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1 Einleitung

Seit gut 25 Jahren ist die Republik Österreich Vollmitglied der Europäischen Union (EU). In jenen Bereichen, in denen über den Beitritt Souveränitätsrechte übertragen wurden, erhielten die Staatsorgane innerhalb des institutionellen Systems der EU umfassende Mitwirkungs-, Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsrechte. Mit dem Beitritt verstärkte sich ein Europäisierungsprozess, der seinen Anfang in den österreichischen Beitrittsbemühungen nahm. Die wesentlichen Impulse hierfür wurden durch die neue Koalitionsregierung zwischen Sozialdemokratischer Partei (SPÖ) und Volkspartei (ÖVP) im Januar 1987 gesetzt, hatten anfänglich aber nicht explizit die Vollmitgliedschaft Österreichs zum Ziel. Im Rahmen eines „Global Approach“ strebte Österreich vielmehr eine Teilnahme als „Teilmitglied“ am Binnenmarkt an. Vor dem Hintergrund der seitens der EU formulierten Beitrittsbedingungen, der Anträge Schwedens, Finnlands und Norwegens und der damit ausgelösten Beitrittsdynamik innerhalb der EFTA verdichteten sich die Bestrebungen Wiens jedoch rasch auf eine Vollmitgliedschaft.

Österreich brachte das Beitrittsgesuch bei der „alten“ Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein und trat am 1. Januar 1995 der „neuen“ EU bei. In der Zwischenzeit hatte der europäische Integrationsprozess das Stadium einer Politischen, Wirtschafts- und Währungsunion erreicht: Am 7. Februar 1992 unterzeichneten zwölf Staats- und Regierungschefs in Maastricht den Vertrag über die Europäische Union, der am 1. November 1993 in Kraft trat. Österreich trat somit nicht nur einem um umwelt-, sozial-, wirtschafts- und währungspolitische Instrumente erweiterten Binnenmarkt bei, sondern einer Union, zu deren Aufgaben auch die intergouvernementale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik und in der migrations-, justiz- und strafrechtlichen Zusammenarbeit gehörte. Insbesondere dieser Entwicklungsschritt nötigte allen beteiligten Akteuren eine besondere Sensibilität in Fragen der Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Hinblick auf die österreichische, finnische und schwedische Neutralität und Neutralitätspolitik ab.

Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, die Grundparameter der österreichischen Europapolitik im historischen Längsschnitt der letzten 30 Jahre zu analysieren. Im Zentrum der Untersuchung steht daher der Mitgliedschaftsprozess Österreichs innerhalb der EU. Europapolitik wird hierbei als die Summe der auf die EU-Integration bezogenen, verfassungs- und sekundärrechtlichen Normbestände, der inter- wie intraministeriellen sowie der parlamentarischen Regelwerke und Verfahrensroutinen definiert. Aufgrund ihrer funktionalen Reichweite und Integrationsdichte greift Europapolitik sowohl als besonderes Element der Außenpolitik wie auch als gewichtige Funktion staatlicher Innenpolitik. Aufgrund der besonderen Prozessdynamik europäischer Integration bietet sich als theoretisch-konzeptionelles Modell der historische Neo-Institutionalismus an (Bulmer 1994; Hall und Taylor 1996; North 1992, 1993; Pierson 1996a, b). Mit dessen Hilfe ist es möglich, die Analyse der Bildung und Vertretung politisch-strategischer, nationaler Interessen in den breiteren Kontext der innen- wie außenpolitischen Anreizstrukturen zu stellen.

Das zentrale Erkenntnisinteresse liegt in der Darlegung des Verhältnisses zwischen handlungsleitenden Ideen, Leitbildern und Interessen der zentralen Akteure einerseits und der diese umgebenden Strukturen, Normen und prozeduralen Regelwerke andererseits. Ausgangspunkt der Analyse ist der daher die Entwicklung der Grundzüge österreichischer Europapolitik bis zum Inkrafttreten des Mitgliedschaftsvertrages mit der EU. In den darauffolgenden Kapiteln zeige ich dann, wie sich Österreich in zentralen Momenten der Fortbildung der europäischen Verfassung bewegt hat. Ich nehme hierzu die Regierungskonferenzen zur Änderung der Verträge in den Blick und konzentriere mich dabei auf die für Österreich zentralen – handlungsbestimmenden – Reformbaustellen. Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag dann das effektive Abstimmungsverhalten Österreichs im Ministerrat der EU und stellt die hierzu innerstaatlich entwickelten Grundzüge der interministeriellen Koordinierung in der Europapolitik dar.

Der Ansatz des historischen Neo-Institutionalismus verspricht am ehesten, die auf die EU bezogenen Integrationsentwicklungen Österreichs zeitbezogen zu erklären und nicht nur statische Modelle bzw. Momentaufnahmen zu liefern. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags besteht im Wesentlichen darin, einen politikwissenschaftlichen Forschungsansatz zu nutzen, mit dem die Integrationsprozesse und ihre institutionelle Dynamik über den Zeitraum von etwa 30 Jahren dargestellt und erklärt werden können (Thelen und Steinmo 1992, 2). Im Kern blicke ich daher auf die über die Zeit geänderten, binnen- wie außeninduzierten Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Elemente der Kontinuität und der Zäsuren österreichischer Europapolitik. Durch die Analyse handlungsbestimmender Wegmarken, längerfristiger Prozesse und die Identifikation von Wendepunkten lassen sich prägende Veränderungen in der Europapolitik darstellen. Zäsuren – critical junctures (Cappoccia und Kelemen 2007, 343–344) – führen in dieser Lesart zur Überprüfung tradierter bzw. zur Erprobung und Festlegung neuer Deutungsachsen, veränderten Interpretationsmustern und Politiken.

Entlang dieser theoretischen Konzeptualisierung unternehme ich im Folgenden den Versuch, die Prozesse der österreichischen Europapolitik in zwei aufeinanderfolgenden Konstellationen zu analysieren. Zum einen beleuchte ich die Beitritts- bzw. Mitgliedschaftspolitik der Republik und die damit verbundenen Entwicklungen zur Bewertung und Ausbildung der Grundlagen österreichischer Europapolitik. Hierauf aufbauend untersuche ich anschließend, wie und warum sich österreichische Basispositionen hinsichtlich der weiteren Entwicklung des politischen Systems der EU entwickelt haben.

2 Kontextualisierung der Mitgliedschaft

Um den Blick für die sich Österreich anbietenden „Stellschrauben“ der europäischen Integrationspolitik zu identifizieren, geht der Beitrag zunächst auf die wesentlichen Charakteristika des EU-Systems ein. Die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften (Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, Vertrag über die Europäische Atomunion, Euratom, und EWG-Vertrag) waren von Anfang an so angelegt, dass einer Weiterentwicklung der funktionalen Reichweite und Tiefe (i.e. die in enumerativen Einzelermächtigungen normierten Politikbereiche und Kompetenzfelder), der Institutionen und Entscheidungsverfahren keine unmittelbaren Hemmnisse entgegenstanden. Sowohl für die Ebene des EU-Institutionensystems als auch für die Ebene der mitgliedstaatlichen Organe, EU-relevanten Strukturen und Verfahren gilt damit seit Anbeginn des Integrationsprozesses eine wechselseitige Auf- und Umbaudynamik, die es in diesem Maße weder in anderen internationalen Organisationen noch in den auch nur halbwegs mit der EU vergleichbaren, national-föderal verfassten politischen Systemen gibt.

In diesem Zusammenhang wurde die Konzeptualisierung der EU als ein dynamisches Zwei- bzw. Mehrebenensystem geprägt, das sich vom etablierten Nationalstaat mit seinen zumeist hierarchisch strukturierten parlamentarisch-repräsentativen Regierungssystemen unterscheidet: Das EU-System ist nach wie vor kein den Charakteristika der nationalstaatlichen Parteiendemokratie ähnelnder Suprastaat, sondern eher ein evolutiv angelegtes, politisches System ohne festgefügte Finalität (Thöne-Wille 1984, 10). Die institutionell-politische Ordnung der EU – definiert als „Summe aller aufgrund des Vertrags- und Verhandlungssystems EU in den Mitgliedsstaaten und in den EU-Institutionen wirksamen Politikgestaltungsvorgaben“ (Maurer 1998, 168) – ist in dieser dynamisch und evolutiv angelegten, zieloffenen Struktur weder mit nationalen Verfassungssystemen noch mit internationalen Organisationen oder Regimen vergleichbar. Stellung und Entwicklung hängen mit einem nicht vollendeten und wahrscheinlich auch kaum abzuschließenden Wachstums- und Differenzierungsprozess institutionellen und politischen Wandels zusammen.

Für Mitgliedstaaten bietet diese offene, hinsichtlich der Entwicklungsrichtung gleichwohl bestimmte Struktur Anreizstrukturen zur passiven Teilnahme, aktiven Mitwirkung, offenen oder verdeckten Blockade an: Schließlich zeichnet sich die als polyzentrisches bzw. polyarchisches Mehrebenensystem angelegte Ordnung der EU durch einen stetigen – gleichwohl nicht linear verlaufenden – Aufgabenzuwachs aus, der den Gesamtumfang der ihr zugestandenen Kompetenzen und Politikbereiche über die Zeit vergrößert hat. Österreich war somit zum Zeitpunkt seines Beitritts – am 1. Januar 1995 – mit einer funktionsspezifischen Ordnung konfrontiert, die von hochintegrierten Feldern wie der Agrar- und Handelspolitik bis hin zu strikt intergouvernemental strukturierten Bereichen wie der Außen- und Sicherheits- oder der Justiz- und Innenpolitik reichten.

