1 Marginalisierung in städtischen Räumen

Marginalisierung ist ein sozialer Vorgang, bei dem Bevölkerungsgruppen an den „Rand der Gesellschaft“ gedrängt werden und dadurch nur wenig am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben können. Dies passiert auf unterschiedlichen Ebenen – einerseits auf struktureller Ebene, wenn Menschen von Einkommensarmut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und prekären Lebensverhältnissen betroffen sind, andererseits aber auch durch gesellschaftliche Praktiken und Diskurse, die Marginalisierung und Exklusion noch weiter verstärken können (vgl. u. a. Anhorn et al., 2008; Häußermann et al., 2004).

Gerade in städtischen Gesellschaften wird in den vergangenen Jahren eine zunehmende soziale Ungleichheit sichtbar, die sich auch in einer sozialräumlichen Spaltung zeigt (vgl. Reinprecht, 2013). Einerseits ist immer stärkere ökonomische Verwertung städtischer Räume durch Konzerne und Akteur*innen des Finanzkapitals zu beobachten, andererseits wachsende Armut und mehr Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Die Konkurrenz unter den Städten nimmt zu – insbesondere größere Städte möchten sich auf dem globalisierten Markt als „Global Cities“ (Sassen, 1991) positionieren. Einzelne Stadtteile und städtische Infrastruktur werden aufgewertet, um als Standort für die Ansiedlung von transnationalen Institutionen und Konzernen attraktiv zu sein. Anderen Stadtteilen wird hingegen nur eine periphere Bedeutung beigemessen und in diese wird weniger investiert. Gleichzeitig ziehen viele Menschen in der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen in urbane Ballungsräume und so sind größere Städte – im Kontext von Arbeitsmigration und weltweiten Fluchtbewegungen – aktuell stark durch Zuwanderung geprägt.

Urbane Räume befinden sich damit zunehmend im Spannungsfeld zwischen kommerziellen und sozialen Interessen. Der Rückbau des Sozialstaats in neoliberalen Gesellschaften reduziert die soziale Absicherung und trägt damit zu weiteren Marginalisierungsprozessen bei. Bestimmte soziale Gruppen werden zudem auch im politischen Diskurs und medial stigmatisiert und damit mit Bildern und Images behaftet. Im Zuge eines aufgeheizten politischen Klimas wird unter dem Deckmantel von „Sicherheit und Ordnung“ auch immer stärker zu Maßnahmen der Verdrängung und Wegweisung von ohnehin bereits marginalisierten Menschen gegriffen (vgl. Diebäcker, 2019).

Die Verdrängung von wohnungslosen und armutsbetroffenen Menschen von zentralen öffentlichen Plätzen kann in vielen Städten Europas beobachtet werden. Die gesellschaftliche Marginalisierung zeigt sich dabei unmittelbar in der Öffentlichkeit. Von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffene Menschen sind einerseits besonders auf öffentliche Räume angewiesen und werden dort auch sichtbar. Andererseits werden sie aufgrund von Verwertungsinteressen in öffentlichen Räumen aus diesen verdrängt und damit zusätzlich marginalisiert (vgl. u. a. PROKLA, 2007).

In wachsenden Städten sind aber auch Menschen von Verdrängung bedroht, wenn sich Wohnraum verteuert. Insbesondere zugewanderte und geflüchtete Menschen leben häufig in prekären Wohnverhältnissen und erleben gesellschaftliche Exklusion und Marginalisierung in verschiedenen Lebensbereichen. Oftmals bleiben aber gerade diese Gruppen in ihrer Marginalisierung unsichtbar und im Privaten. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach Zugang zu leistbaren Wohnungen, zu Arbeit, Gesundheit und Bildung, sondern auch die Frage, welche Räume diesen Bewohner*innen zur Verfügung stehen, um sich zu treffen, sich zu organisieren oder einfach nur um in „ihrem“ Stadtteil zu leben.

