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Als die Schulen im Zuge der Covid-Lockdowns des Jahres 2020 ihren Präsenzunterricht aussetzen mussten, man aber mit virtuellen Kommunikationstechniken noch wenig Erfahrung hatte, boten TV-Dokumentationen eine probate Alternative. Im Geschichtsunterricht österreichischer Gymnasien erfreute sich die spannend und lebensnah aufbereitete ZDF-Reihe Terra X großer Beliebtheit. Der Dreiteiler Ein Tag im Mittelalter, der Sozialgeschichte anhand des städtischen Lebens von Frankfurt am Main vor Augen führt, bedient sich eines besonderen Einstiegs, um dieser Themenstellung Faszination zu geben. In offenkundiger Anlehnung an die Titelsequenz von Game of Thrones lässt ein aufwendiges Intro anstatt der Landkarte der fiktiven Welt der Serie die Stadt Frankfurt im Uhrwerk eines Tages erstehen (Abb. 1).

Abb. 1
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Terra X, Ein Tag im Mittelalter, © ZDF 2016

Die Macher der Dokumentation haben sich offenbar einen Appell zu Herzen genommen, der verschiedentlich von Mediävistinnen und Mediävisten geäußert wurde, nämlich Game of Thrones als eine Art Schlüssel zur Welt des Mittelalters zu nutzen. Carolyne Larrington, Mediävistin in Oxford und Autorin der einschlägigen, mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Monografie Winter is Coming. The Medieval World of Game of Thrones,Footnote 1 meinte in einem Interview für den deutschen Spiegel: „Die Serie könnte als Einstiegsdroge funktionieren. Du könntest jemandem erst ‚Game of Thrones‘ geben, und, wenn er süchtig ist, sagen: Probier doch mal das Nibelungenlied“.Footnote 2 George R. R. Martin dürfte nicht unglücklich über dieses Kalkül sein, verfolgt er doch den Anspruch, sich abzuheben von der üblichen Mittelalter-Fantasy, die – wie er in Interviews meinte – ein gänzlich falsches, eine Art Disney-Mittelalter vermittle. Er hingegen würde das tatsächliche Mittelalter zum Thema machen: „I wanted my books to be strongly grounded in history and to show what medieval society was like…“.Footnote 3

Die Reaktionen der Geschichtswissenschaften geben ihm in dieser Einschätzung zumindest insofern Recht, als sie sich seinem Monumental-Epos und dessen Verfilmung durchaus intensiv zuwenden. Die Sekundärliteratur, die sich den historischen Referenzen von Game of Thrones und dessen Buchvorlage widmet, ist inzwischen kaum mehr zu überblicken und vermittelt zuweilen den Eindruck, als gälte es den Faktengehalt einer authentischen mittelalterlichen Quelle zu erschließen.Footnote 4

Von Seiten der kunst- und bildhistorischen Wissenschaft indes blieb eine vergleichbare Resonanz bislang aus. Wäre es doch auf dem Feld der Bilder in der Tat geradezu müßig, die Frage nach dem historischen Faktenbezug zu stellen. Nur durch eine wirklich sehr unscharfe Brille könnte man die Bildwelt der Serie als Spiegel einer historischen Welt sehen. Am ehesten wird man den Kostümen, den Rüstungen und Waffen einen historischen Bezug zusprechen können. Und natürlich ist ein solcher gegeben, wenn real existierende mittelalterliche Architektur Kroatiens oder Spaniens zum Einsatz kommt.

Wollte man die Differenzen zwischen den historischen und den filmischen Bildern inhaltlich bewerten, so müsste man als den offenkundigsten Kontrast sicher das weitgehende Fehlen jener Bildfunktion konstatieren, die das Mittelalter absolut und omnipräsent dominierte; des religiösen Bildes. Die Welt der Götter hat, von wenigen Bildwerken wie den Monumentalstatuen der Seven in der Great Sept of Baelor, dem zentralen Tempel in Kings Landing, abgesehen, in Game of Thrones praktisch keine bildhafte Präsenz. Konsequenterweise achtete man in der Wahl historischer Schauplätze auch darauf, dass nur bildfreie Realarchitekturen, wie die Kirche der katalanischen Benediktinerabtei von Sant Pere de Galligants, zum Einsatz kamen. Der Versuch einer Antwort auf die Frage nach den Gründen für diesen Verzicht auf religiöse Bilder setzte jedoch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion in Game of Thrones voraus, die im gesteckten Rahmen nicht zu leisten ist, aber im Beitrag von Martina und Anna Kraml zur Sprache kommt.Footnote 5

