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1 Einleitung – Über die psychosozialen Funktionen von Fernsehserien

Film und Fernsehen genießen für gewöhnlich nicht gerade das beste Image. Böse Zungen behaupten, es handle sich dabei lediglich um seichte und oberflächliche Unterhaltung. Eine der bekanntesten Versionen dieser Kritik stammt von Horkheimer und Adorno (2019), die sogar supponieren, die so genannte Kulturindustrie würde ihre Zuschauer lediglich manipulieren und systematisch verblöden. Während sich Spielfilme allmählich als eigenständige Kunstform etablieren konnten, galten Fernsehserien noch längere Zeit als billiger Trash. Seitdem allerdings auch Fernsehserien durch hohe Qualität der Produktion und Komplexität der Narration bestechen, verschwimmen die Grenzen zwischen Hochkultur und Popkultur. Teilweise werden moderne Fernsehserien von der Kritik sogar als Quality TV oder Complex TV gefeiert (s. Thompson 1997; Mittell 2015). Mit der Renaissance des Fernsehens ging auch eine vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit Fernsehserien einher. Die Cultural Studies beispielsweise betonen das Element der Subversion in der Populärkultur und unterstreichen die aktive Rolle des Zuschauers bei der Konstruktion von Bedeutung (Winter 2010). Die zeitgenössische Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Giroux 2002) unterstreicht, dass moderne Fernsehserien auch zur Reflexion von Politik und Gesellschaft animieren und so zur Bildung ihres Publikums beitragen. Die Psychoanalyse (Bainbridge et al. 2014; Poscheschnik 2020a) schließlich fokussiert nicht nur die ohnehin offensichtlichen Inhalte, sondern deckt vor allem unbewusst-latente Bedeutungsebenen der Handlung auf; zudem trägt sie zum Verständnis des mentalen Rezeptionsprozesses bei und benennt psychodynamische und psychosoziale Funktionen des Film- und Fernschauens.

Audiovisuelle Medien mögen eine Erfindung jüngeren Datums sein, die Begeisterung des Homo sapiens für Erzählungen und Geschichten ist hingegen viel älter. Die Langlebigkeit von jahrtausendealten Texten, wie z. B. der Bibel, dem Koran, der Ilias, der Odyssee, der Schahnameh, der Edda oder dem Gilgamesch-Epos, belegen eindrucksvoll den menschlichen Hunger nach Geschichten. Wiederholt wurde deshalb die Vermutung geäußert, dass Narrative von Wesen, die nie existiert haben, und Ereignissen, die nie passiert sind, in Form von Mythen, Märchen, Romanen, aber auch Filmen oder Fernsehserien konserviert werden, weil sie sowohl für Individuen als auch Gemeinschaften eine Funktion erfüllen. Die meisten Kommentatoren (s. z. B. Gottschall 2012; Dubourg und Baumard 2021; Poscheschnik 2020b) gehen von einer Multifunktionalität aus und benennen mehrere psychische und psychosoziale Funktionen. Ich möchte an dieser Stelle zumindest fünf derartige Funktionen, die die Rezeption solcher Narrative – unabhängig vom Medium der Präsentation – erfüllen kann, auflisten:

  1. 1.

    Eskapistische Funktion – Fernsehserien als Realitätsflucht: Die erste und einfachste Funktion besteht darin, dass Fernsehserien ihre Zuschauer entertainen und von der Fadesse und Tristesse ihres Alltags ablenken. Robert Pfaller (2012) betont, dass wir zweite Welten kreieren und imaginieren müssen. Das sind Träume, Illusionen und Wunschwelten, die uns über die Frustrationen und Limitationen unseres wirklichen Lebens, die erste Welt, hinwegtrösten.

  2. 2.

    Kathartische Funktion – Fernsehserien als Wunschmaschine: Des Weiteren ermöglichen Fernsehserien auch die Abfuhr von verpönten Triebimpulsen und Affekten, indem heimliche und verdrängte Wünsche, die unter dem Druck der Zivilisation ins Unbewusste verbannt werden mussten, dargestellt werden (s. a. Freud 1930). So besticht Fernsehen vielfach auch durch die mehr oder weniger unverhohlene Darstellung von Tabubrüchen aller Art.

  3. 3.

