Schlüsselwörter

1 Einleitung

Es gehört seit jeher zur Staatsräson der Republik Österreich, sich geografisch, kulturell und politisch im Herzen des Kontinents anzusiedeln. Aus dieser – sowohl subjektiven wie objektiven – Lage an einer wichtigen Schnittstelle, an der Wegkreuzung von „West“ und „Ost“, leiteten und leiten die Entscheidungsträger*innen eine Berufung zu interregionalen Koordinationsaufgaben ab. Insbesondere im Nachgang zur Demokratisierungswelle der Jahre 1989–1991, die Anrainerstaaten im Norden, Osten und Südosten in die kapitalistische und demokratisch-liberale Hemisphäre beförderte, versuchte Österreich eine Führungsrolle in der Annäherung der Gruppe der „front-runner“ demokratischer Konsolidierung an eine EU-Mitgliedschaft wahrzunehmen. Diese Ländergruppe war zum größten Teil deckungsgleich mit jenen Ländern, die historisch die Region Mittelosteuropa bildeten und die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie darstellten.

Das österreichische Ansinnen stieß unter diesen Staaten auf begrenzte Gegenliebe. Historischen Anklängen an die besondere Rolle Österreichs im Donauraum wurde mit gemischten Gefühlen, ganz selten mit Enthusiasmus, wesentlich häufiger mit Skepsis oder sogar Aversion begegnet. Frühzeitig wandten sich die Adressat*innen dieser Ambitionen überdies Formen einer Selbstorganisation zu: Hier ist vor allem das Format der Visegrád-Gruppe (V4) zu nennen (seit 1991 bzw. 1993), welches trotz aller innerer Interessengegensätze ein bedeutsames Forum der Interessenabstimmung repräsentiert. Österreich wiederum konnte aus innen- und außenpolitischen Gründen, aber auch solchen, die in den jungen Demokratien Mittelosteuropas zu finden sind, weder eine dauerhafte Führungsrolle noch eine umfassende Scharnierfunktion ausfüllen. Neben den traditionellen Streitthemen der Nutzung von Kernkraft und des Schutzes der Rechte ethnischer Minderheiten engt in jüngeren Jahren eine nationalistische Konjunktur diesbezüglichen Spielraum zusätzlich ein. Diese wuchs sich in Polen und Ungarn zu einer illiberalen Wende aus (Rupnik und Zielonka 2013; Markowski 2018).

Der vorliegende Beitrag untersucht, wie sich die außenpolitischen Ziele, Werkzeuge und Ansprüche Österreichs in der östlichen Nachbarschafts-Zone entwickelt haben, und welche Faktoren diese Entwicklung beeinflusst haben. Der Beitrag kommt dabei zu dem Befund, dass Österreich zu keinem Zeitpunkt eine Führungsrolle einnahm. Seit der Erweiterung der Union sind die bilateralen und multilateralen Beziehungen zunehmend durch die Teilhabe an der EU-Politik bestimmt: Sie sind gekennzeichnet von alten, erkalteten und neuen Konfliktthemen bei flexibler Allianzbildung und Fortschreibung eines historisch-kulturellen sowie wirtschaftlichen Naheverhältnisses.

Der Beitrag hebt in einem ersten Abschnitt mit der Behandlung der Verhältnisse im Zeichen der sicherheits-, handels- und nachbarschaftspolitischen Konjunkturen des Kalten Kriegs an, das heißt in einer Umklammerung der Phasen der österreichischen „Außen- und Neutralitätspolitik als Integration und Emanzipation (1955–1968/1970)“, ihrer „Globalisierung (1968/1970–1983/1984)“ sowie der „Reorientierung der Außenpolitik auf Europa“ (Kramer 2006). Diese letzte Entwicklung bzw. Umorientierung überlappt mit der Demokratisierungswelle, die Mittelost- und Osteuropa Ende der 1980er-Jahre erfasste. Österreich betrieb in diesem Zeitraum den eigenen EU-Beitritt, in weiterer Folge auch jenen dieser Staatengruppe (Osterweiterung der EU 2004; Beitritt der Nachzügler Rumänien und Bulgarien im Jahr 2007). Im Anschluss werden die maßgeblichen Interessengleichklänge und -konflikte sowie (Nicht-)Versuche einer Allianzbildung näher beleuchtet. Der folgende Abschnitt widmet sich dann einer Analyse jener Faktoren, welche hauptverantwortlich zeichnen für die verwirklichten außenpolitischen Zugänge: die Zusammensetzung der Regierungen in Österreich; die innenpolitische Entwicklung in den Staaten Mittelosteuropas; die wirtschaftliche Verflechtung; sowie die Konturierung durch internationale Mitgliedschaften bzw. supranationale Verpflichtungen. Den Abschluss bildet neben einem Resümee der Ausblick auf mittelfristig erwartbare Herausforderungen.

2 Mitteleuropa als Interessensphäre seit 1955

2.1 Pragmatische Annäherung im Zeichen des Ost-West-Konflikts

Das zum relativen Glück der Neutralität gezwungene Österreich konnte sich den Gesetzen der Systemkonkurrenz und -konfrontation nicht entziehen. Man nahm die Gegebenheit eines vordeterminierten Aktionsradius (Neutralität, Kleinstaatlichkeit im Zentrum Europas und am Eisernen Vorhang) aber in konstruktiver Art und Weise an, zumal zu keinem Zeitpunkt an eine peinlich einzuhaltende Äquidistanz im Ost-West-Konflikt gedacht war. Das betraf beide Staatsparteien, das heißt die Partner der Großen Koalition (1947–1966), ÖVP und SPÖ. Bereits kurz nach Wiedererlangung der staatlichen Souveränität vermittelte Außenminister Bruno Kreisky (1959–1966, SPÖ), später Kanzler der Republik, in der Berlinfrage zwischen seinem Freund, dem Berliner Bürgermeister Willi Brandt, und Nikita Chruschtschow, dem starken Mann in Moskau. Er wollte mit seiner eigenen „Ostpolitik“ bessere Beziehungen zu den kommunistischen Nachbarn aufbauen (Rathkolb 1995).