Beschränken wir unser Augenmerk auf die Form und die Frage nach dem historischen Gehalt der Ausgestaltung der Bildwelt von Game of Thrones, so empfiehlt es sich, zunächst einen kurzen Blick auf die Charakteristik der Ausstattung zu richten. Ein aussagekräftiges Beispiel hierfür bietet das Appartement des Lord Baelish im Palast Red Keep, der königlichen Residenz in Kings Landing (Abb. 2): Die Architektur dieses Raumes, der durch rundbogige Blendarkaden gegliedert und durch einen Erker mit gleichfalls rundbogigem Triforium erweiterte ist, weist klar die Stilmerkmale der Romanik auf. Die Türe, die in ihn führt, aber gibt sich gotisch. Der Halbschrank neben der Türe ist im Stil der Renaissance gehalten. Auf dem angrenzenden Kamin steht ein barocker Leuchter. Der Schreibtisch des Lord Baelish lässt sich in die Zeit um 1900 datieren, während sich das Elfenbeinkästchen, das darauf steht, wiederum als Werk des 12. Jahrhunderts präsentiert. Das auffällige orange Sofa vor dem Schreibtisch stammt dagegen eindeutig aus dem 20. Jahrhundert. Ganz und gar unmittelalterlich ist schließlich auch die Galerie ganzfiguriger Aktgemälde, die die Wände ziert.

Abb. 2
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a–d Appartement des Lord Baelish im Palast Red Keep, GoT (HBO), Staffel 3, Folge 3, Regie: David Benioff

In Summe ergibt sich der Befund eines auf die Spitze getriebenen Eklektizismus historischer Stile, der für ein kunsthistorisch geschultes Auge einige Irritation bedeutet. Und so wird man denn auch in den Reihen der kunsthistorischen Zunft schwer einen bekennenden Fan von Game of Thrones finden. In Gesprächen mit Kunsthistorikern wird man in der ein oder anderen Weise stets den Vorbehalt gegen die scheinbare Beliebigkeit der bunten Stilmixtur formuliert hören und die Behauptung, dass ein Mehr an historischer Authentizität eine dichtere Aura und Glaubwürdigkeit erzeugt hätte.

Dass hinter der Brechung historischer Logik indes durchaus Kalkül stand, kann man einem Statement von D. B. Weiss entnehmen, der als Co-Autor für das Drehbuch der Serie verantwortlich zeichnete. Weiss spricht von einer bewussten Gratwanderung zwischen striktem historischem Realismus und freier Charakterisierung und begründet diese damit, dass man Game of Thrones eben nicht für Menschen des Mittelalters produziere, sondern für Menschen, die im Heute, die in der Realität der Hochhäuser leben.Footnote 6 An diesem Punkt möchte ich ansetzen und die Frage nach Funktion und Wirkungsweise dieses Phänomens der Brechung und Verschichtung von Stilidiomen stellen und dies v. a. in Hinblick auf die Rolle tun, die Kunstwerke in der Serie spielen.

Kehren wir zur Ausstattung des Büros von Lord Baelish zurück und nehmen wir dessen auffälligstes Ausstattungselement noch einmal in den Blick. Es sind dies zweifellos die Aktgemälde an den Wänden. Sie haben nicht nur dekorative Funktion, sondern verweisen auf die Nebentätigkeit, der der Schatzmeister der Seven Kingdoms nachgeht. Lord Baelish betreibt ein Bordell und sorgt auf diese Weise dafür, dass der Sex, eine für den Erfolg der Serie durchaus wichtige Ingredienz, nicht zu kurz kommt. Wie aber hätte man seine Rolle als Sexunternehmer historisch adäquat und gleichzeitig nachvollziehbar illustrieren können? Natürlich waren auch dem Mittelalter, zumindest in seiner späteren Phase, weder erotische Bilder noch Bilder von Bordellen fremd. Für den Rezipienten von heute wären diese Bilder aber gänzlich ungeeignet gewesen, ein Signal der Erotik zu setzen. Dazu bedurfte es jüngerer, neuzeitlicher Bilder.