Die über Verträge und Vertragsreformen sanktionierte Übertragung nationaler Handlungsinstrumente auf die unionale Politikebene ist sowohl das Ergebnis zwischenstaatlicher Aushandlungsprozesse als auch Folge laufender Mitwirkungsverfahren mitgliedstaatlicher Organe an der Umsetzung primärrechtlich fixierter „Zumutungen“. Wird „auf den Gipfeln“ der Staats- und Regierungschefs eine politikfeldspezifische Anreizstruktur geschaffen, dann ist diese „in den Tälern“ der Umsetzung nicht nur Gegenstand eindimensionalen Vollzugs, sondern eine Integrationsfunktion mit wechselseitigen Interpretationsräumen: So haben sich zuletzt im Lissabonner Vertrag alle Staaten der EU u. a. darauf geeinigt, die Reichweite der Handelsverträge auch auf den Bereich der Investitionen auszudehnen. Dies hat in der Folge aber nicht dazu geführt, dass sich österreichische Regierungen einfach dem Mehrheitsvotum der EU beugen. Im Gegenteil: Die im EU-Vertrag (Artikel 207 AEUV) hinterlassene Grauzone der Kompetenzfrage wurde und wird von allen österreichischen Regierungen seit 2009 genutzt, um Verträge wie das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA), das Freihandelsabkommen EU-Japan (JEFTA), oder das EU-Mercosur Abkommen (EUMETA) im Konzert mit anderen Staaten (Belgien, Frankreich, Polen, Deutschland) kritisch zu hinterfragen. Österreichische Regierungsorgane, Parlamente, die Bundes- und Landesverwaltungen sind insofern nicht bloße Empfänger supranational gesetzter Anforderungen, sondern aktive Gestalter in der Nutzung und damit einhergehenden Interpretation vertraglicher Gelegenheitsfenster.

Eine weitere Stellschraube staatlicher Europapolitik findet sich beim Blick auf das institutionell-prozedurale Gesamtsystem der EU: Seit seinem Beitritt wirkte Österreich aktiv an den vertragsändernden Regierungskonferenzen von Amsterdam (1995–1999), Nizza (2000–2003) und Lissabon (2002–2009) mit. Hierbei wurde das Institutionensystem mit neuartigen Handlungs- oder Verfahrensregeln weiter ausdifferenziert, um einerseits den vereinbarten, funktionalen Aufgabenzuwachs erfolgreich bewältigen zu können, andererseits aber auch den Anforderungen nach problem- und funktionsadäquater Beteiligung der Akteure zu genügen. Auch dieser – wiederkehrende – Prozess der prozeduralen, institutionellen und Akteursdifferenzierung mündet in einen immer höheren Komplexitätsgrad des politischen Systems der EU, da neue Institutionen, Verfahren, Kompetenzzumutungen und Integrationsfunktionen kein politisches Vakuum vorfinden, sondern in ein bereits eng verflochtenes Machtverteilungs- und Funktionsausübungssystem „implantiert“ werden. Jeder Akteur und Funktionsträger versucht dabei Teilnahme- und Mitwirkungsformen im Wettbewerb um effektive Mitsprache, Einfluss und Kontrolle auszuweiten. Der über die letzten 70 Jahre entwickelte und sich in immer mehr Politikfeldern verfestigende Trend zur Verflechtung nationaler, regionaler, europäischer und globaler Handlungsebenen stellt die beteiligten und beteiligungswilligen Akteure somit regelmäßig vor die Frage, wie sie sich in der komplexer werdenden Ordnung der EU positionieren und mithilfe welcher Instrumente, Institutionen und Verfahren sie ihre Wünsche, Ideen und Interessen artikulieren.

Beitritte zur EU finden innerhalb dieses Kontexts der fortlaufenden Justierung der europäischen Vertragsgrundlagen statt. Insofern statuieren Beitrittsprozesse immer eine doppelte Herausforderung gegenüber den beitrittswilligen Staaten: Einerseits sind sie angehalten, eigenständige Interessen und Ausgangsdispositive so effektiv einzubringen, dass nicht nur die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch die ratifikationsautorisierenden Akteure im beitretenden Staat zu der Einsicht gelangen, dass die Mitgliedschaft innerhalb der EU mehr Vor- als Nachteile mit sich bringt. Andererseits müssen sich beitretende Staaten fortlaufend mit den Eigendynamiken des politischen EU-Systems und den damit einhergehenden Umbildungsimpulsen auch in denjenigen Feldern auseinandersetzen, die aus ihrer Sicht besonders sensible Punkte des auszuhandelnden Mitgliedschaftsvertrages darstellen. Der Beitritt zur EU ist regelmäßig bereits der erste, aktive Schritt zur Mitwirkung an der Fortentwicklung der politischen Systemgrundlagen, da die gerade erst ausgehandelten Beitrittsbedingungen unmittelbar nach dem effektiven Erreichen des Status der Vollmitgliedschaft zur Verhandlungsmasse nachfolgender Vertragsrevisionsprozesse mutieren.

3 Die Entwicklung der Kernparameter österreichischer EU-Mitgliedschaft

3.1 Der Weg in die EWG/EU

Für die unmittelbare Nachkriegsentwicklung Österreichs war die Entscheidung, am Marshall-Plan und dem European Recovery Program (ERP) teilzunehmen, von entscheidender Bedeutung, da dies mit der Mitgliedschaft in der für die Verteilung der Mittel zuständigen Organisation for European Economic Cooperation (OEEC)Footnote 1 einher ging und somit die Ausgangsposition Österreichs legte. Bereits vor der Erlangung der vollen Unabhängigkeit durch den Staatsvertrag war Österreich mit einer integrationspolitischen Herausforderung konfrontiert: Am 18. April 1951 unterzeichneten sechs Staats- und Regierungschefs in Paris den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Diese Vollvergemeinschaftung der Kohle- und Stahlproduktion betraf vor allem Österreichs handelspolitische Interessen, sodass sich die Republik zwischen 1950 und 1954 mehrfach, aber erfolglos um eine Annäherung an diese Gemeinschaft bemühte. Die EGKS gewährte Österreich zwar einen Beobachterstatus; die Hoffnung auf eine Teilnahme an der Montanunion erfüllte sich dagegen nicht. Auch die Zollverhandlungen als Vorstufe einer Assoziierung scheiterten.

Österreich nahm daher an dem Alternativunternehmen der Europäischen Freihandelszone (EFTA) teil. Der hierzu am 4. Januar 1960 in Stockholm unterzeichnete und im Mai 1960 in Kraft getretene Vertrag, bildete die Basis einer intergouvernementalen Organisation ohne irgendein supranationales Pendant zur EGKS. Aus österreichischer Sicht war die Teilnahme an der EFTA als Übergangsstadium für eine multilaterale Assoziation am europäischen Integrationsprozess gedacht. Der erwartete Brückenschlag zwischen der 1958 aus der Montanunion gebildeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EFTA erfüllten sich zunächst jedoch nicht. Bereits die erste Erweiterung der EWG (Januar 1973) führte dazu, dass das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark die EFTA verließen, während im Zuge der Süderweiterung der EWG (1981 bis 1986) auch Portugal aus der EFTA austrat.

Die österreichischen Annäherungsversuche an die EWG bis zur Beantragung der Vollmitgliedschaft waren von unterschiedlicher Intensität. Klare, parteiübergreifend wirksame Grundlinien waren aus innen- und parteipolitischen Gründen kaum möglich. Vor allem Teile der SPÖ positionierten sich kritisch gegenüber dem europäischen Einigungsprozess (Gehler und Steininger 2000, 530). Neben innenpolitischen Spannungen machten die außenpolitischen Rahmenbedingungen eine eindeutige Integrationspolitik unmöglich. Schwerwiegend war die kritische Haltung der Sowjetunion, die alle über die EFTA hinausgehenden Annäherungen Österreichs an die europäische Integration mit Misstrauen verfolgte. Unter Berufung auf die österreichischen Neutralitätsverpflichtungen entwickelte Moskau ein spezifisches „Monitoring“ gegenüber dem wahrgenommenen, wachsenden Einfluss westdeutscher Konzerne in Österreich.

Vor diesem Hintergrund näherte sich Österreich im Gleichklang mit anderen neutralen Staaten an die EWG an (Gehler 2002a, 227). Erst 1972 konnten die ersten Zoll- und Handelsverträge geschlossen werden. Vereinbart wurde hierbei der vollständige Abbau der Zölle und Handelsschranken zwischen Österreich und der EWG für industrielle und gewerbliche Waren und eine Handelsliberalisierung auf dem Agrarsektor bis zum 1. Juli 1977. Erfolgreich durchsetzen konnte sich die Bundesregierung mit der Zusage der EWG zur Berücksichtigung jener Verpflichtungen, die für Österreich aus dem Staatsvertrag erwuchsen. Damit mutierte Österreich zu einem integrationspolitischen „Sonderfall“, da die wirtschaftliche „Westorientierung“ mit der expliziten Wahrung der politischen Unabhängigkeit verknüpft wurde (Gehler 2002a, 261).

3.2 Österreich und die europäische Binnenmarktpolitik

Die Reformen innerhalb der EWG bzw. – seit 1992 – der EU zur Belebung des Binnenmarktprogramms 1987 und Einführung einer außen- und sicherheitspolitischen Säule der Integration stellten für Österreich neue strategische Impulse dar. Insbesondere die Dynamisierung des innereuropäischen Binnenmarkts durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA, 1987), mit der die funktionale Reichweite der Integration durch ein großflächig angelegtes Harmonisierungsprogramm massiv ausgedehnt wurde, verstärkte die Befürchtung negativer Folgewirkungen und zunehmender Abschottung Österreichs. Die seit Januar 1987 im Amt befindliche Koalitionsregierung zwischen der SPÖ und der ÖVP tastete sich vorsichtig an eine Neugestaltung der Beziehungen heran. In seiner am 28. Januar 1987 vor dem Nationalrat abgegebenen Regierungserklärung betonte Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ), dass der Ausbau des Verhältnisses zwischen Österreich und der EWG/EU ein zentrales Anliegen der österreichischen Außen- und Außenwirtschaftspolitik sei (Pelinka et al. 1994, 70). Österreich müsse sich um eine weitgehende Teilnahme am europäischen Integrationsprozess bemühen.