Es schlossen sich Akzente im Rahmen des Nord-Süd-DialogsFootnote 1, im Ringen um eine Friedenslösung im Nahen Osten oder als Standort internationaler Institutionen an, wobei die auf Mittelost- und Osteuropa zielenden Initiativen die globale Gipfeldiplomatie zeitweise beeinträchtigten. Eine auf die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie gerichtete Strategie fungierte auch als Gegengewicht zu Formen der Westintegration (Angerer 2002, 45). Insbesondere die „Besuchsdiplomatie“ mit Blick auf die östlichen Anrainerstaaten des Warschauer Paktes entfaltete auf internationalem Parkett eine Schrittmacherwirkung (Luif 1982).Footnote 2 Die heimische Außenpolitik bildete auch zu Zeiten der ÖVP-Alleinregierung (1966–1970) ein „Fenster zur östlichen Welt“ (Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) 1966, zitiert in Meier-Walser 1988, 158). Sie trug auch über längere Zeiträume hinweg zu einer „Normalisierung der Beziehungen zwischen „Ost“ und „West“ bei (Bielka et al. 1983; Kramer 2006, 816).

Neben diese strukturellen und geplanten Elemente der Außenpolitik traten wiederholt Bewährungsproben in Krisenfällen, die eine recht konkrete Bedrohungslage des geografisch exponierten Kleinstaates Österreich eröffneten, jener der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 sowie des Prager Frühlings 1968 durch die sowjetische Besatzungsmacht, die beträchtliche Flüchtlingswellen auslösten (Kreisky 1968, 133; Marjanović 1998, 83).Footnote 3 Österreich nahm hierbei eine „feste und klare Haltung“ (Steiner 1977) ein: innerstaatlich durch entschiedene Maßnahmen zur Sicherung seiner Grenzen, international durch eine mutige Parteinahme in der Ungarn-Debatte bei der UN-Generalversammlung. Wenngleich die Bevölkerung diese Standhaftigkeit gegenüber den sowjettreuen Mitgliedern des Warschauer Paktes und der Sowjetunion unterstützte (Rauchensteiner 1987, 342, 354), so führten auch diese Flüchtlingsbewegungen, in Gegensatz zur zeitgenössischen nationalen und internationalen Lesart, im Nachgang zu Unmut (Rathkolb 2001).

Die Republik verband dabei sicherheits- und handelspolitische Interessen – sehr zum Missfallen etwa der Administration des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (Stichwort „Technologietransfer“ in Richtung Polen). Bedeutsamer für die pragmatische, realistische Anlage der Außenpolitik war jedoch das Bewusstsein, als Kleinstaat (a) von Allianzen mit anderen Kleinstaaten und (b) generell einer internationalen Strukturiertheit der Verhältnisse überproportional zu profitieren (Kreisky 1973). Darunter verstand man das Streben nach Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet ebenso wie auf infrastruktureller Ebene mit dem Ziel einer Entmilitarisierung; kräftig fiel das Engagement in den Diensten einer gemeinsamen Verabschiedung der KSZE-Schlussakte (1975) aus.Footnote 4 Ähnlich bekundete Ernst Sucharipa, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zunächst Leiter der Ost-Abteilung und anschließend der Politischen Sektion im Außenministerium, die Interessenlage unter gewandelten Vorzeichen, zumal „unsere Mitbetroffenheit durch die sicherheitspolitischen Entwicklungen in der Region weit größer ist, als die österreichischen Möglichkeiten, diese Vorgänge allein und auf sich selbst gestellt zu beeinflussen. Nur gemeinsam mit den westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten kann eine neuerliche (wirtschaftliche und gesellschaftliche) Ost-West-Teilung Europas verhindert werden“ (Sucharipa 1991, 138).

Mitte der 1980er-Jahre kam es zu einer Renaissance von Mitteleuropa-Konzepten (u. a. Konrád 1986). Damit schien eine Interessengemeinschaft greifbar, die der Ost-West-Verständigung in hohem Maße dienlich sein sollte: ein grundsätzlich von Gleichberechtigten bzw. gleichermaßen auf äußere Kooperation Angewiesenen betriebener, zukunftsweisender Austausch und Zusammenarbeit (Busek und Brix 1986, 173). Folgerichtig wurden die Anrainerstaaten und der Donauraum insgesamt zu einem Schwerpunkt der Auslandskulturpolitik der Zweiten Republik (Kampits 1990, 65–66). Diese Initiativen wurden von der dynamischen realpolitischen Entwicklung in der Region Ende der 1980er-Jahre ein- und überholt. In Summe hatte die „Ostpolitik“ der Bundesregierungen am Vorabend des Niedergangs der realsozialistischen Diktaturen in Mittelosteuropa ein beträchtliches politisches Kapital angehäuft.Footnote 5 ÖVP-Obmann und Außenminister Alois Mock spielte eine prominente Rolle im Rahmen der Grenzöffnungspolitik (Wohnout 2009). Gemeinsam mit seinen Nachfolgern und nachfolgenden Kabinetten nahm Österreich im westeuropäischen Verbund immer wieder Maximalpositionen staatlicher Anerkennungen (Stichwort Westbalkan) und später im Vorantreiben der Beitrittsperspektive ein.

2.2 Fürsprache statt Führungsrolle im Vorfeld des EU-Beitritts

Die Demokratisierungseuphorie in Osteuropa wich rasch den Niederungen der Ebene. Die Herausforderungen waren in der Tat gewaltig: Hier war, in begrenztem Zeitraum, vielerorts nicht weniger zu leisten als ein Lernen von Demokratie, eine Anpassung an das kapitalistische Wirtschaftssystem, der Aufbau einer modernen, leistungsfähigen Bürokratie sowie in einigen Fällen zusätzlich der wechselseitige Umgang in einer neuen Nation und einem neuen Staatswesen. Dieses „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Claus Offe) war in den Staaten Mittelosteuropas vergleichsweise schwach ausgeprägt, trotz verschiedener Routen in den Postsozialismus (Kitschelt et al. 1999). Dennoch kam es wie in Osteuropa und im postsowjetischen Raum insgesamt zu deutlichen, teils eklatanten (wie in Polen) BIP-Verlusten. Höchst instabile Parteiensysteme zogen ähnlich instabile Regierungen nach sich. Bald schon kam es vereinzelt zu ernsten demokratiepolitischen Rückschritten, in besorgniserregendem Maße etwa in der Meciar-Slowakei ab Mitte der 1990er-Jahre (das heißt beinahe ab der Geburtsstunde dieser jungen Republik).