Mit einem Begriff von Roland Barthes könnte man – vielleicht in etwas freier Auslegung – solche auf den ersten Blick eigentlich nebensächlichen, vordergründig nichts zur Handlung beitragenden Ausstattungsmotive wie die Akte oder auch das orange Sofa als Wirklichkeitseffekte (effets de réel) bezeichnenFootnote 7, weil ihre Funktion eben darin besteht, eine scheinbare Brücke in die Lebenswirklichkeit des Betrachters zu schlagen und über den Effekt referentieller Illusion die Identifikation mit dem Geschehen zu erhöhen. Diese Strategie, vermittels vertrauter Artefakte Beziehungen in die Lebens- und Vorstellungswelt der Zusehenden herzustellen, wird in der Serie in allen erdenklichen Varianten praktiziert.

Ein besonders anschauliches Beispiel dafür gibt die Pyramide von Meereen, jener Stadt in der Sklavenbucht, die von der Heldin Daenerys Targaryen in der vierten Staffel erobert wird (Abb. 3). Der Form nach gleicht sie einer Maya-Pyramide, wie der Adivino-Pyramide im mexikanischen Uxmal (Abb. 4). Indes ist ihr ein elegantes Penthouse aufgesetzt, das eine amerikanische Ikone der Moderne paraphrasiert, Frank Lloyd Wrights Ennis House von 1923 (Abb. 5 und 6).Footnote 8 Wobei dieser Hybrid durchaus nicht ohne inneren Zusammenhang ist. Hatte Wright das Ennis Haus doch in Rückgriff auf die Architektur der Maya entwickelt. Als Ahnherr des Mayan RevivalFootnote 9 lieferte er der für das Product Design von Game of Thrones verantwortlichen Deborah Riley die Inspiration. Auf diese Weise bedeutet der Sprung durch die Zeit einen ursächlichen Konnex, der historische Ferne in die Moderne transponiert. Das Wrightsche Penthouse macht die Maya Pyramide in der Realität der Hochhäuser nicht nur zu einem bewohnbaren Ort, sondern zu einem architektonischen Sehnsuchtsbild.

Abb. 3
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Pyramide von Meereen, GoT (HBO), Staffel 4, Folge 3, Regie: Alex Graves

Abb. 4
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Adivino-Pyramide, Uxmal, Mexiko, 6.–10. Jh. n. Chr

Abb. 5
figure 5

Frank Lloyd Wright, Ennis House, Los Angeles, 1924

Abb. 6
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Pyramide von Meereen, GoT (HBO), Staffel 5, Folge 2, Regie: Michael Slovis

Solche Rezeptionseffekte werden nicht nur durch Verankerungen in Richtung Moderne erzielt, sondern auch umgekehrt, indem vertraute Bilder des Mittelalters in die Settings integriert werden. Beispiel dafür gibt das Zelt von Renly Baratheon, einem der Anwärter auf den Thron der Seven Kingdoms, in dem dieser auch seinen Tod findet (Abb. 7). Dessen Wände zieren in Streifen geschnittene Ausschnitte aus einem der berühmtesten profanen Kunstwerke des Mittelalters; des Teppichs von Bayeux (Abb. 8).Footnote 10 Auch wenn man auf den zweiten Blick feststellt, dass die Szenen dem normannischen Großwerk nicht exakt folgen, sondern dieses lediglich imitieren, so ist der unmittelbare Bezug darauf doch unverkennbar. Innerhalb des Zeltes haben diese Bildstreifen keine glaubwürdige Funktion. Sie passen formal nicht zur übrigen Ausstattung und scheinen auch so willkürlich beschnitten, dass sie keine zusammenhängende Geschichte erzählen. Die Funktion dieser Szenenfragmente ergibt sich folglich nicht immanent aus der Story, sondern eben aus dem Bezug, den sie zum Teppich von Bayeux herstellen; einem Werk das im Milieu der Zielgruppe der Mittelalter-Fantasy hohen Identifikationscharakter hat, als Poster sicher tausendfach deren Wohnungen ziert. Auch diese Bilder erfüllen also gerade deshalb ihre Aufgabe, weil sie wesentlich stärker mit der Wirklichkeit des Publikums verknüpft sind, als mit dem Plot.