In diesem Beitrag wird beleuchtet, was Marginalisierung für unterschiedliche Menschen in der Stadt bedeutet und wie sich dies zeigt – welche Räume marginalisierten Gruppen zur Verfügung stehen oder verwehrt bleiben, welche Räume sie brauchen oder sich aneignen können. Konkret werden zwei Fallbeispiele aus Wien genauer betrachtet. Anhand des Fallbeispiels „Praterstern“, einem öffentlichen Raum und Verkehrsknotenpunkt im Zentrum Wiens, werden die Verdrängung von marginalisierten und Suchtmittel konsumierenden Menschen im Zuge des 2018 eingeführten Alkoholkonsumverbots sowie die Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit in diesem Kontext diskutiert. Anhand des Fallbeispiels „Herbststraße 15“, einem kooperativen Stadtteilzentrum, das 2014 bis 2018 in einem peripheren Stadtteil mit hohem Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund etabliert wurde, werden Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit mit geflüchteten und zugewanderten Menschen aufgezeigt. Ausgehend von den Fallbeispielen werden die Rolle und die Handlungsperspektiven der Sozialen Arbeit und Gemeinwesenarbeit reflektiert, Räume für marginalisierte Menschen zu erhalten, zu öffnen und zu gestalten und damit gleichzeitig ein Stück weit der Marginalisierung entgegenzuwirken.

2 Fallbeispiel „Praterstern“

Der Praterstern ist ein zentraler Verkehrsknotenpunkt in Wien mit einem großen Platz. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Bahnhof mit regionaler Bedeutung für das Wiener Umland. Neben der S-Bahn kreuzen am Praterstern auch zwei U-Bahnen, einige Straßenbahn- und städtische Autobuslinien. Der Platz ist zudem von einem dreispurigen Kreisverkehr umgeben.

Seit einigen Jahren sind Transformationsprozesse am Praterstern zu beobachten. Der Bahnhof wurde 2008 im Zuge der so genannten „Bahnhofsoffensive“ baulich teilweise neugestaltet und verstärkt mit Einkaufsmöglichkeiten und Lokalen ausgestattet. Im Umfeld wurden mehrere tausend Wohnungen auf ehemaligen Eisenbahnanlagen – öffentlich gefördert sowie frei finanziert – errichtet und es siedelten sich in der Nähe auch einige Konzerne und der neue Campus der Wirtschaftsuniversität an. Der Freizeitpark „Wurstelprater“ ist, mit dem Riesenrad als einem der Wahrzeichen Wiens, eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Stadt, und die angrenzende Kaiserwiese wird in den vergangenen Jahren vermehrt für kommerzielle Veranstaltungen genutzt. Diese Transformationsprozesse waren dabei begleitet von der Verlagerung der Sexarbeit, die Jahrzehnte lang davor im Gebiet verwurzelt war.

Seit den 1990er Jahren wurde der Praterstern zu einem immer wichtiger werdenden Aufenthaltsort für Menschen, die von Marginalisierung betroffen sind. Einerseits war und ist der Praterstern Treffpunkt für Menschen, die im öffentlichen Raum Suchtmittel konsumieren (in Wien gibt es kein Konzept, das den Konsum von illegalisierten Suchtmitteln in geschützten Räumen ermöglichen würde). Diese so genannte „Drogenszene“ war schon einmal von Verdrängung vom innerstädtischen Karlsplatz betroffen – einem Platz nahe der Wiener Staatsoper und anderer kultureller Institutionen, der für die touristische Verwertung der Stadt von großer Bedeutung ist. Der öffentliche Raum am Praterstern wurde aber zudem immer mehr von Menschen genutzt, die von Wohnungslosigkeit und Armut betroffen sind. Der Praterstern ist für viele ein wichtiger Lebens- und Aufenthaltsort für die Pflege sozialer Beziehungen und der Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Unter anderem wird am Platz daher Alkohol konsumiert.