Gleichwohl waren sich die beiden Koalitionspartner alles andere als einig. Im Gegensatz zur ÖVP, die sich schon seit längerem als „Europapartei“ zu profilieren versuchte, dauerte es bei der SPÖ bis zum 5. April 1989, dass sie sich erstmals in einem Parteivorstandsbeschluss für eine österreichische Teilnahme am Binnenmarkt aussprach. Auch erste Zuständigkeitskonflikte im interministeriellen Koordinationsgeflecht wurden nun sichtbar: Im Kern stritten die Partner dabei um die Verhandlungsführung in Brüssel. Außenminister Alois Mock (ÖVP) berief sich auf die Kompetenzen seines Ressorts im Hinblick auf den Abschluss internationaler Verträge, während Vranitzky seine allgemeine Koordinationskompetenz als Vorsitzender der Bundesregierung geltend machte. Die Konkurrenzsituation wurde durch eine spezifische Parteienvereinbarung über die „weitere Vorgangsweise in der Integrationspolitik“ aufgelöst. Dieser am 26. Juni 1989 geschlossene Pakt stellte ein koordiniertes Vorgehen in Angelegenheiten der Integrationspolitik auf allen Ebenen fest und legte die Partner auf die Vorrangigkeit der Integrationspolitik fest (Neisser 1999, 164).

Neben funktionsspezifischen Leitlinien (z. B. zur Land- und Forstwirtschaftspolitik, zum Transitverkehr und zum Wettbewerbsrecht) vereinbarten die Partner eine strenge koalitionäre Bindung gegenüber der EU: „Verhandlungen sind Sache der Bundesregierung. Die Verhandlungspositionen werden durch Beschluss der Bundesregierung festgelegt. Für die Verhandlungsführung und die innerösterreichische Koordination gilt die innerstaatliche Kompetenzverteilung. Auf die politischen Erfordernisse des Verhandlungsverlaufes ist dabei Rücksicht zu nehmen“.Footnote 2 Analog hierzu passte die Bundesregierung auch die Mechanismen der Entscheidungsvorbereitung an. Eine Arbeitsgruppe mit Vertreter*innen der zuständigen Ministerien und Sozialpartner sollte die Auswirkungen möglicher Integrationsschritte darstellen und entsprechende Handlungsempfehlungen ausarbeiten. Zur Beratung der Bundesregierung und Verstetigung der interministeriellen Koordination wurde ein Rat für Integrationsfragen geschaffen, der auch als Informationsplattform für die Bundesländer, Gemeinden, Sozialpartner und die Parlamentsfraktionen dienen sollte. Aufseiten des Parlaments begründete die Parteienvereinbarung vom Juni 1989 die heute noch geltenden Verpflichtungsnormen der Regierung „zu einer umfassenden und aktuellen Information“ sowie zur Befassung des österreichischen Volkes „nach den in der Bundesverfassung vorgesehenen Formen“.Footnote 3

Der parlamentarische Beratungsprozess begann dementsprechend mit der Vorlage eines „Berichts der Bundesregierung an den Nationalrat und Bundesrat über die zukünftige Gestaltung der Beziehungen Österreichs zu den europäischen Gemeinschaften“ inklusive acht „Studien“ (z. B. über die Frage der Neutralität). Der Nationalrat behandelte den Bericht in einem eigens eingesetzten Unterausschuss. Die Fronten verliefen hierbei zwischen den beitrittsbefürwortenden Fraktionen der ÖVP, der SPÖ und des Liberalen Forums und den ablehnenden Fraktionen der Grünen und der Freiheitlichen (FPÖ). Die Ausschussverhandlungen mündeten in eine Plenardebatte des Nationalrats am 29. Juni 1989 und des Bundesrates am 4. Juli 1989. Im Ergebnis ersuchte der Nationalrat die Bundesregierung schließlich, Verhandlungen mit den Europäischen Gemeinschaften über die Mitgliedschaft Österreichs aufzunehmen und die zu diesem Zweck erforderlichen Anträge bis zum Herbst 1989 zu stellen (Gehler 2002b, 470). Hinsichtlich der hoch umstrittenen Frage der österreichischen Neutralität führte der Beitrittsantrag ausFootnote 4:

Österreich geht bei der Stellung dieses Antrages von der Wahrung seines international anerkannten Status der immerwährenden Neutralität, die auf dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 beruht, sowie davon aus, dass es auch als Mitglied der Europäischen Gemeinschaften aufgrund des Beitrittsvertrages in der Lage sein wird, die ihm aus seinem Status als immerwährend neutraler Staat der fließenden rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortzusetzen. (zitiert in Gehler 2002b, 470)

3.3 Neutralitätspolitik und europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Bereits die Formulierung der Neutralitätsbedingung im Beitrittsbrief war so gehalten, dass Österreich ähnlich wie Schweden und Finnland produktiv mit der Eigenschaft der EU als weitgehend zivilem Integrationsprojekt umzugehen wusste und hieraus bis heute immer dann Kapital schlagen kann, wenn andere EU-Partner aufgrund ihrer bündnispolitischen Befangenheit als Vermittlungsinstanzen in internationalen Konflikten ausscheiden. Gleichwohl sorgte der österreichische Neutralitätskurs für Verwirrung innerhalb der EU. Im Arbeitsübereinkommen vom 17. Dezember 1990 sagten die Koalitionspartner SPÖ und ÖVP zwar zu, dass Österreich an einem zukünftigen europäischen Sicherheitssystem innerhalb der EU mitwirken würde. Gleichzeitig wurde allerdings erneut ein Neutralitätsvorbehalt formuliert (Neisser 1999, 167). Vor dem Hintergrund der Skepsis, die diese Erklärung hinsichtlich der österreichischen Beitrittswilligkeit hervorrief, sah sich die Bundesregierung zur Übermittlung eines an den Europäischen Rat von Lissabon (Juni 1992) gerichtetes „Aide Mémoire“ veranlasst, nach dem sich „Österreich zu den zwecks Erfüllung der Ziele gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Unionsvertrag verankerten Perspektiven des Ausbaus der sicherheitspolitischen Strukturen der Union [bekennt]. Eine entsprechend entwickelte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll auch einen Rahmen für Österreichs Sicherheit darstellen“ (Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 1992).

4 Funktionsspezifische Eckpunkte der Mitgliedschaft

4.1 Die Basisparameter österreichischer Europapolitik

Neben der Forderung nach Anerkennung der Aufrechterhaltung seiner Neutralität umfasste der Antrag auf Vollmitgliedschaft weitere, grundlegende Voraussetzungen in den „zivilen“ Integrationsfunktionen der EU, die bis heute grundlegende Bausteine der österreichischen Europapolitik darstellen (Maurer et al. 2015): Hierzu gehörten die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Bundesstaatlichkeit, die Beibehaltung der hohen Standards im Umweltschutz, der Erhalt einer „flächendeckenden bäuerlichen Land- und Forstwirtschaft“, der Schutz des Sozialsystems vor dem Hintergrund des mit dem Binnenmarkt einhergehenden Wettbewerbs und die Regelung des Transitverkehrs. Diese Bedingungen wirkten für einige Beobachter*innen irritierend und wurden als Wunsch nach einer Sonderbehandlung oder nach dem Erwerb eines Sonderstatus interpretiert (Schneider 1989, 143). Wie im Folgenden gezeigt wird, fungieren die Bedingungen im vergleichenden Querschnitt entsprechender Beitrittsprozesse allerdings nicht nur als Ausgangsposition der Verhandlungen, sondern auch als Wesenskerne der Mitgliedschaft im Verlauf der weiteren Integration.

Im Vergleich zu den nachfolgenden Verhandlungen mit den Staaten Ost- und Mitteleuropas schlossen Österreich und die anderen, nordischen Beitrittskandidaten die Verhandlungen in Rekordgeschwindigkeit ab: Von Februar 1993 bis März 1994 konnten in gerade einmal neun Verhandlungsrunden alle Konditionen der Mitgliedschaft abgeschlossen werden. Wenig überraschend gestalteten sich die Kapitel zum Transitverkehr, zur Anpassung und gegenseitigen Anerkennung der Umwelt- und Sozialstandards, zur Agrarpolitik, zum Bankgeheimnis und der Anonymität von Sparbüchern, und zum Hochschulzugang als größere Baustellen. Der schließlich innerhalb der EU-12 ausgehandelte, für die EU-15 geltende Kompromiss machte aber den Weg für den Beitritt der drei ehemaligen EFTA-Staaten frei, sodass die Beitrittsverhandlungen am 12. April 1994 formell abgeschlossen wurden. Das Europäische Parlament stimmte dem Beitrittsvertrag bereits am 4. Mai 1994 zu.

Für die österreichische Ratifikation legte die Bundesregierung dem Nationalrat ein „Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt zur Europäischen Union“ vor. Darin wurden mit Zustimmung des Bundesvolkes die bundesverfassungsgesetzlichen Organe ermächtigt, den Beitrittsvertrag abzuschlißen. Darüber legte das Verfassungsgesetz fest, dass der Staatsvertrag nur mit Genehmigung des Nationalrates und mit der Zustimmung des Bundesrates abgeschlossen werden darf. Im Nationalrat wurde der Beitrittsvertrag mit 140 zu 35 Stimmen, im Bundesrat mit 51 gegen elf Stimmen angenommen. Damit konnte das Bundesverfassungsgesetz einer Volksabstimmung unterzogen werden, die am 12. Juni 1994 stattfand und in der 66,58 % der abgegebenen Stimmen für den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union votierten.