Für Österreich bot die „dritte Demokratisierungswelle“ (Huntington 1991) in der Tat eine Möglichkeit, vom Rande des freien Europas in seine Mitte zurückzukehren. Die epochemachenden Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 transformierten die Außenpolitik gegenüber den östlichen und südöstlichen Nachbarn, am Westbalkan überlagert von den (post-)jugoslawischen Zerfallskriegen (u. a. Brix 2019, 691). Die Chancen, die sich durch das „annus mirabilis“ 1989 eröffneten, wurden von vielen Beobachter*innen und Akteur*innen als beispiellos erachtet (so z. B. Khol 1990). Diese breit geteilte Wahrnehmung führte zu einer Neuausrichtung der Außenpolitik auf den traditionellen „Hinterhof“ am westlichen Balkan und im Donauraum allgemein und den aus dem Zerfall der Doppelmonarchie heraus entstandenen Staaten speziell hin.

Freilich kam dort keine Donaumonarchie-Nostalgie auf (Stefan Lehne; zit. nach Clesse und Hirsch 1999, 256). Die von Österreich angestoßene „Interessengemeinschaft zentraleuropäischer Staaten“ (seine Nachbarländer inkl. Polens) mit der Stoßrichtung eines Anstoßens von Zusammenarbeit auf den Gebieten Kultur, Technik und Naturwissenschaften entfaltete wie ähnliche regionale Initiativen keine nachhaltige Wirkung. Sie dehnte sich, maßgeblich von Vizekanzler und ÖVP-Obmann Erhard Busek unterstützt, bis Mitte der 1990er-Jahre auf beinahe ganz Osteuropa und den europäischen postsowjetischen Raum aus – ein Ausweichen in die Breite. 2018 erfolgte gar der Austritt Österreichs. In Summe blieben sämtliche Versuche der Etablierung von Formaten unter österreichischer Schirmherrschaft in jeder Phase deutlich hinter der Dichte der unter dem „V4“-Dach gepflegten Beziehungen zurück (Müller 2016). Das gilt unter anderem für das „Salzburg Forum“ („V4“ zuzüglich Sloweniens) sowie die “Central European Defense Cooperation” („V4“ ergänzt um Slowenien und Kroatien).

Dennoch waren die ersten Jahre von einem prinzipiellen Interessengleichklang geprägt: Die Leistungsbilanzüberschüsse Österreichs weiteten sich deutlich aus (Breuss 1998). Das Land beteiligte sich in überproportionaler Weise an der wirtschaftlichen Hilfe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für Osteuropa (Nowotny 1996), während es zu einem lauten Fürsprecher der Heranführung der neuen Demokratien an die bestehenden Institutionen der Integration in der westlichen Hemisphäre (v. a. Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), Europäische Gemeinschaft (EG)) wurde. An den zur Wendezeit gesäten Erwartungen scheiterte man in der Folgezeit jedoch: Zwar gelang die Einleitung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Mehrzahl der jungen Demokratien nicht ganz zufällig während der EU-Präsidentschaft Österreichs im zweiten Halbjahr 1998, wenngleich sich diese selbst nicht durch auf Mittelosteuropa ausgerichtete Zielsetzungen oder Prioritäten auszeichnete (Schüssel 1998). Weiterführende Kreativität oder Elan im Rahmen des Beitrittsprozesses entfaltete die Republik kaum mehr. Insgesamt kam es ab den späten 1990er-Jahren zu einer Vernachlässigung außenpolitischer Zusammenarbeit: Nun überwog deutlich die wirtschaftliche Dimension, die sogenannte „Ostfantasie“ (Kiss et al. 2003, 63). Die wirtschaftliche Verflechtung ist enorm und übt zwangsläufig Einfluss auf die Art und Weise der politischen Begegnung aus (siehe Abschn. 2.3, 3.3).

Was blieb? Umsetzung fanden vielfältige bilaterale Formate, kulturpolitische Initiativen und ein engmaschiger Wissenschaftsaustausch, etwa das – Mitte der 2010er-Jahr ausgelaufene – MOEL-Programm der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG), die bilateralen Programme unter dem Schirm der Österreichischen Austauschdienst-Gesellschaft (oead) bzw. des Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) oder Schwerpunkte, die im Rahmen der Aktivitäten des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) gesetzt wurden. Zwei einer Handvoll Auslandsschulen weltweit betreibt die Republik Österreich zudem in der Region: in den Hauptstädten Prag und Budapest. Breitere Kreise zog die „Donauraumstrategie“: Sie wurde später (2011) auf EU-Ebene implementiert und fungiert als Bindeglied zwischen Kohäsions- und Nachbarschaftspolitik (Eichtinger 2012) – freilich ohne eigenständige Dotierung, wie Kritiker*innen bemängelten. Das alles entspricht einer breit aufgestellten, intensiv geführten Nachbarschaftspolitik (Ferrero-Waldner 2000).

2.3 Übergang zu einem Nicht-Verhältnis

In Summe wirkte sich die zaudernde und widersprüchliche Haltung der Bundesregierungen in den frühen 2000er-Jahren nachhaltig negativ auf die Wahrnehmung Österreichs als natürlicher Verbündeter auf dem Weg zur ersehnten EU-Mitgliedschaft aus. Obwohl es aus kulturellen, innen- und sicherheitspolitischen sowie wirtschaftlichen Gründen zu keiner umfassenden Blockbildung der Neu-Mitglieder kam, mangelte es zugleich an einem effektiven Hebel für eine österreichische Scharnierfunktion im Nachgang zum erfolgten EU-Beitritt. Unterschätzt wurde – unabhängig von den Folgewirkungen politischer Tageslosungen – auch die Bedeutung von nationaler Souveränität und Identität in diesen oft neugebildeten oder wenigstens neugezogenen Ländern, zusätzlich akzentuiert durch den – damals bevorstehenden – Beitritt als Kleinstaaten in ein supranationales politisch-rechtliches Gebilde (so zum Beispiel die Regierungs- bzw. Staatschefs von Tschechien und Ungarn; zu Ungarn siehe Medgyessy 2004).

Die Mitgliedschaft der Staaten Mitteleuropas in der EU verfestigte Tendenzen einer Normalisierung der Beziehungen: Die regionalen Formate der Zusammenarbeit dünnten sich weiter aus, die „Donauraumstrategie“ bekam ein offizielles Mäntelchen verpasst; im EU-Geflecht firmiert sie als „Makroregion“, leidet aber an einer eigenständigen Dotierung (kritisch zur fehlenden Finanzierung dieses „Sehnsuchtsraumes“ Brocza 2015). Auffällig gestaltete sich allenfalls die Vergabe der Portfolios in der Kommission: Dem „österreichischen“ Kommissar Johannes Hahn oblag zunächst die Regionalpolitik (Barroso II, 2010–2014), im Anschluss die Agenda Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik (Juncker, 2014–2019).