Der Aufenthalt von Menschen, die von Armut, gesellschaftlichen Ausschlüssen und Diskriminierungen betroffen sind, ermöglichte es insbesondere Boulevardmedien, stigmatisierend über den Praterstern zu berichten. Das Leben auf dem Platz bot diesen Medien die Gelegenheit, billig Schlagzeilen herstellen zu können, ohne viel recherchieren zu müssen. Das erzeugte wiederum Druck auf die Kommunalpolitik. Diese war bis April 2018 trotzdem davon geprägt, den Platz für Menschen zu erhalten, die aufgrund gesellschaftlicher Ausschlüsse auf diesen öffentlichen Raum angewiesen sind. Dabei setzte die Stadtregierung auf eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite stand (und steht) eine starke polizeiliche Überwachung des Platzes, begleitet durch Sicherheitsdienste der „ÖBB“ (Österreichische Bundesbahnen) und der städtischen Verkehrsbetriebe „Wiener Linien“ sowie eine defensive Architektur. Diese sollte gewährleisten, dass die Geschäfte am Bahnhof nicht gestört werden – immerhin ist dieser seit einigen Jahren gleichzeitig ein kleines Einkaufszentrum. Diese repressiven Maßnahmen dürften den Hintergrund (gehabt) haben, symbolisch auf die sichtbare Armut und deren mediale Stigmatisierung zu reagieren. Andererseits wurde und wird Soziale Arbeit eingesetzt. Zahlreiche Einrichtungen und Organisationen suchten die Menschen am Platz auf, boten Beratung und Vermittlung zu Einrichtungen an, nahmen Funktionen des Lobbyings für den Aufenthalt, aber auch die der Regulierung der Menschen am Platz ein (vgl. Diebäcker, 2014).

Einhergehend mit den oben beschriebenen Aufwertungen und Kommerzialisierungstendenzen wurde im April 2018 schließlich ein Alkoholkonsumverbot am Platz eingeführt. Dies kam für die Kolleg*innen der Sozialen Arbeit überraschend (Stoik, 2018a). Bestand kurz zuvor noch Einigkeit darüber, dass es fachlich nicht sinnvoll sei, ein Alkoholkonsumverbot für den Platz auszusprechen, wurde diese Maßnahme durch den neuen Bürgermeister (es handelte sich um die Amtsübergabe von Michael Häupl an Michael Ludwig, beide von der SPÖ) quasi als erste Amtshandlung doch gesetzt.

Es war offensichtlich, dass dies Ausdruck eines neuen populistischen Politikstils war. Während die Soziale Arbeit vor Ort davon sprach, dass die Situation vor dem Alkoholkonsumverbot ruhiger war als je zuvor, galt das Alkoholkonsumverbot für den Praterstern und einige Parkflächen in der Umgebung, nicht aber für die angrenzende Kaiserwiese, auf der jedes Jahr die Wiener Version des Münchner Oktoberfests stattfindet. Deutlich wurde dadurch, dass das Konsumieren von Alkohol seitens der Stadt nicht prinzipiell problematisiert wurde, sondern nur in Bezug auf Menschen, die von sichtbarer Armut betroffen sind. Diese Maßnahme wurde rigoros von der Polizei exekutiert, inklusive Wegleeren von Alkohol vor den Augen der Sicherheitsorgane. Die betroffenen Menschen wichen auf unterschiedliche Orte aus, auf nahegelegene Straßen und Wohngebiete sowie auf entferntere Plätze. Die aktuellen Umgestaltungsmaßnahmen und Bauprojekte am Platz demaskieren kommerzielle Interessen als einen weiteren Hintergrund der Verdrängungsmaßnahme.

Eine Evaluierung des Alkoholkonsumverbots seitens der Stadtregierung, die teilweise im Sommer 2019 veröffentlicht wurde (vgl. Magistratsdirektion Organisation und Sicherheit, 2019), macht noch einmal deutlich, dass nicht seriöse Daten und fachlich motivierte Überlegungen die Maßnahme begründeten, sondern dass diese populistisch motiviert war. Die Evaluierung wurde nie vollständig veröffentlicht, die Datengrundlage sowie die angewandten Erhebungsmethoden sind nur begrenzt nachvollziehbar und halten wissenschaftlichen Standards nur sehr begrenzt stand (vgl. Stoik, 2019). Was die Evaluierung aber zeigt, ist, dass Menschen für die Soziale Arbeit am Platz nun schwieriger erreichbar sind, da sie teilweise verdrängt wurden. Die Evaluierung spricht sich zwar gegen Alkoholkonsumverbote an weiteren Plätzen in Wien aus, andererseits legitimiert sie die Maßnahme aber politisch.

