In Kapitel 2 wird die theoretische Basis für die Folgekapitel gelegt. Im ersten Unterkapitel 2.1 wird der Zusammenhang zwischen Klassifikationsmodellen und Schriftnutzung thematisiert, duale Schriftnutzung definiert und die Personengruppe näher beschrieben. Im Anschluss wird der Versuch unternommen, die Grundpopulation dual Schriftnutzender anhand verfügbarer Populationswerte zur Blindheit und Sehbehinderung zu schätzen. Das zweite Unterkapitel 2.2 ist der deutschen Brailleschrift gewidmet und gibt einen Überblick über die genutzten Brailleschriftsysteme. Im Bereich 2.3 wird der Forschungsstand zur dualen Schriftnutzung dargelegt, indem Entwicklungs- und Forschungsprojekte vorgestellt und zusammengefasst werden. Dabei werden unterschiedliche Formen dualer Schriftnutzung genauso wie der Entscheidungsfindungsprozess über das geeignete Schriftmedium thematisiert. Im letzten Unterkapitel 2.4 werden grundlegende schriftsprachliche Kompetenzen definiert, die eine wichtige Basis für die Nachfolgeuntersuchungen bilden.

2.1 Beschreibung der Zielgruppe

Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Frage, welche Personengruppe die Schriftfrage Brailleschrift und/oder Schwarzschrift betrifft. Ein zentrales Merkmal der Personengruppe ist das Vorhandensein einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit. Aus diesem Grund sollen zu Beginn die wichtigsten Klassifikationsmodelle vorgestellt werden. Dazu soll der Frage nachgegangen werden, wie Klassifikation und Schriftnutzung zusammenhängen.

2.1.1 Klassifikation von Sehbeeinträchtigung und Blindheit

Grundsätzlich dienen Klassifikationen dazu, Phänomene und Personengruppen systematisch voneinander abzugrenzen. Im Bereich Blindheit und Sehbeeinträchtigung existieren jedoch eine ganze Fülle an unterschiedlichen Definitionen. Folgt man Rath (1983, 53 f.) und Schäfer (1997, S. 9), dann gibt es allein von Blindheit weltweit über 75 Definitionen. Im Folgenden werden in Abbildung 2.1 die gängigsten Klassifikationen vorgestellt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf der SehschärfeFootnote 1 bei optimaler Refraktionskorrektur beruhen. Dazu werden für gewöhnlich auch Beeinträchtigungen berücksichtigt, die der Minderung der Sehschärfe gleichkommen, z. B. Gesichtsfeldeinbußen.

In Abbildung 2.1 werden zwei Definitionen der World Health Organization (WHO), der American Medical Association (AMA) und der deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) gegenübergestellt. Die Sehschärfe als Unterscheidungskriterium ist dabei in logarithmischer Abstufung auf der X-Achse dargestellt. In Orange ist der Bereich der Sehbehinderung abgebildet, während Grün das Spektrum symbolisiert, in dem von Blindheit gesprochen wird.

Abbildung 2.1
figure 1

Klassifikationen Sehbeeinträchtigung und Blindheit

Im deutschen Sprachraum wird für gewöhnlich die Klassifikation der DOG verwendet, die zwischen Sehbehinderung (≤ 0.3), hochgradiger Sehbehinderung (≤ 0.05) und Blindheit (≤ 0.02) unterscheidet (DOG 2011, S. 2). Im Gegensatz dazu werden in den USA und Kanada nur zwei Stufen, nämlich low vision (< 0.5) und legally blind (<0.1), unterschieden (Corn und Lusk 2010, S. 7). Dem gegenüber werden in den beiden Definitionen der WHO sogar fünf Stufen differenziert (DIMDI 2018, S. 284; WHO 2016, S. 384).

Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Klassifikationen in Abbildung 2.1 verdeutlicht, dass sich die Definitionen je nach Land teilweise beträchtlich unterscheiden und damit auch das Verständnis von Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Eine Person mit einem Visus von 0.08 würde beispielsweise in den USA als gesetzlich blind gelten, während die gleiche Person in Deutschland als sehbehindert klassifiziert werden würde. Ein Bewusstsein für diese Unterschiede ist im Umgang mit englischsprachiger Fachliteratur wichtig und erklärt, weshalb die Schriftfrage in den USA stärker mit dem Begriff der gesetzlichen Blindheit (engl. legal blindness) in Verbindung gebracht wird als beispielsweise in den deutschsprachigen Ländern.

Überdies verdeutlicht die Gegenüberstellung in Abbildung 2.1, dass es bislang kein allgemeingültiges Klassifikationssystem gibt und Sehbeeinträchtigung bzw. Sehbehinderung und Blindheit immer eine Definitionsfrage ist. In Anlehnung an Lang und Heyl (2021, S. 21) wird deshalb in dieser Arbeit Sehbeeinträchtigung als Oberbegriff für die unterschiedlichen Formen von Sehbehinderungen genutzt.

Zusammenhang Klassifikation und Schriftnutzung. In den USA ist gesetzlich im Individuals with Disabilities Education Act (IDEA) festgeschrieben, dass Schülerinnen und Schüler, die als legally blind gelten (Visus <0.1) standardmäßig die Brailleschrift lernen (U.S. Department of Education Public Law 108–446, 03.12.2004). Eine Ausnahme kann gemacht werden, wenn das pädagogische Team in einem Assessment die Schwarzschriftnutzung oder duale Schriftnutzung begründet. Das Gesetz schreibt das Schriftmedium somit nicht direkt vor, es soll aber verhindern, dass Schülerinnen und Schüler die Brailleschrift vorenthalten bekommen, obwohl sie möglicherweise davon profitieren (Musgrove und Yudin 2013, S. 1; Lusk et al. 2013, S. 1; Koenig 1996, S. 56). Die Regelung führt dazu, dass der Visus als Grenzwert genutzt wird, was man durchaus kritisch bewerten kann, denn aufgrund der Sehschärfe alleine lässt sich noch nicht beurteilen, wie effektiv eine Person ihr Sehvermögen zum Lesen und Schreiben einsetzt (Koenig 1996, S. 56). Ungeachtet dessen, liegt die Vermutung nahe, dass aufgrund des Individuals with Disabilities Education Act ein dualer Schriftzugang in den USA häufiger gewählt wird als in den deutschsprachigen Ländern. Leider existieren diesbezüglich keine Statistiken, anhand derer die Hypothese überprüft werden kann. Es erscheint jedoch plausibel, dass durch die Gesetzesinitiative die Zahl an dual Schriftnutzenden gestiegen ist. Dazu kann man feststellen, dass die Diskussion über duale Schriftnutzung in den USA etwa zur gleichen Zeit aufkam wie die Erstauflage des Individuals with Disabilities Education Act 1997 (Koenig und Holbrook 2000, S. 677).

Im Gegensatz zu den USA gibt es in den deutschsprachigen Ländern keine gesetzliche Regelung, die eine direkte Verbindung zwischen Visus und Schriftmedium herstellt. Die Entscheidung über das Schriftmedium (Brailleschrift, Schwarzschrift, dual) wird für gewöhnlich individuell auf Basis eines professionellen Urteils durch eine Sonderpädagogin oder einen Sonderpädagogen gefällt (Lang 2009, S. 150). Dabei kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die sozialrechtliche Klassifikation in die Entscheidung miteinfließt. Über Jahre galt als Faustregel, dass Personen mit Blindheit (≤ 0.02) auf jeden Fall die Brailleschrift lernen, bei Lernenden mit hochgradiger Sehbehinderung (≤ 0.05) eine Entscheidung gefällt werden sollte und Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung (≤ 0.3) die Schwarzschrift erwerben (Schindele 1985, S. 97). Dies erklärt auch, weshalb viele Autorinnen und Autoren Schriftfragen in der Vergangenheit vor allem im Kontext hochgradiger Sehbehinderung diskutiert haben (Schindele 1985, S. 114; Hudelmayer 1985, S. 129; Mersi 1985, S. 268). Aktuelle Studien belegen, dass viele Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung in Deutschland und der Schweiz tatsächlich sowohl Schwarzschrift als auch Brailleschrift nutzen (Hofer et al. 2016, S. 107). Gleichzeitig zeigt sich jedoch, dass auch Personen mit Blindheit ein zweites Schriftmedium nutzen und demzufolge auch als dual Schriftnutzende bezeichnet werden können (Lang et al. 2018, S. 79). Nach Lang et al. (2018, S. 79) ist deshalb eine Anbindung dualer Schriftnutzung einzig an die Personengruppe von Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung nicht korrekt.

Die Ausführungen verdeutlichen, dass die Klassifikationsmodelle durchaus einen Einfluss darauf haben, ab wann einer Schülerin oder einem Schüler die Brailleschrift angeboten wird. Gleichfalls zeigt sich, dass es in der Praxis keinen kausalen Zusammenhang zwischen sozialrechtlicher Klassifikation und Schriftnutzung gibt und dieser auch nicht sinnvoll erscheint.

2.1.2 Definition duale Schriftnutzung

Der Erwerb und die Nutzung von Brailleschrift und Schwarzschrift wird als duale Schriftnutzung (engl. dual-media) bezeichnet (Corn und Lusk 2010, S. 9; Holbrook et al. 2017a, S. 412; Corn und Lusk 2010, S. 258; Lang et al. 2018, S. 80). Dabei handelt es sich um einen funktionalen Begriff, der exklusiv auf die Schriftnutzung fokussiert und grundsätzlich offen angelegt ist hinsichtlich der Lernreihenfolge, der Gewichtung der Schriftmedien und der Erwerbszeitpunkte (Lang et al. 2018, S. 80).

Von einem zweiten Lese- und Schreibmedium profitieren Schülerinnen und Schüler mit fortschreitenden Augenerkrankungen ebenso wie Lernende mit Problemen im visuellen Lesen, z. B. hinsichtlich Lesekomfort, der Leseausdauer, der Lesegeschwindigkeit oder dem Textüberblick. Häufig ist das der Fall bei Lernenden mit einer hochgradigen Sehbehinderung (Lang et al. 2018, S. 79), wobei auch andere Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung oder Blindheit von einem zweiten Schriftmedium profitieren können. Entscheidend sind die individuellen visuellen, haptischen und auditiven Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Im Gegensatz zu anderen Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit, die beim Lernen überwiegend visuell oder haptisch arbeiten, nutzen dual Schriftnutzende häufig multisensorische Zugänge (Kamei-Hannan und Ricci 2015, S. 49; Hofer 2017, S. 31). In der Konsequenz haben sie ein erweitertes Spektrum an Wahlmöglichkeiten bei Lernangeboten und assistiven Technologien.

Neben den Schriftfragen benötigen dual Schriftnutzende häufig Unterstützung im Umgang mit der fortschreitenden Augenerkrankung, im Bereich Orientierung und Mobilität ebenso wie bei lebenspraktischen Fähigkeiten.

2.1.3 Schätzung Grundgesamtheit

Aussagen zur Häufigkeit dualer Schriftnutzung sind sehr schwierig, weil kaum belastbare Statistiken über die Prävalenz von Sehbeeinträchtigungen und Blindheit im Kindes- und Jugendalter vorliegen und in den wenigen Statistiken meistens nicht nach Schriftmedium differenziert wird. Nichtsdestotrotz wird an dieser Stelle der Versuch unternommen, sich dem Phänomen auf Basis der vorhandenen Daten anzunähern.

Zu der Häufigkeit von Blindheit und Sehbehinderung in den deutschsprachigen Ländern existieren sehr unterschiedliche Statistiken, die sich hinsichtlich Datenerfassung, Aktualität und Klassifikation der Sehbeeinträchtigung unterscheiden. Aus diesem Grund schlussfolgert der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV), dass es kaum „belastbares Zahlenmaterial“ gibt (DBSV 2019). Eine ähnliche Haltung vertreten Lang, Hofer und Beyer indem sie auf die schwierige Interpretierbarkeit der vorhandenen Zahlen aufmerksam machen und kritisch anmerken, dass Personen mit zusätzlichen Beeinträchtigungen in den verfügbaren Statistiken nicht ausreichend Berücksichtigung finden (Hofer 2017, S. 30). Auf das gleiche Problem machen ebenfalls Lang und Heyl (2021, S. 22) aufmerksam. Vor diesem Hintergrund müssen die nachfolgend aufgeführten Häufigkeiten vorsichtig rezipiert und interpretiert werden.

In Tabelle 2.1 werden die Länderdaten überblicksmäßig für die Gesamtbevölkerung und den Anteil an Schülerinnen und Schülern dargestellt.

Bei der Betrachtung der Häufigkeiten in Tabelle 2.1 fällt auf, dass der prozentuale Anteil an Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit in allen Ländern in der Gesamtbevölkerung deutlich größer ist als der Anteil an der Gesamtschülerzahl. Für Deutschland liegt beispielsweise der Anteil von Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit in der Gesamtbevölkerung bei 1.4 %, während im Schulbereich nur etwa 0.09 % der Lernenden einen Förderbedarf im Bereich Sehen aufweisen. Dies wird bedingt durch die asymmetrische Verteilung von Sehbeeinträchtigung und Blindheit auf die Altersgruppen, wonach diese im Kindes- und Jugendalter relativ selten sind (Lang und Heyl 2021, S. 23).

Tabelle 2.1 Häufigkeit von Sehbeeinträchtigung und Blindheit

Dazu offenbart der Ländervergleich einige Ungereimtheiten in den Zahlen, die vermutlich auf unterschiedliche Erhebungsmethoden und Schwächen in den Statistiken hindeuten. So ist es beispielsweise schwer erklärbar, weshalb es sowohl beim Gesamtanteil der Bevölkerung als auch am Anteil der Gesamtschülerzahlen teils beträchtliche Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt.

Hinsichtlich der Schriftnutzung (Brailleschrift, Schwarzschrift oder dual) wird in keiner der zitierten Statistiken aus Tabelle 2.1 differenziert und es existieren auch keine Zahlen bezüglich der Grundpopulation Braille Leserinnen und Leser in den deutschsprachigen Ländern. Diese lassen sich auch nicht aus den vorhandenen Quellen ableiten, weil es keine eindeutige Zuordnung zwischen Klassifikation und dem genutzten Schriftmedium gibt (vgl. hierzu Abschnitt 2.1.1). Folglich lässt sich auf der Basis der derzeit verfügbaren Daten weder die Grundpopulation der Braille Nutzenden noch die der dual Schriftnutzenden seriös schätzen.

Zu diesem Schluss kommt auch Wright (2010, S. 777) in Bezug auf die Population von Braille Leserinnen und Lesern in den USA und Rhoads (2019, S. 48) für dual Schriftnutzende in Nordamerika.

Für Deutschland und die Schweiz kann aber zumindest der Anteil dual Schriftnutzender unter den Braille Lesenden geschätzt werden. In der ersten Erhebung der Studie Zukunft der Brailleschrift aus dem Jahr 2015 wurden insgesamt 819 Braille Leserinnen und Leser aus Deutschland und der Schweiz im Alter zwischen 6–89 Jahren hinsichtlich ihrer Schrift- und Technologienutzung befragt. Von 790 gültigen Fragebögen gaben 164 Personen an, neben der Brailleschrift auch die Schwarzschrift zu nutzen, was einem Anteil von 20.8 % dual Schriftnutzender entspricht (Lang et al. 2018, S. 79). Die Zahlen beruhen auf einer für die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik großen Stichprobe, insbesondere wenn man diese in Relation zu den Daten in Tabelle 2.1 setzt. Auch wenn sich daraus keine Grundpopulation ableiten lässt, kann man zumindest schlussfolgern, dass dual Schriftnutzende in Deutschland und der Schweiz mindestens ein Fünftel der Braille Nutzenden ausmachen und damit einen wichtigen Teil der Lernenden im Förderschwerpunkt Sehen.

Dabei muss jedoch einschränkend hervorgehoben werden, dass sich die Zahlen auf die Gesamtpopulation Braille Nutzender beziehen, jedoch unklar ist, wie viele Personen in Deutschland die Punktschrift nutzen. Hinzu kommt das Problem, dass mit jeder Messung nur die Personen erfasst werden können, die bereits zwei Schriftmedien nutzen. Bell et al. (2013) machen in diesem Zusammenhang auf die hohe Dunkelziffer bei dual Schriftnutzenden aufmerksam, die maßgeblich mit der Entscheidungsfindung (Brailleschrift, Schwarzschrift oder dual) zusammenhängt. In einer Untersuchung überprüften sie das Schriftmedium von 90 amerikanischen Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Davon nutzten 12 die Brailleschrift (13 %), 66 die Schwarzschrift (74 %) und 12 beide Schriftmedien (13 %). Nach einer Evaluation durch Expertinnen und Experten und einem Assessment zur Schriftentscheidung kamen sie zum Schluss, dass 30–33 der Teilnehmenden (33–37 %) von einem dualen Schriftzugang profitieren könnten (Bell et al. 2013). In den überwiegenden Fällen handelte es sich dabei um Personen, die bis dahin nur die Schwarzschrift nutzten. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass ein dualer Schriftzugang immer noch viel zu selten und oftmals zu spät in Erwägung gezogen wird. In der Konsequenz kann man davon ausgehen, dass die Thematik eine größere Zahl an Lernenden im Förderschwerpunkt Sehen betrifft als bislang angenommen.

2.2 Die deutsche Brailleschrift

Die Brailleschrift wurde 1825 durch den Franzosen Louis Braille erfunden und ist die weltweite Standardschrift für Menschen mit Blindheit. Sie ist ebenfalls unter dem Namen Punktschrift oder Blindenschrift bekannt (Lang und Thiele 2020, S. 44). Die Grundlage der Brailleschrift basiert auf sechs Punkten, die in einer Braillezelle in zwei Spalten mit jeweils drei Punkten angeordnet sind. Jedem Punkt ist dabei eine eindeutige Ziffer zugewiesen (vgl. hierzu Abbildung 2.2). Aus der Anzahl an Punkten ergeben sich abzüglich des Leerzeichens 63 mögliche Buchstabenkombinationen. Um alle Zeichen der Schwarzschrift darstellen zu können, müssen deshalb Zeichen mehrfach belegt und angekündigt werden (z. B. für die Großschreibung oder Zahlen).