Abb. 7
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Zelt des Renly Baratheon, GoT (HBO), Staffel 2, Folge 5, Regie: David Petrarca

Abb. 8
figure 8

Teppich von Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant, Bayeux, um 1070/80

Vergleichbar ist die Funktion eines anderen der seltenen Gemälde in Game of Thrones, das stilistisch knapp tausend Jahre später als der Teppich von Bayeux einzuordnen ist: eine Schlachtenszene, die das Sitzungszimmer des Small Council im Red Keep ziert (Abb. 9). Es handelt sich dabei um eine freie Variation auf die Reihe der drei berühmtesten Schlachtenbilder des 15. Jahrhunderts, die Paolo Uccello in den 1440er Jahren in Erinnerung an die Schlacht von San Romano, einem 1432 errungenen Sieg der Florentiner über die Sienesen, schuf (Abb. 10). Die besondere Wirkung dieser Bilder Paolo Uccellos, die sie heute gleichermaßen zu überaus beliebten Postermotiven macht, erklärt sich daraus, dass es sich dabei nicht um Schlachtengemälde im dokumentarischen Sinn handelt. Sie dienten vielmehr der Idealisierung und ästhetischen Überhöhung des Krieges und des Rittertums.Footnote 11 Genau auf diesen Symbolwert kam es den Machern von Game of Thrones an. Als geradezu emblematisches Idealbild der Ritterwelt fängt dieses Schlachtengemälde einen zentralen Topos der Serie in einer in unserer Vorstellung vorgeprägten Form ein.

Abb. 9
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Sitzungszimmer des Small Council im Red Keep, GoT (HBO), Staffel 1, Folge 3, Regie: Brian Kirk

Abb. 10
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Paolo Uccello, Die Schlacht von San Romano, London, National Gallery und Uffizien, Florenz, um 1440

Von dieser Mobilisierung von im Kollektivbewusstsein verankerten Bildern macht Game of Thrones ebenso extensiven wie effektiven Gebrauch. Wobei Bezüge auf historische Gemälde und Bildwerke natürlich Ausnahmen bleiben. Wesentlich dichter sind die intramedialen Referenzen auf Bilder aus der Geschichte des Films. Ein besonders plakatives Beispiel dafür ist die Szene, in der Daenerys Targaryen in der vierten Staffel ihre Armee der Unsullied durchschreitet (Abb. 11). Wie unschwer erkennbar, rezipiert diese Truppenformation eine Quelle, derer sich Fantasy-Filme nicht ungerne bedienen; die NS-Propagandafilme der Leni Riefenstahl. Im konkreten Fall ist dieser Rückgriff in selten direkter Weise vorgenommen. Das symbolschwere Bild der bedingungslosen Unterwerfung der Massen unter die Ordnungsmacht Einzelner, das Riefenstahl in Triumph des Willens vom Nürnberger Reichsparteitag von 1934 zeichnete (Abb. 12),Footnote 12 wird in Game of Thrones zum Initialmotiv von Daenerys Targaryens Machtergreifung. Vermittels dieser Referenz wird schon zu einem frühen Zeitpunkt innerhalb der Serie, als die Prätendentin auf den Eisernen Thron noch als eine durchaus positiv besetzte Figur erscheint, eine klare Perspektive angezeigt – die Karriere der Daenerys Targaryen als Diktatorin. Das Riefenstahl-Zitat fungiert als Auftakt eines Handlungsbogens, der in der letzten Staffel in die Zerstörung der Hauptstadt der Seven Kingdoms mündet, die mit deutlichen Assoziationen an den Bombenterror moderner Kriege inszeniert ist.

Abb. 11
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Daenerys Targaryen und die Armee der Unsullied, GoT (HBO), Staffel 4, Folge 1, Regie: D. B. Weiss

Abb. 12
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Triumph des Willens, Regie: Leni Riefenstahl, 1935

Auf diese Weise führt auch dieses Beispiel wieder den Mechanismus des motivischen Synkretismus, der die Bildwelt von Game of Thrones prägt, vor Augen: Für das Publikum des 21. Jahrhunderts, sind Tyrannei und ihre Konsequenzen und auch die Ästhetik von Macht glaubwürdiger und unmittelbarer erlebbar, wenn sie mit den vertrauten Bildern des NS-Regimes als dem Inbegriff der Diktatur verknüpft werden, als wenn man versucht hätte, diesen Gehalt in Bildern einer fernen mittelalterlichen Vergangenheit vorzuführen.