Die Maßnahme des Alkoholkonsumverbots und auch deren Evaluierung stellen somit einen Paradigmenwechsel in der Wiener Politik dar und unterwandern fachlich und ethisch motivierte Bemühungen, öffentliche Räume in Wien für die Menschen zu erhalten, die besonders auf sie angewiesen sind, wie dies z. B. im Mission Statement „Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“ 2015 von fünf Stadträt*innen durch ihre Unterschrift bekräftigt (Beratungsgruppe Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, 2011) oder im Fachkonzept für den öffentlichen Raum seitens der Wiener Stadtplanung (Stadtentwicklung Wien, 2018) festgehalten wurde. Die Einführung des Alkoholkonsumverbots folgt nicht der Argumentation, dass zentral gelegene öffentliche Räume eine wichtige Funktion für die Teilhabe von Menschen haben. Das Verbot missachtet die lebensnotwendige Bedeutung der öffentlichen Räume für gesellschaftlich marginalisierte Menschen – dass die betroffenen Menschen über keine privaten Räume verfügen, dass sie Räume als Treffpunkt und für die Pflege von sozialen Beziehungen benötigen, dass sie über diese Räume auch Zugang zu Versorgung (Toilettenanlagen) und Sozialer Arbeit erhalten und dass sie durch ihren Aufenthalt zumindest über den Konsum an der Gesellschaft teilhaben können.

Marginalisierte Menschen werden und wurden in Räume verdrängt, in denen ihre Bedürfnisse weniger sichtbar sind und weniger wahrgenommen werden können. Diese Räume sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weniger urban und mit mehr Nutzungskonflikten mit einer lokalen Wohnbevölkerung verbunden sind, die am Praterstern aufgrund der vorwiegend transitorischen Funktion kaum vorhanden waren.

Das Alkoholkonsumverbot am Praterstern zeigt deutlich, wie der Aufenthalt in öffentlichen Räumen durch Interessen der kommerziellen Nutzung behindert und eingeschränkt wird, insbesondere in Bezug auf Menschen, die kommerziell keine bedeutungsvolle Rolle spielen oder denen sogar zugeschrieben wird, dass sie das Geschäft stören. Das Beispiel macht transparent, dass kommerzielle und politische Interessen des Machterhalts stärker sind als ethische oder fachliche Argumentationen. Soziale Arbeit kann sich ihrer Verantwortung aber nicht entziehen, auf diese Widersprüche aufmerksam zu machen. Die international festgelegten fachlichen und ethischen Standards der Sozialen Arbeit (IFSW, 2014) sind aber, aufgrund der Abhängigkeit der Sozialen Arbeit von der Kommunalpolitik, nicht einfach wahrzunehmen. Dieses Wiener Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, wirksam gegen die Verdrängung von Menschen aus öffentlichen Räumen aufzutreten.

Die Soziale Arbeit in Wien kann sich nicht nur auf das Fachkonzept der Stadtplanung und das Mission Statement „Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“ berufen, das durch Expert*innen der FH Campus Wien erarbeitet und seitens der Stadt anerkannt wurde (Beratungsgruppe Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, 2011). Die Soziale Arbeit verfügt über eine unabhängige fachliche Vernetzungsstruktur – die AG „Sozialer Raum“, eine Arbeitsgemeinschaft der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit, die ein Positionspapier verfasst hat (AG Sozialer Raum der OGSA, 2016). Und die Soziale Arbeit organisierte sich auch abseits von Abhängigkeiten von der Stadt in Kooperation mit sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Aktionen („Raum für Alle*“Footnote 1). Die Soziale Arbeit verknüpfte in ihren Bestrebungen, fachlichen und ethischen Argumentationen zu folgen, eine Vielzahl von Strategien und Handlungsmöglichkeiten. Die Zusammenarbeit von Kolleg*innen aus der sozialräumlichen Praxis sowie der Wissenschaft mit Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen ermöglichte, auf unterschiedlichen Ebenen öffentlich zu werden – beim Austausch und bei der Unterstützung von Kolleg*innen, auf städtischer Ebene und in der medialen Öffentlichkeit. Die Resonanz und Kritik am Alkoholkonsumverbot war in der Folge sehr groß (vgl. Stoik, 2018b).