Abbildung 2.2
figure 2

Braillezelle

In der deutschen Fassung der Brailleschrift unterscheidet man zwischen Basisschrift, Vollschrift und Kurzschrift. Sie werden von dem Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder als Textschriften bzw. Literaturbraille bezeichnet (BSKDL 2018a). Allen drei Systemen ist gemeinsam, dass sie sich hinsichtlich Ankündigungszeichen, Satzzeichen und Sonderzeichen nicht unterscheiden und aufwärtskompatibel gestaltet sind. D. h., die Anzahl an Kürzungen und Regeln und damit der Schwierigkeitsgrad steigen graduell, wobei der Sprung zwischen Voll- und Kurzschrift sehr groß ausfällt. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Kennzeichnung der Großschreibung in allen drei Systemen optional ist (BSKDL 2018b, S. 51).

Neben den Textschriften gibt es weitere Spezialschriften, z. B. die Musiknotenschrift, Chemieschrift, Stenografie oder Computerbraille (= 8-Punktbraille). Letztere wird inzwischen mancherorts standardmäßig im Schriftspracherwerb genutzt, weshalb Computerbraille für viele Schülerinnen und Schüler keine Spezialschrift mehr darstellt, sondern die Funktion einer Alltagsschrift einnimmt.

2.2.1 Basisschrift

Sie definiert den Grundaufbau der Brailleschrift und ist die älteste Variante der deutschen Blindenschrift (Aldrige 2002). Über mehrere Jahrzehnte wurde sie nicht genutzt und schließlich 1998 durch die BSKDL wieder in das Regelwerk zur deutschen Brailleschrift aufgenommen (Heuer 1998, S. 1).

Abbildung 2.3
figure 3

Das deutsche Braillealphabet

Das Alphabet, bestehend aus 26 lateinischen Buchstaben, dem Eszett und den Umlauten, bildet die Grundlage für die Voll- und Kurzschrift (vgl. hierzu Abbildung 2.3). Zahlen werden mithilfe der ersten zehn Buchstaben des Alphabets (a-j) und einem vorangestellten Ankündigungszeichen dargestellt (siehe hierzu Abbildung 2.4).

Abbildung 2.4
figure 4

Die Zahlen in der 6-Punktschrift

Die Basisschrift hat den größten Platzbedarf der Textschriften, dafür lassen sich Ausdrücke aus der Schwarzschrift kürzungsfrei in 6-Punktschrift darstellen (BSKDL 2005, S. 18). Sie wird selten gedruckt jedoch öfters für Beschriftungen im öffentlichen Raum genutzt. Ein Beispielsatz in der Basisschrift befindet sich in Tabelle 2.2.

2.2.2 Vollschrift

Die Vollschrift stellt die Grundstufe der deutschen Brailleschrift dar und baut auf der Basisschrift auf, indem acht Lautgruppenkürzungen (siehe hierzu Abbildung 2.5) das System erweitern (BSKDL 2018b, S. 89). Zur Anwendung der Lautgruppenkürzungen müssen wenige Regeln beachtet werden, z. B. bei Wortfugen, Prä- und Suffixen sowie Sprechsilben (BSKDL 2018b, S. 90). In der Konsequenz handelt es sich bei der Vollschrift nicht um eine 1:1 Übertragung der Schwarzschrift (Lang und Heyl 2021, S. 204). Durch die Lautgruppen verringert sich das Textvolumen im Vergleich zur Basisschrift.

Abbildung 2.5
figure 5

Lautgruppenkürzungen in der Vollschrift

Die Vollschrift spielt eine große Rolle im Schriftspracherwerb. Vielerorts ist sie das Standard-Brailleschriftsystem. Aus pädagogischen Gründen wird die optionale Großschreibung im Kontext Schule meistens genutzt (vgl. hierzu Tabelle 2.2).

2.2.3 Kurzschrift

Die deutsche Kurzschrift existiert offiziell seit 1904, wobei eine erste Systematik erst 1925 durch Carl Strehl vorgelegt wurde. In ihrer über 100-jährigen Geschichte wurde sie mehrfach reformiert und erweitert (Lorenz und Lorenz 2005, S. 23). Der Zweck der Kurzschrift ist es, die Lese- und Schreibgeschwindigkeit zu erhöhen und gleichzeitig das Textvolumen um circa ein Drittel zu reduzieren (BSKDL 2018b, S. 93). In ihrer aktuellen Fassung von 2018 umfasst sie 324 Kürzungen. Damit ist das deutsche Kurzschriftsystem wesentlich umfangreicher als beispielsweise das englische System namens Unified English Braille (kurz UEB genannt) mit 182 Kürzungen. Dazu kommt, dass in der deutschen Kurzschrift viel Wert auf Sprachästhetik gelegt wird. D. h., viele Regeln erfordern eine hohe Sprachkompetenz, z. B. Einsichten in das silbische oder morphematische Prinzip.

In der Kurzschrift hat ein Braillesymbol nicht nur die Bedeutung eines Buchstabens, sondern häufig einer ganzen Buchstabenfolge, einer Lautgruppe, eines Prä- oder Suffixes oder ganzer Wörter. Dazu verändern manche Zeichen kontextabhängig ihre Bedeutung, wenn ein Ankündigungszeichen vorangestellt wird (vgl. hierzu Tabelle 2.2). Daraus resultiert eine hohe Informationsdichte, die sich in einer Mehrfachbelegung der Zeichen äußert. Nach Hudelmayer (1985, S. 128) haben die Braillesymbole je nach Kontext 2–4 Bedeutungen. Hinzu kommen umfangreiche Kürzungsregeln, die eine eindeutige Schreibweise zum Ziel haben.

Durch die Kürzungen verringert sich das Textvolumen der Punktschrift deutlich, weshalb die Kurzschrift noch heute die Standard Druckschrift für Braillebücher ist (Lang und Heyl 2021, S. 205). Studien der Universität Karlsruhe aus den 1980er Jahren zeigen jedoch, dass die Lautgruppenkürzungen das meiste Textvolumen sparen, während die sehr umfangreichen zweiförmigen Kürzungen sowie Kommakürzungen das Textvolumen nur geringfügig reduzieren (KIT Karlsruhe in Lang 2003, 394). In anderen Worten: Die Platzersparnis ließe sich auch mit einem weniger komplexen System erreichen, was viele Personen in der Vergangenheit dazu veranlasste, eine Vereinfachung des Regelwerkes zu fordern (Nilsson 1982, S. 8; Ernst 1982, S. 6; Planer-Regis 1995, S. 251). Im Zentrum der Kritik standen dabei die Komplexität des Regelwerkes und die schwere Erlernbarkeit (Hudelmayer 1985, S. 128; Ernst 1982, S. 6). Dadurch seien viele Lernende mit einer Lernbeeinträchtigung, einer Mehrfachbeeinträchtigung oder einer späten Erblindung von der Nutzung ausgeschlossen (Nilsson 1982, S. 8; Planer-Regis 1995, S. 251). Ernst nennt die Kurzschrift deshalb „Expertenschrift“ (1982, S. 5). Hinzu kommt, dass die Einführung in die Kurzschrift viel Lern- und Übungszeit erfordert, die im allgemeinen Curriculum nicht vorgesehen ist (Hudelmayer 1985, S. 128). Das stellt insbesondere Lehrpersonen von inklusiv beschulten Schülerinnen und Schülern vor eine große Herausforderung.

Trotz Kritik ist die Kurzschrift heute noch bei vielen Punktschrift Nutzerinnen und Nutzern weitverbreitet und akzeptiert. Das geht aus einer deutsch-schweizerischen Studie zur Verwendung der Brailleschrift mit 819 Teilnehmenden hervor. Die Ergebnisse zeigen, dass die tägliche Kurzschriftnutzung in der Altersgruppe über 63 Jahren am höchsten ist, während sie bei den jüngeren Teilnehmenden unter 23 Jahren deutlich geringer ausfällt (Lang und Heyl 2021, S. 207; Hofer et al. 2016, S. 111; Hofer 2020, S. 11). Die Kurzschriftnutzung scheint sich deshalb immer mehr zu einer Generationenfrage zu entwickeln.

Tabelle 2.2 Gegenüberstellung der deutschen Brailleschriftsysteme

2.2.4 Computerbraille

Im Jahr 1986 wurde Computerbraille von den Vertreterinnen und Vertretern der Blindenorganisationen der Europäischen GemeinschaftFootnote 2 geschaffen (Internationale Braille-Seminar 1997; VBS 1995, S. 248). Dabei handelt es sich um ein 8-Punkte-System, bei dem man die Punkte 7 und 8 der Braillezelle vertikal hinzugefügt hat. Computerbraille wurde entwickelt für die präzise Ein- und Ausgabe von Programmcodes.

Abbildung 2.6
figure 6

8-Punkt Braillezelle

Eine Neuschöpfung war notwendig, weil traditionelle 6-Punkteschriften maximal 63 Punktkombination (abzüglich des Leerzeichens) ermöglichten, für die Computernutzung aber mehr Zeichen erforderlich waren. Dazu kamen braillespezifische Besonderheiten, wie z. B. Ankündigungszeichen oder Kürzungen. Durch die Erweiterung der Braillezelle um zwei Punkte sind in Computerbraille 256 Zeichen möglich. Dies entspricht den regulären 8-Bit ZeichensätzenFootnote 3 der Schwarzschrift am Computer mit ebenfalls 256 Zeichen.

Bei der Erschaffung von Computerbraille wurden die Braillezeichen den drei gängigsten westeuropäischen Zeichensätzen zugeordnet (ISO 8859–1; IBM-Codepage 437 und IBM-Codepage 850) (Aldrige 2005). Diese haben die Funktion von Übersetzungstabellen. Bei der Zuordnung wurde deshalb auf eine größtmögliche Übereinstimmung geachtet. Wie Aldrige (2005) zeigt, gibt es dennoch im Detail Unterschiede im Zeichenumfang der Übersetzungstabellen. Für 127 Zeichen ist die Zuordnung jedoch eindeutig.

Computerbraille wird häufig auch Eurobraille genannt. Der Name geht allerdings nicht auf die internationale Verbreitung zurück, wie leicht missverständlich angenommen werden kann, sondern auf die Zuordnung zu den westeuropäischen Computer Zeichensätzen. Tatsächlich wird Eurobraille fast ausschließlich in den deutschsprachigen Ländern genutzt (BSKDL 2018a; Aldrige 2005). Daneben existieren noch weitere 8-Punktschriften und Computerschriften im internationalen Kontext (z. B. in Schweden), die sich jedoch von der deutschen Variante unterscheidenFootnote 4. In Nordamerika wird der 8-Punkt-Code seit der offiziellen Einführung von Unified English Braille (UEB) 2016 sogar nicht mehr als Braillecode anerkannt (BANA 2016).

Im Gegensatz zu den klassischen Text- und Literaturbraille Schriften (z. B. Basis-, Voll- und Kurzschrift) existiert für Computer- bzw. Eurobraille kein Regelwerk. Aufgrund der Korrespondenz zur Schwarzschrift und der 1:1 Zuordnung von Brailleschriftzeichen und Schwarzschriftbuchstaben ist dies jedoch auch nicht zwingend erforderlich. Die Zuordnungen sind wiederum in Normen festgeschrieben (vgl. DIN 32 982, 1994 oder ISO TR-11548 2001).

Die Nutzung von Computerbraille wurde Ende der 1990er Jahre in den deutschsprachigen Ländern stark diskutiert. Ausgangspunkt waren Schulversuche in zwei Bundesländern, den Brailleschriftspracherwerb mit Computerbraille zu beginnen (Lang und Austermann 1998; Ziehmann 1999; Wagener 1998), was Degenhardt et al. (1999; 1999) dazu veranlasste, die Lesestrategien unter anderem von Computerbraille zu untersuchen.

Die Schulversuche führten zu einer emotionalen Debatte über das Erstschriftsystem im Brailleschriftspracherwerb (DVBS 2001; Heuer gen. Hallmann 2001; Wagener et al. 2002; Westström 2002; VBS 2001a). Seither gibt es bei der Wahl des Schriftsystems im Brailleschriftspracherwerb regionale Unterschiede zwischen den Bildungs- und Beratungszentren Sehen.

Nichtsdestotrotz hat der technische Wandel in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die Nutzung von elektronischen Hilfsmitteln und damit auch Computerbraille zugenommen hat. Für viele Braille Leserinnen und Leser ist das System heute weitaus mehr als ein Spezialsystem. In einer Befragung von 819 Braille Nutzenden aller Altersklassen gab die Mehrheit der Befragten an, Computerbraille täglich oder fast täglich zu nutzen (Hofer et al. 2016, S. 107).

2.2.5 Beschlüsse zur Brailleschrift

Aus der zuvor erwähnten Debatte über Computerbraille als Erstschrift ist eine gemeinsame Erklärung des VBS (Verband für Blinden und Sehbehindertenpädagogik), des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) und des DVBS (Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf) hervorgegangen. Diese sieht vor, dass Braille Leserinnen und Leser die unterschiedlichen Brailleschriftsysteme in Etappen erwerben, wobei keine Lernreihenfolge vorgegeben wird, sondern nur Schnittstellen, bis zu denen die Kompetenzen erworben sein sollen (VBS 2001b, S. 97).

  1. 1)

    Schnittstelle 1: Bis zum Ende der 2. Klasse aber spätestens bis zum Ende der Grundschulzeit in Klasse vier soll die Vollschrift erworben werden.

  2. 2)

    Schnittstelle 2: Nach Abschluss der Orientierungsstufe (Klasse sechs) sollen die Schülerinnen und Schüler über Kenntnisse in der Kurzschrift verfügen.

  3. 3)

    Schnittstelle 3: Bis zum Haupt- oder Realschulabschluss sollen auch die englische Kurzschrift und die Marburger Mathematikschrift erlernt werden sowie weitere Spezialschrift, z. B. die Musiknotenschrift.

Das Schnittstellenmodell wurde zuletzt in den Grundpositionen des VBS zur Brailleschrift 2012 bekräftigt (VBS 2012, S. 9). Dazu hebt der Verband die Bedeutung von Schriftkenntnissen im 21. Jahrhundert hervor, merkt jedoch auch kritisch an, dass die Brailleschriftvermittlung durch Veränderungen im Bildungswesen und der Lernenden im Förderschwerpunkt Sehen anspruchsvoller geworden ist (VBS 2012, 6 f.).

Kritisch kann angemerkt werden, dass die Empfehlungen zur Lernreihenfolge nur Schülerinnen und Schüler ohne zusätzliche Beeinträchtigung fokussiert, die den Brailleschriftspracherwerb ab der ersten Klasse starten. Für dual Schriftnutzende, die häufig die Punktschrift im Laufe der Schulzeit erwerben, existieren keine Leitlinien. In der Folge obliegt es jedem Bildungs- und Beratungszentrum Sehen, für diese Schülerinnen und Schüler eine individuelle Entscheidung hinsichtlich der zu lernenden Systeme und der Lernreihenfolge zu treffen.

2.3 Forschungs- und Kenntnisstand zur dualen Schriftnutzung

Duale Schriftnutzung wurde bereits in Abschnitt 2.1.2 definiert. Darauf aufbauend soll in diesem Teil ein Überblick über den Forschungs- und Kenntnisstand gegeben werden. Ausgangspunkt ist die Schriftentscheidung (Brailleschrift, Schwarzschrift oder dual), die auf informellem Weg oder mithilfe eines formalen Assessments getroffen werden kann. Daran anschließend werden die häufigsten Gründe vorgestellt, die zu einem dualen Schriftzugang führen. Überdies sollen anhand eines Modells unterschiedliche Formen dualer Schriftnutzung unterschieden werden. Schließlich werden methodisch-didaktische Besonderheiten von dual Schriftnutzenden im Brailleschriftspracherwerb aufgezeigt. Zu guter Letzt werden Ergebnisse aus zwei Studien zu den zeitlichen Ressourcen in der Förderung dual Schriftnutzender vorgestellt und Möglichkeiten diskutiert, die zeitlichen Ressourcen zu erhöhen.

2.3.1 Schriftentscheidung

Nach Koenig und Holbrook (1989, S. 296) gibt es nur wenige Entscheidungen, die unter Fachpersonen für mehr Verwirrung, Unsicherheit und Kontroverse sorgen als die Schriftentscheidung. Folgt man Wormsley (1997, S. 3), dann handelt es sich dabei sogar um die wichtigste Entscheidung, die Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen in Bezug auf Lernende mit Sehbeeinträchtigungen treffen. Im Zentrum dieses Kapitels steht deshalb die Frage, wie eine Schriftentscheidung idealtypisch aussehen sollte.

Dazu finden sich in der Fachliteratur unterschiedliche Empfehlungen. Demnach berücksichtigen professionelle Schriftentscheidungen ein (1) augenärztliches Gutachten mit Prognose über den weiteren Verlauf der Augenerkrankung, (2) einen aktuellen funktionalen Sehbericht, (3) Beobachtungen zu den Wahrnehmungspräferenzen (visuell, haptisch, auditiv), (4) Überlegungen zu den zukünftigen Lese- und Schreibanforderungen, (5) Daten zu den Vorläuferfertigkeiten oder den schriftsprachlichen Kompetenzen sowie (6) eine Übersicht der verfügbaren assistiven Technologien (Kamei-Hannan und Ricci 2015, S. 24; D’Andrea 1997, S. 135; Vik und Fellenius 2007, S. 554; Lang et al. 2018, S. 81).

Die sonderpädagogische Lehrperson sammelt dabei die Daten und trifft auf Basis dieser zusammen mit den Eltern eine Entscheidung, ob das Kind den Schriftspracherwerb mit Brailleschrift, Schwarzschrift oder beiden Schriftmedien beginnen sollte. In der Tabelle 2.3 sind prototypische Merkmale aufgeführt, die einen Hinweis auf die Schriftnutzung geben können.

Tabelle 2.3 Merkmale Schriftnutzung

Aus der Tabelle geht hervor, dass Schriftentscheidung immer auf einer Vielzahl von Daten beruhen sollte. In diesem Prozess können die Pädagoginnen und Pädagogen eine informelle Vorgehensweise wählen oder auf ein formales Assessment zurückgreifen, das die Entscheidungsfindung und Datensammlung unterstützen kann. Im Folgenden werden beide Möglichkeiten beschrieben.