Unmittelbare Anpassungen des österreichischen Regierungssystems, insbesondere im Hinblick auf die interministerielle Koordinierung europapolitischer Agenden und deren parlamentarische Rückkoppelung, erfolgten über die vom Nationalrat am 15. Dezember 1994 beschlossene, sogenannte „EU-Begleitverfassung“ (Hackhofer 2019). Diese fügte einen neuen Unterabschnitt im ersten Hauptstück des Bundesverfassungsgesetzes ein, der folgende Regelungsbereiche betraf:

  • Grundsätze des Wahlrechts für die österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament,

  • Mitwirkung bei der Ernennung von Funktionsträgern in der EU (z. B. Kommissionsmitglieder),

  • Informations- und Mitwirkungsrechte der Bundesländer bei Vorhaben im Rahmen im Rahmen der Europäischen Union,

  • Mitwirkungsrechte des Nationalrates bei Vorhaben der Europäischen Union, und

  • Mitwirkung Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Beschlussfassung über diese EU-Begleitverfassung erfolgte unter geänderten Rahmenbedingungen, da aufgrund der in der Zwischenzeit stattgefundenen Nationalratswahlen die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP die Verfassungsmehrheit verloren hatten und für die Zustimmung der Verfassungsänderung die Deckung einer Oppositionspartei benötigten.

4.2 Österreich und die Entwicklung der institutionell-prozeduralen Grundlagen der EU

Europapolitische Interessen hatten die österreichischen Bundesregierungen im „Anlauf“ zum Beitritt vor allem zur funktionalen Reichweite der EU-Integration definiert. Insbesondere in den Bereichen der Verkehrs-, Agrar-, Umwelt- und Ressourcenpolitik (Tschann 2019; Pösel 2019) markierte Österreich frühzeitig Grenzen der binnenmarktwirtschaftlichen Vollintegration sowie mögliche Reformrichtungen. Weniger explizit, aber mit der Frage der Bereitschaft Österreichs zur vollständigen Supranationalisierung dieser Politikfelder verknüpft, waren die Wiener Positionen zur institutionell-prozeduralen „Spiegelung“ der Kompetenznormen. In den folgenden Abschnitten illustriere ich diese Strategie des packaging institutionell-machtpolitischer Agenden mit funktional-kompetenziellen Fragen anhand der Kette der Vertragsreformen seit dem EU-Beitritt Österreichs.

Bereits am 29. März 1996 wurde in Turin die Regierungskonferenz zur Überarbeitung des Vertrages über die Europäische Union von den Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Staaten feierlich eröffnet. Nur zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages wurden somit die Verfahren und Zuständigkeiten der EU einer gründlichen Prüfung unterzogen, um – in Maastricht – strittig gebliebene Materien sowie nur als vorläufig definierte Lösungsansätze zu überprüfen: Im Einzelnen ging es hierbei um die zunächst strikt intergouvernemental strukturierten Bereiche der GASP und der Justiz- und Innenpolitik, die Erweiterung des Anwendungsbereichs des heutigen „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“, die Stimmengewichtung im Ministerrat, die Frage der verteidigungspolitischen Perspektiven im Hinblick auf die 1998 gegebene Kündigungsmöglichkeit des Vertrages über die Westeuropäische Union (WEU), die kompetenzielle Vertiefung bereits existierender und die Begründung neuer Politikfelder und Gemeinschaftszuständigkeiten, die Frage der Einführung einer klaren Hierarchisierung der Rechtsakte. Somit waren schon Ende 1993 die Weichen für eine vertragsändernde Regierungskonferenz unmittelbar nach dem „Nord-Ost-Beitritt“ gestellt. Österreich und die anderen Neumitglieder konnten somit bereits frühzeitig ihre Beiträge zum „Auftragsbuch“ der anstehenden Vertragsrevision unterbreiten und sich informell bzw. „über Bande“ – in Zusammenarbeit mit „Altmitgliedern“ der EU am Bericht der Reflexionsgruppe vom 5. Dezember 1995 beteiligen.

Grundsätzlich stand Österreich einer Weiterentwicklung der EU aufgeschlossen gegenüber und sprach sich gegen jede Schwächung des erreichten Integrationsstandes aus. Eine Differenzierung europäischer Integrationsvorhaben sollte die Ausnahme bleiben und nur zeitlich befristet eingesetzt werden, damit keine unterschiedlichen Klassen von Mitgliedsstaaten entstehen. Hinsichtlich der institutionellen Machtfragen etablierte Österreich ein bis heute geltendes Kontinuum seiner Kerninteressen und forderte, dass die relativ starke Stellung der kleinen und mittleren Mitgliedsstaaten, die insbesondere durch die Stimmgewichtung im Ministerrat zum Ausdruck kam, erhalten bleibt. Die Kommission sollte ihre drei Hauptfunktionen bewahren: Hüterin der Verträge, Vertretung des Unionsinteresses und Initiativmonopol in der Gesetzgebung. Das Recht eines Mitgliedsstaates auf einen Vertreter oder eine Vertreterin in der Kommission durfte aus Sicht Wiens nicht zur Disposition gestellt werden; eine Verkleinerung der Kommission war nur unter der Bedingung vorstellbar, diesen Grundsatz nicht zu beeinträchtigen. Weil aus Sicht Österreichs die primäre Quelle demokratischer Legitimität über die Rückkoppelung der Vertreter*innen im Ministerrat an ihre jeweiligen nationalen Parlamente gewährleistet ist, legte die Bundesregierung zudem großen Wert darauf, die Bedeutung und Einbindung der nationalen Parlamente in den Integrationsprozess auch im Reformvertrag ausdrücklich anzuerkennen. Die konkreten Verfahren nationalparlamentarischer Mitwirkung sollten dabei jedoch den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben. Österreich sprach sich darüber hinaus für eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat aus, wobei jedoch in jedem Einzelfall geprüft werden sollte, ob im Hinblick auf die Akzeptanz des jeweiligen Politikfelds weiterhin an dessen Legitimierung durch Einstimmigkeit festzuhalten war. Im Verlauf der Regierungskonferenz sollte sich in diesem Zusammenhang herausstellen, dass Österreich nicht bereit war, von den Einstimmigkeitserfordernissen im Bereich der Umweltpolitik (Wasserbewirtschaftungs-, Raumordnungs- und Energiefragen) abzurücken.

Im besonders sensiblen Feld der GASP entsprach nach Auffassung der österreichischen Bundesregierung ein schrittweiser, vorsichtiger Übergang zu einem gemeinschaftlichen Herangehen in außenpolitische Themen der Logik des Integrationsprozesses. Österreich unterstrich dabei im Verlauf der Regierungskonferenz immer wieder, dass es sich mit seinem Beitritt im Geiste der europäischen Solidarität zur vollen Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet fühle. Konkret setzte sich Wien dabei für die Schaffung eigenständiger Analyse- und Planungskapazitäten ein und plädierte für einen graduellen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, die jedoch durch Vorkehrungen wie der „konstruktiven Enthaltung“ oder opting-out-Regelungen begleitet werden sollten. Explizit ausgenommen sollte der Bereich der militärischen Sicherheit werden. Ablehnend stand Österreich zudem Überlegungen gegenüber, nach denen eine Gruppe von Staaten außen-, sicherheits- oder gar verteidigungspolitisch im Namen der Europäischen Union tätig werden könnte. Für den Reformbereich Justiz- und Innenpolitik schlug Österreich eine Reihe von Teilpolitiken für die Vergemeinschaftung vor (Visapolitik, Asylrechtsfragen, Außengrenzkontrollen, Einwanderungspolitik, Bekämpfung von Kriminalität und die Zusammenarbeit im Zollbereich). Strafrechtliche Angelegenheiten sollten dagegen weiterhin mit dem intergouvernementalen Instrumentarium behandelt werden.

4.3 Österreich und die Machtverteilung im Ministerrat der EU

Die ursprünglich im Integrationssystem geltende Einstimmigkeitsregel für Entscheidungen zur effektiven Nutzung der Vertragsgrundlagen war bis in die 1980er-Jahre Ausdruck des Prinzips der relativen Gleichwertigkeit aller Mitglieder in ihrer Eigenschaft als souveräne Nationalstaaten und Völkerrechtssubjekte, unter denen weitgehendes Einverständnis über die Zielrichtung und die Aufgabenbelastung des europäischen Einigungsprojekts bestand. Mit den schrittweisen Erweiterungen der EU auf 15 und gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten entfernten sich jedoch die integrationspolitischen Zielsetzungen der beteiligten Akteure zunehmend voneinander weg. Folge der „Pluralisierung von Grundpositionen“ (Janning 1995, 267) war eine zunehmende Fragmentierung der Gemeinschaftsaufgaben sowie – wiederum als Folge dieser Ausdifferenzierung – die Schaffung neuer Interventionsfelder des europäischen Gemeinschaftsrechts. Zeitlich verzögert stellte sich damit jedoch auch die Frage des Anwendungsbereichs von Einstimmigkeitsregeln und deren Ersetzung durch Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat.

Die schrittweise Ausweitung der Politikbereiche und entsprechenden Kompetenzregeln der EU verlief insgesamt schneller als die Überführung von Einstimmigkeits- in Mehrheitsregeln. Ursächlich für diese ungleiche Entwicklung waren wiederum die Partikularinteressen der Mitgliedsstaaten, die zur Überführung eigener Politikgestaltungskompetenzen auf die europäische Ebene unter der Bedingung des Einstimmigkeitsvorbehalts eher als im Falle der gleichzeitigen Anwendung des Mehrheitsprinzips bereit waren und auch heute noch sind. Da die Ausdehnung der EU-Kompetenzen nicht mit einer abstrakten und politikfeldübergreifenden Normenhierarchie gekoppelt war und somit immer mehr rechtliche Grauzonen für die Wahl des Entscheidungsmodus innerhalb eines Integrationsfelds entstanden, rückte der Streit über die jeweilige Rechtsgrundlage und die hierbei anzuwendenden Entscheidungsverfahren immer häufiger in den Mittelpunkt der Beratungen des Ministerrates. Mit jeder Erweiterung kamen daher zwei Fragen auf die Tagesordnung der Verhandlungspartner: Erstens der Berechnungsmodus zur Gewichtung der Stimmen, und zweitens die Festlegung der Zahl der gewichteten Stimmen, die für eine qualifizierte Mehrheit bzw. für die Sperrminorität – der Mindestanzahl der Stimmen, durch die eine Entscheidung blockiert werden kann – erforderlich sind.