    Edukative Funktion – Fernsehserien als Adaptionshilfe: Die Narrative von Fernsehserien lehren auch soziale Anpassung, indem sie die tragischen Konsequenzen der Erfüllung verbotener Wünsche vor Augen führen (s. Arlow 1961). Sie vermitteln eine Moral von der Geschicht’ und kredenzen ihrem Zuschauer damit Maximen für züchtiges Benehmen. Als Orientierungshilfen für den Umgang mit inneren und äußeren Konflikten lehrt das Fernsehen seine Zuschauer, bei welchem Verhalten sie sich Glück und Anerkennung erhoffen dürfen (s. a. Peterson 1999).

  4. 4.

    Transformative Funktion – Fernsehserien als Bildungschance: Darüber hinaus passieren aber in guten Geschichten und auch Fernsehserien immer wieder Ereignisse, die die Erwartungshaltung der Zuschauer sprengen. Dieses Moment des Unvorhersehbaren, das mentale Repräsentationen erschüttert, lässt sich nur schwerlich als direkte Handlungsanweisung interpretieren. Die psychische Be- und Verarbeitung der Narrative ermöglicht dem Zuseher dann auch ein Umdenken bzw. eine mentale Transformation (s. a. Crepaldi 2020; Poscheschnik 2018).

  5. 5.

    Identitätsstiftende Funktion – Fernsehserien als Gemeinschaftsbildung: Darüber hinaus können Fernsehserien auch eine kollektivierende Funktion erfüllen, indem sie Identität stiften und Gemeinschaften herstellen. Durch gemeinsam geteilte Symbole, Rituale und Kulte verankert man den Glauben an die Narrative in der externen Realität und vergewissert sich so dieser Großgruppenidentität (s. a. Volkan 2000). Das gilt nicht nur für Nationalitäten, Ethnien und Religionsgemeinschaften, sondern auch für popkulturell vermittelte Fangemeinden, auch Fandom genannt.

2 Zur Psychoanalyse von Game of Thrones – Über die Realität in der Fiktion audiovisueller Narrative

Auf den ersten Blick spielt Game of Thrones in einer historisch und geographisch entfernten, ja sogar fiktiven Welt, die so gut wie keine Berührungspunkte mit dem privaten und öffentlichen Leben des durchschnittlichen zeitgenössischen Betrachters hat. Die Zuschauer leben in einer technologisierten, saturierten und von realen Gefahren weitgehend befreiten Welt, wohingegen Game of Thrones ein Fantasy-Mittelalterspektakel mit übernatürlichen Kreaturen und einer Freakshow grausamster Potentaten ist, gegen die sich selbst die umstrittensten Politiker der westlichen Welt wie Wiener Sängerknaben ausnehmen.

Dazu passend fokussieren psychologische Interpretationen häufig die einzelnen Charaktere und versuchen sie mithilfe psychiatrischer Klassifikationssysteme zu erfassen. Der bunte Reigen der durchaus treffend diagnostizierten Pathologien reicht dabei von Borderline-Störungen und Alkoholismus bis hin zur Dissozialität. Meine psychoanalytische Interpretation von Game of Thrones geht auf das Schicksal der einzelnen Protagonisten lediglich exemplarisch ein. Stattdessen richte ich mein Hauptaugenmerk auf den dramatischen Kern der ganzen Serienhandlung und lese diese als kollektive Phantasie über die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft. Somit scheint mir zumindest ein Teil des Erfolgs von Game of Thrones darin begründet, dass es sich – obgleich in einer historisch und topographisch fernen, ja sogar fiktiven Fantasy-Mittelalterwelt angesiedelt – um eine Chiffre für gesamtgesellschaftliche Dynamiken handelt, die als nur allzu nah und real erlebt werden.

Stephen King (2012) hat in seiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Horrorgenre festgehalten, dass es gesellschaftliche Ängste oder Traumata gibt, die dann auch in fiktionalen Geschichten zum Ausdruck kommen. Auf einer bewussten Ebene operiert Horror, indem er sein Publikum schockt und/oder ekelt; auf einer unbewussten Ebene aber betätigen die entsprechenden Geschichten phobische Druckpunkte (phobic pressure points), die oft massenhaft verbreitete gesellschaftliche Ängste politischer und ökonomischer Natur aktivieren. Als Beispiel bringt King (2012) den Mitte der 50er Jahre beginnenden Wettlauf ins Weltall zwischen den Supermächten USA und UdSSR und vor allem den Schock, der in der westlichen Welt ausgelöst wurde, als es der Sowjetunion überraschend schnell gelang, 1957 den Sputnik-Satelliten in den Orbit zu schießen. In dieser Zeit erschienen nicht nur Science-Fiction-Geschichten, die von einer glorifizierten Eroberung und Kolonisierung des Weltraums handelten, sondern auch SciFi-Horror-Geschichten, in denen eine Invasion und Zerstörung der Welt durch außerirdische Mächte dargestellt wurde. Hiebei entsprachen die außerirdischen Usurpatoren symbolisch der kommunistischen Bedrohung, die Zerstörung des Planeten der atomaren Vernichtung.