Alle diese Strategien konnten die Verdrängung marginalisierter Menschen vom Praterstern nicht verhindern. Aber sie konnten fachliche Argumentationen fördern, in Hinblick auf öffentliche Räume und Marginalisierung bzw. professionelles Handeln gegen Marginalisierung. Und sie zeigten Widersprüche zwischen neoliberaler und populistischer Stadtpolitik und ökonomischen Interessen auf der einen Seite und ethischen und sozial inklusiven Argumentationen auf der anderen Seite auf.

3 Fallbeispiel „Herbststraße 15“

In der Herbststraße 15 im Wiener Bezirk Ottakring wurde 2014 ein kooperatives Stadtteilzentrum initiiert. Dabei wurde ein ehemaliges Gasthaus im Erdgeschoss eines Altbaus hergerichtet und für verschiedene gemeinwesenorientierte Aktivitäten geöffnet. Der Betrieb des Raums wurde von drei Organisationen gemeinsam getragen: von der Gebietsbetreuung Stadterneuerung (im Auftrag der Stadt Wien), der Stadtteilarbeit der Caritas Wien (mit dem Projekt „Grätzeleltern“)Footnote 2 sowie dem Leila, dem 1. Wiener Leihladen (vgl. Kirsch-Soriano da Silva & Rautner, 2019).

Die Herbststraße 15 befindet sich in einem Stadtteil mit hoher Diversität und hoher baulicher Dichte. In ihrem Umfeld leben Bevölkerungsgruppen mit – im Vergleich zum Wiener Durchschnitt – niedrigeren Haushaltseinkommen und niedrigeren formalen Bildungsabschlüssen sowie höheren Anteilen an ausländischer Staatsbürgerschaft bzw. Migrationshintergrund. Gleichzeitig finden sich im großteils in der Gründerzeit errichteten Stadtteil nur wenige Freiräume und offene Begegnungsräume. Im kooperativ betriebenen Stadtteilzentrum sollte daher ein Raum für Nachbarschaft und für vielfältige Communities entstehen, der unterschiedlichen Gruppen Raum bietet. Einerseits gestalteten die drei Organisationen unterschiedliche Programmpunkte, um unterschiedliche Zielgruppen mit ihren Bedarfslagen und Interessen anzusprechen. Andererseits war der Raum offen für engagierte Menschen und Gruppen, um eigene Ideen und Initiativen umzusetzen.

Seitens der Gebietsbetreuung wurden u. a. regelmäßige kostenlose Wohn- und Mietrechtsberatungen angeboten und die Nutzungen durch verschiedene Initiativen (wie Nähwerkstatt, Zumba- und Kochkurse) koordiniert – mit dem Fokus, mit diesen Aktivitäten insbesondere die Nachbarschaft anzusprechen. Der Leila richtete ein Lager mit diversen Gegenständen ein, die sich Mitglieder des Vereins gegen einen geringen Mitgliedsbeitrag ausleihen konnten, und bot dafür regelmäßige Öffnungszeiten an. Die Caritas Stadtteilarbeit war mit dem Projekt „Grätzeleltern“ vor Ort präsent, einem Peer-to-peer-Projekt, bei dem Menschen verschiedener Herkunft andere Menschen in ihrem Umfeld und ihren sozialen Netzwerken unterstützen. Die Grätzeleltern erhalten Schulungen und Fortbildungen seitens der Caritas und geben ihr Wissen im Rahmen von Hausbesuchen an andere Menschen weiter. Sie unterstützen in verschiedenen Fragen des Alltags und vermitteln und begleiten bei Bedarf auch zu diversen professionellen Ansprechstellen (vgl. Auradnik et al., 2019). In der Herbststraße 15 fanden einerseits offene Sprechstunden für die Grätzeleltern und von ihnen begleitete Haushalte statt sowie regelmäßige Fortbildungen für die freiwilligen Multiplikator*innen. Andererseits wurde der Raum für vielfältige Initiativen, die von Grätzeleltern und ihrem Umfeld angestoßen wurden, genutzt. Dabei wurde sichtbar, wie insbesondere geflüchtete und zugewanderte Menschen, die häufig in beengten, mitunter auch prekären Wohnsituationen leben, einen hohen Bedarf an Räumlichkeiten haben, in denen sie sich treffen können, und – im Fall der Herbststraße 15 – gleichzeitig verschiedene Ideen für Aktivitäten mitbrachten, die rasch zu einer sehr lebendigen Nutzung des Raums führten.