Die Abstimmungsmuster in den Europäischen Räten, dort, wo „harte“ Politik gemacht wird, deuten weder auf eine natürliche Allianzbildung noch eine lose Abstimmung unter Einbeziehung Österreichs hin. Wie Abb. 1 verdeutlicht, charakterisiert eine solche das Verhalten der V4 in doch auffälliger WeiseFootnote 6, ähnlich der Allianz der nordischen Länder, wohingegen die Österreich auch im Rest der Union keine systematischen Bündnisse pflegt (siehe auch Luif 2015 und 2016, 93–94; Kaeding und Selck 2005).Footnote 7 Eine nachhaltige Stärkung der Bündnisfähigkeit war weder angestrebt noch beiläufig erreicht worden. Die Ratspräsidentschaft im Jahr 2018 bewegte sich im üblichen Rahmen eines Auftretens als „ehrlicher Makler“ geteilter und gesamter Interessen in der Union – sie kam ohne Akzentsetzungen in Richtung Mittelosteuropa aus (BMEIA 2018). Die Länder Mittelosteuropas ihrerseits traten zwar dem Schengenraum bei (Ende der regulären Grenzkontrollen im Dezember 2007), Teil der Eurozone wurde aber einzig die Slowakei.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: ECFR 2020)

Muster bilateraler Kontaktpflege der Regierungen von EU-Staaten in EU-Angelegenheiten.

Mit Blick auf die demokratiepolitischen Verwerfungen in Polen und Ungarn üben österreichische Regierungsvertreter*innen fortgesetzt Kritik, mahnen zugleich aber Zurückhaltung ein und agieren durchgängig im „Windschatten“ der EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“ bzw. vehementer fordernder Mehrheiten im Europäischen Parlament, so etwa in der Frage einer Knüpfung der Freigabe von Hilfsgeldern (Corona, Strukturentwicklung) an die Erfüllung rechtsstaatliche Kriterien im Rahmen einer auf Defizite in Polen und Ungarn abzielenden Diskussion (ORF 2020; APA 2018).Footnote 8

3 Bestimmende Faktoren der Außenpolitik

3.1 Regierungszusammensetzung

Die Außenpolitik der Zweiten Republik wird seit ihren Anfängen von den beiden staatstragenden Parteien ÖVP und SPÖ geprägt. Überwiegend wurde diese im Rahmen Großer Koalition ausgeübt, wobei im Regelfall Kanzler*in und Außenminister*in von derselben Partei gestellt wurden. Hingegen bezogen die direkt legitimierten Bundespräsidenten die Sphäre der Außenbeziehungen in ihren „Rollenverzicht“ mit ein und vermieden Initiativen, die Reibungen mit den Vorstellungen der Bundesregierung zur Folge gehabt hätten. Dieser Grundzug blieb vom Verlauf der Waldheim-Affäre unberührt und mündete der einmalige Konflikt zwischen dem „aktiven“ Amtsinhaber Thomas Klestil (ÖVP) und der Regierung Franz Vranitzkys (SPÖ) mit den „schwarzen“ Außenministern Mock bzw. Schüssel (ÖVP) in einer Verfestigung des Regierungsvorrangs (Wineroither 2007).Footnote 9

Zwischen ÖVP und SPÖ bestand zu fast allen Zeiten und auch mit Blick auf den Umgang mit den realsozialistischen Diktaturen Mittelosteuropas weitgehender Konsens. Eine zeitweise Ausnahme bildete nicht zufällig die Amtszeit des SPÖ-Politikers Kreisky in von ÖVP-Kanzlern geführten Kabinetten (Vorwurf der „Äquidistanz“ im West-Ost-Systemwettbewerb). Helmut Kramers Periodisierung der Außenpolitik (Kramer 2006) spiegelt diese Verhaftung deutlich wider, zumal sie ohne eine Orientierung an Regierungswenden auskommt: Für ihn währte die „Integrations- und Emanzipationsphase der österreichischen Außenpolitik“ von 1955 bis 1968/1970Footnote 10, die darauffolgende „Phase der global ausgerichteten Neutralitätspolitik“ von 1968/1970 bis 1983/1984; diese machte ihrerseits einer „Phase der realistischen Außen- und Neutralitätspolitik“ Platz. Ab 1987 (Neuauflage der Großen Koalition) forcierte insbesondere die ÖVP die Perspektiven Nachbarschaftspolitik, regionale Partnerschaft und EU-Beitritt – den eigenen wie jenen der post-sozialistischen Länder der dritten Demokratisierungswelle.Footnote 11

1986/1987 kam es zu einer Neuauflage Großer Koalitionen. Ironischer Weise diskutierte die demokratiewissenschaftliche Literatur jener Jahre Tendenzen einer „Entaustrifizierung“ des politischen Systems in Österreich in den Bahnen einer „Westernisierung“ (z. B. Pelinka 1995). Tatsächlich verorteten führende SPÖ-Politiker*innen, allen voran der damalige Bundeskanzler Vranitzky, das Land in Westeuropa, betonten die Notwendigkeit einer Rollenfindung in diesem Rahmen und erhoben Bedenken gegen eine als einseitig empfundene Orientierung an einer Führungsrolle in Mitteleuropa und Bindeglied-Funktion zwischen Ost und West (vgl. Brait 2014).

Das Außenministerium selbst beschreibt eine Domäne der ÖVP – ein Schlüsselministerium, das regelmäßig vom Bundesparteiobmann und Vizekanzler geleitet wird. Innerkoalitionäre Konflikte verursachten in erster Linie Versuche der Vermengung von Außen-, Europa- und Innenpolitik aus der FPÖ als Koalitionspartner in den beiden Schüssel-Kabinetten ab 2000: Sie forderte vehement eine Verknüpfung der EU-Beitrittsfrage mit Zugeständnissen der östlichen Anrainerstaaten in der AKW-Frage sowie im Falle Tschechiens zusätzlich der Aufhebung der Beneš-Dekrete (Höll 2002, 385). Sie leistete in diesen Fragen spätestens seit der Wahlniederlage 2002 jedoch rein hinhaltenden Widerstand.