Zum Zeitpunkt des österreichischen EU-Beitritts konnten in nur 29 Politikbereichen Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Dagegen war der Ministerrat in 56 Feldern gezwungen, einstimmig zu entscheiden. Eine klare, materiell fundierte und von den einzelstaatlichen Souveränitätsansprüchen losgelöste Zuordnung von Entscheidungsmodus und Entscheidungssachverhalt bestand nicht. Infolgedessen sah sich die Regierungskonferenz 1996/97 dem Dilemma gegenüber, einerseits die Entscheidungseffizienz und Problemlösungseffektivität für eine größer werdende Union zu erhöhen und andererseits auf die zunehmend deutlicher werdenden Einzelinteressen und -vorbehalte der Mitgliedsstaaten in jedem einzelnen Politikbereich Rücksicht nehmen zu müssen. Eine abstrakt-generalisierende Definition der Anwendungsgebiete bestimmter Abstimmungsmodi und Verfahren war daher von Anfang an unwahrscheinlich.

Österreich, die Niederlande, Dänemark und Portugal sprachen sich explizit für eine Einzelfallprüfung zur Überführung der Einstimmigkeit in Mehrheitsentscheidungen aus und lehnten eine Neugewichtung der Stimmen ab. Stattdessen votierten sie für ein System der doppelten Mehrheit (Mehrheit der Staaten und Mehrheit der Bevölkerung) und für die Anhebung der Mindeststimmenzahl zu Mehrheitsbeschlüssen („Superqualifizierte Mehrheiten“), mit der auch eine Herabsetzung der Mindeststimmenzahl für Sperrminoritäten intendiert war. Für die in Wien präferierte Einführung des – immerhin von 13 Staaten befürwortetenFootnote 5 – Systems doppelter Mehrheiten sprach, dass hierdurch die gewogenen Stimmen der kleineren Mitgliedsstaaten und die formale Gruppierung der Mitgliedsstaaten in große, mittlere und kleine nicht angetastet würden – vorausgesetzt, das erste Kriterium der gewichteten Stimmen wäre nicht zusätzlich einer Reform unterzogen worden. Gleichwohl hätte sich auch hier die Machtbalance zugunsten der Gruppe der bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten verändert (Maurer 1996).

4.4 Die Zusammensetzung der Kommission

Der zweite für Österreich hoch sensible Problemkomplex betraf die Reform der Europäischen Kommission hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und Arbeitsweise. Der entsprechende Reformauftrag belastete indirekt auch die Verhandlungen zwischen den kleineren und größeren Staaten über die Frage der Mehrheitsentscheidungen und Stimmengewichtungen im Rat. Kern der Konferenzberatungen war dabei die Frage, ob die Geschäftsbereiche der Kommissionsmitglieder entsprechend der Anzahl der Mitgliedsstaaten, und damit letztlich nach dem Kriterium des nationalen Prestiges von Brüsseler Posten, oder aber nach funktionalen Kriterien bemessen werden sollten. Während sich größere Staaten dafür aussprachen, weniger Kommissionsmitglieder als Mitgliedsstaaten zu ernennen, plädierten die kleineren Staaten dafür, die Zahl der Kommissionsmitglieder auf einen pro Mitgliedsstaat zu begrenzen. Die mit den Ansätzen verfolgten Motive waren eindeutig: Innerhalb der ersten Gruppe ging FrankreichFootnote 6 davon aus, dass die größeren Staaten auch in einer gestutzten Kommission immer ein Mitglied stellen würden und damit nur den kleineren Staaten die Aufgabe zufallen würde, eine Art Rotationsverfahren der Selbstbeschränkung einzurichten. Angesichts der Bemühungen der bevölkerungsreicheren Länder, auch über die Neugewichtung der Stimmen das relative Machtdispositiv der kleineren Staaten einschränken zu wollen, löste der Vorschlag kaum überbrückbare Widerstände aus. Die vor allem von Österreich und Luxemburg vertretene Gegenposition, ein Kommissionsmitglied pro Staat zu nominieren, stieß jedoch auf Kritik seitens der größeren Staaten. Ohne empirischen Nachweis vorgebracht wurden Bedenken, dass durch die österreichisch-luxemburgische Variante in einer erweiterten EU zu viele Kommissare zu einer Verwässerung des Kollegialitätsprinzips der Kommission sowie zu einer Verstärkung der Wahrnehmung der Kommission als bürgerferne Technokratie führen könnte.

Sowohl die mit der effizienzfördernden Ausdehnung von Mehrheitsabstimmungen verknüpfte Frage der Stimmengewichte als auch die Frage der Kommissionszusammensetzung vertagte die Regierungskonferenz daher mit dem „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung“. In einem zweistufigen Verfahren sollten die im Vertrag von Amsterdam ungelösten Fragen geklärt werden: Vor der Aufnahme des nächsten Mitglieds in die EU sollte die Zahl der Kommissionsmitglieder auf eine Person pro Staat begrenzt werden, wenn zum gleichen Zeitpunkt die Stimmengewichtung im Rat geändert würde (Art. 1 des Protokolls). Eine umfassendere Überprüfung der institutionellen Grundlagen der EU sollte aber erst ein Jahr vor dem Beitritt des 21. Mitgliedsstaates in Form einer Regierungskonferenz vorgenommen werden (Art. 2 des Protokolls).

4.5 Die Regierungskonferenz 2000 und der österreichische Ratsvorsitz

Der Logik des Amsterdamer Protokolls über die institutionellen Reformen der EU entsprechend begannen noch vor Inkrafttreten des neuen Vertrags die Vorbereitungen für eine neue Regierungskonferenz. Impulsfördernd wirkte sich hierbei die erste österreichische Ratspräsidentschaft aus. Im Dezember 1998 beauftragte der Europäische Rat von Wien den nachfolgenden Europäischen Rat (Köln) mit der Festlegung der Modalitäten und des Zeitplans für die Behandlung der in Amsterdam ungelösten institutionellen Fragen. Österreich konnte sich hierbei insbesondere mit der Einigung auf zwei Verfahrensoptionen durchsetzen, ohne selbst Partei für eine Variante zu ergreifen:

  • die „kleine Lösung“ als Beschränkung auf die in Amsterdam nicht geregelten bzw. dort noch ungelösten institutionellen Fragen (sogenannte „left-overs“ von Amsterdam): Größe und Zusammensetzung der Kommission, Stimmenwägung im Rat sowie Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit;

  • die „große Lösung“: Behandlung von über den unmittelbaren Reformbedarf hinausgehende Themen, wie z. B. Weiterentwicklung der GASP, Außenwirtschaftsbeziehungen, institutionelle Reformen in der Währungsunion, weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, Ausarbeitung einer europäischen Grundrechtecharta.

Um die Konsensfindung zu erleichtern und um möglichst zügig die institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung zu schaffen, rückten die Mitgliedstaaten die „kleine Lösung“ der „left-overs“ von Amsterdam in den Vordergrund einer Ende 2000 abzuschließenden Regierungskonferenz. Doch durch die selbstauferlegte Beschneidung des Verhandlungstableaus auf wenige Kernfragen der institutionellen Struktur der EU war bereits zu Beginn der Regierungskonferenz klar, dass sich die sonst üblichen Koppelgeschäfte zwischen Kompetenzallokationsfragen in einzelnen Politikfeldern und institutionellen Zugeständnissen zur effizienteren Ausfüllung der Kompetenznormen zumindest nicht mit der Leichtigkeit durchsetzen lassen, mit der in Maastricht und Amsterdam Machteinbußen gegen neue bzw. reformierte Politiken getauscht wurden.

Entsprechend dem Mandat rang die Regierungskonferenz erneut um die Ausdehnung der Anwendungsfelder für qualifizierte Mehrentscheidungen. Österreich war hierbei dafür verantwortlich, dass nicht nur die Wasserbewirtschaftungs- und Kulturpolitik, das Aufenthaltsrecht und die Regeln über den Zugang zu selbständigen Tätigkeiten, sondern auch die meisten Beschlussgrundlagen in der Innen- und Justizpolitik, der GASP sowie hinsichtlich der Zuständigkeitserweiterungen der Gemeinsamen Handelspolitik im Beschlussfassungsrahmen der Einstimmigkeit verblieben (Blanck 2006). Die erhobenen Daten zur effektiven Nutzung der qualifizierten Mehrheitsregeln im Rat deuteten darauf hin, dass die Ausdehnung der Anwendungsfelder für Mehrheitsentscheidungen nicht zwangsläufig dazu führt, dass mehr Entscheidungen auf der Grundlage eines Votums verabschiedet wurden (Maurer und Wessels 2001). Eher fungiert die Mehrheitsentscheidung als über dem Rat schwebendes Damoklesschwert zur Erhöhung der Entscheidungswahrscheinlichkeit im „Schatten der Abstimmung“ (Scharpf 1997).

Um über die dürftigen Ergebnisse des Vertrages von Amsterdam hinauszugelangen (Maurer 1998, 49–54), griff die Regierungskonferenz auf einen Ansatz zurück, bei dem grundsätzlich alle Handlungsermächtigungen, die Abstimmungen mit Einstimmigkeit vorsahen, in die qualifizierte Mehrheit überführt werden sollten. Ausnahmen zu dieser Regel wurden anhand eines konkreten Kriterienkatalogs festgelegt („Regel-Ausnahme-Ansatz“). Gegenüber dieser Strategie kristallisierte sich jedoch 1999 die auch von Österreich präferierte Option der geordneten Einzelfallprüfung heraus, bei der ausgehend vom geltenden Vertrag nach Anwendungsbereichen für qualifizierte Mehrheiten gesucht werden sollte. Die Idee der einzelfallbezogenen Prüfung führte zur Identifizierung von immerhin 25 Politikfeldern, deren Beschlussfassungsmodi in die qualifizierte Mehrheit transferiert werden sollten. Allerdings zeichnete sich dieser Verhandlungsansatz auch dadurch aus, dass die Prüfkriterien eher am Interessenausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten als an dem abstrakteren, angesichts der zu erwartenden Effekte der EU-Erweiterung an strategischer Bedeutung gewinnenden Maßstab der inneren und äußeren Handlungsfähigkeit der Union ausgerichtet waren. Angesichts der Vielzahl mitgliedsstaatlicher Vorbehalte hinsichtlich der Aufgabe „national sensibler“ Vetopositionen führte daher kein Weg an der Einzelfallprüfung vorbei.