Mithilfe der psychoanalytischen Methodik (Lorenzer 1973; Hug und Poscheschnik 2020) versuche ich die genretypischen Elemente von Game of Thrones zu subtrahieren und die Handlung auf ihren Wesenskern zu reduzieren. Dabei enthüllt sich die Topographie von Game of Thrones mit ihren drei zentralen Orten (Westeros, Norden, Essos) als symbolische Darstellung einer unbewussten Phantasie über die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft. So offenbart sich eine dramatische Assemblage, die das Empfinden vieler Menschen vom Status quo der modernen Gesellschaft widerzuspiegeln scheint. Ob diese mehr oder weniger unbewusste Phantasie in allen Punkten der globalen Realität entspricht, steht auf einem anderen Blatt. Nichtsdestotrotz organisiert diese Phantasie unsere Wahrnehmung und verleiht den Ereignissen, die geschehen, eine sozio-emotionale Bedeutung, indem sie als eine Art Wahrnehmungsfilter Ereignisse aus dem Strom des Geschehens selektiert, emotional evaluiert und gemäß dem ausgestanzten Schema interpretiert. Dieser Prozess ist auf kollektiv-gesellschaftlicher Ebene durchaus vergleichbar mit der individuell-subjektiven Ebene. Ähnlich wie ein Paranoiker all seine Erlebnisse dem Interpretationsschema bzw. der unbewussten Phantasie unterwirft, er wäre Opfer einer Konspiration und von aggressiven und bedrohlichen Mächten verfolgt, funktionieren auch gesellschaftlich-unbewusste Phantasien in Bezug auf kollektivierte, öffentliche Ereignisse. Eine Besonderheit der Fernsehserie Game of Thrones liegt darin, dass die Serie das Interesse ihrer Zuschauer einerseits mit einer Widerspiegelung von gesellschaftlich-unbewussten Phantasien einfängt, dann aber diesen Spiegel in weiterer Konsequenz zerschmettert und den irritierten Zuschauer wieder auf sich selbst zurückwirft.

Ich will zuerst der Reihe nach die drei erwähnten Lokalitäten Westeros, Essos und den Norden besprechen: Dabei werde ich zuerst kurz die Handlung zusammenfassen, dann die psychologische Bedeutung herausarbeiten und zeigen, inwiefern auf unbewusster Ebene in den Szenen eine Stimmung und ein Gefühl transportiert werden, die kollektivierte Phantasien widerspiegeln. Dadurch wird das Publikum auf der einen Seite eingelullt mit dem, was es in gewisser Weise hören und sehen will. Auf der anderen Seite überrascht und schockiert Game of Thrones aber auch sein Publikum mit Dingen, vor denen es wahrscheinlich lieber Augen und Ohren verschlossen hätte. Gerade dadurch aber bekommt das Publikum das, was es braucht, auch wenn es nicht das ist, was es zu brauchen glaubt. Insbesondere der Ärger und die Enttäuschung bezüglich des umstrittenen Serienfinales werfen die Frage auf, ob es sich bei Game of Thrones um einen medialen Spiegel handelt, der sich zum Schluss selbst zertrümmert und damit den Betrachter von seinen Schimären befreit und ihm eine Reflexion seiner eigenen Naivität erlaubt. Aber mehr dazu später.