Das kooperative Stadtteilzentrum war damit einerseits ein Ort der Unterstützung. Neben der Wohn- und Mietrechtsberatung und der offenen Sprechstunden von Leila und Grätzeleltern, wurden – ausgehend von konkreten Bedarfslagen – weitere Unterstützungsangebote initiiert, wie ein Bewerbungscoaching, Deutschkurse und Sprachcafés, die jeweils von interessierten Freiwilligen begleitet wurden. Andererseits wurde das Stadtteilzentrum zum Ort der Mitgestaltung und Entfaltung, wo eigene Ideen umgesetzt werden konnten, wie eine Theatergruppe, ein Kunstkurs oder ein Reparaturcafé. Dabei konnten Interessen eingebracht und der Raum durch vielfältige Nutzungen angeeignet werden.

Die Herbststraße 15 wurde darüber hinaus zum sozialen Treffpunkt, wo gemeinsam gekocht, gegessen und geplaudert wurde. Einmal im Monat fand ein Picknick statt, zu dem alle Interessierten eingeladen waren, etwas mitzubringen und gemeinsam zu frühstücken. Zum Ausklang wurde dabei oft musiziert – in Form von geplanten musikalischen Einlagen oder ganz spontan. Mehrmals im Jahr wurden Feste organisiert, für die sowohl die drei Organisationen, die hinter dem Stadtteilzentrum standen, als auch die vielen Freiwilligen und Nutzer*innen des Zentrums ein buntes Programm zusammenstellten. Auch bei den Festen wurde regelmäßig eine Bühne geboten für musikalische, tänzerische und andere künstlerische Darbietungen. Auf diese Weise wurden zahlreiche Talente sichtbar und Menschen, die zunächst aufgrund von Unterstützungsbedarf im Umgang mit Behörden oder anderen Alltagsfragen ihren Weg in die Herbststraße 15 gefunden hatten, bekamen eine neue Rolle, indem sie auf der Bühne auftraten.

Nach fünf Jahren lebendiger Nutzungen, die gerade von geflüchteten und zugewanderten Menschen, die ansonsten weniger Räume und Möglichkeiten der Entfaltung in der Stadt vorfanden, begeistert wahrgenommen worden waren, musste die Herbststraße 15 allerdings Ende 2018 ihre Türen wieder schließen. Die Gebietsbetreuung setzte neue Schwerpunkte und konnte daher die Finanzierung des Raums nicht mehr fortsetzen, auch die öffentliche Förderung des Projekts „Grätzeleltern“ war mittlerweile zu Ende gegangen und der Leila wollte sich neu strukturieren und einen neuen Standort suchen. Die Gebietsbetreuung war im letzten Jahr vor Ort zwar intensiv darum bemüht, dass einige der Initiativen, die den Raum regelmäßig nutzten, den Betrieb des Raums gemeinsam fortführten. Schlussendlich scheiterte dies aber an den Kosten, die damit verbunden gewesen wären, und teilweise an den dafür erforderlichen Ressourcen der Koordination und Organisation.

Schlussendlich war die Herbststraße 15 damit ein temporärer Raum, der aufzeigte, dass gesellschaftlich marginalisierte Gruppen hier einen dringend erforderlichen Raum gefunden hatten, der ihnen Möglichkeiten gab, zu gestaltenden Akteur*innen zu werden, indem gegenseitige Unterstützung, aber auch soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten organisiert wurden. Die Geschichte der Herbststraße 15 macht damit einerseits den Bedarf an solchen Räumlichkeiten sichtbar, wirft aber gleichzeitig die Frage nach der nachhaltigen Finanzierung und Begleitung solcher Räumlichkeiten auf.

Der Ansatz eines kooperativ organisierten Raums war in der Landschaft der sozialen Organisationen und der aktuellen städtischen Aufträge im Bereich der Stadtteilarbeit und Gemeinwesenarbeit in Wien ein neues Experiment, von dem die Stadt für die Zukunft lernen könnte. Im Falle des Projekts „Grätzeleltern“ ist das Projekt an einen anderen Standort der Caritas in Wien Favoriten (einem ebenfalls von sozialen Benachteiligungen und hoher Diversität geprägten Stadtteil) übersiedelt: der alten Ankerbrotfabrik, wo u. a. eine Gemeinschaftsküche mit Community Cooking Formaten für die Nachbarschaft lokalisiert und Platz für weitere Initiativen ist.