Informelle Entscheidungsfindung. Bei dieser Form gibt es kein festgeschriebenes Vorgehen, weshalb Umfang und Datenbasis stark von der Expertise und Erfahrung der Blinden- und Sehbehindertenpädagogin oder -pädagogen abhängen. Viele Expertinnen und Experten stehen informellen Schriftentscheidungen aus verschiedenen Gründen kritisch gegenüber:

  • Generalisierung von Einzelwerten. Koenig (1996, S. 56) befürchtet, dass bei informellen Schriftentscheidungen häufiger von Einzelwerten (z. B. Visuswerten oder dem Vergrößerungsbedarf) generalisierend auf ein Schriftmedium geschlossen wird, wodurch wichtige Faktoren wie die Wahrnehmungsvoraussetzungen außer Acht gelassen werden.

  • Einstellungen der Fachperson. Holbrook (2009, S. 134) vermutet, dass die Präferenzen der Lehrpersonen für die Brailleschrift oder Schwarzschrift eine informelle Entscheidungsfindung stark beeinflussen.

  • Ressourcenfragen. Eine Förderung in der Brailleschrift ist teuer, weil dafür mehr Förderstunden, speziell ausgebildetes Personal und besonderes Material benötigt werden. In der Folge befürchtet Holbrook (2009, S. 135), dass dieser Umstand dazu führt, dass einem Kind in Zweifelsfällen die Punktschrift aus Kostengründen vorenthalten wird.

  • Berufserfahrung. Argyropoulos et al. (2008, S. 228) konnten in einer Studie zeigen, dass Sonderpädagoginnen und -pädagogen mit mehr Berufserfahrung und guten Braillekenntnissen öfters zugunsten der Punktschrift entscheiden.

  • Förderort. Gleich mehrere Autorinnen äußern die Vermutung, dass in inklusiven Settings die Schwarzschrift bevorzugt wird (Jennings 1999, S. 13; Ryles 1996, S. 225).

  • Tradition der Bildungsinstitution. Speziell in Deutschland könnten tradierte organisatorische Strukturen einer blinden- oder sehbehindertenspezifischen Einrichtung dazu führen, dass die Schriftentscheidung je nach Institution unterschiedlich ausfällt (Lang et al. 2018, S. 83).

Im Zentrum jeglicher Kritik steht die Sorge, dass bei informellen Entscheidungen nicht immer im Interesse des Lernenden entschieden wird. Ein weiteres Problem besteht darin, dass bei dieser Form der Entscheidungsfindung häufig die Gründe, die zur Schriftwahl geführt haben, nicht offengelegt werden. Das erschwert es Eltern, vor allem aber auch den betroffenen Kindern und Jugendlichen, das neue Schriftmedium zu akzeptieren.

Trotz der Kritik sind informelle Schriftentscheidungen weit verbreitet (Herzberg et al. 2017, S. 52). Das liegt vermutlich daran, dass diese keine Einarbeitungszeit erfordern und in der Regel auch schnell durchführbar sind.

Formale Assessments. Die Verwendung von standardisierten, datenbasierten Verfahren können Fachpersonen im Prozess der Schriftentscheidung unterstützen. Nachfolgend werden einige beispielhafte Assessments zur Schriftentscheidung genannt:

  • Print and Braille Literacy: Selecting Appropriate Learning Media (Caton 1991)

  • Learning Media Assessment of Students with Visual Impairments (Koenig und Holbrook 1995)

  • Functional Vision and Learning Media Assessment (Sanford et al. 2008)

  • National Reading Media Assessment (NFB 2012)

Die verfügbaren Verfahren bieten Lehrpersonen Orientierung und stellen sicher, dass eine Vielzahl von Faktoren (s. o.) in die Schriftentscheidung einfließen. Durch formale Assessments steigt zudem die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung, was wiederum die Akzeptanz bei den beteiligten Personen erhöht (Herzberg et al. 2019).

In Abschnitt 2.1.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Zahl der dual Schriftnutzenden maßgeblich von der Entscheidungsfindung abhängt. Nach der Durchführung eines formalen Assessments wird scheinbar häufiger ein dualer Schriftzugang gewählt als bei informellen Verfahren (Bell et al. 2013). Das liegt vermutlich daran, dass eine Mehrheit der genannten Assessments neben der Brailleschrift und Schwarzschrift einen dualen Zugang explizit thematisiert, während bei der informellen Vorgehensweise häufiger eine Entweder-Oder-Entscheidung getroffen wird (Lang 2009, S. 144).

Formale Assessment können folglich eine sehr große Hilfe sein, frühzeitig Schülerinnen und Schüler zu erkennen, die von der Brailleschrift profitieren können. Die endgültige Entscheidung über das Schriftmedium bleibt jedoch auch bei formalen Verfahren immer in der Verantwortung der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen. Jennings warnt deshalb vor überzogenen Erwartungen, indem sie sagt: „There is no magic formula and one is not likely to be developed“ (1999, S. 14).

Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Assessments zur Schriftentscheidung verschiedene Schwerpunkte setzen und nicht frei von Kritik sind, weshalb sie auch sehr unterschiedlich angenommen werden. Ein Beispiel dafür ist das National Reading Media Assessment (NRMA) der National Federation of the Blind (NFB 2012), das aufgrund fehlender Adaptionsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung und dem proklamierten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit kritisiert wurde und in der Konsequenz von vielen Fachpersonen, insbesondere aus dem Bereich Low Vision, abgelehnt wird (Corn et al. 2016; ACB 2016).

Länderunterschiede bei der Schriftentscheidung. Die genannten formalen Assessments zur Schriftentscheidung stammen alle aus Nordamerika. Das ist kein Zufall und hängt mit einem U.S.-Bundesgesetz zusammen, das Sonderpädagoginnen und -pädagogen dazu verpflichtet, bei Kindern und Jugendlichen das Schriftmedium zu evaluieren, sobald diese als legally blind (Visus < 0.1) klassifiziert werden und nicht die Brailleschrift nutzen (U.S. Department of Education Public Law 108–446, 03.12.2004). Ähnliche Gesetze bestehen zudem in einigen Bundesstaaten. Das erklärt, wieso formale Assessments bislang hauptsächlich in den USA und Kanada entwickelt und erforscht wurden (Herzberg et al. 2019; Herzberg et al. 2017, S. 52). Darüber hinaus werden Assessments zur Schriftentscheidung als Teil der professionellen Praxis aufgefasst. Diese sind in der Lehrerausbildung verankert (AER 2020) und finden Erwähnung in den wichtigsten Grundlagenwerken zur Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (Holbrook et al. 2017b; Koenig und Holbrook 2010). In den deutschsprachigen Ländern gibt es keine vergleichbaren Gesetze und bislang auch keine formalen Assessments. Aus diesem Grund haben einige Bildungs- und Beratungszentren im Förderschwerpunkt Sehen eigene Leitfäden und Handreichungen erarbeitet. Das ist jedoch nicht flächendeckend der Fall, weshalb in den meisten Fällen eine informelle Entscheidung in Form eines Expertinnen- oder Expertenurteils gefällt wird.

Nachfolgend soll das Learning Media Assessment von Koenig und Holbrook (1995) als Beispiel für ein formales Assessment vorgestellt werden. Es ist nach einer Studie von Herzberg et al. (2017, S. 52) und Lusk und Corn (2006a, S. 614) das am häufigsten verwendete formale Assessment Tool zur Schriftentscheidung.

2.3.2 Learning Media Assessment

Das Learning Media Assessment, nachfolgend LMA genannt, ist ein systematisches, datenbasiertes und objektiviertes Verfahren, das Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen dabei unterstützen soll, eine Schriftentscheidung zu treffen (Koenig und Holbrook 2010, S. 444). Darüber hinaus liefert das Verfahren wertvolle Informationen für eine individualisierte Förderplanung (Holbrook und Winter 2021). Es richtet sich an alle Lernenden im Förderschwerpunkt Sehen unabhängig vom Ausmaß der Sehbeeinträchtigung und dem Vorhandensein von zusätzlichen Beeinträchtigungen (Koenig und Holbrook 1995, S. 2).

In der Entwicklung des LMAs wurde der Praxistauglichkeit ein hohes Gewicht beigemessen. In einem ersten Pilotprojekt wurde das Assessment 1992 in zwei US-Bundesstaaten durch Fachpersonen erprobt. Auf der Grundlage des Feedbacks wurde das LMA überarbeitet und 1993 erneut in der Praxis erprobt. Im selben Jahr erfolgte die Veröffentlichung in der Erstauflage. Bereits zwei Jahre später wurde die Zweitauflage herausgegeben, in der die Erfahrungen und Rückmeldungen zur Erstauflage berücksichtigt wurden. Insgesamt waren über 80 Personen an der Entwicklung beteiligt (Koenig und Holbrook 1995, S. XII). Im Jahr 2016 erfolgte eine Aktualisierung der Protokollbögen (VIEW 2016).

Mithilfe des LMA kann sowohl eine Erstentscheidung als auch eine Überprüfung des Schriftmediums vorgenommen werden (vgl. hierzu Abbildung 2.7). Zusätzlich können Aussagen über bevorzugte Lernstrategien (z. B. Material und Methoden) getroffen werden.

Abbildung 2.7
figure 7

Aufbau Learning Media Assessment

Aufbau und Durchführung. Das Learning Media Assessment umfasst insgesamt elf Protokoll- und Beobachtungslisten, die in Tabelle 2.4 aufgeführt sind. Die Auswahl der Formulare unterscheidet sich je nach Zielsetzung und Personengruppe. Das Verfahren kann unterteilt werden in drei Schwerpunkte: (1) Wahrnehmungspräferenzen, (2) Lernen und Wissenserwerb und (3) das Lese- und Schreibmedium. Vor der Durchführung eines Learning Media Assessment sollten zudem ein aktuelles augenärztliches Gutachten vorliegen, eine Low Vision Überprüfung durchgeführt worden sein ebenso wie eine Evaluation des funktionalen Sehvermögens (Koenig und Holbrook 1995, S. 87, 2010, S. 445).

Bestimmung der Wahrnehmungspräferenzen. Die Wahrnehmungspräferenzen (visuell, haptisch, auditiv) werden in mindestens drei unterschiedlichen Situationen (z. B. Schule, Elternhaus, Freizeit) beobachtet und auf einem vorgefertigten Protokollbogen notiert (Form 2). Es bietet sich an, auch Eltern und Personen aus dem pädagogischen Team Beobachtungen anfertigen zu lassen und diese im Anschluss gemeinsam zu besprechen. Notiert werden Verhaltensweisen und die dabei dominierenden Sinne (z. B. greift nach dem Spielzeugauto; spricht mit einem Freund etc.). Falls mehrere Sinne gleichzeitig genutzt werden, kann dies ebenfalls notiert werden. Bei der Interpretation der Wahrnehmungspräferenzen muss zudem berücksichtigt werden, dass die Beobachtungen sehr oberflächlich sind und nur die Neigungen des Kindes widerspiegeln nicht den effektivsten Zugang (Koenig und Holbrook 1995, S. 21).

Tabelle 2.4 Protokoll- und Beobachtungsbögen im Learning Media Assessment

Lernen und Wissenserwerb. Über die gewöhnlichen Textadaptionen hinaus (z. B. Schriftvergrößerung, Schrifttyp und Buchstabenlaufweite) werden in diesem Bereich Materialien und Methoden benannt, die sich positiv auf das Lernen des Kindes auswirken. Dabei geht es um die Frage, wie das Kind mit Lernmaterialien umgeht (z. B. Bilder, Diagramme oder Modelle), welche Adaptionen und assistiven Technologien benötigt werden, welche Lehrmethoden effektiv genutzt werden können (z. B. Lernen am Modell, verbale Instruktionen) und in welchen Settings das Lernen am besten gelingt (z. B. Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit). Hierfür stehen Checklisten und Beobachtungbögen zur Verfügung, auf denen zwischen Lernen im Nahbereich und in der Ferne unterschieden wird (Form 3).

Bestimmung des Lese- und Schreibmediums. Hierbei muss differenziert werden zwischen einer Erstbestimmung des Schriftmediums und einer Überprüfung des vorhandenen Schriftmediums (vgl. hierzu Abbildung 2.7). Je nach Zielsetzung unterscheidet sich das Vorgehen im LMA Prozess. Nachfolgend sollen beide Prozesse kurz beschrieben werden:

  • Erstbestimmungen. Im Fall einer Erstdurchführung werden zusätzlich zu den Protokollbögen 1, 2, 3 die Formulare 4 und 5 benötigt (vgl. hierzu Tabelle 2.4). Im Idealfall sollte eine Erstbestimmung bereits 1–2 Jahre vor Schuleintritt durchgeführt werden. Neben den Informationen zu den Wahrnehmungspräferenzen und dem Lernen im Allgemeinen spielen die Vorläuferfähigkeiten für den Schriftspracherwerb eine zentrale Rolle. Diese können mithilfe des Frage- und Beobachtungsbogens (Form 4) eingeschätzt werden. In dem abschließenden Formular 5 werden schließlich alle Informationen aus den vorherigen Schritten zusammengeführt und gebündelt. Dazu werden auch Informationen aus dem augenärztlichen Gutachten (z. B. Prognose und Stabilität der Augenerkrankung) und dem funktionalen Sehen (z. B. visuelle Ausdauer, Sehabstand zu Objekten) abgefragt. Bei der Bewertung der gesammelten Daten ist besonders wichtig, dass sich das pädagogische Team die Wirkung der Einzelfaktoren in Kombination bewusst macht und die Schriftentscheidung nicht auf Basis von isolierten Einzelergebnissen trifft (Koenig und Holbrook 2010, S. 451).

  • Überprüfung. Durch ein Fortschreiten der Augenerkrankung, sich ändernde schriftsprachliche Anforderungen oder einen Wechsel im pädagogischen Team kann eine Überprüfung des Schriftmediums erforderlich werden. In diesen Fällen sollten zusätzlich zu den Protokoll- und Beobachtungsbögen 1, 2, 3 die Formulare 6 und 7 genutzt werden (vgl. hierzu Tabelle 2.4). Diese beinhalten neben den zuvor bereits erhobenen Wahrnehmungspräferenzen und Informationen zum Lernen eine umfassende Einschätzung der schriftsprachlichen Kompetenzen in verschiedenen Fächern (Koenig und Holbrook 2010, S. 453). Dazu sind Informationen über die Entwicklung der Lesekompetenz erforderlich. Falls diese zum Zeitpunkt der Durchführung noch nicht vorliegen, müssen sie noch erhoben werden. Dafür können informelle Verfahren, aber auch psychometrische Testverfahren verwendet werden. Wichtige Fragen in diesem Kontext sind: Liest die Schülerin oder der Schüler im aktuellen Lesemedium flüssig und ausdauernd? Kann die Schülerin oder der Schüler schulische Lese- und Schreibaufgaben in einem angemessenen Zeitfenster erfüllen? Verfügt die Schülerin oder der Schüler über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen und Zugangsmöglichkeiten, um aktuelle und zukünftige Anforderungen im Alltag, der Schule und im Beruf gerecht zu werden? (Koenig und Holbrook 2010, S. 456) Eine kritische Überprüfung der aktuellen schriftsprachlichen Kompetenzen sollte Antworten auf diese Fragen liefern. Dazu müssen augenärztliche Gutachten und funktionale Sehberichte in die Entscheidung einbezogen werden. Überdies sollte geklärt werden, ob sich das funktionale Sehvermögen seit der ersten Schriftentscheidung verändert hat und welche Zugangsmöglichkeiten zu Schrift die Schülerin oder der Schüler hat. In diesem Kontext stellt sich die Frage, welche Hilfsmittel die Person verwendet und ob das verfügbare Repertoire erweitert werden sollte. Zu guter Letzt haben auch schulische Leistungen und Anforderungen einen Einfluss auf die Entscheidung. Liegen bereits vor dem Start der Überprüfung des Schriftmediums schulische Probleme vor, erhöht sich der Handlungsdruck. Unter Einbezug aller Faktoren kann das pädagogische Team entscheiden, (1) das aktuelle Lesemedium beizubehalten, jedoch ergänzend auditive Technologien einzuführen (z. B. die Sprachausgabe), (2) das Lesemedium beizubehalten und gleichzeitig die schriftsprachlichen Kompetenzen intensiv zu fördern oder (3) ein neues Schriftmedium einzuführen (z. B. die Brailleschrift), die Förderung jedoch so lange in beiden Medien fortzusetzen, bis im Zweitmedium das gleiche Niveau erreicht ist. Wie bereits zuvor bei der Erstbestimmung sollte eine Entscheidung bei einer Schriftüberprüfung immer alle Faktoren im Kontext sehen.

Evaluationsbericht. Der LMA Abschlussbericht gliedert sich für gewöhnlich in eine Beschreibung der Ziele des Evaluationsprozesses, der Wahrnehmungspräferenzen, des funktionalen Sehens, der schriftsprachlichen Kompetenzen (oder Vorläuferfertigkeiten), der Lernvoraussetzungen, den verfügbaren Zugangsmöglichkeiten und schließlich der Begründung der Schriftentscheidung sowie Empfehlungen für die zukünftige Förderung. Im Zentrum des Evaluationsberichts steht die Frage, ob in Zukunft die Brailleschrift, Schwarzschrift oder ein dualer Schriftzugang genutzt werden sollte (Koenig und Holbrook 2010, S. 479). Zusätzlich zu den drei Optionen kann ein auditiver Informationszugang (z. B. über die Sprachausgabe) eine wichtige Funktion einnehmen. Koenig und Holbrook (1995, S. 10) sehen in diesem jedoch kein primäres Lese- und Schreibmedium, sondern eine wichtige Ergänzung.