Zunächst hatte sich Schwarz-Blau noch um Verbündete in der Region bemüht: Die Initiative zu einer „Regionalen Partnerschaft“, die 2001 von der Bundesregierung ausging, ist im Lichte der „Sanktionen“ der EU-14 im Zuge der Bildung des schwarz-blauen Kabinetts Schüssel I zu sehen (Luif 2012). Hierbei bremste insbesondere Tschechien Ambitionen, die in Richtung einer der Visegrád-Gruppe ähnlichen Plattform für Gespräche, Koordination und Initiativen abzielten. In Slowenien wiederum wurden die Bemühungen unter anderem des seinerzeitigen Außenministers Mock (ÖVP) im Zuge der Gründung Sloweniens als unabhängiger Staat gesehen und gewürdigt, doch führte die Regierungsbeteiligung der FPÖ und insbesondere die „Altlast“ (und Bringschuld) „Ortstafelcausa“ in Kärnten zu Verwerfungen: Der langjährige FPÖ-Obmann und Landeshauptmann Jörg Haider konterkarierte jedwede Lösung und damit ein Nachkommen dieses aus den Bestimmungen erwachsenden wichtigen Punktes im Rahmen der Aufgaben des Schutzes der in Kärnten ansässigen autochthonen slowenischen Minderheit (Kucan 2001; Stranzl 2006).Footnote 12 Auf Ebene der Bürger*innen zeigte sich die Bevölkerung in der Slowakei und Ungarn einem solchen Format gegenüber aufgeschlossen, während jene in Slowenien gespalten war und die tschechische sich durch weitverbreitetes Desinteresse auszeichnete (Kiss et al. 2003, 69). Die „Regionale Partnerschaft“ wurde im Jahr 2011 „abgewickelt“. So wirkt diese jüngere, im Kontext der „Sanktionen“ geborene ungarisch-österreichische Allianz allein im Persönlichen bis zum heutigen Tag fort: Der „glühende“ Europäer Wolfgang Schüssel (ÖVP; 2000 bis 2007 Bundeskanzler) zeigt sich mit dem in West- und Nordeuropa isolierten, durch Anti-EU-Rhetorik auffallenden Ministerpräsident Viktor Orbán (1998 bis 2002 sowie seit 2010) solidarisch verbunden.

Noch einmal anders war die Haltung der FPÖ während der erneuten Regierungsbeteiligung 2017 bis 2019: Im Kabinett Kurz I waren die Freiheitlichen immerhin mit der zwar parteilosen, doch von ihr nominieren Außenministerin Karin Kneissl vertreten. Unter Parteiobmann – und Vizekanzler – Strache (FPÖ) hatte sie sich auf internationalem Parkett zusehends nach paktfähigen Verbündeten in Mittelosteuropa umgesehen. So pflegten die Freiheitlichen trotz vielfacher Interessengegensätze (siehe etwa die Indexierung der Familienbeihilfe) ein ausgezeichnetes Verhältnis zur Orbán-Regierung (ORF 2018).

Der Koalitionspartner, die Kanzlerpartei ÖVP, lange Zeit die am entschiedensten pro-europäische Partei im österreichischen Parteiensystem, zeigte sich nunmehr betont „emotionslos“ und offen für anti-institutionelle (EU-)Rhetorik. In der allerorts heiklen Migrationsfrage beschwor und betrat Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bi- und multilaterale Verhandlungswege (vgl. Schließung der Balkanroute) und räumte diesen Vorrang ein vor einem supranationalen Zugang wie ihn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angestrebt hatte; zugleich eine den Geschmack der mittelosteuropäischen Partner treffende Vorgehensweise: „Die Versuche, Solidarität einzelner Mitgliedsstaaten zu erzwingen und andernfalls mit Strafen zu drohen, sind zum Scheitern verurteilt. Sie lassen die Fliehkräfte in der EU nur noch größer werden. Das hat das Referendum zu den Flüchtlingsquoten in Ungarn klar gezeigt“ (Kurz 2017, 259).Footnote 13 Anstelle des Einforderns von Solidarität oder Vertragstreue rückte das Einräumen eines Vetorechts – eine Aushebelung zentraler Inhalte des Lissaboner Vertrages.

Wie hält man es mit Demokratie bzw. Rechtsstaatlichkeit? Die schwammige österreichische Positionierung bzw. Rhetorik verdankt sich der Dominanz der ÖVP in der Außenpolitik bzw. einer strukturellen Rechtsmehrheit von ÖVP und FPÖ im Parteiensystem: SPÖ, Grüne und Liberale schlagen wesentlich härtere Töne an. Das gilt für autoritär wahrgenommene Tendenzen in Ungarn ebenso wie für Polen, zuletzt etwa im Konflikt um den Spruch des Verfassungsgerichts in Warschau, das den Vorrang des EU-Gemeinschaftsrechts prinzipiell infrage stellt. Eine Änderung in dieser Frage wurde auch im Zuge der ÖVP-internen Regierungsrochade (Ausscheiden von Kanzler Sebastian Kurz) im Herbst 2021 nicht angedacht: Neuer (Kurzzeit-) Regierungschef wurde Alexander Schallenberg, vormals Außenminister; sein Nachfolger im Ressort, Michael Linhart (ÖVP), legte bei Amtsantritt gar nahe, man solle die Regierungen (Mittel-)Osteuropas nicht nach westeuropäischen (sic!) Standards beurteilen (Manuela Honsig-Erlenburg 2021).

3.2 Entwicklungen in den Staaten Mittelosteuropas

Festlegungen und erst recht Tageslosungen in der österreichischen Außenpolitik finden seit Mitte der 1990er-Jahre im Rahmen eines dynamisierten Parteienwettbewerbs – und sie ergeben sich seit der „Wende“ 1989/1990 in Wechselwirkung mit der Außenpolitik von Regierungen höchst unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in der Region statt. Insgesamt dominieren aber seit der Wendezeit bürgerlich-konservative Regierungen. Am deutlichsten betrifft dies in einer langfristigen Übersicht Polen und Ungarn. Beide Länder gelten unter ihren amtierenden nationalkonservativen Alleinregierungen (Prawo i Sprawiedliwość, PiS seit 2015, Fidesz seit 2010) als demokratiepolitische Sorgenkinder (Finke 2021).Footnote 14 Eine ähnliche Demokratieebbe hatte in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre bereits in der Slowakei (Meciar-Ära) und in Kroatien (ausgehende Tudjman-Ära) geherrscht. Sowohl die Verfasstheit fortwährender innerer Polarisierung als auch die internationale parteipolitische Ausrichtung in Polen und Ungarn unterscheidet sich somit gegenwärtig Jahren grundlegend von der österreichischen Praxis einer – immer noch – überwiegenden Konsensorientierung (Wineroither 2020): SPÖ und ÖVP repräsentieren seit den 1960er-Jahren zu den aktivsten Proponenten einer internationalen Zusammenarbeit und formaler Zusammenschlüsse der Vertreter*innen ihrer jeweiligen Parteienfamilie (siehe etwa Khol 1995). Eine Mitgliedschaft in den korrespondierenden Fraktionen im Europaparlament (SPE bzw. EVP) stand zu keinem Zeitpunkt zur Disposition.