4.6 Die Reform der Kommission

Zur strittigen Frage der Zusammensetzung und Arbeitsweise der Kommission reformierte der Vertrag die Bestimmungen über das Ernennungsverfahren und die internen Arbeitsstrukturen der Kommission. Dissens bestand bereits in der Frage der optimalen Größe der Kommission, ihrer Funktionen sowie ihrer Arbeitsweise und internen Beschlussfassungsstruktur. Während die größeren Mitgliedstaaten eine willkürlich definierte Anzahl von 20 Mitgliedern als Obergrenze in den Raum stellten, unterstrichen Österreich, Belgien und andere kleinere Staaten, dass der Zusammenhang zwischen der zahlenmäßigen Stärke der Kommission und ihrer Arbeitseffizienz alleine nicht ausreichen würde, um über ihre Zusammensetzung und etwaige Neustrukturierung der Zuständigkeiten innerhalb des Kollegiums nachzudenken. Der Vertrag verknüpfte die Frage der Zahl der Kommissionsmitglieder daher eng mit der Rolle des Kommissionspräsidenten sowie dem Verfahren zur Ernennung der Kommission. Die zahlenmäßige Zusammensetzung wurde in Art. 4 des Protokolls über die Erweiterung der Europäischen Union festgelegt. Zum 1. Januar 2005, also nach Ablauf der Amtszeit der Kommission unter Romano Prodi, sollten alle Staaten nur noch ein Kommissionsmitglied benennen. Die Kommission sollte dann auf bis zu 26 Kommissar*innen anwachsen dürfen; denn erst ab dem 27. Mitgliedstaat sollte die neue Vertragsbestimmung dahingehend greifen, dass „die Zahl der Mitglieder der Kommission […] unter der Zahl der Mitgliedsstaaten [liegt]“, wobei die Mitglieder auf der Grundlage „einer gleichberechtigten Rotation ausgewählt“ werden sollten, die der Rat jedoch zuvor noch einstimmig festlegen musste.

Da sich Österreich und die Benelux-Staaten mit ihrer Forderung durchsetzen konnten und die Kommission somit langfristig mit einem größeren Kollegium auskommen sollte, wurden die Bestimmungen über das Ernennungsverfahren und die internen Arbeitsstrukturen der Kommission im Interesse der Staatengruppe um Frankreich und Großbritannien reformiert.

4.7 Österreich und die „Sieben Zwerge“

Im Blick auf den – nach dem gescheiterten Verfassungsvertrag ausgehandelten – Vertrag von Lissabon gab die österreichische Bundesregierung ihre Verhandlungslinie kurz und prägnant im Koalitionsvertrag von ÖVP und FPÖ wieder: „Konstruktives Mitwirken Österreichs in Konvent und Regierungskonferenz. Österreich tritt unter Wahrung der Einstimmigkeit für vitale Interessen (Raumordnung, Bodennutzung, Eigenmittelbeschluss, Rechtsakte mit konstitutivem Charakter, Wahl der Energieträger, Wasserressourcen) für das Prinzip der qualifizierten Mehrheit ein. Österreich soll in allen zentralen Kernbereichen an der Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit, einschließlich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, initiativ und aktiv mitarbeiten. Österreich tritt für eine Stärkung des Ausschusses der Regionen ein (Österreichische Bundesregierung 2003, 3).“

Zu den im Verfassungskonvent und der anschließenden Regierungskonferenz kontrovers diskutierten Vorschlägen gehörten erneut die Definition der qualifizierten Mehrheit im Ministerrat, der Geltungsbereich der qualifizierten Mehrheit, die Zusammensetzung und Arbeitsmethoden der Kommission sowie die Sitzverteilung im Europäischen Parlament. Die wesentlichen Konfliktlinien lassen sich wie folgt identifizieren: Einerseits standen 15 der kleineren StaatenFootnote 7 den größeren Mitgliedern in der Frage der institutionellen Ausgestaltung der Union gegenüber. Während die von Österreich in der Gruppe der „Sieben Zwerge“ angeführten „Kleinen“, unter ihnen die Beitrittskandidaten, auf der Beibehaltung der Regel „ein stimmberechtigter Kommissar pro Land“ in der EU-Kommission bestanden, befürworteten die größeren Staaten, die im Konvent vereinbarte Verkleinerung des Kollegiums der Kommission. Die hiermit verknüpfte Absicht der „Sieben Zwerge“, die klassische Gemeinschaftsmethode zu bewahren, wurde zudem an den Vorbehalten Österreichs, Tschechiens, Litauens, Ungarns, Finnlands und Estlands gegenüber der von Frankreich, Großbritannien und Spanien vorgeschlagenen Schaffung des Postens eines gewählten Präsidenten des Europäischen Rates deutlich. Österreich gehörte zudem zur Gruppe derjenigen Staaten, die auf Einstimmigkeit bei Fragen der Steuer- und Justizpolitik, bei der Sozialversicherungspolitik sowie bei der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik beharrte, während andere Länder, allen voran Deutschland, Belgien und die Niederlande, in diesen Bereichen für eine weitere Ausdehnung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen plädierten. Ein weiterer, unter Ratifikationsgesichtspunkten nicht unbedeutender Streitpunkt betraf die Einfügung eines Gottesbezuges in die Präambel. Neben Österreich plädierten Polen, Spanien, Irland, Italien, Litauen, Malta, Portugal und Tschechien dafür, während sich vor allem Belgien und Frankreich strikt dagegen positionierten.

Der Verfassungsentwurf normierte konkrete Bestimmungen zur Zahl der Kommissionsmitglieder. Ab der Legislaturperiode 2009/13 sollte die Kommission aus einem Kollegium von nur noch 15 stimmberechtigten Kommissar*innen („innerer Kreis“) und einem „äußeren Kreis“ von zehn nicht stimmberechtigten Kommissar*innen bestehen. Diesem Entwurf entsagten vor allem die 15 kleineren und mittleren Staaten ihre Unterstützung. Ähnlich wie bei den Verhandlungen um den Amsterdamer Vertrag argumentierten die von Wien versammelten „Sieben Zwerge“, dass es ihnen um das Recht eines jeden Staates ginge, mit der Person eines Kommissars über ein gleichberechtigtes, „symbolisches Vertretungsdispositiv“ innerhalb der EU zu verfügen. Die Kommissare fungierten in diesem Konzept nicht als nationalstaatliche Interessenvertreter*innen, sondern als bevorzugte Mittler*innen zwischen „Brüssel“ und ihren Herkunftsländern, den heimischen Medien und Öffentlichkeiten. Neben der Ablehnung der Verkleinerung der Kommission richtete sich die Kritik erneut gegen die Einrichtung von Kommissar*innen mit unterschiedlichem Status. Tatsächlich führte die vom Konvent vorgeschlagene Differenzierung zu einer Gruppierung von Kommissionsangehörigen „erster“ und „zweiter Klasse“. In der Sicht der „Kleinen“ wäre hierdurch das für die Funktionsfähigkeit und die innere Kohärenz des Gremiums entscheidende Kollegialitätsprinzip untergraben worden.

Unter dem Gesichtspunkt der effizienteren Organisation des Rates wurden im Konvent Modelle für die Institutionalisierung des Europäischen Rates, für einen den Fachräten übergeordneten Europaminister-, Koordinierungs- oder Gesetzgebungsrat sowie für die Umwandlung des Rates in eine „Staatenkammer“ nach dem Vorbild des deutschen Zweikammermodells diskutiert. Den radikalsten Einschnitt in die bestehende Struktur des Ratssystems boten dabei Entwürfe französischer Mitglieder (Badinter 2002). Diese gingen teilweise von einer strikten Unterordnung des Rates unter den Europäischen Rat, der Fachministerräte unter den vorgesehenen „EU-Rat“ sowie der Kommission unter den Rat aus, wobei sie sich eng an entsprechende Hierarchisierungs- und Präsidentialisierungsideen des französischen Präsidenten Chirac und des britischen Premiers Blair anlehnten. Derartige Maximalvorstellungen stießen auf den erbitterten Widerstand der Kommission und der – von Österreich und Belgien geführten – Gruppe der kleineren Staaten.

Die Kompromisslösung zwischen der aus London, Madrid und Paris gebildeten Gruppe, die einen starken Präsidenten des Europäischen Rates und die hierarchische Unterordnung des Ministerrates und der Kommission forderten, und denjenigen, die eine „Präsidentialisierung“ des Ratssystems nach französischem Vorbild kategorisch ablehnten, lag in der strikten Begrenzung der Aufgaben des Europäischen Rates und damit eben auch in der Einhegung der Handlungsfreiheit des Europäischen Ratsvorsitzenden. Österreich und Belgien waren damit insofern erfolgreich, dass sie die im Vertrag definierten Aufgaben des Europäischen Ratspräsidenten beschränken konnten und seine personellen, administrativen und finanziellen Ressourcen auf ein Minimum festgelegt wurden.