Kinder und Jugendliche mit zusätzlichen Beeinträchtigungen. Das Learning Media Assessment lässt sich auch mit Kindern und Jugendlichen mit zusätzlichen Beeinträchtigungen durchführen (Koenig und Holbrook 1995, S. 7). Dabei steht zunächst weniger die Schriftfrage im Vordergrund als die Frage, ob das Kind von einem konventionellen oder einem funktionalen Schriftzugang profitiert. Überdies stellen sich weitere Fragen, z. B. welchen Einfluss hat das Vorliegen der zusätzlichen Beeinträchtigung auf den Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen? Und wie können die kommunikativen Kompetenzen durch einen Schriftzugang verbessert werden? Um diese Fragen zu beantworten, liefert das LMA mehrere Beobachtungsbögen und Checklisten (Form 7, 8, 9, 10 und 11). Ausführlich werden diese im Handbuch beschrieben (Koenig und Holbrook 1995, S. 81–102).

Kritik am Learning Media Assessment. Die Kritik am LMA betrifft vor allem den Umfang und damit den zeitlichen Mehraufwand für Pädagoginnen und Pädagogen (Bell et al. 2013). Dem entgegnen Koenig und Holbrook (1995, S. VIII), dass eine Reduktion weder praktikabel noch angemessen wäre angesichts der Tragweite der Schriftentscheidung für das einzelne Individuum. Überdies machen sie darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Learning Media Assessment um einen kontinuierlichen Prozess handelt, der in Form einer Verlaufsdiagnostik parallel zur Förderung durchgeführt werden kann (Koenig und Holbrook 1995, S. VIII). Die große Mehrheit der Forschenden (Lusk et al. 2013, S. 2; Lusk und Corn 2006a; Corn und Koenig 2002, S. 319) ebenso wie das American Council of the Blind (ACB 2016) schließen sich dieser Einschätzung an und betonen den Mehrwert des Learning Media Assessments und sprechen sich folglich für eine Anwendung aus.

2.3.3 Gründe für einen dualen Zugang

Im Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung stellt sich die Frage, welche Gründe ausschlaggebend sind für einen dualen Schriftzugang. Dazu wurden in zwei Studien Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen befragt, die dual Schriftnutzende unterrichteten (Herzberg et al. 2017; Lusk und Corn 2006a). In der ersten Untersuchung von Lusk und Corn (2006a) wurden 96 Lehrpersonen zur Entscheidungsfindung von 108 dual Schriftnutzenden befragt. Dabei stellte sich heraus, dass in der Mehrheit der Fälle ein dualer Schriftzugang aufgrund der augenärztlichen Prognose gewählt wurde, gefolgt von Schwierigkeiten in der Leseausdauer und Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift (Lusk und Corn 2006a, S. 615). Bestätigt wurden diese Ergebnisse in einer Studie durch Herzberg et al. (2017), die 84 Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen mit der gleichen Methode zu den Gründen für einen dualen Schriftzugang befragten. Neben den bereits erwähnten Gründen gaben mehrere Lehrpersonen an, die Schrifterweiterung aufgrund der schulischen oder beruflichen Ziele der Schülerin oder des Schülers gewählt zu haben (Herzberg et al. 2017, S. 52). Bemerkenswert ist zudem, dass etwa ein Drittel der Befragten angab, die Brailleschrift auch deshalb eingeführt zu haben, weil sie die Erfolgschancen für einen späten oder nachschulischen Erwerb gering schätzten (Herzberg et al. 2017, S. 52).

2.3.4 Zugangs- und Wahlmöglichkeiten

Bei der Entscheidungsfindung geht es nicht ausschließlich um die Schriftfrage, sondern ganz prinzipiell um Zugangs- und Wahlmöglichkeiten. Um das zu veranschaulichen, wird häufig die Metapher einer „toolbox“ [Werkzeugkasten] verwendet (Holbrook und Koenig 1992, S. 44; Herrlich 2012, S. 181; Siu und Presley 2020, S. 154). In Abbildung 2.8 ist diese beispielhaft illustriert.

Abbildung 2.8
figure 8

(Anmerkung: Illustration aus Holbrook und Winter (2021))

Illustration Student’s Toolbox.

Viele Lese- und Schreibaufgaben im Alltag, der Schule und dem Beruf erfordern den Einsatz unterschiedlicher Zugangsweisen. Einige Schülerinnen und Schüler profitieren dabei von einer möglichst großen Auswahl an Werkzeugen. Hyvärinnen und Jacobs drücken es pointiert aus: „The more techniques a child has for learning, the greater freedom he has in choosing the best technique for a certain task.“ (Hyvärinen und Jacob 2011, S. 41). Dabei sind Schriftmedium, Low Vision Hilfen und assistive Technologien untrennbar miteinander verbunden (Koenig 1992, S. 278). Die meisten Hilfsmittel ermöglichen Zugang zu Schrift in vergrößerter Form (z. B. Lupen, Bildschirmlesegeräte), in taktiler Form (z. B. mit einer Punktschriftmaschine oder auf einer Braillezeile) oder in auditiver Form (z. B. in Form der Sprachausgabe). Metaphorisch gesprochen führt ein dualer Schriftzugang folglich dazu, dass die Lernenden auf mehr Werkzeuge zurückgreifen können und damit über mehr Zugangs- und Wahlmöglichkeiten verfügen. Die damit einhergehende Flexibilität und Selbstbestimmung wird von vielen Expertinnen und Experten als Vorteil und Argument für einen dualen Schriftzugang angeführt (Vik und Fellenius 2007, S. 553; Holbrook 2009, S. 133; Koenig und Holbrook 1989, S. 300).

2.3.5 Formen dualer Schriftnutzung

Viele Fachpersonen aus der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik beschreiben duale Schriftnutzung als komplex und herausfordernd (Holbrook und Winter 2021). Das liegt vermutlich daran, dass das Begriffspaar duale Schriftnutzung offen angelegt ist hinsichtlich Erwerbszeitpunkt, Lernreihenfolge und Gewichtung der Schriftmedien. In der Folge existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen von dualer Schriftnutzung. In der Fachliteratur werden je nach Autorin oder Autor zwischen 2–5 Varianten unterschieden (Hatlen 2003; Cheadle 1999; Lusk und Corn 2006a, S. 609; Corn und Koenig 1996, S. 447). Im Kern gehen diese jedoch auf dasselbe Verständnis zurück. In Abbildung 2.9 sind die unterschiedlichen Formen dualer Schriftnutzung dargestellt, wobei grundsätzlich zwischen einem parallelen und nicht-parallelen Lernweg unterschieden wird. Mehreren Expertinnen und Experten zufolge handelt es sich dabei um die zwei wichtigsten Grundformen, weshalb diese nachfolgend genauer beschrieben werden sollen (Holbrook und Koenig 1992, S. 45; Holbrook et al. 2017a, S. 413; Corn und Koenig 1996, S. 448, 2002, S. 311).

Paralleler Lernweg. Bei dieser Form beginnt der formale Schriftspracherwerb mit Brailleschrift und Schwarzschrift. Beide Schriftmedien können mit gleicher oder unterschiedlicher Gewichtung eingeführt werden (Lang et al. 2018, S. 82). So kann in einem parallelen Schriftspracherwerb ein Schriftmedium priorisiert werden. Die unterschiedlichen Optionen, die daraus hervorgehen sind in Abbildung 2.9 dargestellt. Die Vorteile eines parallelen Erwerbs liegen in der effektiven Nutzung von Förderzeit (Holbrook und Koenig 1992, S. 45; Holbrook et al. 2017a, S. 414). Neue Buchstaben und Wörter können direkt in beiden Schriftmedien eingeführt werden. Die Kinder lernen somit einen natürlichen Umgang mit Brailleschrift und Schwarzschrift (Maneki 2012). Ein paralleler Schriftspracherwerb kann zudem in Erwägung gezogen werden, wenn der Prozess der Schriftentscheidung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt oder wenn Eltern und pädagogisches Team unterschiedliche Wünsche bei der Schriftwahl äußern (Koenig und Holbrook 2010, S. 453). Ziel eines parallelen Erwerbs sollte es sein, dass mit dem Beginn der Sekundarstufe die Kinder und Jugendlichen über basale Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien verfügen. Das wiederum eröffnet den Lernenden viele Wahlmöglichkeiten (Holbrook et al. 2017a, S. 413). Zu den Herausforderungen eines parallelen Erwerbs gehört die Anbahnung von Vorläuferfertigkeiten in beiden Schriftmedien (Winter 2018; Holbrook und Koenig 1992, S. 45). Damit ist dieser Zugang vor allem auf perzeptiver Ebene voraussetzungsreich.

Abbildung 2.9
figure 9

Unterschiedliche Formen dualer Schriftnutzung

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Eltern und Lehrpersonen meistens über keine Erfahrungen mit einem parallelen Schriftspracherwerb verfügen, weshalb die Option ein gewisses Maß an Offenheit von allen Beteiligten erfordert. Dazu muss sichergestellt sein, dass in beiden Lese- und Schreibmedien genügend Übungszeit zur Verfügung steht. Das gilt insbesondere für den Aufbau von Leseflüssigkeit. Dem gegenüber können Rechtschreibkompetenzen und Leseverstehen weitestgehend unabhängig vom Schriftmedium aufgebaut werden (Corn und Koenig 2002, S. 311). Nach Holbrook und Koenig (1992, S. 45) öffnet somit ein paralleler Lernweg den Blick für die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den Schriftmedien. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass durch einen parallelen Erwerb viele Optionen offengehalten werden. Maneki (2012) formuliert es wie folgt: „Learning Braille does not rule out all use of print. But not learning Braille does rule out, absolutely, the option of using this effective and efficient medium“.

Trotz guter Argumente für einen parallelen Schriftzugang wird diese Option verhältnismäßig selten gewählt (Rogers 2007, 123 f.; Bell et al. 2013), was vermutlich damit zusammenhängt, dass über mehrere Jahrzehnte ein paralleler Erwerb von Brailleschrift und Schwarzschrift der Lehrmeinung widersprach, wonach Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung nur ein Lese- und Schreibmedium nutzen sollten (Lusk und Corn 2006a, S. 606). Diese Sichtweise gilt als überholt, jedoch scheint sie mancherorts noch vorhanden zu sein. So äußerten sich in zwei Studien mehrere Lehrpersonen skeptisch gegenüber einem parallelen Erwerb (Koenig und Holbrook 2000, S. 689; Jennings 1999, S. 14). Dies hängt vermutlich auch damit zusammen, dass der parallele Lernweg bislang noch nicht systematisch erforscht ist (Koenig 1992, S. 283).

Nicht-paralleler Lernweg. In den meisten Fällen wird bei dual Schriftnutzenden ein nicht-paralleler Lernweg gewählt, bei dem zuerst die Schwarzschrift und dann die Brailleschrift gelernt wird (Lusk und Corn 2006b, S. 662; Rogers 2007, 123 f.). Dabei muss noch weiter unterschieden werden zwischen einer Schrifterweiterung und einem Schriftwechsel (Koenig und Holbrook 2000, S. 678; Koenig 1992, S. 282) (siehe hierzu Abbildung 2.9). In beiden Fällen findet in der Regel eine Neubewertung der Schriftentscheidung statt. Dabei kann das pädagogische Team aufgrund der progredienten Augenerkrankung oder gestiegener schriftsprachlicher Anforderungen entscheiden, die Punktschrift einzuführen, um die Zugangsmöglichkeiten der Schülerin oder des Schülers auszuweiten. Die Schwarzschrift wird dabei jedoch weiterhin genutzt. Folglich handelt es sich um eine Schrifterweiterung. Demgegenüber kann das pädagogische Team auch zu dem Schluss kommen, das Hauptlese- und Schreibmedium langfristig zu ersetzen. In diesem Fall wird die Punktschrift als Ersatz eingeführt, weshalb in der Folge von einem Schriftwechsel gesprochen wird.

Als Vorteile eines nicht-parallelen Lernweges gilt die klare Gewichtung auf einem Hauptlese- und Schreibmedium. Dazu wird immer wieder angeführt, dass sich die Brailleschrift schneller auf Basis bereits vorhandener Schwarzschriftkenntnisse erwerben lässt (Rogers 2007, S. 127). In der Praxis fehlt aber häufig die Zeit, um die Punktschrift neben dem Fachunterricht im Laufe der Schulzeit einzuführen. Überdies steigt bei einem nicht-parallelen Lernweg das Risiko, dass der Punktschrifterwerb hinausgezögert wird und somit der richtige Zeitpunkt für eine Schrifterweiterung oder einen Schriftwechsel verpasst wird. Eine Studie von Ryles (1996, S. 222) zeigt zudem, dass Schülerinnen und Schüler, die spät mit der Brailleschrift begonnen haben, häufig im Erwachsenenalter über keine ausreichenden Lese- und Schreibkompetenzen verfügen.

In vielen Fällen erzwingt jedoch auch der Verlauf der Augenerkrankung den Erwerb der Brailleschrift, beispielsweise bei einer unerwarteten Sehverschlechterung oder bei plötzlicher Erblindung, was selten vorhersehbar ist. Für gewöhnlich handelt es sich um sehr intensive Fälle, insbesondere wenn der Sehverlust als Folge eines traumatischen Unfalls auftritt. Aus pädagogischer Sicht ist bei diesen Schülerinnen und Schülern Umsicht geboten. Neben der Brailleschrift müssen auch andere kompensatorische Fähigkeiten in kurzer Zeit erlernt werden (z. B. der Umgang mit assistiven Technologien, im Bereich Orientierung und Mobilität und lebenspraktischen Fähigkeiten usw.). Hinzu kommen häufig psychosoziale Faktoren, die in der Förderung berücksichtigt werden müssen. Solange noch keine Kompetenzen in der Brailleschrift vorhanden sind, muss zudem im Unterricht verstärkt mit auditiven Technologien gearbeitet werden, z. B. der Sprachausgabe, einem Audio-Stift oder mit Tonaufnahmen. Zeitgleich sollte eine möglichst intensive Punktschriftförderung einsetzen.

Eine weitere Form dualer Schriftnutzung, die inzwischen sehr selten geworden ist, stellt der Erwerb von Kompetenzen in Schwarzschrift auf Basis bereits vorhandener Brailleschriftkenntnisse dar. Bei dieser Variante nimmt die Schwarzschrift eine ergänzende Funktion ein. Bis in die 1970er Jahre war das kein ungewöhnlicher Lernweg. Die Punktschrift galt zu dieser Zeit als wichtiger Integrationsfaktor für den Arbeitsmarkt, weshalb sie für gewöhnlich auch bei Schülerinnen und Schülern mit hochgradiger Sehbehinderung zu Beginn des Schriftspracherwerbs genutzt wurde (Hudelmayer 1985, S. 129). Durch den technischen Fortschritt (z. B. Bildschirmlesegeräte und Vergrößerungssoftware) und das Aufkommen der Low-Vision-Bewegung haben sich jedoch die Grenzen der effektiven Schwarzschriftnutzung in den Folgejahren deutlich verschoben (Jennings 1999, S. 11). Das ermöglichte einigen Personen die Schwarzschrift nach erfolgten Brailleschriftspracherwerb zu erlernen. Heute ist dieser Lernweg sehr ungewöhnlich und selten. In einer Studie von Rogers (2007, 123 f.) lernten beispielsweise nur vier von 107 dual Schriftnutzenden zuerst die Brailleschrift und dann die Schwarzschrift.

2.3.6 Methodische Besonderheiten im Brailleschriftspracherwerb

Im Brailleschriftspracherwerb gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen nur Braille Lesenden und dual Schriftnutzenden (Swenson 2016, S. 266). Beide Gruppen müssen effektive Tastbewegungen erlernen, die genaue Buchstabenerkennung und das flüssige Lesen von Wörtern und größeren Texteinheiten. Unterschiede bestehen bei der Einführung der vergrößerten Braillezelle, dem Einsatz von vereinfachten Grafiken im Lernprozess, Markierung in Texten und beim Einüben von Taststrategien. Im Folgenden soll auf diese näher eingegangen werden.

Nach Lang (2011, S. 51, 2011, S. 32) ist bei dual Schriftnutzenden im Gegensatz zu nur Braille Lesenden der Einsatz vergrößerter Punktschrift sinnvoll, weil der Erwerb einer visuellen Repräsentation der räumlichen Position der Punkte in der Braillezelle den Lernprozess erleichtern kann. Ausgehend vom visuellen Erscheinungsbild können beispielsweise haptisch markante Merkmale von Braillebuchstaben thematisiert werden (Swenson 2016, S. 266).

Abbildung 2.10
figure 10

Vorlage Braillezelle für dual Schriftnutzende

Abbildung 2.10 zeigt ein Arbeitsblatt zur Einführung von Buchstaben bei dual Schriftnutzenden. Zunächst wird der Buchstabe handschriftlich in die Box auf der linken Seite geschrieben. Danach wird der Buchstabe in der Brailleschrift eingeführt, indem die entsprechenden Punkte auf der rechten Seite in der vergrößerten Braillezelle ausgemalt werden. Auf der Unterseite des Blattes befinden sich zudem sechs Kästchen, welche die Tasten der Punktschriftmaschine repräsentieren. Mit einem Buntstift können ebenfalls die Tasten markiert werden, die gemeinsam gedrückt werden müssen, damit der Buchstabe auf der Punktschriftmaschine entsteht. Im Anschluss an die Übung kann die Schülerin oder der Schüler dazu übergehen, den neuen Buchstaben an der Punktschriftmaschine zu üben. Dadurch lernt das Kind, dass ein Buchstabe sowohl optisch als auch taktil dargestellt werden kann. Dazu kann die Lehrperson hervorheben, dass Lesen und Schreiben in der Brailleschrift und Schwarzschrift zwei unterschiedliche Wege zum selben Ziel darstellen. Dies kann wiederum als Ausgangspunkt genutzt werden für wiederkehrende Gespräche über den effektiven Nutzen der Schwarzschrift oder Brailleschrift in Abhängigkeit von der jeweiligen Lese- und Schreibaufgabe.

Die Braille- und Schwarzschriftbuchstaben können aber auch mithilfe des Materials in Abbildung 2.11 eingeführt werden. Abgebildet ist eine Karteikarte, auf der mittig der Buchstabe in vergrößerter Schwarzschrift gedruckt ist. Daneben ist eine vergrößerte Braillezelle abgebildet, in der die Punkte 1, 2, 4 und 5 hervorgehoben sind. Im zentralen unteren Bereich der Karte befindet sich eine taktile Führungslinie und das Braillezeichen für den Buchstaben g in Originalgröße.