2.1 Westeros – Ränkespiel um Macht und Geld

Der Kontinent Westeros ist klimatisch von jahrelangen Wintern und Sommern geprägt. Gegen Ende eines solchen Sommers und am Beginn eines langen Winters wird der amtierende König Robert Baratheon auf der Jagd von einem Schwein tödlich verletzt. Einflussreiche Familien versuchen nun, ihren Anspruch auf den so genannten Eisernen Thron geltend zu machen. Die Mächtigen des Landes imponieren dabei aber nicht als ehrenwerte Fürsten mit edler Gesinnung, sondern als sadistische Machiavellisten. Joffrey Baratheon beispielsweise, der Sohn des verunfallten Königs, der ihm auf den Thron nachfolgt, demütigt und misshandelt öffentlich seine eigene Verlobte Sansa, deren Vater er wegen vermeintlichen Verrats zuvor enthaupten ließ. Aber auch andere Aspiranten auf den Thron zeichnen sich durch Wahnsinn und Grausamkeit aus; Robert Baratheons Bruder Stannis, der sich als göttlich legitimierter Herrscher wähnt, lässt in der vergeblichen Hoffnung, seinen Gott gnädig zu stimmen, sogar seine eigene Tochter am Scheiterhaufen verbrennen. Aber auch die scheinbaren Lichtgestalten unter den Protagonisten, wie z. B. Robb Stark oder Jon Snow, sind nur wenig zimperlich im Umgang mit Feinden, und jene, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen, müssen damit rechnen, dekapitiert zu werden. Dem gewöhnlichen Fußvolk ist in diesem Ränkespiel meist nur die marginale Rolle des anonymen Opfers einer mordenden und brandschatzenden Soldateska beschieden.

Der Tod des Königs symbolisiert das Ende einer bestehenden Ordnung und avisiert das Chaos. Auch der zur Neige gehende Sommer und der sich ankündigende lange Winter repräsentieren eine Art Zeitenwende und fangen das Gefühl vieler Zuschauer ein, dass der Kampf ums Dasein härter wird. Und tatsächlich scheint der Siegeszug des internationalen Neoliberalismus mittlerweile unaufhaltsam. Obwohl der Wohlstand in den letzten Jahrzehnten global betrachtet zugenommen hat (Rosling 2019), verschärft der Konkurrenzkampf zwischen Staaten auch den innergesellschaftlichen Konkurrenzkampf und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Es scheint, dass Arbeitsplätze jederzeit in andere Länder mit billigeren Lohnkosten verlagert oder einem motivierteren und engagierteren Kandidaten gegeben werden können. Strukturell gewordene Arbeitslosigkeit und die mögliche Erosion des eigenen Wohlstandsniveaus bilden eine Kulisse der Bedrohung, die jeden ständig daran gemahnt, dass es wohl viele Profiteure, aber auch viele Verlierer gibt. Die Angst vor dem sozialen Abstieg scheint wie ein Damoklesschwert über den Häuptern breiter Bevölkerungsschichten zu schweben (Nachtwey, 2016). Die archaische Brutalität, mit der in Game of Thrones gewütet wird, passt zum Gefühl, dass der Kampf für viele als existenziell bedrohlich und härter werdend erlebt wird. Von diesem Prinzip der Förderung von Konkurrenz und Ökonomisierung ist übrigens auch der ursprüngliche Non-Profit-Bereich nicht verschont geblieben. An Universitäten und Hochschulen beispielsweise werden Wissenschafter damit traktiert, Exzellenz anzustreben, kompetitiv Drittmittel einzuwerben, zu publizieren oder zugrunde zu gehen (publish or perish).

Die kriegerischen Ereignisse auf Westeros fangen zudem das Gefühl vieler Menschen ein, unsere Kultur befinde sich im Niedergang und ihre Entscheidungsträger seien nur noch von einem sinnentleerten Ränkespiel um Macht und Geld absorbiert. Sie dienen nur noch vermeintlichen ökonomischen Zwängen, die als unausweichlich verkauft werden. Man denke an das gebetsmühlenartig wiederholte TINA-Argument (There Is No Alternative). Viele politische Weichenstellungen, wie z. B. Freihandelsabkommen oder außenpolitische Provokationen, werden darüber hinaus zunehmend ohne demokratische Kontrolle vorgenommen. Der Einzelne wähnt sich dabei als ohnmächtiger Statist und spürt, er ist ein austauschbarer Arbeits- und Konsumsklave geworden.