5 Innerstaatliche Koordinationsstrukturen der Europapolitik

Die österreichische Europapolitik hat sich über den Verlauf der vergangenen 25 Jahre weitgehend kompromissfähig gezeigt. Diese Einschätzung mag zumindest in der österreichischen Öffentlichkeit verwundern, da seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die ÖVP (zunächst vom 18. Dezember 2017 bis 28. Mai 2019 im Verbund mit der FPÖ und seitdem mit den Grünen) europakritischere Positionierungen häufiger kommuniziert werden: Ablehnende Haltungen zu Handelsabkommen der EU mit Drittstaaten oder die selbst im Koalitionsvertrag dokumentierte, harsche Kritik an europäischen Maßnahmen der Asyl- und MigrationspolitikFootnote 8 gelten in der medialen Wahrnehmung als Kennzeichen einer europakritischen bis –feindlichen Politik. Ein Blick auf das effektive Abstimmungsverhalten Österreichs im Ministerrat der EU kann diese Wahrnehmung jedoch nicht bestätigen. Ich habe hierzu die öffentlich zugängliche Datenbank des Ministerrats der EU ausgewertet, die alle 1187 Mehrheitsabstimmungen von 2009 bis 2021 dokumentiert. In 1120 Fällen hat Österreich dabei mit der Mehrheit und „Ja“ gestimmt, in 29 Fällen war Österreich mit einem expliziten „Nein“ in der Minderheit, und in 38 Dossiers hat sich Österreich der Stimme enthalten und rückte damit ebenfalls in die Minderheit, da alle hierbei zur Abstimmung gestellten Maßnahmen mit der erforderlichen Mehrheit angenommen werden konnten. In 109 Fällen, bei denen der Ministerrat dem Verfahren der einstimmigen Beschlussfassung unterlag und dabei auch eine Abstimmung durchführte, stimmte Österreich immer mit „Ja“.

Im Vergleich der Mitgliedstaaten reiht sich Österreich somit in der Spitzengruppe der mit „Nein“ und „Enthaltung“ stimmenden Länder hinter DänemarkFootnote 9, den Niederlanden, Ungarn und Schweden sowie vor Deutschland und Polen ein (vgl. Abb. 1). Es wäre jedoch eine grobe Fehleinschätzung, wenn man die relativ hohen Negativwerte Österreichs der europakritischen Haltung der seit 2017 regierenden Koalitionsregierungen unter Führung der ÖVP zurechnen würde. Der Blick auf die Entwicklung der österreichischen Nein-Stimmen und Enthaltungen offenbart eher ein gegenteiliges Bild. Tatsächlich sind die Negativ-Anteile Österreichs unter den zuvor aus SPÖ und ÖVP gebildeten Bundesregierungen immer höher ausgefallen (vgl. Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf der Grundlage der Datenbank des Ministerrats der EUFootnote

https://www.consilium.europa.eu/en/general-secretariat/corporate-policies/transparency/open-data/voting-results/

)

Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedstaaten 2009–2021.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf der Grundlage der Datenbank des Ministerrats der EUFootnote

https://www.consilium.europa.eu/en/general-secretariat/corporate-policies/transparency/open-data/voting-results/

)

Nein-Stimmen und Enthaltungen Österreichs in Ministerrat der EU (2010–2021).

Die ermittelten Daten lassen sich dahingehend deuten, dass sich das negative bzw. enthaltende Abstimmungsverhalten Österreichs

  1. 1.

    weitgehend mit denjenigen Bereichen deckt, die seit dem Beitritt unter einem besonderen, nationalen Schutzvorbehalt stehen (Umweltschutz, Wasserbewirtschaftung, Soziale Sicherung),

  2. 2.

    im Hinblick auf Allianzbildungen mit anderen Staaten nicht dahingehend interpretieren lässt, dass Wien stabile, regional (z. B. Ost-Mittel-Europa) oder funktional (z. B. haushaltspolitische „Nettozahler“) definierte Koalitionen etabliert,

  3. 3.

    im Verhältnis zur Gesamtzahl der seitens des Ministerrats der EU verabschiedeten Maßnahmen und Beschlüsse nicht dahingehend interpretieren lässt, dass Wien wie auch immer geartete Blockaden bestimmter Politikfeldentwicklungen sucht,

  4. 4.

    zumindest in den vergangenen vier Jahren im Widerspruch zur medial inszenierten Europapolitik führender Regierungsvertreter*innen entwickelt hat.

Insbesondere der letztgenannte Punkt wirft die Frage nach dem Verhältnis der nach innen gerichteten, öffentlich kommunizierten, europapolitischen Positionierung einerseits und der effektiven, europapolitischen Tätigkeit der Regierungsorgane in den Organen der EU auf. Zwei Interpretationen wären hierbei näher zu untersuchen: Erstens könnte überprüft werden, ob sich Österreich gerade aufgrund seiner offen vorgetragenen, kritischeren Haltung im Verbund der EU-27 soweit durchsetzen konnte, dass es keine Veranlassung für Nein-Stimmen oder Enthaltungen gab. Insbesondere wäre hierbei zu untersuchen, ob es Österreich – alleine oder im Verbund mit anderen Staaten – gelungen ist, unliebsame Dossiers von der Tagesordnung des Ministerrates so fernzuhalten, dass sie gar nicht erst zur Abstimmung gestellt werden konnten. Eine derartige, zeitraubende und von Unwägbarkeiten (Zugang auf vertrauliche Verhandlungsunterlagen des Ministerrats der EU und dessen Vorbereitungsgremien; Zugang auf vertrauliche, interne Regierungsakte etc.) geprägte Analyse steht jedenfalls aus und kann auch im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. In Ermangelung übergreifender und stabiler, zwischenstaatlicher Allianzen spricht allerdings wenig für diese Vermutung, zumal bei der Durchsetzung der nationalen Position nicht nur im Ministerrat der EU, sondern auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit gefunden werden muss. Der zweite Interpretationsstrang könnte die Inkonsistenz zwischen der um Wähler*innenstimmen bemühten, politischen Kommunikation einerseits und der von Konsens und Kompromissfähigkeit geprägten Arbeit im Ministerrat der EU untersuchen. Es gälte dann zu fragen, unter welchen innen- und europapolitischen Rahmenbedingungen Regierungsorgane voneinander abweichende oder gar widersprüchliche Narrative entwickeln und warum bzw. bis zu welchem Punkt entsprechende Inkonsistenzen durchzuhalten sind.

Der Überblick zum Abstimmungsverhalten Österreichs deutet darauf hin, dass sich die neo-institutionalistischen Annahmen der institutionellen „stickiness“ und der Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklungen bestätigen lassen. Denn trotz einer Vielzahl kleinerer und größerer Krisen und systemspezifischer Zäsuren innerhalb der EU ist das hierauf bezogene Koordinationssystem Österreichs weitgehend stabil geblieben. Auf der Grundlage der Parteienvereinbarung von 1989 entwickelte sich die europapolitische Koordination der Mitglieder der Bundesregierung im Rahmen des heute geltenden Bundesministeriengesetzes. Die Aufgabenverteilung zwischen den Bundesministern ist gesetzlich festgelegt, jedes Bundesministerium erfüllt seine Aufgaben selbständig und als oberste Verwaltungsbehörde. Der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin führt den Vorsitz der Bundesregierung, er oder sie ist in dieser Funktion lediglich „primus inter pares“, besitzt also kein Weisungsrecht und normatives Einflussrecht gegenüber den einzelnen Bundesministern.Footnote 12 Die Aufgabenverteilung hat viele Querschnittsmaterien zum Inhalt, die Maßnahmen in verschiedenen Kompetenzbereichen erfordern (z. B. Umweltschutz, Katastrophenbekämpfung, Raumordnung). Die Zuständigkeiten der EU tangieren dabei viele Elemente solcher Querschnittsmaterien, die auch bei der Entscheidungsvorbereitung im innerstaatlichen Bereich Koordinationsaktivitäten erforderlich machen. In diesem Kontext ist das Bundeskanzleramt für Angelegenheiten der allgemeinen Regierungspolitik „einschließlich der Koordination der gesamten Verwaltung des Bundes“ zuständig, soweit diese nicht in den Wirkungsbereich eines anderen Bundesministers fällt (Teil 2 lit. A der Anlage zum Bundesministeriengesetz). Damit ist die Koordinationsbefugnis des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin explizit in der Aufgabenverteilung der Ressorts verankert. Sie zielt auf das „Hinwirken auf die Wahrung der Einheitlichkeit der allgemeinen Regierungspolitik und auf das einheitliche Zusammenwirken der Bundesminister in allen politischen Belangen.“ Hinsichtlich der Europapolitik wird diese Kompetenz dadurch ergänzt, dass das Bundeskanzleramt für „grundsätzliche Angelegenheiten der Mitgliedschaft Österreichs bei der Europäischen Union, Angelegenheiten des Europäischen Rates einschließlich der Koordination der diesbezüglichen Vorbereitungsmaßnahmen“ zuständig ist. Darüber hinaus wird die wirtschaftliche Koordination mit der ausdrücklichen Bestimmung der „Koordination der Maßnahmen zur Umsetzung der Beschlüsse der Frühjahrstagungen des Europäischen Rates“ festgelegt. Schließlich ist das Bundeskanzleramt in Angelegenheiten der Strukturpolitik und der Koordination der finanziellen Abwicklung des europäischen Regionalfonds sowie der Koordination der Regionalprogramme im Rahmen der EU-Strukturfonds zuständig. Das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres ist dagegen für die „Allgemeinen Angelegenheiten des Rechts der Europäischen Union mit Ausnahme der Vertretung der Republik vor dem Gerichtshof der Europäischen Union“ sowie allgemein für die „Mitwirkung bei der Koordination in Angelegenheiten der Europäischen Union und Vertretung österreichischer Interessen in der Europäischen Union“ verantwortlich (Kornfeind 2019; Peutl 2019). Spezielle Kompetenztatbestände gelten für den Bereich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und auf dem Sektor der Forschungszusammenarbeit. Die Angelegenheiten der wissenschaftlichen Forschung und der internationalen Mobilitätsprogramme sowie des europäischen Forschungsraums und der europäischen Rahmenprogramme sind dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft zugeordnet.