Es mag sich anbieten, diesen Befund als medienspezifisches Phänomen des Films zu verorten, doch reichen die Wurzeln des Verfahrens der Verschichtung von Bildern unterschiedlicher Zeitebenen viel weiter zurück, scheinen vielmehr in der Matrix des neuzeitlichen Bildes selbst zu ankern, wie es Ergebnisse der jüngeren Bildwissenschaft nahelegen. In diesem Zusammenhang ist v. a. auf Alexander Nagel und sein Buch Medieval ModernFootnote 13 sowie seinen zusammen mit Christopher Wood verfassten Band Anachronic Renaissance zu verweisen.Footnote 14

Dem Titel von Anachronic Renaissance entsprechend lautet die zentrale These dieses Buches, dass man das Wesen von Bildern verkenne, wenn man sie auf konsistente, lineare Zeitkonzepte festlege. Will man ihnen gerecht werden, muss man ihr Vermögen erkennen, vielschichtige anachronische Bezüge aufzubauen. Es war die Renaissance, so Nagel/Wood, die daraus eine tatsächliche Strategie des Bildes formte.

Ein Beispiel, das Nagel/Wood bringen, um ihre These zu veranschaulichen, ist Jan van Eycks Verkündigung aus den 1430er Jahren, heute in der National Gallery in Washington (Abb. 13).Footnote 15 Anachronisch an dem Setting dieses Bildes ist nicht nur die durchaus geläufige Praxis, die ferne biblische Geschichte in einer mittelalterlichen christlichen Kirche zu lokalisieren und damit in die Erlebnisrealität des Betrachters zu ziehen. Aussagekräftiger ist die kalkulierte Dissoziation zeitlicher Logik, wie sie bereits an der paradoxen Struktur dieser Kirche ablesbar wird. In Verkehrung historischer Folgerichtigkeit weist dieser Bau im unteren Bereich Spitzbögen, d. h. die Merkmale der Gotik, oben hingegen romanische Rundbögen, eine hölzerne Flachdecke und hochmittelalterliche Glas- und Wandmalerei auf, die Jan van Eyck in einem frühen Akt von Medievalismus imitierte (Abb. 14). In betonter Historisierung ist auch die Einlegearbeit des Fußbodens mit Szenen aus dem Alten Testament gestaltet. Der Verkündigungsengel wiederum ist in einen Samtbrokat modernster Machart gekleidet, tritt also im Gewand unmittelbarster Gegenwart auf, wofür die aus den flandrischen Textilmetropolen stammenden Auftraggeber van Eycks ein besonderes Auge hatten.

Abb. 13
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Jan van Eyck, Verkündigung, National Gallery, Washington, um 1435

Abb. 14
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Detail aus Abb. 13

Der ikonografische Zweck dieser simultanen Verschränkung differenter Zeitmarker ist es, den Betrachtenden über Differenz und Relation zwischen Motiven der mittelalterlichen Vergangenheit und der eigenen Gegenwart den fernen biblischen Bezug zwischen Altem und Neuem Testament zu erschließen, wie er in der Verkündigung als der Inkarnation Christi zum Thema wird. Das „crisscross between here and there now and then“Footnote 16macht zeitliche Distanz ebenso erlebbar, wie es die Zeiten vernetzt und mit dem Hier und Heute in Bezug bringt. Es ist folglich gerade die Aufhebung intrinsischer Konsistenz und Logik der Bilder, die einen Zugewinn an Rezipierbarkeit gewährleistet.

Auf diese Weise ist die Anachronie, die Nagel/Wood als Phänomen neuzeitlicher Bilder beschreiben, durchaus zu unterscheiden von dem Begriff der Anachronie, wie er in der Erzähl- und Filmtheorie im Gefolge von Gérard Genette als „Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung“ verstanden wird.Footnote 17 Bleibt die Anachronie einer Erzählung, die entgegen der Chronologie ihrer Ereignisse dargeboten wird, im Rahmen einer inneren, durch Analepsen und Prolepsen nach hinten und vorne verspannten Verbindung,Footnote 18 so weist der beschriebene Mechanismus des anachronischen Bildes seinem Wesen nach keinen vergleichbaren immanenten Zusammenhang auf. Erst die Betrachtung bringt diesen hervor. Die von Jan van Eyck erzählte Geschichte der Verkündigung steht für sich genommen in keinerlei Bezug zur Differenz zwischen romanischen und gotischen Stilformen, die der Künstler mit so viel Aufwand entwickelt. Es sind die Betrachtenden, die diesen Konnex herstellen, indem sie die vertraute Zeitdifferenz der Stile anagogisch auf die Differenz zwischen dem Alten und dem Neuen Bund übertragen und damit das Mysterium der Verkündigung in einem Bild eigener Gegenwart erfahren.