2.2 Der Norden – Wiederkehr verdrängter Probleme

Die Kronlande werden durch eine schon vor Äonen errichtete, gigantische Mauer vom eisigen, fast gänzlich vergletscherten Norden Westeros’ geschützt. Zur Bewachung der Mauer wurde die Nachtwache gegründet, die ein Treuegelübde schwört, das ihnen unbedingte Loyalität ihrer Aufgabe gegenüber abverlangt. Was nach hehrem Ethos klingt, ist tatsächlich ein zusammengewürfelter Trupp aus vorwiegend Kriminellen, die sich der Nachtwache verpflichten mussten, um Kerker oder Todesstrafe zu entrinnen. Hinter der Mauer herrscht weitgehende Anarchie, die dort lebenden Menschen werden Wildlinge genannt. Staatliche Ordnung, zivilisatorische Errungenschaften wie Städtebau und die Submission unter eine Obrigkeit sind ihnen fremd. Ein Beispiel für die völlige Tabulosigkeit jenseits der Mauer ist Craster, ein alter mürrischer Mann, der mit einer Schar seiner Töchter zusammenlebt, mit denen er ein inzestuöses Verhältnis pflegt. Jene Töchter wiederum, die er mit diesen zeugt, behält er als angehende Konkubinen, die Söhne gibt er noch als Neugeborene dem Tod preis. Während in Westeros der Krieg um den Eisernen Thron wütet, spielen sich im Norden unheimliche Dinge ab. So genannte Weiße Wanderer, untote Kreaturen, die in alten Überlieferungen erwähnt, aber im heutigen Westeros lediglich für einen Mythos gehalten werden, tauchen plötzlich wieder auf. Die sich zusammenbrauende Bedrohung nötigt die Nachtwache schließlich, die Regenten von Westeros um Unterstützung zu bitten. Die Warnungen vor der Gefahr werden von den Verantwortlichen allerdings in den Wind geschlagen.

Die völlige Selbstabsorption mit dem eigenen Ränkespiel und das geflissentliche Ignorieren der Gefahr lassen die Mauer und den Norden psychologisch betrachtet als Mise en Scène des aus der bewussten Wahrnehmung Ausgeschlossenen, des Verdrängt-Unbewussten, erscheinen. Die Symbolik der wiederauferstandenen Toten und ihr Impetus, die Mauer zu überwinden, verweist auf die unzähligen Leichen im Keller, die das wahnwitzige Treiben von Westeros erzeugt hat, und lässt sich mit Freud (1915b) als Wiederkehr des Verdrängten lesen. Dinge und Kreaturen, die uns unheimlich erscheinen, sind freudianisch betrachtet zwar äußerlich fremd und unvertraut, sie tangieren allerdings einst vertraute und dann verdrängte Komplexe (Freud 1919). Auch der Modus vivendi der Wohlstandsgesellschaften erzeugt unschöne Abfallprodukte, deren Existenz für gewöhnlich der Verdrängung anheimfällt. Die Produktion von Gütern, die vermeintlich für unser tägliches Leben gebraucht werden, erfordert einen hemmungslosen Raubbau an den Ressourcen des Planeten und einen häufig schonungslosen Umgang mit der Natur. Die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser, Rodungen, Desertifikation oder der Treibhauseffekt zerstören zwar nicht kurzfristig, aber à la longue die Umwelt als Lebensgrundlage aller Menschen. Auf der Schattenseite der Globalisierung und des enthemmten Kapitalismus tummeln sich zudem unzählige menschliche Opfer. Direkte oder indirekte militärische Interventionen der westlichen Großmächte in Konfliktherde ferner Länder sind mitverantwortlich für das Elend der dortigen Zivilbevölkerung und für Flüchtlingsströme. Trotz Wirtschaftswachstum steigen vielfach die Arbeitslosenraten; die Jugendarbeitslosigkeit beispielsweise hat selbst in vielen wohlhabenden Ländern Europas schwindelerregende Höhen erreicht. Verdrängung ist laut Freud (1915b) übrigens nicht absolut, sondern relativ zu verstehen. Das verdrängte Material tendiert sehr wohl zur Wiederkehr ins Bewusstsein, wo es Angst auslöst und von Neuem verdrängt wird. Ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen Diskussion vieler brisanter Themen. Der Klimawandel beispielsweise wird natürlich auch öffentlich-medial diskutiert, allerdings primär angstvoll-emotional, was vernünftig-rationale Lösungsansätze wahrscheinlich sogar konterkariert: Es werden dann zwar Übereinkünfte zur Reduktion des CO2-Ausstoßes getroffen, aber letztlich so weit in die Zukunft verschoben und durch Emissionsrechtehandel unterminiert, dass der globale CO2-Ausstoß Jahr für Jahr munter weiter steigt. Fazit bleibt, auch unsere eigene Zivilisation ist in gewisser Weise bedroht von selbst erzeugten Problemen, die zwar beharrlich verdrängt werden, nichtsdestotrotz aber drohen, uns irgendwann einzuholen.