Hingegen stützte sich eine Absatzbewegung rechtskonservativer Parteien auf europäischer Ebene gerade auch auf Vertreter*innen in der Region: Die Prawo i Sprawiedliwość zählte neben der tschechischen Občanská demokratická strana (ODS) und den britischen Tories zu den zentralen Gründungsmitgliedern einer Fraktion, die sich nunmehr „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) nennt. Diese dient mittlerweile als Sammelbecken EU-skeptischer oder integrationsfeindlicher Parteien (Heinisch und Schlipphak 2014; Dialer et al. 2015, 136 ff.). Ungarns Premier liebäugelt seit dem Ausscheiden des Fidesz aus der Europäische Volkspartei (EVP) im März 2021 öffentlich mit einem Wechsel dorthin. Sie war damit einem drohenden Ausschluss begegnet für den sich insbesondere Schwesterparteien in Westeuropa und Skandinavien (und die liberalkonservative Bürgerplattform Polens) stark gemacht hatten. Die ÖVP wurde in diesem Kontext eher als Bremserin eingestuft (Lang und von Ondarza 2021). Ähnliches gilt für den nächsten Kandidaten eines Wechsels nach rechtsaußen, die Slovenska demokratska stranka (SDS) des slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša, einem engen Verbündeten des ungarischen Amtskollegen.

Trotz aller parteiensystemischer Dynamik und ungeachtet demokratiepolitischer Konjunkturen bildete sich früh nach der Wendezeit eine Konstante des regionalen Interessenabgleichs aus. Die Staaten Mittelosteuropas gingen daran, ihr Binnenverhältnis zu ordnen: Auf ungarische Initiative hin wurde schon 1991 das Format der „V4“ gegründet (wobei erst die friedliche Teilung der Tschechoslowakei 1993 aus einem Dreier- ein Viererformat machte). Dies war nicht zuletzt aufgrund der ethnischen Spannungslinien in der Region ein wichtiger Vorstoß; eine Eskalation wie jene auf dem Westbalkan blieb aus. Hingegen wurde eine Institutionalisierung der V4 von den Beteiligten nicht angestrebt – ein früher Ausdruck der besonderen Wertigkeit (wiedererlangter) nationaler Souveränität und nicht zuletzt eine Absage an eine Führungsrolle Österreichs (oder Deutschlands)!

Nach innen verfolgten die „V4“ einen recht pragmatischen Kurs, doch galt weiterhin: weder Reichweite noch Tiefe der gemeinsamen Bemühungen sollten überschätzt werden. Interessenkonflikte bis hin zu persönlichen Idiosynkrasien hatten in der Vergangenheit wiederholt zur Aufsplittung in ein 2plus2 oder 3plus1-Format geführt, wenngleich man jeweils eher zügig zum Voll-Format zurückfinden sollte: So sind die Beziehungen zwischen Polen und Ungarn traditionell freundlich, jene zwischen Ungarn und der Slowakei bestenfalls solide und beständig bedroht sich zu verschlechtern (siehe die erheblichen ethnopolitischen Anstrengungen der gegenwärtigen Regierung in der Slowakei auf dem Gebiet der Kultur- und Sportförderung sowie im Staatsbürgerschaftsrecht).

Nicht unerwähnt bleiben soll eine grobe Divergenz im Umgang mit autoritären Playern auf der Weltbühne, die auch auf eine gering ausgeprägte Kompatibilität mit außenpolitischen Zielen Österreichs und den hierzulande maßgeblichen europapolitischen Zugängen verweist: der Türkei, China und vor allem Russland (Dangerfield 2009). Doch auch innerhalb der EU wird Österreich nicht als schwergewichtiger Partner wahrgenommen. Eine Umfrage unter außenpolitischen Stakeholdern in den „V4“ fasste dieses Beziehungsgeflecht in konkrete Zahlen: Das Verhältnis zu Österreich wird als sehr freundlich wahrgenommen, und zwar relativ uniform über die Länder der Region hinweg. Gleichzeitig liegt der Anteil jener, die in Österreich einen der fünf maßgeblichsten Partner in der Außenpolitik des Landes sehen, deutlich unter dem französischen Wert, immerhin aber leicht über jenem für Russland oder dem Vereinigten Königreich. Nur in dem nicht angrenzenden und wesentlich größeren Polen sehen die Verantwortlichen keine Notwendigkeit für eine Intensivierung der Beziehungen unter strategischen Gesichtspunkten (Janebová und Végh 2019, 16–17).

3.3 Wirtschaftliche Verflechtung

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sehen die politischen Akteur*innen in der Region Wohlstandsgewinne mit Verteilungskonflikten verflochten: Die Sphären des Wirtschaftlichen und Politischen sind eng verquickt. Die österreichische Außenpolitik musste bereits früh dem Umstand Rechnung tragen, dass die Länder Mitteleuropas und die dortigen Unternehmen zunehmend in Konkurrenz im Wettbewerb um Marktanteile in der Region traten (für Ungarn siehe etwa Lengyel 2006, 49). Die Bedeutung dieses Verbundes an Märkten ist nicht zu unterschätzen: Das Handelsvolumen mit den Visegrád-Staaten allein entspricht seit einigen Jahren ungefähr zwei Drittel des gesamten überseeischen – das heißt: außereuropäischen – Handelsvolumens. Es liegt knapp unter jenem mit Asien und entspricht dem Doppelten des Austausches mit Nordamerika: Österreichische Unternehmen zählen zu den Hauptinvestoren in der Region.

