bei der Konzeption von Unterstützungsmaßnahmen und Pflegeangeboten in sehr geringem Maß Beachtung finden und somit möglicherweise nur eine begrenzte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen wird (Aksakal et al., 2020). Bereits bestehende Maßnahmen zur pflegerischen Unterstützung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund müssen auf ihre Diversitätssensibilität hin geprüft und modifiziert werden. Neue Angebote sollten diversitätssensibel gestaltet werden – auch wenn sie beispielsweise sprachspezifisch sind – weil Menschen einer Sprachgruppe auch sehr unterschiedliche, weitere Diversitätsmerkmale besitzen, die im Kontext Pflege relevant sein können.

Im gesamten pflegerischen Kontext (und auch der Pflegewissenschaft) bewegt sich die Diskussion um Unterstützungsstrategien insgesamt noch immer auf einer essenzialistischen Argumentationslinie, die einer Homogenisierung bspw. türkeistämmiger Menschen folgt und Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund auf Religion, Herkunft und Sprache verkürzt, sodass daraus hervorgehende Maßnahmen die tatsächlich vorhandenen und sehr heterogenen Bedürfnisse, Lebenslagen und Pflegearrangements von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen mit Migrationshintergrund nicht in genügendem Maße beantworten (Yilmaz-Aslan et al., 2021b).

Es stellt sich die Frage, wie auf individuelle (Familien-)Kulturen, Pflegearrangements und Wohnsituationen ausgerichtete Interventionen stattfinden könnten. Diesen Ansatz verfolgte das Projekt „FörGes 5“, wobei als zentrale Erkenntnis für künftige Interventionsstudien oder Angebote neben der Muttersprachlichkeit und dem aufsuchenden Charakter ein hohes Maß an individueller und flexibler Ausgestaltung der Maßnahme eine zentrale Rolle spielen sollte. Dies bedeutet, dass die Maßnahme bereits auf die Merkmale und Situation der Person individuell ausgerichtet geplant und gestaltet wird und auch während der Intervention flexibel auf sich ändernde Herausforderungen angepasst werden kann.

Maßnahmen sollten – um einen hohen Grad an Individualisierbarkeit gewährleisten zu können – nicht nur vom Differenzmerkmal Migration ausgehend, sondern darüber hinaus eine Vielzahl an weiteren Merkmalen wie Wohnsituation, sozioökonomische Situation, Vernetzung im Umfeld, sexuelle Orientierung und/oder Identität und Aspekte der Biografie in die Ersterhebung der Situation einbeziehen. Gewinnbringend ist auch die Konkretisierung von Faktoren für eine adäquate Angehörigenberatungen (Erdel, 2017). Diese Ebene der diversitätssensiblen Ausgestaltung von Angeboten und Maßnahmen sollte – unabhängig vom Merkmal Migration – auch für andere Pflegebedürftige und Angehörige angestrebt werden.

Bei der Betrachtung der vielfältigen Unterschiede gilt es, auch Gemeinsamkeiten von Pflegenden mit und ohne Migrationshintergrund im Blick zu behalten. Informelle Pflegearrangements sind durch ein hohes Engagement der pflegenden Angehörigen und teilweise durch Verlust eigener Lebensentwürfe gekennzeichnet – das gilt für beide Bevölkerungsgruppen.

Zur Gestaltung von Autonomieräumen

Möglichkeiten, die eigene Pflegebereitschaft zu reflektieren und sich Autonomie- und Austauschräumen (z. B. Selbsthilfegruppen) zu schaffen, können – trotz hoher Heterogenität innerhalb der Pflegendenschaft – eine identitätsstiftende und entlastende Funktion einnehmen. Sie müssen an den Alltag und den Kommunikationsgewohnheiten der Pflegenden entsprechend flexibel angepasst werden können. Die Grade der Flexibilisierung müssen so ausgerichtet sein, dass die Angebote nicht immer zwingend auf eine Bevölkerungsgruppe spezifiziert sein müssen, jedoch anpassbar auf individuelle Bedürfnisse pflegender Angehöriger unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund nehmen konventionelle Selbsthilfeformate bislang nur zu einem geringen Ausmaß in Anspruch. Daher gilt es, den Kommunikationsgewohnheiten unterschiedlicher Communities entsprechende Selbsthilfeformate zu entwickeln (Tezcan-Güntekin et al., 2020). Das müssen nicht immer Sprachgemeinschaften sein, das verbindende Element kann auch die Beziehungsstruktur zur pflegebedürftigen Person sein (z. B. pflegende Söhne oder pflegende Kinder/Enkel*innen mit eigenen Kindern). Dies gilt insbesondere für die Unterstützung pflegender Angehöriger. Weiterhin sind bei der pflegerischen Versorgung demenzerkrankter Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund des Verlustes der Zweitsprache Deutsch im Krankheitsverlauf sprachsensitive bzw. muttersprachliche Pflegeangebote notwendig, die bei einer diversitätssensibel ausgerichteten Versorgungsstrategie nicht unbeachtet gelassen werden dürfen.

Ein zentraler Aspekt, der in der vorliegenden Studie nicht fokussiert wurde, da die Datenerhebungen weitgehend nicht während der SARS-CoV-2-Pandemie erfolgten, sind die sich verändernden Pflegesituationen durch drohende Ansteckungsgefahr und zusätzlichen Belastungen der pflegenden Angehörigen finanzieller, psychischer oder gesundheitlicher Art, die zu den vielfachen Verantwortungsbereichen hinzukommt. Diese Forschungsdesiderat gilt es, kurz- und mittelfristig zu adressieren.