2.3 Essos – Hoffnung auf eine andere Welt

Im weit entfernten, durch ein Meer von Westeros getrennten Kontinent Essos leben die letzten Nachfahren des vormaligen Herrschergeschlechts von Westeros, die Targaryens, im Exil. Bevor diese vom verstorbenen König Robert Baratheon gestürzt wurden, bauten sie ihre Macht auf mittlerweile ausgestorbenen feuerspeienden Drachen auf. Um an eine Armee zu gelangen und den Eisernen Thron zurückzuerobern, verheiratet Viserys seine Schwester Daenerys Targaryen noch als Jugendliche mit dem mächtigen Stammesführer Khal Drogo. Nach dem Tod ihres Bruders und ihres Gatten begibt sie sich mit drei versteinerten Dracheneiern in jenes Feuer, das den Leichnam ihres verstorbenen Mannes einäschern soll. Daenerys überlebt die Flammen völlig unversehrt, und aus den Eiern schlüpfen drei kleine Drachen. Dadurch gelingt es ihr allmählich, sich zu neuer Macht emporzuschwingen. Sie baut eine Armee auf und befreit mehrere Städte in Essos von der Sklaverei. Obgleich Daenerys in ihren Entscheidungen oft wankelmütig wirkt und durchaus nach dem Talionsgesetz richtet, zeichnet sie sich scheinbar durch die Einsicht aus, dass es ihr noch an der nötigen Weisheit für eine gute Regentschaft mangelt. Mithilfe ihrer Berater übt sie sich deshalb als Herrscherin in den befreiten Städten, bevor sie nach Westeros übersetzen und den Eisernen Thron für sich beanspruchen will. Gerade mit dieser Einsichtsfähigkeit in die eigenen Grenzen scheint sie noch am ehesten die Züge einer Regentin zu tragen, die Westeros wieder Frieden und Gerechtigkeit bringen könnte.

Während Westeros vom Game of Thrones völlig gebannt ist und man die verheerende Gefahr aus dem Norden bestenfalls vage ahnt, zeichnet sich im fernen Essos mit der Figur der Daenerys Targaryen ein Hoffnungsschimmer ab. Allerdings ist sie eine ambivalent gezeichnete Hoffnungsträgerin voller Unsicherheiten, die lediglich ein noch zu verwirklichendes Potenzial in sich birgt, zur weisen und gütigen Retterin in der Not zu werden. Im Unterschied zu anderen Charakteren ist sie aber immerhin bemüht, zu lernen und sich selbst als Regentin zu verbessern. Mit ihren Drachen scheint sie zudem auch über ein Rezept zu verfügen, das gegen die dunkle Bedrohung, die von jenseits der Mauer kommt, wirken könnte. Daenerys Targaryen repräsentiert als Regentin auf der Suche nach ihrer Identität somit kein fix und fertig ausgearbeitetes Konzept einer besseren Welt, sondern eine Hoffnung in statu nascendi. Gerade deshalb scheint sie treffsicher das dumpfe Gefühl vieler Menschen in unserer Gesellschaft zu verkörpern, dass zwar etwas falsch läuft, aber niemand so recht weiß, wie es anders gehen könnte. Da der Untergang politischer Visionen in der Form von rechtem Konservatismus oder linkem Utopismus ein ideologisches Vakuum hinterlassen hat, herrscht eine beinahe völlige Ahnungs- und Ideenlosigkeit, wie eine überzeugende Alternative aussehen könnte, obwohl es eine relativ weit verbreitete Unzufriedenheit mit der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung und einen Wunsch nach Veränderung gibt.

Soviel zur Soziodynamik der Serienhandlung und ihren unbewussten Parallelen mit der modernen Zivilisation. Ich will nun noch auf das Serienfinale eingehen, das einen besonderen Akzent gesetzt hat. Das schockierende Ende hat die gesellschaftlichen Phantasien, die von der Serie widergespiegelt wurden, nachträglich als Illusion und Zerrbild ausgewiesen und damit den Blick auf eine tiefere Reflexionsebene freigelegt.