Die „Osterweiterung“ hielt ein ausgeprägtes Kosten-Nutzen-Profil bei scharfer regionaler Differenzierung innerhalb Österreichs bereit (Kramer 1998). Auf österreichischer Seite verteilen sich die Integrationsprofite keineswegs gleichmäßig über das Land (Breuss 2014). Das schafft Raum für Konflikte innerhalb des föderalistischen Staatsgebildes. Im Ländervergleich wiederum ist wirtschaftlich gesehen vom asymmetrischsten Nachbarschaftsverhältnis innerhalb der EU zu sprechen: Das Wirtschaftsgefälle zwischen Österreich einerseits und der Slowakei und Ungarn andererseits ist weiterhin – trotz Konvergenz – beträchtlich bis eklatant.Footnote 15

Die – ohnehin bereits verzögerte – Öffnung des Arbeitsmarktes in Österreich wiederum befördert direkte Lohnkonkurrenz in etlichen Branchen. Am Vorabend des Ausbruchs der Corona-Pandemie lagen die überwiegend aus Mittelost- und Osteuropa erfolgten Entsendungen bei 211.500.Footnote 16 Über 323.000 Menschen aus den „neuen“ Mitgliedsländern gingen zehn Jahre nach Auslaufen einer – nur von Deutschland und Österreich ausgeschöpften – Übergangszeit einer Beschäftigung in Österreich nach (Die Presse 2021). 2021 lebten 91.000 Ungar*innen, 45.000 Slowak*innen, aber nur 14.000 Tschech*innen auf Bundesgebiet (Statistik Austria 2021). Als indirekte politische Reaktion beschloss die schwarz-blaue Bundesregierung (Kabinett Kurz I) eine umstrittene Familienbeihilfen-Indexierung, welche ganz überwiegend Familien von Arbeitnehmer*innen aus Ländern Mittelosteuropas trifft und ein EU-Vertragsverletzungsverfahren nach sich zog. Das Engagement von Firmen in Mittelost- und Osteuropa endete wiederholt in politischen Verstrickungen, sei es auf dem Wege von Korruption und allgemeiner Misswirtschaft (HAAG) oder politisch motivierten Eingriffen (z. B. branchenspezifische Sonderbesteuerung und staatliche Eingriffe bei FOREX-Krediten). Und auch die „Leuchtturmprojekte“ in der Klimapolitik, die im Regierungsprogramm der schwarz-grünen Koalition zu finden sind (Kabinett Kurz II), weisen auf Interessengegensätze hin, die auf nationaler und europäischer Ebene angesiedelt sind: der Umgang mit Kernenergie und die verbindliche Einsparung von CO2-Emissionen (siehe die polnische Kohleindustrie) (BMEIA 2020).

3.4 Internationales Umfeld und supranationale Einbettung

Sowohl die aufoktroyierte, bald ins Konstruktive gewendete Neutralität im Ost-West-Konflikt als auch die geografische Lage und das Donaumonarchie-Erbe richteten die Außenpolitik auf ein Nischenangebot, auf Vermittlerrollen und Brückenbauer-Funktionen hin aus, praktisch ebenso wie symbolisch. Eine aktive Neutralitätspolitik schuf Spielräume und Identität. Österreich wurde von oppositionellen Gruppen hinter dem Eisernen Vorhang eine wesentliche Vermittlerrolle zugeschrieben (Schwimmer 2008, 71) und kam dieser zur Wendezeit und am Westbalkan im Zuge der jugoslawischen Zerfallskriege in Fragen internationaler Anerkennung (staatliche Souveränität, Aufnahme in den Europarat) auch nach.

Im Anschluss kam es in zunehmendem Maße auf internationaler Ebene zu einer Emanzipation der Staaten Mittelosteuropas; eine Entwicklung, die selbst ohne eigenes Zutun den österreichischen Anspruch einer besonderen Mittlerrolle ins Leere laufen lassen musste. Gemeinsame politische Schnittmengen erwiesen sich als rar gesät.

In Fragen der Zukunft europäischer Politik nimmt die österreichische Politik traditionell eine bedeutend integrationsfreundlichere und multilateral geprägte Haltung ein; auch wenn dies führende (Außen-)Politiker*innen des Landes gerne in Abrede stellen, so besteht ein ausgeprägtes Werte-Cliff in dieser – und anderer Hinsicht – zwischen den Gesellschaften West- und Osteuropas (WVS 2020).Footnote 17 Einig sind sich die Staaten Mittelosteuropas bzw. deren Regierungen in einer häufig skeptischen Haltung gegenüber weiteren Integrationsschritten auf EU-EbeneFootnote 18; einer von Distanz und Pragmatismus geprägten Haltung, die sich mit der Einstellung der Mehrheiten dieser Gesellschaften deckt (Janebová und Végh 2019, 27). Die Wahrung gesellschaftlicher bzw. ethnischer Homogenität zählt für viele Regierungen zum „Goldstandard“ des Regierungshandelns: Das mit einer qualifizierten Mehrheit im Europäischen Rat verabschiedete „relocation program“ beispielsweise wurde in der Region nie bzw. nie vollständig umgesetzt.

Dieser Abstand hat sich im Verlauf der 2010er-Jahre mit einem Schub ab 2017 (Kabinette Kurz I/II) verringert: Die betont EU-kritische FPÖ gelangte (erneut) in die Regierung. Ihr damaliger Parteiobmann und Vizekanzler, Heinz-Christian Strache (FPÖ), äußerte öffentlich mehrmals Gedanken über einen möglichen Beitritt Österreichs zur Gruppe der „V4“; wobei es auch blieb. Der Kanzler selbst nahm zwar an einem Gipfel der „V4“ teil, verband diese mit Österreichs „Rolle als Brückenbauer zwischen Ost und West“, betonte aber zugleich den Graben, der in der Frage der Nutzung von Atomkraft besteht (Vieregge 2020; Krause-Sandner 2020).Footnote 19

Aus Sicht mittelosteuropäischer Regierungen verfolgte das Kabinett Kurz I zwar keine „Schaukelpolitik“, doch bedeutete ihr Vorgehen eine lose Abfolge von Interessengleichklang und -kollision: hart und auf einer Linie mit den eigenen Vorstellungen beim Austritt aus dem UN-Migrationspakt; wie diese vergleichsweise offen für Sonderwege beim Thema „Impfstoffbesorgung“ (z.b. „Impfallianz“ mit Israel, Idee der Verwendung russischer Impfstoffe); weitgehend ideenlos und ohne Elan in Fragen der rechtlich-institutionellen Weiterentwicklung der Union; hart und hierbei in Frontstellung (auch) zu den Interessen der „V4“ als Bestandteil der budgetären „frugal four“.Footnote 20

Die „V4“ schieden zudem in Fragen der äußeren Verteidigungspolitik als Bündnispartner aus; es handelte sich allesamt um NATO-Mitglieder bzw. dorthin strebende Länder (Neuhold 2005), vom damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als „Neues Europa“ der „Allianz der Willigen“ im global ausgerufenen „Kampf gegen den Terror“ zugeschlagen. Vor diesem Hintergrund zerschellten Appelle an eine gleichsam natürliche Interessenallianz der mittelgroßen Staaten Mittelosteuropas (z. B. Plassnik 2007) im Rahmen der Entscheidungsfindung in der EU an der allerorts betriebenen Realpolitik! Folgerichtig empfahlen professionelle Beobachter*innen Versuche einer (realpolitisch fundierten) Reaktivierung der Außen- und Sicherheitspolitik auf anderem Terrain und jedenfalls nicht mit Ausrichtung auf Mittel- oder „Kern“-Europa (Kramer 2006). Österreich selbst ist im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ in der Gruppe der „West European Partners WEP-5“ organisiert, eines Zusammenschlusses neutraler Kleinstaaten.Footnote 21