Abbildung 2.11
figure 11

Karteikarte mit Brailleschrift und Schwarzschrift

Eine weitere Besonderheit bei dual Schriftnutzenden besteht darin, dass bei ihnen vereinfachte Grafiken in Kombinationen mit Brailleschrift eingesetzt werden können (Swenson 2016, S. 269). Diese entfalten dabei die gleiche motivierende Wirkung wie bei Kindern ohne Sehbeeinträchtigung. Das Beispiel in Abbildung 2.12 zeigt ein SchiffFootnote 5 und darunter mehrere geprägte Vollzeichen, welche die Schiffsinsassen repräsentieren. Indem die Lehrperson das Kind auffordert, die Anzahl der Personen an Bord zu nennen und das Kind die Vollzeichen zählt, kann das Tastvermögen auf eine spielerische Art geschult werden.

Abbildung 2.12
figure 12

Grafiken und Brailleschrift kombinieren

Im Gegensatz zu nur Braille Lesenden können dual Schriftnutzende auch visuelle Markierungen in Texten vornehmen und wahrnehmen, was ein Vorteil beim produktiven Umgang mit Schrift sein kann. Die Abbildung 2.13 zeigt einen Text in Punktschrift, in dem Markierungen mithilfe von Klebepunkten gesetzt werden sollten. Der Schüler, der sowohl Brailleschrift als auch Schwarzschrift nutzte, entschied sich jedoch dafür, die Textstellen mit einem Filzstift zu unterstreichen.

Abbildung 2.13
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Visuelle Markierung in einem Brailleschrifttext

Für eine Kontroverse sorgt für gewöhnlich der Einsatz von Augenbinden bei dual Schriftnutzenden. In der Vergangenheit wurden diese eingesetzt, damit sich Lernende mit Sehvermögen besser auf das Tasten der Punkte konzentrieren können. Die meisten Expertinnen und Experten distanzieren sich jedoch deutlich von dieser Praxis, weil sie einen invasiven Eingriff darstellt und an Methoden der Sehschonung erinnert (Holbrook et al. 2017a, S. 415; Holbrook und Koenig 1992, S. 45; Lang 2011, S. 51). Etwas weniger übergriffig sind Sichtbarrieren oder Sonnenbrillen. Allerdings verhindern diese ebenfalls das Beobachten der für das Braille-Lesen wichtigen Handbewegungen. Als Alternative empfiehlt Swenson (2016, S. 267), die Brailleschrift auf dunkles Papier oder Papier mit Mustern zu drucken. Dadurch bleiben die Handbewegungen gut sichtbar und es ist keine Augenbinde oder Sichtschutz erforderlich.

In diesem Kontext muss darauf hingewiesen werden, dass der Versuch die Brailleschrift visuell zu lesen, häufig ein Ausdruck von Unsicherheit ist. Es handelt sich meistens um ein Übergangsverhalten, das bei Lernenden auftritt, die über noch wenig haptische Erfahrungen verfügen. Mit zunehmender Förderdauer sollte sich das Verhalten reduzieren. Zudem kann es hilfreich sein, die Schülerinnen und Schüler daran zu erinnern, dass die Schwarzschrift mit den Augen und die Punktschrift mit den Fingern gelesen wird. Falls sich auch nach längerer Förderung keine Verhaltensänderung zeigt, sollte eine erneute Überprüfung des Schriftmediums in Erwägung gezogen werden (z. B. mit einem Learning Media Assessment).

Das Sehvermögen lässt sich jedoch auch gewinnbringend in der Brailleförderung nutzen. Bei Personen mit funktionalem Sehvermögen können beispielsweise Tast- und Lesebewegungen auf Video aufgezeichnet und gemeinsam analysiert und verbessert werden (Swenson 2016, S. 272).

Neben den methodisch-didaktischen Besonderheiten im Schriftspracherwerb finden sich in der Fachliteratur noch weitere Hinweise, wie dual Schriftnutzende am besten gefördert werden sollten. Diese stehen im direkten Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb. Die nachfolgende Aufzählung fasst diese in Form von Empfehlungen zusammen:

  • Einbeziehen der Familie. Nach Rogers (2007, S. 125) ist bei dual Schriftnutzenden die Zusammenarbeit mit den Eltern von zentraler Bedeutung. Das beginnt bereits bei der Entscheidungsfindung und setzt sich in der Förderung fort. Mehrere Studien belegen zudem, dass Eltern mit Braillekenntnissen die Punktschrift seltener ablehnen und die Förderung häufiger aktiv unterstützen (Argyropoulos et al. 2008, S. 228; Kamei-Hannan und Sacks 2012, S. 222). Allerdings verfügen die wenigsten Eltern über Kompetenzen in der Punktschrift. Eine Möglichkeit dies zu ändern, sind Angebote wie Familienkurse und Workshops zur Brailleschrift (Lusk und Corn 2006a, S. 618).

  • Kontaktieren von Lesevorbildern. Vielen dual Schriftnutzenden fehlt es an Lesevorbildern, die zwei Schriftmedien nutzen. Es ist deshalb sinnvoll, den Kontakt und Austausch zwischen dual Schriftnutzenden zu fördern (Lang 2009, S. 151; Swenson 2016, S. 264).

  • Kooperieren mit anderen Lehr- und Fachpersonen im Team. Gemäß Rogers (2007, S. 130) ist die Zusammenarbeit im pädagogischen Team ein wichtiger Erfolgsfaktor in der Förderung dual Schriftnutzender. Nach Kamei-Hannan und Ricki (2015, S. 44) ist dabei entscheidend, dass alle Lehrpersonen und sonstigen Fachpersonen (z. B. aus den Bereichen Orientierung und Mobilität sowie lebenspraktischen Fähigkeiten) mit den Förderzielen vertraut sind und gemeinsam an der Erreichung der Ziele arbeiten.

  • Einbeziehen von assistiven Technologien. Von Lese- und Schreibwerkzeugen wie Schreibmaschinen und Braillezeilen geht in der Regel eine große Faszination und Motivation aus (Swenson 2016, S. 265; Lang 2011, S. 51). Gemäß Kamei-Hannan und Ricki (2015, S. VII) ist die Einführung von assistiven Technologien eine wichtige Komponente von jedem Brailleschriftspracherwerb. Studien belegen zudem, dass eine Kombination von Braille- und Hilfsmittelförderung sinnvoll ist (Kamei-Hannan et al. 2020, S. 89). Dies gilt auch für dual Schriftnutzende. Das verdeutlicht auch die Illustration in Abbildung 2.8, wonach viele assistive Technologien Werkzeuge darstellen, die den Lernenden neue Zugänge ermöglichen.

  • Formulieren von Erwartungen und Zielen. Nach Koenig (1992, S. 281) ist es hilfreich, wenn sich das pädagogische Team auf Minimalanforderungen verständigt, z. B. die Erwartung, dass alle Schülerinnen und Schüler unabhängig vom Lesemedium bis zum Abschluss der Schulzeit flüssig lesen sollten. Stanfa und Johnson (2015) vertreten dieselbe Position, wonach eine hohe Erwartungshaltung seitens der Lehrpersonen zu einem besseren Lernergebnis im Brailleschriftspracherwerb führt. Entscheidend ist dabei, dass neben Erwartungen auch konkrete Lernangebote gemacht werden. Aus den Erwartungen sollten zudem konkrete Ziele abgeleitet werden. Vik und Fellenius (2007, S. 554) empfehlen, diese getrennt für beide Schriftmedien aufzustellen und regelmäßig zu überprüfen.

  • Integrieren von Brailleschriftangeboten im Unterricht und Alltag. Damit die Vorteile der Punktschrift für die Lernenden erfahrbar werden, sollte diese schnellstmöglich nach Start des Erwerbsprozess in den Unterricht und den Alltag der Kinder und Jugendlichen integriert werden (Swenson 2016, S. 272). Dies kann durch Schlüsselwörter für jede Unterrichtsstunde, Braille Beschriftungen auf Materialien und kleine Notizen in der Punktschrift umgesetzt werden.

  • Erstellen von individualisierten Angeboten. Übereinstimmend berichten mehrere Autorinnen und Autoren, dass Motivation der Schlüssel zum Erfolg bei dual Schriftnutzenden ist (Herzberg et al. 2017, S. 50; Blankenship 2008, S. 207). Diese kann aufgebaut werden, indem die Lernangebote auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Schülerin oder des Schülers abgestimmt werden (Wormsley 2016, S. 2). Das trifft insbesondere auf dual Schriftnutzende zu, die mit der Brailleschrift erst im Verlauf der Schulzeit beginnen. Diese Gruppe benötigt altersangemessene Übungen und Texte, die in den meisten Fällen erst erstellt werden müssen (Lang 2011, S. 51). Nach Swenson (2016, S. 94) lohnt sich jedoch der Aufwand, weil individualisierte Materialien, die durch Lehrpersonen erstellt wurden, meistens sehr wirkungsvoll in die Förderung integriert werden können.

Eine wichtige Voraussetzung, damit die genannten Punkte in der Praxis umgesetzt werden können, bilden qualifizierte und motivierte Lehrpersonen und ausreichend zeitliche Ressourcen in der Förderung. Auf letzteres soll nachfolgend genauer eingegangen werden.

2.3.7 Zeitliche Ressourcen

Die größte Herausforderung in der Förderung dual Schriftnutzender sind die begrenzten zeitlichen Ressourcen (Rogers 2007, S. 128; Jennings 1999, S. 14; Fellenius 1996, S. 30; Lusk und Corn 2006b, S. 661). Bereits der Erwerb eines einzigen Schriftmediums ist zeitintensiv und erfordert eine systematische Einführung, tägliche Übung und ausgebildete Fachpersonen (Swenson 2016, S. 19). Dual Schriftnutzende benötigen dies sowohl in der Schwarzschrift als auch in der Brailleschrift, wodurch der Bedarf an Förderzeit und damit auch an sonderpädagogischer Unterstützung steigt.

Hinsichtlich der zeitlichen Ressourcen in einem dualen Schriftspracherwerb existierten mehrere Empfehlungen. Gemeinsam ist diesen, dass sie ausgehend von einem Brailleschriftspracherwerb den Bedarf an Förderzeit und sonderpädagogischer Unterstützung bei dual Schriftnutzenden höher schätzen (Koenig und Holbrook 2000, S. 689; Holbrook und Koenig 1992, S. 45).

Eine gute Orientierung liefern die Empfehlungen in Tabelle 2.5. Diese beruhen auf den Ergebnissen von zwei Studien aus Nordamerika (Koenig und Holbrook 2000; Corn und Koenig 2002). In der ersten Untersuchung wurde dazu eine Stichprobe bestehend aus 40 Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Brailleschrift gebildet, die mithilfe der Delphi-Methode befragt wurden. Der Name geht auf das Orakel von Delphi aus der griechischen Mythologie zurück. Dabei handelt es sich um eine systematische, mehrstufige Fragebogenerhebung, die schrittweise einen Konsens zwischen Expertinnen und Experten herstellt. In einer ersten Phase bekommen die Teilnehmenden einen Fragebogen zugeschickt, den sie schriftlich beantworten. In der sich anschließenden zweiten Runde werden die Antworten der gesamten Gruppe zusammengefasst und erneut an die Expertinnen und Experten geschickt mit der Bitte, diese zu kommentieren. Der Vorgang wiederholt sich mehrere Runden, bis ein zuvor festgelegter Grad an Übereinstimmung erreicht ist. Von zentraler Bedeutung bei der Methode ist die Auswahl der Expertinnen und Experten. In der Studie (Koenig und Holbrook 2000) setzte sich die Gruppe aus 30 Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen aus der Praxis mit mindestens 5 Jahren Berufserfahrung und 10 Personen mit einer Leitungsfunktion im Bereich der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik zusammen. Zusätzlich wurde bei der Auswahl der Personen auf ein ausgewogenes Verhältnis von Teilnehmenden aus dem inklusiven Bereich und der Blinden- und Sehbehindertenschule geachtet. Im Durchschnitt verfügten die Teilnehmenden über 21 Jahre Erfahrung im Unterrichten von Braille Lesenden (Koenig und Holbrook 2000, S. 680).

Für die zweite Studie (Corn und Koenig 2002) wurden 40 Expertinnen und Experten aus dem Bereich Low Vision befragt. Dabei verwendeten Corn und Koenig (2002) die gleiche Methodik wie zuvor Koenig und Holbrook (2000). Im Durchschnitt hatten die Teilnehmenden in der zweiten Untersuchung 19 Jahre Erfahrung im Unterrichten von Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung (Corn und Koenig 2002, S. 307). Während sich der Großteil der Fragen in der ersten und zweiten Delphi-Studie unterschieden, beantworteten die Expertinnen und Experten in beiden Studien die gleichen Fragen zum Bereich duale Schriftnutzung. Folglich basieren die nachfolgenden Empfehlungen auf dem Votum von insgesamt 80 ausgewählten Expertinnen und Experten aus zwei Studien. Diese machten im Fragebogen Angaben zur Kontinuität der Förderung, der Förderzeit pro Tag, der Zeitspanne und Dauer der Förderung. Die Ergebnisse aus beiden Studien sind in Tabelle 2.5 zusammengefasst. Die Prozentzahlen in den Spalten der Tabelle geben dabei den jeweiligen Grad an Zustimmung für beide Gruppen wieder. In den meisten Fällen waren sich alle Expertinnen und Experten zu 100 % einig. Der niedrigste Zustimmungswert lag bei 89 %. Demzufolge konnte in allen Feldern ein breiter Konsens erzielt werden.

Tabelle 2.5 Zusammenfassung der Ergebnisse der beiden Delphi-Studien

Aus den beiden Studien geht hervor, dass dual Schriftnutzende, die Brailleschrift und Schwarzschrift parallel lernen, am besten bereits vor dem Eintritt in die Schule damit beginnen sollten. Überdies sollte die Förderung täglich 1–2h umfassen und in dieser Intensität bis in die dritte Klasse aufrechterhalten werden (Koenig und Holbrook 2000, S. 686; Corn und Koenig 2002, S. 317).

Schülerinnen und Schüler, die bereits über Schwarzschriftkenntnisse verfügen, jedoch die Brailleschrift als Erweiterung oder Ersatz benötigen, sollten täglich 1–2h über den Zeitraum von mindestens einem Jahr gefördert werden. Dazu machen die Expertinnen und Experten darauf aufmerksam, dass der Erwerb der Brailleschrift zu jedem Zeitpunkt in der Schullaufbahn möglich sein sollte (Koenig und Holbrook 2000, S. 686; Corn und Koenig 2002, S. 317).

Schlussendlich muss sichergestellt sein, dass die Förderung durch eine qualifizierte Blinden- und Sehbehindertenpädagogin oder -pädagogen durchgeführt wird (Holbrook et al. 2017a, S. 380). Dies ist insbesondere im Bereich der Brailleschrift notwendig (Lusk und Corn 2006b, S. 661) und stellt eine wichtige Grundvoraussetzung für eine gelingende Förderung dar (Lang et al. 2021, S. 12).

Zeitliche Ressourcen schaffen. Die Veröffentlichung der beiden Delphi-Studien (Corn und Koenig 2002; Koenig und Holbrook 2000) führten in den USA und Kanada dazu, dass die Deputate zur sonderpädagogischen Förderung von Kindern mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung in einigen Beratungs- und Förderzentren erhöht wurden. Das zeigt, dass die zeitlichen Ressourcen durchaus verhandelbar sind. Vor diesem Hintergrund können die Empfehlungen der Expertinnen und Experten aus beiden Studien als Ideal angesehen werden. Fakt ist jedoch, dass in vielen Fällen die angestrebten zeitlichen Ressourcen neben den allgemeinen schulischen Anforderungen nicht realisierbar sind, weshalb an dieser Stelle die Frage diskutiert werden soll, wie sich die Förderzeit für dual Schriftnutzende erhöhen lässt. Im Folgenden werden mehrere Möglichkeiten aufgezeigt:

  • Intensivierung der Förderung. Besteht keine Möglichkeit, die vorhandene Förderzeit kurz- oder langfristig zu erhöhen, dann sollte die verfügbare Unterrichtszeit möglichst effektiv zur Lese- und Schreibförderung genutzt werden. Das ist möglich durch eine Ausweitung der integrierten Förderung. Dies setzt jedoch voraus, dass sich das gesamte pädagogische Team in einer Klassenkonferenz bereit erklärt, kleine Lese- und Schreibaufgaben in der Brailleschrift in den Fachunterricht zu integrieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, in der Braille Leseförderung verstärkt evidenzbasierte Methoden zu setzen (siehe hierzu Abschnitt 2.4) und so die knappe Lernzeit bestmöglich zu nutzen. Zu guter Letzt kann versucht werden, durch eine Erhöhung der personellen Mittel die verfügbare Förderzeit zu maximieren. Bei Schülerinnen und Schülern, die inklusiv begleitet werden, kann beispielsweise eine weitere Sonderpädagogin oder -pädagoge für einen begrenzten Zeitraum hinzugezogen werden.

  • Freie Lernzeiten nutzen. Um die Förderzeit zu maximieren, sollte keine Unterrichtszeit ungenutzt bleiben. Es empfiehlt sich deshalb, den Stundenplan der Schülerin oder des Schülers einer genauen Analyse zu unterziehen und nach ungenutzten Zeitfenstern zu suchen. Liegt beispielsweise eine Befreiung für ein bestimmtes Unterrichtsfach vor, dann kann die Lücke im Stundenplan sinnvoll zur Lese- und Schreibförderung genutzt werden. Darüber hinaus sind inzwischen in vielen Stundenplänen freie Lernzeiten vorgesehen, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben selbst wählen können. Diese Einheiten bieten die Chance, Angebote zur Brailleschrift oder Schwarzschrift in verfügbare Strukturen zu integrieren, z. B. durch Lesetexte in einer Lerntheke. Darüber hinaus können Absprachen für Randstunden wie die Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung getroffen werden, um die Lese- und Schreibzeiten zu erhöhen.