3 Enttäuschte Erwartungen – Das Serienfinale als Bildungschance

Das Ende von Game of Thrones hat viele Fans der Serie regelrecht entsetzt. Mit einer von über einer Million Zusehern unterzeichneten Petition wurden die Produzenten aufgefordert, die letzte Staffel komplett neu zu drehen und mit einem neuen, wohl gefälligeren Finale zu versehen. Zum einen hat das sicherlich auch damit zu tun, dass das Ende einer Fernsehserie niemals alle Fans zufrieden stellen kann, weil von den vielen möglichen Szenarien, die in den Köpfen der Zuschauer herumspuken, nur ein einziges realisiert werden kann. Zudem muss man sich von lieb gewonnenen Figuren, die über viele Jahre virtuelle Begleiter waren, mit denen man quasi eine parasoziale Beziehung aufgebaut hat, verabschieden. Arthur Schnitzler hat einst gemeint: „Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut“. Auch Sigmund Freud (1916–1917) hat in Trauer und Melancholie hervorgehoben, dass Erfahrungen des Verlusts immer auch die Durcharbeitung negativer Affekte, wie den Zorn, verlassen worden zu sein, einfordern. Erschwerend kommt bei Game of Thrones gewiss noch hinzu, dass die Qualität der Serie seit dem Fehlen der Romanvorlage (George R. R. Martin hat bis dato erst fünf Bücher seiner geplanten Heptalogie vollendet) in mehrerlei Hinsicht nachgelassen hat. Dass Tiefe, Handlung, Dialog und Witz seitdem nicht mehr an die ersten Staffeln heranreichen, ist kaum zu verhehlen, dies möchte ich aber nicht weiter kommentieren.

Die Enttäuschung über das Serienfinale sitzt nämlich meines Erachtens noch tiefer. Gewiss haben sich viele Zuschauer eine am Thron sitzende und vom befreiten Volk bejubelte Daenerys ausgemalt, eine Daenerys, die den epochalen Kampf gewinnt und die versprochene bessere Welt aufbaut. Sogar dass Daenerys stirbt, wäre fürs Publikum vermutlich im Bereich des Erträglichen geblieben, wenn sie sich wenigstens für die gute Sache aufgeopfert und einem anderen den Aufbau einer besseren Welt ermöglicht hätte. Die große Hoffnungsträgerin entpuppt sich zum Schluss allerdings als brutale und rücksichtslose Despotin, die unschuldige Zivilisten einschließlich kleiner Kinder höchstpersönlich mit dem Feuer ihrer Drachen vernichtet. Die „Befreiung“, von der Daenerys immer wieder gesprochen hat und die sie versprochen hat, ist in eine völlig außer Rand und Band geratene Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie umgeschlagen. Nach der Auslöschung der gesamten Stadtbevölkerung von King’s Landing schwört sie ihre frenetisch applaudierenden Soldaten auf die Fortsetzung des Krieges ein: „Now…you are liberators! You have freed the people of King’s Landing from the grip of a tyrant! But the war is not over. We will not lay down our spears until we have liberated all the people of the world!“ (S08 E06). Die Freiheit, von der sie hier redet, ist wohl eine andere als jene, die sich das Publikum imaginiert hat.

In einem sich im Anschluss an das Finale verbreitenden Meme sieht man das Bild einer lächelnden und die sie bejubelnden Untertanen anstrahlenden Daenerys einem Bild gegenübergestellt, in dem Daenerys auf ihrem feuerspeienden Drachen sitzt und die flüchtende Bevölkerung der Hauptstadt, darunter Männer, Frauen, Kinder und Babys bei lebendigem Leib verbrennt. Es gibt geringfügig unterschiedlich kommentierte Versionen davon, die immer das erste der Bilder mit dem Slogan beschreiben, jemand oder etwas würde eine Versprechung oder Verheißung machen, während das letztere derart kommentiert ist, dass die Realität des Versprechens anders aussieht. Mal ist es die USA, die Freiheit verspricht und dann Freiheit verbreitet, ein andermal der Sozialismus, der versprochen und dann realisiert wird. Ich bezweifle, dass Game of Thrones wie ein Schlüsselroman funktioniert und Daenerys eine bestimmte Person, ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Ideologie repräsentiert. Vielmehr scheinen mir diese Memes eine humoristische Verarbeitung des Schocks zu sein, dass man als Zuschauer selbst auf Daenerys hereingefallen ist.