4 Die Rolle der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit bei der Gestaltung von Räumen für marginalisierte Gruppen

Ausgehend von den beiden Wiener Fallbeispielen wird die Rolle der Sozialen Arbeit und Gemeinwesenarbeit in Hinblick auf die Gestaltung von Räumen für marginalisierte Gruppen in den Blick genommen. Beide Beispiele zeigen eindrücklich, wie sehr es eine fachliche Positionierung und Lobbying in Hinblick auf (Räume für) artikulationsschwächere und marginalisierte Gruppen in der Stadt braucht. Es ist Aufgabe der Sozialen Arbeit und deren Trägerorganisationen, sowohl gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen als auch gegenüber Fördermittelgeber*innen für diejenigen Menschen zu sprechen, die selbst weniger Artikulationsmacht haben und deren Stimme daher häufig weniger gehört wird. In der Praxis kann dies durchaus eine Herausforderung darstellen, da sich die vorwiegend öffentlich finanzierten Trägerorganisationen zumeist gleichzeitig in gewissen Abhängigkeiten im Rahmen von Aufträgen und Projektfinanzierungen befinden. Umso wichtiger erscheint es, breitere organisationsübergreifende Plattformen und Interessensvertretungen zu bilden und mit sozialen Bewegungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Einrichtungen der Lehre und Forschung zusammenzuarbeiten, um Entwicklungen der Marginalisierung entgegenzutreten und für marginalisierte Menschen einzutreten.

Ein weiteres Handlungsfeld der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit ist die Förderung von Selbstorganisation und politischer Interessensvertretung bei von Marginalisierung betroffenen Gruppen selbst. Häufig gibt es für diese Menschen mehr Hürden, sich zu organisieren, etwa aufgrund mangelnder Ressourcen, psychischen Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen oder der einfachen Tatsache, zur Gänze mit der Bewältigung des eigenen Alltags beschäftigt zu sein. Einige bestehende Organisationen – wie beispielsweise die Straßenzeitung „Augustin“, die Bettellobby, die Armutskonferenz und diverse Migrant*innenvereineFootnote 3 – zeigen aber Anknüpfungspunkte auf, wie dies gelingen kann. Zudem zeigt sich aus den Fallbeispielen, dass bei der konkreten Arbeit mit den Menschen Reflexion und Bewusstseinsbildung sowie Kraft und Engagement entstehen kann.

Gleichzeitig können Soziale Arbeit und Gemeinwesenarbeit einen Beitrag leisten, Toleranz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu fördern – sei es durch Diskurs und mediale Kampagnen, durch Förderung der „urbanen Kompetenz“ in allen Bevölkerungsschichten sowie durch die Schaffung von konkreten Begegnungsformaten wie beispielsweise interkulturellen Veranstaltungen, die dazu beitragen, Vorurteile gegenüber Menschen anderer Herkunft abzubauen. Dabei gilt es, einerseits Ängste und Unsicherheiten vor dem Anderen, dem Unbekannten oder dem von der Norm Abweichenden zu nehmen und andererseits dafür zu sensibilisieren, dass es umgekehrt meist die von gesellschaftlicher Benachteiligung und Marginalisierung betroffenen Menschen sind, die mit diversen existenziellen Unsicherheiten konfrontiert sind, die zu reduzieren in unser aller Verantwortung liegt.

Die Öffnung und Gestaltung von Räumen – temporär und dauerhaft – ist zudem ein konkreter Beitrag, um Marginalisierung entgegenzuwirken. Räume geben den betroffenen Menschen (wieder) Platz – einen Platz in der Gesellschaft, aber auch ganz konkret Platz, den sie benötigen, um sich aufzuhalten, sich zu versorgen, zu kommunizieren. Die Aneignung von Räumen in der Stadt kann in diesem Sinn als Form der sozialen Teilhabe verstanden werden und als eine Strategie, um Marginalisierung zu reduzieren. Die Rolle der Sozialen Arbeit ist es, bei der Nutzung und Aneignung von Räumen zu begleiten sowie entsprechende Räume und Möglichkeiten zu erhalten und für verschiedene Gruppen und Menschen, die auf diese Räume angewiesen sind, offenzuhalten. Dabei braucht es sowohl Räume des Öffentlich Seins als auch geschützte Räume des Privat Seins.