  • Tätigkeiten ersetzen. Der Erwerb eines zweiten Lese- und Schreibmediums stellt einen erheblichen Mehraufwand dar, der im allgemeinen Curriculum nicht vorgesehen ist. Das pädagogische Team sollte deshalb um Ausgleich bemüht sein und die Förderung nicht ausschließlich in die Freizeit des Kindes oder Jugendlichen verlagern. Aus diesem Grund kann auch das Ersetzen von Tätigkeiten wie Hausaufgaben, ganzer Unterrichtsfächer oder Projekttage zugunsten der Lese- und Schreibförderung in Erwägung gezogen werden. Problematisch erscheint dabei jedoch, dass durch die verpasste Unterrichtszeit neue Fördergebiete entstehen können. Zudem muss bedacht werden, dass ein Ersetzen des Lieblingsfaches oder schulischen Events als Bestrafung aufgefasst werden kann. Aus den genannten Gründen muss das Ersetzen von Fachunterricht und Schulveranstaltungen sorgfältig abgewogen werden. Entschließt sich das pädagogische Team dennoch für diese Option, dann sollten nur Fächer ersetzt werden, die nicht spiralcurricular aufgebaut sind, wodurch ein Wiedereinstieg leichter möglich ist. An vielen Schulen sind zudem Wahlpflichtfächer fest im Stundenplan integriert. Diese lassen sich ebenfalls leichter ersetzen, weil sie meistens kein fester Bestandteil des Fächerkanons sind. Zudem sollten Ersetzungen im Stundenplan nicht ohne Absprache und Einverständnis der Eltern getroffen werden. Einige Bundesländer stellen dafür Bildungsvereinbarungen zur Verfügung, in denen die Absprachen schriftlich festgehalten werden können.

  • Zusätzliche Lernzeit. Die Übungszeit kann auch außerhalb des regulären Unterrichts erhöht werden, was jedoch mit einer Mehrbelastung für alle Beteiligten, insbesondere für die Schülerin oder den Schüler, einhergeht. Typische Beispiele für diese Variante sind zusätzliche Förderstunden am Nachmittag, feste Leseangebote im Elternhaus (oder dem Internat), Intensivkurse am Wochenende oder Ferienkurse. Als letzte Option kann auch die Wiederholung einer Klassenstufe und damit die Verlängerung der Schulzeit beschlossen werden. Folgt man D’Andrea (1997, S. 135) dann sollte dies vor allem in Fällen in Erwägung gezogen werden, in denen ernsthaft daran gezweifelt wird, dass die Schülerin oder der Schüler die Schule ohne funktionale Lese- und Schreibkompetenzen verlässt.

Die kurze Gegenüberstellung verdeutlicht, dass es einige Möglichkeiten gibt, um die Lern- und Übungszeiten in einem dualen Schriftspracherwerb zu erhöhen. Häufig muss jedoch zwischen den Zielen des Fachunterrichts und der Leseförderung abgewogen werden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass sowohl die aktuellen als auch die zukünftigen schulischen, beruflichen und alltäglichen Anforderungen mitgedacht werden. Dazu können sich neue Fördermöglichkeiten auftun, wenn allenfalls vorhandene Automatismen und bestehende Organisationsstrukturen reflektiert werden und auf die Bedürfnisse von dual Schriftnutzenden angepasst werden (Lang et al. 2018, S. 83).

2.4 Schriftsprachliche Kompetenzen und Literacy

Der Begriff Literacy ist schwierig zu definieren, weil es keinen vergleichbaren deutschen Fachbegriff gibt, der die Kernbedeutung gleichermaßen erfasst (Bredel et al. 2011, 206 f.). Das European Literacy Policy Network (ELINET) definiert den Begriff wie folgt:

„Literacy is fundamental to human development. It enables people to live full and meaningful lives, and to contribute towards the enrichment of the communities in which we live. By literacy we mean the ability to read and write at a level whereby individuals can effectively understand and use written communication in all media (print or electronic), including digital literacy.“ (ELINET 2016, S. 3)

Aus der Definition geht deutlich hervor, dass der Begriff umfassender ist als beispielsweise der Terminus Lesekompetenz (Schründer-Lenzen 2013, S. 124). Neben der Lese- und Schreibkompetenz umfasst er auch eine normativ-partizipatorische Komponente. Dazu werden die kommunikativen und sozialen Aspekte von schriftlicher Kommunikation betont. Gemäß dem European Literacy Policy Network ist Literacy zudem sowohl ein Grundrecht als auch ein wichtiges Bildungsziel (ELINET 2016, S. 5).

Für Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit sind die postulierten schriftsprachlichen Kompetenzen im Literacy-Konzept gleichfalls bedeutsam (Holbrook, D’Andrea, Wormsley 2017). Sie entwickeln schriftsprachliche Kompetenzen in einer ähnlichen Art und Weise wie Kinder und Jugendliche ohne Sehbeeinträchtigung. Trent und Truan beschreiben es passend: „Learning to read using braille is both similar to and different from learning to read using print“ (1997, S. 494).

Im Folgenden soll es um diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen gehen. Dafür werden Lese-, Rechtschreib- und Hörkompetenzen definiert und an geeigneter Stelle auf die Besonderheiten von Braille Nutzenden und dual Schriftnutzenden hingewiesen. Die vorgestellten Kompetenzen bilden zugleich die theoretische Grundlage für die in den Kapiteln 4 und 5 thematisierten schriftsprachlichen Kompetenzen.

2.4.1 Leseflüssigkeit

Die meisten Expertinnen und Experten definieren Leseflüssigkeit anhand der drei Dimensionen: (1) Genauigkeit, (2) Automatisierung und (3) Prosodie (Vacca et al. 2015, S. 222; Savaiano und Hatton 2013, S. 93; Rasinski 2004, S. 46; Rosebrock et al. 2017, S. 15). Gute Leserinnen und Leser lesen möglichst genau und machen kaum Lesefehler. Sie lesen mit ausreichender Geschwindigkeit, um den Text kognitiv zu verarbeiten, um lokale sowie globale Kohärenz herzustellen und schließlich lesen sie mit Betonung und Ausdruck. Leseflüssigkeit ist damit deutlich mehr als das korrekte und automatisierte Dekodieren. In den Augen vieler Fachpersonen ist flüssiges Lesen eine wichtige Voraussetzung für das Leseverstehen (Rosebrock et al. 2017, S. 7; Vacca et al. 2015, S. 223). Sie gilt als eine sehr konsistente Teilkompetenz der Lesekompetenz, weshalb häufig ausgehend von ihr generalisierend auf andere schriftsprachliche Kompetenzen geschlossen wird (Emerson et al. 2009, S. 621).

Eine wichtige Unterscheidung im Kontext von Leseflüssigkeit ist die Abgrenzung zum traditionellen Rund-Um-Lesen im Klassenzimmer. Lautes Lesen wird leider noch häufig mit dieser Methode in Verbindung gebracht. In der Leseforschung gilt Rund-Um-Lesen jedoch als weitestgehend ineffektiv zur Förderung der Lesekompetenz (Rosebrock et al. 2017, S. 76).

Die Leseflüssigkeit nimmt seit jeher eine wichtige Stellung in der angloamerikanischen Forschung ein (Rosebrock et al. 2017, S. 15). Die Kompetenz spielt jedoch auch in der deutschsprachigen Leseforschung eine wichtige Rolle. In dem Lesekompetenzmodell von Rosebrock und Nix wird sie auf der hierarchieniedrigen Prozessebene verortet (Rosebrock et al. 2017, S. 8).

Die umfangreichsten Normen zur Leseflüssigkeit stammen von Hasbrouck und Tindal (2017), die seit Beginn der 1990er Jahre Daten zur Leseflüssigkeit aus unterschiedlichen Lesetestungen gesammelt haben. In der aktuellen Ausgabe basieren die Normtabellen auf über 6.8 Millionen Testergebnissen von Lesenden aus Nordamerika (Hasbrouck und Tindal 2017, S. 9). Dabei sind beeindruckend viele Lesungen einbezogen. In Tabelle 2.6 werden die Ergebnisse für die Klassenstufen 1–6 für jedes Vierteljahr berichtet. Die Perzentile präzisieren die Angaben. Dazu wurde die letzte Spalte um die durchschnittliche Steigerung der Leseflüssigkeit pro Woche ergänzt. Der Tabelle kann entnommen werden, dass die Leseflüssigkeit in den ersten Schuljahren kontinuierlich steigt, wobei die größten Zuwächse bereits in den ersten beiden Schuljahren zu verzeichnen sind.

Tabelle 2.6 Normwerte zur Leseflüssigkeit nach Hasbrouck und Tindal 2017

Aufgrund sprachlicher Unterschiede können die Angaben von Hasbrouck und Tindal (2017) im Deutschen nicht die gleiche Gültigkeit beanspruchen. Allerdings ist es schwer, vergleichbare Daten für den deutschen Sprachraum zu finden. Eine viel zitierte Untersuchung ist in diesem Zusammenhang die Wiener Längsschnittstudie zur Entwicklung von Lese- und Schreibschwierigkeiten mit knapp 800 Schülerinnen und Schülern, die allerdings bereits 1993 veröffentlicht wurde (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 1993). Ein Vergleich der Werte aus beiden Untersuchungen zeigt, dass sich diese nur geringfügig unterscheiden (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 1993, S. 51; Hasbrouck und Tindal 2017, S. 9). D. h., mit Einschränkungen können Werte von Hasbrouck und Tindal durchaus Orientierung bieten.

Lesegeschwindigkeit und Leseflüssigkeit. Die Lesegeschwindigkeit wird manchmal auch als Teilfertigkeit in der Definition von Leseflüssigkeit aufgeführt (Krug und Nix 2017, S. 59; Rosebrock et al. 2017, S. 17). Das ist sinnvoll, denn flüssiges Lesen bedeutet in den meisten Fällen auch Lesen in einer angemessenen Geschwindigkeit. Allerdings führt der Umstand, dass auch in der Fachliteratur häufig nicht klar zwischen Lesegeschwindigkeit und Leseflüssigkeit unterschieden wird, öfters zu Verwirrung. Um dieser entgegenzuwirken, soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, das Verhältnis von Leseflüssigkeit und Lesegeschwindigkeit genauer zu beschreiben.

In dieser Arbeit wird Lesegeschwindigkeit in Anlehnung an Rosebrock et al. (2017, S. 17) als Teilkomponente und gleichzeitig Voraussetzung für Leseflüssigkeit verstanden. Eine hohe Lesegeschwindigkeit ist die Folge einer genauen Worterfassung und Automatisierung des Leseprozesses. Je besser die beiden Komponenten ausgeprägt sind, desto schneller und flüssiger kann auch gelesen werden (Rosebrock et al. 2017, S. 18). Die Lesegeschwindigkeit bezieht sich zumeist auf das leise Lesen. Gemessen wird sie normalerweise in Wörtern pro Minute, während bei der Leseflüssigkeit nur die korrekten Wörter pro Minute erfasst werden, weshalb für gewöhnlich laut gelesen wird. Die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit einer erwachsenen Person liegt mehreren Autorinnen und Autoren zufolge bei 250–300 Wörtern pro Minute im leisen Lesen (Legge 2007, S. 30; Rosebrock et al. 2017, S. 55). Demgegenüber liegen die Werte zur Leseflüssigkeit meistens deutlich darunter, weil es sich dabei um lautes Lesen handelt (vgl. hierzu Tabelle 2.6). Dieses ist bei schnellen Lesenden für gewöhnlich langsamer, weil die Artikulation die Lesegeschwindigkeit beim lauten Lesen bremst (Legge 2007, 16 ff.).

Die Angaben zur durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von erwachsenen Braille Lesenden variieren wiederum sehr stark. Es finden sich Durchschnittsangaben zwischen 60–120 Wörtern pro Minute (Bola et al. 2016, S. 8; Hudelmayer 1985, S. 132; Mangold und Mangold 1989, S. 294). Diese große Varianz kann ein Hinweis auf Unterschiede in den Stichproben, bei den verwendeten Messmethoden oder der gelesenen Punktschriftsysteme sein.

Unabhängig vom Lesemedium muss noch angemerkt werden, dass die Lesegeschwindigkeit von der Leseanforderung und der Textschwierigkeit abhängt (Rosebrock et al. 2017, S. 18).

Leseflüssigkeit bei Braille Lesenden. Für Braille Lesende existieren bislang noch keine umfassenden Normwerte zur Leseflüssigkeit. Anhaltspunkte liefern jedoch mehrere Studien, wonach Braille Lesende deutlich langsamer lesen als gleichaltrige Leserinnen und Leser ohne Sehbeeinträchtigung (Gompel et al. 2002, S. 439; Trent und Truan 1997, S. 494). Kamei-Hannan und Ricki (2015, S. 15) sowie Edmonds und Pring (2006, S. 337) schätzen, dass die Entwicklung in der Leseflüssigkeit bei Braille Lesenden um etwa zwei Jahre verzögert ist.

Die Unterschiede zwischen Braille Lesenden und Personen ohne Sehbeeinträchtigung gehen auch aus der Studie Zukunft der Brailleschrift hervor (Hofer et al. 2019b). In der Untersuchung wurde die Leseflüssigkeit von 119 nur Braille Lesenden in unterschiedlichen Klassenstufen und bei jungen Erwachsenen mit dem Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest aus dem SLRT-II erhoben. Dafür wurden die Wortlisten der Form A in Brailleschrift übertragen. Die Teilnehmenden lasen genau eine Minute. Im Anschluss wurden die richtigen Wörter pro Minute gezählt. Aufgrund der Normierung des Verfahrens konnten die Werte der Braille Lesenden aus der Studie mit denen der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung verglichen werden. Letztere finden sich im Manual des Testverfahrens, das von den Autorinnen herausgegeben wurde (Moll und Landerl 2014). Bei der Interpretation der Werte muss jedoch bedacht werden, dass Wortlisten in der Regel in allen Klassenstufen deutlich langsamer gelesen werden als zusammenhängende Texte (Rosebrock et al. 2017, S. 57).

Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung sind in Abbildung 2.14 dargestellt. Die Werte der Personen ohne Sehbeeinträchtigung werden durch den blauen Graphen illustriert und basieren auf den Normdaten (Form A) von 1159 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 1–6 und jungen Erwachsenen (> 6. Klasse) (Moll und Landerl 2014, 65 ff.). Der rote Graph illustriert wiederum die Ergebnisse von 119 nur Braille Lesenden der Klassenstufe 4–6 sowie jungen Erwachsenen aus der Studie Zukunft der Brailleschrift, die den SLRT-II (Form A) in Punktschrift gelesen haben (Hofer et al. 2019b, S. 10). Da in der Studie das Mindestalter bei 11 Jahren lag, kann die Entwicklung in der Braille Leseflüssigkeit für die ersten Schuljahre in Abbildung 2.14 nur geschätzt werden. Insgesamt verdeutlicht die Gegenüberstellung, dass beide Gruppen ihre Leseflüssigkeit steigern können, sich das Lerntempo jedoch deutlich unterscheidet. Während die Unterschiede zu Beginn des Schriftspracherwerbs noch gering ausfallen, werden diese mit jeder Klassenstufe größer. Die Schülerinnen und Schüler ohne Sehbeeinträchtigung steigern ihre Leseflüssigkeit in der Schwarzschrift demzufolge deutlich schneller. Bei den jungen Erwachsenen lasen die Personen ohne Sehbeeinträchtigung etwa dreimal so schnell wie die nur Braille Lesenden (Hofer et al. 2019b, S. 10). Diese Erkenntnis steht im Einklang zur Lehrmeinung, wonach die Brailleschrift ca. 2–3 mal langsamer gelesen wird als die Schwarzschrift (Lang 2003, S. 151; Hudelmayer 1985, S. 131; Lang und Thiele 2020, S. 45; Stanfa und Johnson 2015).

Der Grund für die großen Unterschiede sehen die meisten Expertinnen und Experten in den Wahrnehmungsvoraussetzungen. Legge (2007, S. 34) konnte beispielsweise in seinen Experimenten zum Lesen nachweisen, dass die Wahrnehmungsspanne einen entscheidenden Einfluss auf die Geschwindigkeit beim Lesen hat. Diese ist beim visuellen Lesen deutlich größer als beim haptischen Lesen, selbst wenn beidhändig gelesen wird. Hinzu kommt, dass die haptische Wahrnehmung generell mehr Zeit beansprucht als die visuelle Wahrnehmung. Erschwerend wirkt überdies, dass die Tastwahrnehmung für den Brailleschriftspracherwerb speziell geschult werden muss und viele Kinder mit Sehbeeinträchtigung weniger Möglichkeiten haben, im vorschulischen Bereich wichtige literarische Erfahrungen zu machen (Lang 2011, S. 29).

Abbildung 2.14
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(Anmerkung: Die Werte zeigen die richtig gelesen Wörter pro Minute im Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest des SLRT-II (Form-A). Dabei wurden Wortlisten laut gelesen)

Entwicklung der Leseflüssigkeit in Braille- und Schwarzschrift.

Eine spannende Untersuchung, in der die Braille Leseflüssigkeit ebenfalls thematisiert wurde, ist die ABC Braille Studie (Emerson et al. 2009). In der Längsschnittstudie wurden 20 KinderFootnote 6 aus den USA und Kanada über mehrere Jahre im Schriftspracherwerb begleitet und ihre Lese- und Schreibkompetenzen erhoben. Der Fokus der Studie lag somit auf den ersten Schuljahren. Im Bereich Leseflüssigkeit wurden die Unterschiede zwischen den Braille Lesenden und den Peers ohne Sehbeeinträchtigung mit steigendem Alter und Klassenstufe immer deutlicher (Emerson et al. 2009, S. 621). Die Studie komplementiert damit die Ergebnisse der Studie Zukunft der Brailleschrift (Hofer et al. 2019b).

Die Autorinnen und Autoren der ABC Braille Studie und der Zukunft der Brailleschrift Studie fordern daher übereinstimmend, Braille Lesende möglichst frühzeitig und kontinuierlich zu fördern und ein besonderes Augenmerk auf die Leseflüssigkeit zu legen (Emerson et al. 2009, S. 622; Hofer et al. 2019b, S. 23).