Die bedeutsamen im Verbund auftretenden Werte-, Verteilungs- und Zielkonflikte wurden in ein blass-freundschaftliches Nachbarschaftsverhältnis abgeleitet.Footnote 22 Dieses wird zugleich hochgradig von der innenpolitischen Lage strukturiert, soll heißen: gleichermaßen in Österreich wie in den anderen Staaten. In Summe befördert die EU-Mitgliedschaft aller Länder in der Region eine maßvoll-distanzierte, pragmatisch gehandhabte österreichische Außenpolitik, die sich durch folgende Eckpunkte auszeichnet: 1) gedämpfte Kritik an der „inneren“ Verfasstheit anderer Staaten (Wirtschaftsinteresse!); 2) punktuelle Konflikte vor allem in supranationalen Budgetfragen; 3) ein Nicht-Verhältnis auf wesentlichen Politikfeldern als Folge nicht nur des Verblassens von Wende-Erlebnis und EU-Beitrittseuphorie sondern aufgrund divergierender Interessenlagen bzw. fehlender wechselseitiger Angewiesenheit auf Abstimmung, Zusammenarbeit und Bündnisbildung.Footnote 23

4 Resümee und Ausblick

Dem Kleinstaat Österreich mangelt es fernab von Sentimentalitäten und kulturpolitischen Assen an handfesten Argumenten wie effizienten Methoden für ein Brückenbauer-Dasein zwischen West- und Mittelosteuropa. Die weitführenden, sehr wohl auch aus Idealismus genährten Ambitionen und der Optimismus aus der Demokratisierungsphase, die später im Umfeld der EU-Osterweiterung noch einmal aufkeimten, wichen zwar keinem Nicht-Verhältnis. Sie wurden aber schrittweise von einem realistischen Verständnis abgelöst: Das kulturell, historisch und wirtschaftlich beschaffene Naheverhältnis mündete in eine dicht gewobene Nachbarschaftspolitik ohne formale oder auch nur informelle Bündnis-Strukturen. „Realpolitische“ Gegebenheiten holten die idealistische Ausnahme einer aktiven Mitteleuropapolitik ein. Man kehrte damit zum Status quo ante zurück: Emil Brix, Kenner der Verhältnisse in der Region (und im postsowjetischen Raum), gegenwärtig Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien, sieht die „realpolitische“ Grundausrichtung der Außenpolitik seit 1945 im Falle der „mit den Namen Alois Mock und Erhard Busek verbundenen (jeweils ÖVP) Versuche einer vor und nach dem Wendejahr 1989 aktiven österreichischen Mitteleuropapolitik“ (Brix 2019, 690) durchbrochen.

Hier galt es seit dem früh gefundenen Zweckbündnis der „V4“ kein Vakuum zu füllen! Teil der – angestrebten – Konsequenzen europäischer Aussöhnung, Einigung und Integration ist eine Schaffung neuartiger Unabhängigkeit durch komplexe (Mehrebenen-)Verwobenheit einer höheren Anzahl von Staaten: Diese Entwicklung macht das Wohl kleinerer Staaten unabhängig von dem Verhalten größerer Staaten. Sie macht zugleich, und dies ist von Relevanz für die Bestimmung der außenpolitischen Dynamik in Mittelosteuropa unter Einbeziehung Österreichs, unmittelbare Nachbarn wechselseitig ein Stück weit unabhängiger voneinander.Footnote 24

Lässt sich dieser Pragmatismus, in dem Kritiker*innen – zumindest mit Blick auf die europapolitische Dimension – Beliebigkeit und eine Innenpolitisierung der Außenpolitik erkennen (Nowotny 2016), als ultima ratio fortschreiben? In einem ebenso bilanzierenden wie evaluierenden und vorausschauenden Beitrag von Außenminister Schallenberg (ÖVP) in der „Europäischen Rundschau“ findet sich kein Wort zu den heutigen oder künftigen Beziehungen zu den Staaten Mittelosteuropas (Schallenberg 2020). Ob Ausdruck von Realismus, Beliebigkeit oder Desinteresse – Österreich liegt europapolitisch gesehen an einer tektonisch heiklen Platte: Es besteht ein augenscheinliches Werte-Cliff zwischen west- und osteuropäischen Gesellschaften. Lauwarme Konflikte könnten sich bereits mittelfristig zuspitzen und eskalieren.

Immer noch eine „Gretchenfrage“: Wie hält man es mit Solidarität und Demokratie? Wird der Aufstieg (mittel-)osteuropäischer Länder in eine „Nettozahlerposition“ (Tschechien!) zu Verwerfungen führen, die jener der Griechenland-Krise vor einigen Jahren ähneln? Bremsen nationalkonservative Regierungen, die sich als „trojanische Pferde“ gerieren, jedwede politische Weiterentwicklung der Union aus? Lässt sich das „Rechtsstaatlichkeitskriterium“ zu einem effektiven Hebel ausbauen, um autoritären Tendenzen vorzubeugen? Jede dieser skizzierten Entwicklungen würde Österreich als besonders Betroffenen in hohem Maße fordern!

Weiterführende Quellen

Europäische Rundschau 1973–2020. Vierteljahreszeitschrift

Gehler, Michael. 2009. Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik: Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts. 2 Bände. Innsbruck: Studien-Verlag.

Gehler, Michael, Paul Luif, und Elisabeth Vyslonzil, Hrsg. 2015. Die Dimension Mitteleuropa in der Europäischen Union. Geschichte und Gegenwart. Hildesheim: Georg Olms.

Kramer, Helmut. 2006. „Strukturentwicklung der österreichischen Außenpolitik (1945–2005)“. In Politik in Österreich. Das Handbuch, hrsg. von Herbert Dachs, Peter Gerlich, Herbert Gottweis, Helmut Kramer, Volkmar Lauber, Wolfgang C. Müller und Emmerich Tálos, 807–837. Wien: Manz.

Luif, Paul. 1982. „Österreich zwischen den Blöcken. Bemerkungen zur Außenpolitik des neutralen Österreich“. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 11(2): 209–220.