Ohne die (durchaus lohnende) Fragestellung nach den medienspezifischen Differenzen der Wirkungsweisen von Anachronie an dieser Stelle theoretisch vertiefen zu wollen, dürfen wir – zu unserem Ausgangspunkt zurückkehrend – für Game of Thrones einen nur einseitigen Einsatz anachronischer Mittel konstatieren. Das von Genette beschriebene dramaturgische Instrument der Anachronie kommt in der Serie nicht eigentlich zum Tragen, da deren verflochtene Handlungsstränge dem Prinzip nach streng chronologisch ablaufen und Rückblenden erst ab der fünften Staffel und nur sehr sparsam eingesetzt werden. Ausgiebig bedient sich die Serie aber jener anderen Form der Anachronie, die als alte Strategie des Bildes unterschiedliche Zeitebenen synchron verschichtet. Wie versucht wurde anhand von konkreten Beispielen aufzuzeigen, zielt der „clash of temporalities“,Footnote 19 der in Game of Thrones als kalkulierter Eklektizismus von Formen und Stilphänomenen das gesamte Spektrum der Kunstgeschichte entfaltet, darauf ab, über vertraute historische Bilder Brücken in die Vorstellungs- und Lebenswelt der Gegenwart zu schlagen. Und offenbar erfüllt dieses Bezugsgeflecht den Zweck, eine suggestive Fiktion von Vergangenheit zu erzeugen, eher, als es über konsistentere historische Bezüge möglich gewesen wäre.

Angesichts dieser Tatsache gilt es tatsächlich zu bedauern, dass der legendäre Starbucks-Becher (Abb. 15), der sich in der letzten Staffel auf eine mittelalterlich angerichtete Tafel verirrt hat, letztlich doch herausgeschnitten wurde. Er hätte als radikaler Wirklichkeitseffekt eine treffende medienreflexive Schlusspointe abgegeben.

Abb. 15
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Der Starbucks-Becher, GoT (HBO), Staffel 8, Folge 4, Regie: David Nutter

Resümierend bleibt zu fragen, ob es nicht grundsätzlich verfehlt ist, der anachronischen Bildwelt von Game of Thrones das Etikett Mittelalter anzuheften, wie es allgemein getan wird. Eine Antwort lässt sich mit Otto Gerhard Oexle geben, der 1992 in seinem inzwischen kanonisch gewordenen Text Das entzweite Mittelalter darlegte, dass Mittelalterbilder ihrem Wesen nach instrumentalen Charakter hätten und „nicht Aussagen über das Mittelalter, sondern Aussagen über die Moderne“ lieferten.Footnote 20 Schon als Humanisten des 14. Jahrhunderts das mittlere Zeitalter als Bezeichnung für die Kluft zwischen der Antike und einer postulierten neuen Zeit aus der Taufe hoben, diente ihnen diese Epoche als dialektischer Spiegel. Die Konzeptualisierung der Geschichte durch die Aufklärung spitzte das Bild des Mittelalters zu einer „Negativfolie“ zu, „vor der die Besserungen und Neuerungen seit 1500 in umso hellerem Licht erstrahlen sollten.“ (Frank Rexroth).Footnote 21 Der Fortschrittsglaube der Aufklärung produzierte jedoch auch ein Gegenbild. Die kulturpessimistische Romantik entwarf ein neues, positiv konnotiertes Mittelalter, als eine Welt, die von Werten und den Gewissheiten der Glaubenswahrheiten geprägt war. Diese historisch gewachsene Dialektik zwischen Abstoßung und Anziehung mag zwischenzeitlich an Polarität verloren haben, doch prägt sie bis heute unser Bild des Mittelalters, als eine Konstruktion, in der sich die Moderne in Errungenschaften wie in ihren Verlusten bespiegelt.

Vor diesem Hintergrund sollte die Frage also vielleicht nicht lauten: Wie viel Mittelalter steckt in den Bildern von Game of Thrones? Sondern umgekehrt: Wie viel Gegenwart steckt im Mittelalterbild dieser Serie? Was sagt dieses Epos von Rittern, Drachen und Schattenwölfen, in dem die Götter fern und die Gewalt alltäglich ist, über unser Heute aus?