Leseflüssigkeit bei dual Schriftnutzenden. Es erscheint naheliegend, dass viele dual Schriftnutzende im Bereich Leseflüssigkeit vor eine große Herausforderung gestellt werden. Die zuvor vorgestellten Normwerte und Studienergebnisse (vgl. hierzu Tabelle 2.6 und Abbildung 2.14) verdeutlichen, dass der Aufbau von Leseflüssigkeit für alle Schülerinnen und Schüler ein zeit- und übungsintensiver Prozess ist, der für gewöhnlich mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Dual Schriftnutzende müssen zudem Leseflüssigkeit in zwei, statt wie üblich in einem Lesemedium aufbauen. Dabei spielt der Erwerbszeitpunkt eine entscheidende Rolle. Schülerinnen und Schüler, die erst im Verlauf der Schulzeit die Brailleschrift erlernen (nicht-parallel), stehen vor der Herausforderung, dass sie praktisch im Schriftspracherwerb um Jahre zurückversetzt werden. Sie müssen Dekodierfähigkeit zu einer Zeit aufbauen, in der die Mitschülerinnen und Mitschüler bereits flüssig lesen können (Trent und Truan 1997, S. 499). Demgegenüber scheinen dual Schriftnutzende, die das zweite Lese- und Schreibmedium möglichst früh oder parallel erwerben, Vorteile zu haben, weil ihnen mehr Zeit zum Aufbau der Leseflüssigkeit in beiden Schriftmedien zur Verfügung steht. Generell gilt deshalb: Je früher der duale Schriftspracherwerb begonnen wird, desto besser sind die Erfolgsaussichten (Winter et al. 2019, S. 103).

Nichtsdestotrotz bleibt es eine Herausforderung, in beiden Schriftmedien Leseflüssigkeit aufzubauen. Das geht ebenfalls aus den beiden Studien von Lusk und Corn (2006a, 2006b) sowie von Herzberg et al. (2017) hervor.

In der Studie von Lusk und Corn (2006b, S. 656) wurden 96 Lehrpersonen aus den USA und Kanada mithilfe eines Fragebogens über 108 Kinder und Jugendliche im Alter von 3–21 Jahre mit dualer Schriftnutzung befragt. Innerhalb der Studie machten die Lehrpersonen Angaben zu den schriftsprachlichen Kompetenzen von 76 Lernenden hinsichtlich der Schwarzschrift und zu 63 Lernenden in Bezug zur Brailleschrift. Dabei fokussierten sie hauptsächlich auf das Merkmal Leseflüssigkeit. Hinsichtlich der Schwarzschrift gaben die Lehrpersonen an, dass 26 (34 %) von 76 deutlich unter der Norm in der Schwarzschrift lesen würden. In der Brailleschrift waren es 36 (57 %) von 63 (Lusk und Corn 2006b, 657 f.). Die Autorinnen der Studie merken zudem an, dass 15 dual Schriftnutzende sowohl in der Brailleschrift als auch in der Schwarzschrift die Normen nicht erreichten. Bei der Interpretation der Daten muss berücksichtigt werden, dass die Angaben auf der Einschätzung der Lehrpersonen beruhen und nicht auf Testungen. Dennoch lässt sich aus den Ergebnissen ablesen, dass viele Lehrpersonen Schwierigkeiten in den schriftsprachlichen Kompetenzen dual Schriftnutzender feststellen. Die Probleme scheinen zudem öfter in der Brailleschrift aufzutreten als in der Schwarzschrift. Als besonders prekär muss darüber hinaus die Situation von den 15 Schülerinnen und Schülern bewertet werden, die in beiden Schriftmedien über keine funktionalen Lese- und Schreibkompetenzen verfügten.

Die zweite Studie, in der Aussagen zur Leseflüssigkeit von dual Schriftnutzenden gemacht wurden, ist die bereits erwähnte von Herzberg et al. (2017). Diese ähnelt im Studiendesign der von Lusk und Corn (2006a, 2006b). In der Untersuchung wurden 84 Lehrpersonen aus den USA und Kanada mithilfe eines Fragebogens über ihre Schülerinnen und Schüler mit dualer Schriftnutzung befragt. Dabei machten die Lehrpersonen Angaben zu 84 Lernenden zwischen 6–18 Jahren, die sowohl Brailleschrift als auch Schwarzschrift nutzten. Zu den Schwarzschriftkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler äußerten sich 77 Lehrpersonen, wonach 36 (47 %) der dual Schriftnutzenden die Schwarzschrift deutlich unter der Norm lasen. Hinsichtlich der Brailleschrift äußerten sich 72 Lehrpersonen, denen zufolge 53 (73.6 %) der dual Schriftnutzenden die Brailleschrift unter der Norm lasen (Herzberg et al. 2017, S. 54). Im direkten Vergleich mit der Studie von Corn und Lusk (2006b, 2006a) traten damit die Schwierigkeiten in der Leseflüssigkeit von dual Schriftnutzenden bei Herzberg et al. (2017) noch deutlicher hervor.

Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass in beiden Studien offenbleibt, an welchen Normwerten sich die Lehrpersonen bei der Beurteilung der Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler orientiert haben. Dazu kann auf Basis der Einschätzung der Lehrpersonen zwar vermutet werden, dass viele dual Schriftnutzende in der Leseflüssigkeit Schwierigkeiten haben, das genaue Ausmaß der Differenz lässt sich jedoch ohne Testdaten zur Leseflüssigkeit nicht näher beschreiben. Eine Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, Daten zur Leseflüssigkeit von dual Schriftnutzenden zu gewinnen. Auf Basis dieser sollen die vermuteten Schwierigkeiten im Bereich Leseflüssigkeit genauer beschrieben werden.

Abschließend sollen drei Möglichkeiten vorgestellt werden, wie die Leseflüssigkeit effektiv und evidenzbasiert im Unterricht bei Schülerinnen und Schülern mit und ohne Sehbeeinträchtigung gefördert werden kann.

Tipps zur Förderung der Leseflüssigkeit

  1. 1)

    Wiederholendes Lautlesen [repeated reading] ist eine spezielle Methode, die von Samuels (1979) entwickelt wurde, zur Verbesserung der Dekodierfähigkeit auf Wort- und Satzebene (Rosebrock et al. 2017, S. 27). Dabei werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, eine kurze Textpassage (max. 100 Wörter) laut vorzulesen. Der Leseprozess wird dabei so oft wiederholt, bis eine zuvor vereinbarte Geschwindigkeit erreicht ist. Es gibt unterschiedliche Varianten des wiederholenden Lautlesens, die jedoch alle auf dem Grundprinzip der Wiederholung basieren. Mehrere Studien haben die Wirksamkeit der Methode empirisch für Lernende mit und ohne Sehbeeinträchtigung nachgewiesen (NRP 2000, 3/3; Savaiano und Hatton 2013, S. 93).

  2. 2)

    Begleitetes Lautlesen [paired-reading or partner reading] ist eine Form des chorischen Lautlesens. Die Methode setzt auf die positive Wirkung eines kompetenten Lesevorbildes, das die angemessene Lesegeschwindigkeit und Betonung modelliert. Durch aktives Imitieren soll die oder der Lernende das Leseverhalten internalisieren. Das Lesevorbild (= Tutor) und Lernender (= Tutand) bilden somit ein Tandem, bei dem Lesefehler behutsam angemerkt und verbessert werden. Damit handelt es sich um eine kollaborative Methode, die darauf abzielt, die Leseflüssigkeit auf Satzebene zu verbessern. Neben der ursprünglichen Variante, bei der beide Personen praktisch simultan den gleichen Text halblaut lesen, existieren inzwischen auch andere Formen, bei denen zeitlich verzögert gelesen wird (z. B. Echolesen) oder bei denen das Lesemodell an bestimmten Stellen aussetzt (z. B. Lückenlesen). Die Wirksamkeit dieser Methoden gilt als erwiesen und wird deshalb von vielen Expertinnen und Experten empfohlen (Shanahan 2005, S. 23; Vacca et al. 2015, S. 250; Rosebrock et al. 2017, S. 36).

  3. 3)

    Lautleseprotokolle. Die Lehrperson erstellt eine Textkopie des Lesetextes und protokolliert während dem Lesen Auffälligkeiten zu den Einzeldimensionen der Leseflüssigkeit. Durch Unterstreichungen können Lesefehler oder eine ungenaue Aussprache markiert werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Lesezeit zu stoppen und jede Leseminute mit einem senkrechten Strich zu markieren. Lautleseprotokolle eignen sich für die Verlaufsdiagnostik, indem sie Stärken und Schwächen im Leseprozess sichtbar machen, wodurch wichtige Schlüsse für die Förderpraxis gewonnen werden können (Krug und Nix 2017, 86 f.).

2.4.2 Leseausdauer

Die Kompetenz, das Lesen über einen längeren Zeitraum selbstständig durchzuhalten, wird als Leseausdauer bezeichnet (Hiebert 2015a, S. 10). Ausdauerndes Lesen ist meistens leises Lesen. Nach Rasinski (2015, S. iii) ist die Leseausdauer eine grundlegende Voraussetzung für höhere Lesekompetenzen. Dabei spielen kognitive Prozesse der Selbstüberwachung (= Monitoring) und der Aufrechterhaltung der Motivation über die gesamte Lektüre eine wichtige Rolle. Für die Bildung globaler Kohärenz und damit von Textverstehen ist die Leseausdauer eine wichtige Voraussetzung. Trotz ihrer unbestrittenen Wichtigkeit und ihrer hohen Alltagsbedeutung gehört die Leseausdauer zu den Teilkompetenzen der Lesekompetenz, die bislang kaum erforscht sind (Rasinski 2015, S. iii), weshalb Hiebert diese als „forgotten reading proficiency“ (2015b, S. 16) bezeichnet.

Die Leseausdauer hängt stark von der Lesesozialisation und den Lesegewohnheiten ab. Dabei gilt, dass Gewohnheiten sich nur langsam aufbauen und über einen langen Zeitraum formen und stark von den verfügbaren Angeboten abhängen. Im Kontext von Leseausdauer spielen deshalb Vielleseverfahren nach wie vor eine wichtige Rolle. Hinsichtlich ihrer Effektivität beim Aufbau der Leseflüssigkeit werden diese heute zwar kritisch gesehen (Rosebrock et al. 2017, S. 21), jedoch bauen sich Lesegewohnheiten nicht ausschließlich durch lautes Lesen auf, sondern erfordern gleichfalls Phasen des leisen Viellesens. Wichtig erscheint in diesem Kontext eine ausgewogene Förderung, die nicht nur auf einen Aspekt der Lesekompetenz fokussiert, sondern das gesamte Konstrukt im Blick behält.

Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Sehbeeinträchtigung ist die Leseausdauer häufig begrenzt, weil die Kontrolle der okulären Muskeln im Auge eine erhöhte Leseanstrengung erfordert, was schneller zu Ermüdungserscheinungen führen kann (Legge 2007, S. 41). Dazu ist der Lesekomfort unter der Bedingung einer Sehbeeinträchtigung häufig stark eingeschränkt. In der Folge ist ausdauerndes Lesen für viele Lernende mit Sehbeeinträchtigung nur periodisch und mit Lesepausen möglich.

Im Kontext dualer Schriftnutzung kommt der Leseausdauer eine bedeutende Rolle zu. Viele Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung schaffen es zwar, über einen kurzen Zeitraum eine hohe Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift abzurufen, können diese jedoch nicht über mehrere Minuten aufrechterhalten. Übereinstimmend berichten Herzberg et al. (2017, S. 52) sowie Lusk und Corn (2006a, S. 615), dass Schwierigkeiten in der Leseausdauer häufig den Erwerb eines zweiten Schriftmediums bedingen (siehe hierzu auch Abschnitt 2.3.3). Beim Aufbau der Leseausdauer im Zweitmedium muss die Lernausgangslage berücksichtigt werden. Lernende mit einem positiven lesebezogenen Selbstkonzept (Krug und Nix 2017, S. 25) und einer hohen Leseausdauer im Erstmedium bringen gute Voraussetzungen mit, diese auch im Zweitmedium aufzubauen. Schülerinnen und Schüler, auf die dies nicht zutrifft, benötigen hingegen mehr Unterstützungsangebote. Die Leseausdauer sollte bei ihnen explizit gefördert werden. Das erfordert motivierende, individuelle Leseangebote über einen langen Zeitraum. Im Folgenden werden mehrere Beispiele zur Förderung der Leseausdauer vorgestellt.

Tipps zur Förderung der Leseausdauer

  1. 1)

    Textauswahl und Textanpassung. Zur Steigerung der Leseausdauer sollten motivierende Texte zusammen mit den Leserinnen und Lesern ausgewählt werden, welche diese nicht überfordern. Eine Hilfestellung bietet dabei der Lesbarkeitsindex-Rechner von Lenhard und Lenhard (2011) zur Einschätzung der Textschwierigkeit, der kostenlos im Internet abgerufen werden kann. Insbesondere bei Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung müssen zudem die Voraussetzungen sichergestellt werden, die ein komfortables Lesen ohne übermäßige Anstrengung ermöglichen. Dazu gehören die Textanpassung (z. B. individuelle Vergrößerung, Schrifttyp, Buchstabenlaufweite), die Verfügbarkeit von optischen und elektronischen Hilfsmitteln zum Lesen (z. B. Lupen, Bildschirmlesegerät oder Vergrößerungssoftware) und weitere Umweltanpassungen (z. B. ein höhenverstellbares Lesepult, Fixationshilfen beim Lesen, eine dimmbare Leselampe).

  2. 2)

    Steigerung der Lesezeiten. Eine feste Lesezeit im Deutschunterricht kann den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, ihre Leseausdauer zu verbessern. Ausgehend von 5 Minuten kann die Lesezeit schrittweise auf 10 Minuten, 15 Minuten, 20 Minuten, gesteigert werden, bis eine zuvor vereinbarte Lesezeit erreicht ist. Als zusätzliche Motivation kann der Zuwachs in der Leseausdauer auch über eine taktile oder visuelle Abbildung veranschaulicht werden.

  3. 3)

    Selbstinstruktionen. Das Lesen eines längeren Textes erfordert, dass die Lernenden ihre Aufmerksamkeit über mehrere Minuten dem Text widmen und genügend Motivation aufbringen, den Leseprozess selbstgesteuert aufrechtzuerhalten. Das Erarbeiten von Selbstinstruktionen kann diesen Prozess unterstützen. Dafür können gemeinsam in der Klasse Leseregeln erarbeitet werden, z. B. „Ich lasse mich beim Lesen nicht ablenken.“; „Ich starte direkt mit dem Lesen“, „Ich markiere Wörter, die ich nicht kenne.“, „Ich lese immer ganze Textabschnitte und breche nicht vorher ab:“. Die Selbstinstruktionen können in Braille oder Schwarzschrift als Erinnerung auf Lesezeichen gedruckt werden. Langfristig sollten die Lernenden die Instruktionen internalisieren und ihren Leseprozess selbstständig überwachen.

2.4.3 Rechtschreibung

Die Orthografie oder Rechtschreibung bezeichnet die korrekte, d. h. normgerechte Schreibung. Rechtschreibregeln helfen Schreibenden bei Unsicherheiten und in Zweifelsfällen. Die korrekte Anwendung der Regeln wird als Rechtschreibkompetenz bezeichnet. Den Schülerinnen und Schülern das normgerechte Schreiben beizubringen, ist ein wichtiges Ziel des Deutschunterrichts (EDK 2016, S. 62; KMK 2004b, S. 10). Da es sich bei der deutschen Schrift nicht um eine reine Alphabetschrift (= lautbasierte Schrift) handelt, sondern um eine Mischform, ist die Rechtschreibung sehr umfassend (Eisenberg 2017, S. 8). Um Rechtschreibkompetenz aufzubauen, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Schülerinnen und Schüler schriftsprachliche Prinzipien erwerben, die sich aus den Strukturen der Schrift ableiten lassen (Bredel et al. 2011, S. 49). Die meisten Autorinnen und Autoren unterscheiden zwischen phonographischem, silbischem, morphologischem und syntaktischem Prinzip (Eisenberg 2017, S. 4; Müller 2019, S. 38; Bredel et al. 2011, S. 49). Wichtig ist dabei, dass die Prinzipien integrativ zusammenwirken. In anderen Worten: Keines der vier Prinzipien kann als dominierend angesehen werden (Müller 2019, S. 38). Nachfolgend werden sie kurz skizziert:

  • Das phonographische Prinzip. Beschreibt das Grundprinzip aller Alphabetschriften und bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Lauten und Graphemen (Bredel et al. 2011, S. 50). Das Prinzip besagt, dass Laute, also Phoneme, einem bestimmten Graphem zugeordnet werden können und umgekehrt (GPK = Graphem-Phonem-Korrespondenz). Eine wichtige Voraussetzung ist in diesem Zusammenhang die phonologische Bewusstheit. Darunter versteht man die Fähigkeit, lautliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Wörtern und Wortteilen zu erkennen (Niedermann und Sassenroth 2014, S. 16). Die Anwendung des phonographischen Prinzips führt zu einer lautbasierten Schreibweise. Dadurch können bereits erste Wörter rechtschreibrichtig geschrieben werden (z. B. man, bunt, kalt, Oma, usw.). Allerdings lassen sich nicht alle Wörter lautbasiert korrekt verschriftlichen, weshalb weitere Prinzipien notwendig sind, um rechtschreibrichtig zu schreiben.

  • Das silbische Prinzip. Silben sind eine phonologische Einheit und haben ein lautliches Profil, weshalb einige Autorinnen und Autoren das silbische Prinzip auch unter das phonographische Prinzips subsumieren (Müller 2019, S. 47). Aus didaktischen Gründen kann es jedoch sinnvoll sein, beide voneinander zu trennen. Mithilfe des silbischen Prinzips kann die Konsonantenverdopplung an Silbengelenken (z. B. in Mit|te, Klas|se, ren|nen) erklärt werden, die Schreibung des silbeninitialen-h (z. B. nehmen, fühlen, Ruhe), die Verdopplung von Vokalen (z. B. Meer, See, leer) und die ie-Schreibung (z. B. fliegen, Lied oder Riese). Gemäß Müller (2019, S. 46) wirken zudem silbisch-bedingte Schreibungen unterstützend für das Lesen.