Gerade die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum wirft dabei auch Spannungsfelder auf. Einerseits verweist sie auf das Recht auf Stadt, auf das Recht, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, das gerade angesichts der wachsenden Kommerzialisierung und Aufwertung urbaner Räume ein fundamentales Recht für alle Bevölkerungsgruppen bleiben muss. Andererseits verstärkt die Präsenz marginalisierter Gruppen im öffentlichen Raum deren Wahrnehmung durch den Rest der Gesellschaft und die Zuschreibung von Images, verbunden mit bestimmten sozialen Gruppen und mit konkreten Orten. Ein Stück weit werden also mit der Exponiertheit im öffentlichen Raum weitere Marginalisierungsprozesse in Gang gesetzt. Gleichzeitig bieten öffentliche Räume gerade durch eine gewisse soziale Kontrolle auch Schutz. Umgekehrt bieten privatere Räume zwar teilweise mehr Möglichkeiten für geschützte Orte, machen soziale Verhältnisse aber eben auch ein Stück weit unsichtbar und lassen sie aus dem Blickfeld der Gesellschaft verschwinden. Für Vertreter*innen der Sozialen Arbeit, die im öffentlichen Raum unterwegs sind, ist es wesentlich, Klient*innen bzw. Adressat*innen der Sozialen Arbeit im öffentlichen Raum anzutreffen, um diese ansprechen und unterstützen zu können. Darüber hinaus gilt es, Indoor-Räumlichkeiten durch soziale Organisationen zu schaffen – und zwar nicht nur Räumlichkeiten, die Schlafplätze oder Möglichkeiten der Beratung und Versorgung bieten, sondern auch Räumlichkeiten, die angeeignet und mitgestaltet werden können.

Städtische Räume stellen sich im Zuge wachsender sozialer Ungleichheit und zunehmender Kommerzialisierung als umkämpfte Räume dar. Marginalisierung ist dabei ein Phänomen, das gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt bzw. durch sie begründet wird, sich aber auch sozialräumlich in Stadtteilen und urbanen Räumen zeigt. Gleichzeitig können urbane Räume und die gesellschaftlichen Praktiken in diesen Räumen wiederum zur Marginalisierung beitragen oder dieser entgegenwirken. Diese Wechselwirkungen im Sozialraum Stadt zu erkennen und in diesem Spannungsfeld mit klaren fachlichen Positionierungen zu agieren, ist Aufgabe und Herausforderung der Sozialen Arbeit und Gemeinwesenarbeit.

5 Fazit

Marginalisierung wird jeden Tag aufs Neue produziert. Soziale Arbeit und Gemeinwesenarbeit haben die Aufgabe, Möglichkeiten und Räume zu eröffnen, die von marginalisierten Gruppen genutzt werden können und in denen sie andere Rollen einnehmen können, um Marginalisierungsprozessen aktiv entgegenzuwirken. Gleichzeitig ist zu hinterfragen, wie Marginalisierung gesellschaftlich entsteht – in Hinblick auf Einkommensarmut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen oder prekäre Lebensverhältnisse – und deren Ursachen entgegenzuwirken.

Die Ermöglichung sozialer Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen ist ein Schlüsselaspekt, um Entwicklungen der Ausgrenzung und Marginalisierung zu bekämpfen. In diesem Kontext ist das Konzept von „Urban Citizenship“ (vgl. Krenn & Morawek, 2017; Schilliger, 2018), das nicht mehr auf Basis von „Staatsbürgerschaft“ Zugehörigkeiten und Rechte definiert und damit gleichzeitig inkludiert und exkludiert, sondern in heutigen urbanen Gesellschaften eine neue Basis für soziale, ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe fordert, ein möglicher Ansatzpunkt, um städtische Politik und Handlungsstrategien neu zu überdenken.