Es mag wohl sein, dass ein versöhnlicheres Finale lustvollere Gefühle im Publikum ausgelöst hätte, das Erlebnis des Schocks, das Timo Storck (2017) in seiner lesenswerten Interpretation von Game of Thrones ins Zentrum gerückt hat, konnte den Zuschauerinnen und Zuschauern dafür aber eine andere Form des psychischen Mehrwerts bieten. Einmal mehr ist es Game of Thrones mit seinem Finale gelungen, die Erwartungen, die Illusionen, die trügerischen Hoffnungen des Publikums mit einem Schlag zu zertrümmern. Der Schock über das Ende hat das von Erlösungsphantasien beseelte Publikum auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Hoffnung, die Daenerys verkörpert hat, war eigentlich von Anfang an naiv, und wenn wir die ganze Serie vor unserem inneren Auge nochmals Revue passieren lassen, werden wir erkennen müssen, dass die Katastrophe absehbar war. Lassen wir Tyrion Lannister die Lage zusammenfassen: „When she murdered the slavers of Astapor, I’m sure no one but the slavers complained. After all, they were evil men. When she crucified hundreds of Meereenese nobles, who could argue? They were evil men. The Dothraki khals she burned alive? They would have done worse to her. Everywhere she goes, evil men die and we cheer her for it. And she grows more powerful and more sure that she is good and right. She believes her destiny is to build a better world for everyone. If you believed that, if you truly believed it, wouldn’t you kill whoever stood between you and paradise?“ (S08 E06). Und auch Daenerys projektiert eigentlich recht unverhohlen schon früh in der Serie ihre Pläne für die Zukunft: „When my dragons are grown, we will take back what was stolen from me and destroy those who wronged me! We will lay waste to armies and burn cities to the ground!“ (S02 E04).

Die Rezipienten der Serie haben sich vielleicht blenden lassen von einer Mischung aus SchönheitFootnote 1 und leeren Versprechungen, die zu erfüllen sie niemals in der Lage war, wie ihre Handlungen und die Resultate ihrer Regentschaft doch recht augenscheinlich demonstriert haben. Die Aufrechterhaltung der Illusion wurde auch befördert durch das schreckliche Grauen, den Horror aus dem Norden. Kaum waren aber die Untoten erledigt und der gruslige Night King über den Jordan befördert, zerbröselt die durch den Außenfeind aufrechterhaltene Spaltung in Gut und Böse. Der Projektion der eigenen negativen Anteile ins Außen wird damit die Grundlage entzogen, und die vermeintlich Guten entblößen die hässliche Fratze ihrer eigenen Bestialität. Freud (1915a) hat in Zeitgemäßes über Krieg und Tod die folgenden schönen Worte über Illusionen formuliert: „Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, dass sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen“ (Freud 1915a, S. 331). Kurzum, wir haben uns von Beginn an täuschen lassen und sind schließlich ent-täuscht worden. Insofern hat die Reaktion der empörten Fans auf das Finale der Serie meines Empfindens nach geradezu den Beweis angetreten, dass Game of Thrones alles richtig gemacht hat. Das Ende beschert den Zuschauern der Serie zwar kein emotional befriedigendes Happy End, offeriert ihnen aber eine Bildungserfahrung im kritisch-aufklärerischen Sinn, die uns erst durch eine Erschütterung bestehender Glaubensüberzeugungen möglich wird (s. a. Koller 2011). Game of Thrones rät uns so gesehen, nicht den Versprechungen derjenigen zu vertrauen, die Freiheit, Moral und Gerechtigkeit predigen, sondern kritisch und skeptisch in alle Richtungen zu bleiben, denn – um es mit den Worten des verstorbenen österreichischen Kabarettisten Helmut Qualtinger zu sagen – die „moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen“.

Ein Wort noch zum Schluss: Der irritierte Zuschauer. Fernsehen als Psychoanalyse für die Armen?

Viele moderne TV-Serien, darunter auch Game of Thrones, legen es darauf an, ihre Zuschauer nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu irritieren. TV-Serien wie Breaking Bad, House of Cards oder The Sopranos, um nur einige von vielen möglichen Beispielen zu nennen, zerschmettern die Erwartungen des durchschnittlichen Zuschauers. Das Publikum findet keine manichäischen Konstruktionen der Charaktere, weder gibt es völlig Gute noch absolut Böse, fast alle Figuren sind ambivalent und überraschend facettenreich gezeichnet. Es gibt auch keine eindeutig erkennbare Moral von der Geschicht’, die eine unverblümte Erziehung der Zuschauer versuchen würde. Weder gewinnen die Untadeligen immer, noch verlieren die Verderbten stets. Auch Game of Thrones unterwirft sich keinem simplifizierenden Deutungsschema und bleibt bis zum Schluss unberechenbar. Game of Thrones richtet die Aufmerksamkeit auf Aspekte, die gern unter den Teppich gekehrt werden, räumt aber auch mit naiven Heilsphantasien auf. Gerade deshalb ist der irritierte Zuschauer gezwungen, sich mit enttäuschten Erwartungen auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, was das Geschehene zu bedeuten hat. Vielleicht hatte der französische Philosoph und Psychoanalytiker Félix Guattari (2009) völlig recht, als er das Kino als die Couch der Armen bezeichnet hat.