Bereits diese allgemeine Kompetenzbeschreibung dokumentiert die Komplexität der europapolitischen Koordination. Ihre Anwendung erfordert ein großes Maß an Flexibilität und Kooperationsformen, die in der politischen Praxis entwickelt werden. Dies gilt im Besonderen für die Europapolitik in Koalitionsregierungen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Bundeskanzler*in und Vizekanzler*in, die als Fraktionsführung der Regierungsparteien permanent gefordert werden. In allen Bundesministerien arbeiten heute eigene Europaabteilungen, teils auch eigene Europasektionen, um die interministerielle Verwaltung und Wahrnehmung europäischer Agenden zu koordinieren. Zur Absicherung akuter Koordinierungsprozesse wurden zudem eigene Regierungsbeschlüsse gefasst, die die erforderlichen Koordinationsstränge normierten. Dies erfolgte regelmäßig im Rahmen der Vorbereitung für den österreichischen EU-Ratsvorsitz,Footnote 13 zuletzt zur Vorbereitung des österreichischen EU-Ratsvorsitzes 2018.Footnote 14 Hierbei wurde eine Lenkungsgruppe eingerichtet, in der alle Bundesministerien, Ländervertretungen und Sozialpartner vertreten waren. Lag der Vorsitz ursprünglich gemeinsam beim Außenministerium und Kanzleramt, wurde er angesichts der Änderungen im Bundesministeriengesetz 2017 auf das Kanzleramt alleine übertragen.Footnote 15

Die innerstaatliche Vorbereitung der österreichischen Positionierung im Ministerrat der EU wird im Regelfall durch Koordinationsaktivitäten des zuständigen Ressortministers/der Ressortministerin vorgenommen. Das Bundeskanzleramt hat hierbei außer den administrativen Koordinationskompetenzen keine übergeordnete Position. Allerdings hat seine Vertretung im Europäischen Rat nach dessen Aufwertung im Vertrag von Lissabon an Bedeutung gewonnen (Peutl 2019). Zwar wird der Europäische Rat nicht als Gesetzgeber tätig. Als Impulsgeber für die Entwicklung der Integration legt er aber die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest (Müller 2012). Das österreichische Koordinationssystem zur Vorbereitung europapolitischer Entscheidungen hat sich weitestgehend bewährt. Da in Österreich das Ressortprinzip stark ausgeprägt ist, „fehlt es jedoch an einer umfassenden strategischen Koordinierung der Europapolitik der gesamten Regierung“ (Peutl 2019, 120). Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines „institutionalisierten, regelmäßig tagenden, hochrangigen Gremiums innerhalb der Bundesverwaltung […], das sich mit der regelmäßigen antizipativen Bewertung europapolitischer Entwicklungen und entsprechender Abstimmung befasst, [sowie] eine systematische Konsultation oder Heranziehung der Ständigen VertretungFootnote 16 Österreichs bei der Europäischen Union für die Bewertung europapolitischer Entwicklungen“ (Peutl 2019, 121).

6 Die Zukunft der österreichischen Europapolitik

Im Lissabonner Vertrag blieb die Ausdehnung des Anwendungsbereichs für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen hinter den zuvor nur allgemein gesteckten Zielen aller an den Verhandlungen beteiligten Akteure zurück. Tatsächlich war die Regierungskonferenz von altbekannten Konfliktszenarien geprägt, bei denen keine feststehenden Blöcke der Integrationsbefürworter gegen Status-quo-Verfechter gegenüberstanden, sondern je nach Politikfeld unterschiedliche Primärinteressen aufeinandertrafen. Die abschließend im Vertrag dokumentierte Segmentierung der verfahrensrechtlichen Ermächtigungen im Bereich der Justiz- und Innenpolitik spiegelt zudem zwei neuere Trends in der Post-Maastricht-Entwicklung der EU wider: Erstens steht nicht mehr die Frage nach dem Mehr oder Weniger an Integration per se auf der Tagesordnung der beteiligten Akteure. Stattdessen werden Kompetenznormen so weit zerpflückt, dass sie jeden Einzelfall möglicher, in der Verhandlungsphase selbst nicht abschätzbarer Politikentwicklungen berücksichtigen. Hiermit ist der zweite Trend angesprochen: Alle entscheidungsberechtigten Akteure legen die Bewertungsmaßstäbe der institutionellen Optimierung der EU in zunehmendem Maße unilateral aus; eine übergeordnete Zielperspektive für die in Sonntagsreden gerne beschworene „Handlungsfähigkeit“ der EU geben viele Staaten, zuletzt auch Österreich, Luxemburg oder Tschechien zugunsten bewusst artikulierter nationaler Interessen auf. Im Ergebnis können alle Beteiligten das Verhandlungsergebnis eines überarbeiteten EU-Vertrages positiv bewerten, weil „bedeutende“ Teilaspekte ihrer Reformziele, aber eben auch ihrer national intendierten Vorbehalte berücksichtigt wurden und sie diese eben entsprechend einer nicht akkordierten Messlatte als Erfolg ihres Verhandlungsgeschicks verbuchen.

Österreich hat sich in diesem Sinne recht stabil und erfolgreich für die Absicherung seiner Einstimmigkeitsvorbehalte in der Umwelt- und Steuerpolitik, die Beibehaltung des informellen Repräsentationsprinzips in der Investitur der Europäischen Kommission, die Einhegung von Abstimmungsallianzen der „Großen“ zu Lasten der „Kleinen“ im Ratssystem eingesetzt. Keiner dieser Erfolge gründete in Wiener Alleingängen, sondern war der Ertrag informeller Allianzbildungen mit anderen, zumeist kleineren Staaten. Insofern trifft der Vorwurf, Österreich degradiere sich selbst zum Mitläufer in der Europapolitik, nicht den Gegenstand europäischer Integrationsdynamiken. Denn selbst die um Vormacht ringenden, größeren Staaten sind ohne Partner und Kompromissangebote nicht in der Lage, ihre Primärinteressen an der Fortgestaltung des EU-Systems alleine durchzusetzen. „Mitläufer“ sind daher letztlich alle; Erfolg und Misserfolg in EU-Verhandlungen hängen weniger vom gerne in Anspruch genommenen leadership des einen oder anderen Staates ab, sondern von dessen Fähigkeit, eigene Anliegen im Interesse größerer Koalitionen formulieren und auf dieser Grundlage Rückfall- und Kompromisspositionen belegen zu können. Beides ist Österreich in den vergangenen Jahrzehnten durchaus gelungen. Das Ergebnis derart „zusammengesetzter Reformen“ verliert aber längerfristig an Glaubwürdigkeit gegenüber den Drittstaaten und Organisationen, wenn jede national denkbare Interpretation zur Handlungsfähigkeit der Union aufgegriffen wird und Regierungschefs in der Aufsummierung breitbeinig vorgetragener, nationaler Alleingänge oder Blockaden den Blick darauf verlieren, das Gesamtsystem durch kohärente Zielvorgaben und damit Bewertungskriterien abzusichern.

Neuere Dynamiken, die sich durch das Vorpreschen sich selbst als „Gravitationskern“ erklärender Staatengruppen im Bereich der Innen- und Justiz-, der Außen- und Sicherheits- und jüngst auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der EU auszeichnen, bestätigen diesen Trend. In durch Gruppenschaften vorangetriebenen Prozessen verlieren kleinere Staaten nicht nur die Kommission als – vom Gravitationskern bestenfalls instrumentalisierten – Allianzpartner. Sie büßen in diesen oftmals außerhalb des Rechtskorpus der EU ablaufenden Bewegungen auch die eigene Gestaltungskraft ein, da sich die jeweiligen Gravitationstreiber nicht an die im EU-Recht geltenden Prinzipien der Solidarität und zwischenstaatlichen wie interinstitutionellen Loyalität gebunden fühlen. Ob kleinere Mitgliedstaaten wie Österreich eine Schubumkehr in Richtung des supranationalen Politikansatzes initiieren können, ist nur schwer vorherzusagen. Erforderlich hierfür wäre zunächst die gemeinsam – unter der Gruppe der „Kleineren“ – geteilte Einsicht, dass die im Lissabonner Vertrag statuierte „Vergipfelung“ und „Präsidentialisierung“ der EU weniger substanzielle Integrationsfortschritte zeitigt als die supranationale Politikgestaltungsvariante.

Weiterführende Quellen

Folgende Darstellungen liefern einen Einblick in die Bewertung der Beitrittspolitik und der ersten Jahre als Mitglied der Europäischen Union:

Kaiser, Wolfram. 1995. „Austria in the European Union“. Journal of Common Market Studies 33 (3): 411–425.

Lantis, Jeffrey S., und Matthew F. Queen 1998. „Negotiating Neutrality: The Double-Edged Diplomacy of Austrian Accession to the European Union“. Cooperation and Conflict 33 (2): 152–182.

Jankowitsch, Peter. 1994. „The Process of European Integration and Neutral Austria“. In Neutral States and the European Community, Hrsg. Sheila Harden, 35–62. London: Brassey’s.

Wieser, Thomas, und Edith Kitzmantel. 1990. „Austria and the European Community“. Journal of Common Market Studies 28 (4): 431–449.

Umfassendere, politik- bzw. staatswissenschaftliche Gesamtdarstellungen über die österreichische Europapolitik finden sich in:

Eppler, Annegret, und Andreas Maurer, Hrsg. 2019. Europapolitische Koordination in Österreich. Baden-Baden; Innsbruck: Nomos; innsbruck university press.

Maurer, Andreas, Heinrich Neisser, und Johannes Pollak, Hrsg. 2015. 20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs. Wien: Facultas.

Griller, Stefan, Arno Kahl, Benjamin Kneihs, und Walter Obwexer, Hrsg. 2016. 20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs: Auswirkungen des Unionsrechts auf die nationale Rechtsordnung aus rechtswissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Wien: Verlag Österreich.

Einen systematischen Einblick in die Schwerpunkte österreichischer Europapolitik bieten die länderspezifischen Kapitel im seit 1980 von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels herausgegebenen Jahrbuch der europäischen Integration. Österreichische Europapolitik wird hier bilanzierend dargestellt von Paul Luif (bis 2011), Florian Trauner (2011–2016) sowie Katrin Auel und Johannes Pollak (seit 2017). Alle Beiträge bis 2017 sind frei zugänglich über http://www.wissen-europa.de/index.php%3Fid=1.html.