  • Das morphologische Prinzip. Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten in Wörtern (Eisenberg 2017, S. 27). Diese bestehen normalerweise aus einem Wortstamm und zusätzlich Präfixen und Suffixen. Die Morphemkonstanz wird im Deutschen sehr strikt durchgehalten (Müller 2019, S. 48). Die morphematische Segmentierung, die nicht der silbischen entsprechen muss, kann an folgenden Beispielen nachvollzogen werden: spiel-en, spiel-st, spiel-end, spiel-er-isch. Das konstante Beibehalten des Wortstammes verdeutlicht den semantischen Zusammenhang der Wortfamilie. Nach Eisenberg (2017, S. 30) liegt die Hauptwirkung des morphologischen Prinzips beim Lesen. „Denn eine morphologische Einheit wird umso leichter erkannt, je einheitlicher ihre Form ist“ (Eisenberg 2017, S. 30). Darüber hinaus können über das morphematische Prinzip Schreibungen erklärt werden, die nicht hörbar sind, z. B. die Endung en im Wort gehen [ge:n]Footnote 7. Geschrieben wird der Wortstamm geh plus die Infinitivendung en. Das liegt daran, dass im Deutschen normalerweise alle morphematischen Informationen verschriftlicht werden (Bredel et al. 2011, S. 51).

  • Das syntaktische Prinzip. Dieses bezieht sich auf die wortübergreifende Ebene und erklärt die Getrennt-/Zusammenschreibung, Groß-/Kleinschreibung und Zeichensetzung (Müller 2019, S. 50; Bredel et al. 2011, S. 51). Über das syntaktische Prinzip lässt sich beispielsweise die Großschreibung von Sprechen in dem nachfolgenden Satz erklären „Das Sprechen fiel ihm schwer“. In dem Beispiel handelt es sich um ein substantiviertes Verb, das durch die Stellung im Satz erkannt werden kann. Ähnlich verhält es sich bei den Regeln zu Satzzeichen, die sich aus der Syntax abgeleitet werden können (z. B. bei der Abgrenzung von Haupt- und Nebensatz). Demgegenüber spielen bei der Getrennt-/Zusammenschreibung Wortgruppen und Morpheme eine wichtige Rolle (Eisenberg 2017, S. 31). Zwei Wortstämme werden zusammengeschrieben (z. B. Autobahn), während Bestandteile in Wortgruppen getrennt werden (z. B. Auto fahren).

Die Darstellung der vier Grundprinzipien verdeutlicht, dass die deutsche Orthografie grundsätzlich auf systematischen Regeln beruht. Diese gelten unabhängig vom Schriftmedium (Brailleschrift oder Schwarzschrift), weshalb sich auch die didaktischen Schlussfolgerungen und der Rechtschreibunterricht für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Sehbeeinträchtigung kaum unterscheiden. Auf einige wenige Besonderheiten im Erwerb der Rechtschreibung soll nachfolgend dennoch aufmerksam gemacht werden.

Rechtschreibung von Braille Lesenden. Die Frage, ob sich Braille Nutzende in der Rechtschreibung von Lernenden ohne Sehbeeinträchtigung unterscheiden, wurde in der Vergangenheit teils kontrovers diskutiert. Dabei wurde gemutmaßt, dass die Kürzungsregeln in der Voll- und Kurzschrift eine zusätzliche Ebene der Komplexität darstellen, aufgrund derer vielen Braille Lesenden der Zugang zur Rechtschreibung erschwert werde (Lorenz und Lorenz 2005, S. 21). Lange Zeit hielt sich deshalb das Gerücht, dass Braille Lesende schlechter in der Rechtschreibung sind. In der Folge vertraten viele Pädagoginnen und Pädagogen die Ansicht, dass ein kürzungsfreies Punktschriftsystem (z. B. Computerbraille) sich positiv auf die Rechtschreibkompetenz auswirkt (VBS 2001a, S. 242).

Die jüngeren Forschungsergebnisse zeichnen jedoch ein anderes Bild. In der bereits erwähnten ABC Braille Studie (Emerson et al. 2009) übertraf die große Mehrheit der Braille nutzenden Grundschulkinder die Klassennorm im Bereich Rechtschreibung. Dabei zeigte sich, dass „Students who were introduced to more contractions early tended to do better on vocabulary and spelling“ (Emerson et al. 2009, S. 618). Dies deutet darauf hin, dass Braille-Lesende in der Rechtschreibung nicht schlechter sind. Dazu scheinen Kürzungen keinen negativen Effekt auf die Rechtschreibungen zu haben.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt die Studie Zukunft der Brailleschrift (Hofer et al. 2019b). Unabhängig vom gelernten Brailleschriftsystem schnitten die Punktschrift Nutzerinnen und Nutzer im Bereich Rechtschreibung nicht signifikant schlechter ab als die Vergleichsnorm ohne Sehbeeinträchtigung (Lang et al. 2021, S. 10). Teilnehmende, die bei Leseaufgaben die Kurzschrift bevorzugten, erwiesen sich zudem als ausgesprochen rechtschreibsicher.

Eine mögliche Erklärung für diesen Befund kann in der sprachwissenschaftlichen Fundierung der deutschen Voll- und Kurzschrift gesehen werden (Ernst 1982, S. 5). Ersichtlich wird diese bei einer genauen Betrachtung der Kürzungsregeln. Diese führen, zumindest in der Vollschrift, nicht zwangsläufig zu einer Steigerung der Komplexität. Das zeigt sich gut am Beispiel der Lautgruppen. Im Deutschen werden einige Laute durch mehrere Grapheme wiedergegeben, z. B. [ʃ] für /sch/. In der Vollschrift entspricht ein einziges Braillezeichen (5) dem [ʃ] Laut. Für Kinder im Schriftspracherwerb, die erst lernen müssen, den Lauten Buchstaben zuzuordnen, kann die Vollschrift deshalb sogar einfacher sein. Denkbar ist deshalb, dass durch die Verwendung der Lautgruppenkürzungen das phonographische Prinzip gestärkt wird.

In der Kurzschrift, die als logische Erweiterung der Vollschrift verstanden werden kann, werden die Lautgruppenkürzungen noch deutlich erweitert. Hinzu kommen Kürzungen, die das Erkennen von Silbenfugen, Wortstämmen, Wortfugen sowie Prä- und Suffixen erfordern (BSKDL 2018a). In der Anwendung dieser Regeln kommen ebenfalls Einsichten in das silbische und morphologische Prinzip zum Tragen. Einzig das syntaktische Prinzip spielt in der Kurzschrift eine untergeordnete Rolle. Da die meisten Kurzschrift Nutzenden jedoch mehr als ein Punktschriftsystem nutzen und häufig am Computer schreiben (Hofer et al. 2016, S. 111), kann man davon ausgehen, dass sie wortübergreifende Strategien auf anderem Weg erwerben.

Rechtschreibung von dual Schriftnutzenden. Bislang gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Auswirkungen eines dualen Schriftspracherwerbs auf die Rechtschreibung. Einzig Holbrook und Koenig (2010, S. 465) machen darauf aufmerksam, dass bestehende Schwierigkeiten in schriftsprachlichen Kompetenzen auch nach der Einführung eines zweiten Lese- und Schreibmediums fortbestehen und nicht verschwinden. Sie empfehlen deshalb vor der Einführung der Brailleschrift, den Stand der schriftsprachlichen Kompetenzen, und damit auch der Rechtschreibung, zu erheben. Teil der nachfolgenden Untersuchung wird es deshalb sein, Erkenntnisse über die Rechtschreibkompetenzen von dual Schriftnutzenden zu sammeln. Da sich die Rechtschreibregeln unabhängig vom Schriftmedium (Brailleschrift oder Schwarzschrift) gleich darstellen und Studien keine schlechteren Rechtschreibleistungen bei Braille Lesenden nachweisen konnten (Lang et al. 2021, S. 11; Emerson et al. 2009, S. 618), wird vermutet, dass der Erwerb eines zweiten Schriftmediums sich allenfalls indirekt auf die Rechtschreibung auswirkt.

Abschließend werden allgemeine didaktische Hinweise zur Förderung der Rechtschreibkompetenz vorgestellt, die sich auch bei Schülerinnen und Schülern mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung umsetzen lassen.

Tipps zur Förderung der Rechtschreibung

  1. (1)

    Rechtschreibkompetenzen diagnostizieren und unterrichten. In der Förderung von Schreibkompetenzen erweisen sich vor allem Konzepte als wirksam, die förderdiagnostisch und individualisiert vorgehen (Siekmann 2015, S. 199). Am Anfang der Rechtschreibförderung sollte deshalb eine Analyse des Rechtschreibkönnens stehen. Verfahren wie die Hamburger Schreibprobe (May et al. 2016a) ermöglichen einen differenzierten Blick auf die individuelle Rechtschreibkompetenz und liefern förderdiagnostisch relevante Informationen. Auf Basis der Testergebnisse wird ersichtlich, ob die Schülerin oder der Schüler in einem oder mehreren Bereichen der Rechtschreibung gefördert werden sollte. Offenbaren sich beispielsweise Lücken bei der Anwendung silbischer, morphologischer oder syntaktischer Prinzipien, können aus den Arbeitsmaterialien zur Rechtschreibung (Müller 2019) konkrete Übungen ausgewählt werden. Diese zielen auf eine Verbesserung des Sprachbewusstseins durch entdeckendes Lernen im Dialog (Müller 2019, S. 92). Die Wirksamkeit wurde mithilfe einer Interventionsstudie für Lernende der 5. Klasse nachgewiesen (Bangel und Müller 2018, S. 371). Nach Möglichkeit sollten die Materialien dem Lern- und Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler angepasst werden.

  2. (2)

    Rechtschreibgespräche. Viele Schülerinnen und Schüler haben Schwierigkeiten, eigene Rechtschreibfehler zu entdecken. Das von Schröder (2014) entwickelte Rechtschreibgespräch kann dabei helfen, dass Lernende in einem kooperativen Austausch Schreibungen untersuchen. Die Methode gliedert sich in drei Schritte: (1) Problemidentifikation, (2) Suche nach Lösungswegen und (3) begründete Entscheidung für eine Lösung (Schröder 2014, S. 24). Jede Schülerin bzw. jeder Schüler bekommt die Verantwortung für einen Bereich übertragen. Als zusätzliche Strukturierungshilfe bieten sich Leitfragen an (z. B. Bei welchen Wörtern bist du dir nicht sicher? Was kannst du tun, um herauszufinden, wie das Wort geschrieben wird? Für welche Schreibung entscheiden wir uns und warum?). Anhand der Auswahl der Analysewörter kann die Lehrperson den Lernprozess steuern und den Fokus auf bestimmte Rechtschreibphänomene legen (z. B. Doppelkonsonanten oder Getrennt- und Zusammenschreibung). Bevor die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt die drei Phasen durchlaufen, sollte das gesamte Vorgehen im Unterricht eingeübt werden. Entscheidend ist zudem, dass den Lernenden ggf. bei der Lösungssuche in der zweiten Phase weitere Hilfen angeboten werden (z. B. auf Karteikarten). Von der Methode profitieren vor allem Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten in der Rechtschreibung, weil durch die Gespräche Einsichten in die Systematik der deutschen Rechtschreibung gewonnen werden können. Darüber hinaus werden die Lernenden zu einer strukturierten Analyse von Fehlschreibung und an eine systematische Problemlösung herangeführt (Schröder 2014, S. 25).

2.4.4 Leseverstehen

Einfach ausgedrückt umfasst Lesen zwei Prozesse: Erstens Dekodieren und zweitens Verstehen (Bertschi-Kaufmann und Graber 2019, S. 12; Hogan et al. 2014). Letzteres kann definiert werden als ein aktiver, dynamischer Prozess der Sinnkonstruktion. Dieser beinhaltet die Interpretation der Textinformation, die Verknüpfung mit Vorwissen und die Organisation neuer Wissensbestände (Shanahan 2005, S. 28).

Leseverstehen ist auf sprachlicher und kognitiver Ebene voraussetzungsreich. Erst wenn Lernende die Schriftzeichen korrekt dekodieren können, d. h. den richtigen Lauten zuordnen können, kann das Geschriebene auch verstanden werden. Am Anfang des Schriftspracherwerbs kostet dieser Prozess für gewöhnlich viel kognitive Kapazität, die in Folge nicht für die Sinnkonstruktion zur Verfügung steht (Gompel et al. 2004, S. 87). Je langsamer gelesen wird, desto schwieriger ist es zudem, die Textinformation im Arbeitsgedächtnis zu behalten (Bredel et al. 2011, S. 154). Erst wenn der Leseprozess schnell, einfach und ohne bewusste Anstrengung vollzogen wird, kann die oder der Lesende seine volle Aufmerksamkeit dem Textverstehen zuwenden (Shanahan 2005, S. 29; Krug und Nix 2017). Ein gewisses Mindestmaß an Leseflüssigkeit gilt deshalb als Voraussetzung für das Leseverstehen (Rosebrock et al. 2017, S. 7). Als Faustregel gilt eine Leseflüssigkeit von 100 Wörtern pro Minute bei Personen ohne Sehbeeinträchtigung (Rosebrock et al. 2017, S. 62; Krug und Nix 2017; Vacca et al. 2015, S. 223). Rosebrock et al. (2017, S. 62) sprechen in diesem Zusammenhang vom Unabhängigkeitsniveau, ab dem normalerweise die Dekodierfähigkeit ausreichend vorhanden ist. Dazu sollte die Lesefehlerrate 5 % nicht überschreiten, weil mit der Fehlerrate auch die Wahrscheinlichkeit für Einbußen beim Textverstehen steigt (Hiebert 2015b, S. 20).

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen Lesefertigkeiten und Lesestrategien zu unterscheiden. Während es im Bereich Leseflüssigkeit um den Aufbau einer schnellen, automatisierten, unterbewussten Fertigkeit geht, ist Leseverstehen ein intentional gesteuerter Prozess unter Anwendung von Strategien zur Steuerung der Aufmerksamkeit. Der Gebrauch von Strategien führt dabei für gewöhnlich dazu, dass der Leseprozess verlangsamt wird. Die Leserin oder der Leser nimmt eine reflexive Haltung ein und steuert in Abhängigkeit vom Leseanlass den Leseprozess (Shanahan 2005, S. 29). In der Folge ist Leseverstehen deutlich stärker von kognitiven Fähigkeiten bestimmt als andere Teilaspekte der Lesekompetenz. Dieser Sachverhalt erschwert eine genaue Messung, allerdings ist das Leseverstehen dadurch auch deutlich weniger abhängig von visuellen Faktoren (Legge 2007, S. 37).

Aus diesem Grund schlussfolgern einige Expertinnen und Experten, dass unter der Voraussetzung von Sehbeeinträchtigung oder Blindheit zwar die Leseflüssigkeit eingeschränkt ist, jedoch nicht das Leseverstehen (Kamei-Hannan et al. 2020, S. 98; Emerson et al. 2009, S. 621). Belege für diese Annahme liefern mehrere Studien.

In einer niederländischen Untersuchung aus dem Jahr 2002 erforschten Gompel et al. (2002, S. 436) die Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Sehbeeinträchtigung. Die Stichprobe umfasste insgesamt 404 Lernende mit Sehbeeinträchtigung (ohne zusätzliche Beeinträchtigungen) der Klassenstufen 1–6, die mit einer Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung verglichen wurde. Den standardisierten Test zum Leseverstehen absolvierten allerdings nur 260 Teilnehmende. Die Gegenüberstellung mit der Normierungsstichprobe offenbarte nur geringfügige Unterschiede im Leseverstehen, weshalb die Autorinnen und Autoren schlussfolgerten, dass sich eine Sehbeeinträchtigung allenfalls gering auf das Leseverstehen auswirkt (Gompel et al. 2002, S. 444).

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Edmonds und Pring (2006) in einer experimentellen Studie zum Lese- und Hörverstehen. In der Untersuchung nahmen 17 Lernende mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung teil, ebenso wie 17 Schülerinnen und Schüler ohne Sehbeeinträchtigung. Die Spanne im Alter reichte von 7–12 Jahren. In einem ersten Experiment wurde den Teilnehmenden ein Text zum Lesen gegeben. Im zweiten Experiment wurde der Text mithilfe einer Audioaufnahme präsentiert. Im Anschluss an das Lesen bzw. Hören wurden in beiden Experimenten den Studienteilnehmenden mündlich einfache und schwere Fragen gestellt und ihre Antworten protokolliert. Die Gegenüberstellung im ersten Experiment zum Leseverstehen ergab nur geringfügige Unterschiede im Verständnis (Edmonds und Pring 2006, S. 347). Demzufolge bestätigt die Studie das Ergebnis von Gompel et al. (2002).

Eine weitere Untersuchung, in der das Leseverstehen erhoben wurde, ist die Studie Zukunft der Brailleschrift (Hofer et al. 2019b, S. 13). Im zweiten Teil der mehrstufigen Untersuchung wurde unter anderem der Zusammenhang zwischen Leseflüssigkeit und Leseverstehen bei 118 nur Braille Lesenden ohne zusätzliche Beeinträchtigungen im Alter zwischen 12 und 22 erforscht. Dabei zeigte sich, dass in der Brailleschrift verstehendes Lesen ohne Einbußen auch bei einer Geschwindigkeit deutlich unter 100 Wörtern pro Minute möglich ist. Die Forschenden gehen deshalb von einer wahrnehmungsbedingten Verschiebung des „Unabhängigkeitsniveaus“ (Rosebrock et al. 2017, S. 62) in der Brailleschrift aus und vermuten dieses zwischen 30–40 Wörtern pro Minute in der Brailleschrift (Hofer et al. 2019b, S. 14).

Trotz der geringen Unterschiede im Leseverstehen gibt es einige Besonderheiten, die speziell bei der Förderung des Leseverstehens von Lernenden mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung beachtet werden sollten. Normalerweise wird dieses durch die Einführung von Strategien gefördert, z. B. das Verschaffen eines Textüberblicks, Aktivierung von Vorwissen, mehrmaliges Lesen, das Markieren und Zusammenfassen von Textteilen, die Artikulation von Fragen sowie die Organisation von Wissen (Shanahan 2005, S. 29). Viele Methoden lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Lernende mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit übertragen. Beispielsweise ist der Textüberblick erschwert, sobald Lesende eine Vergrößerung benötigen. Das Gleiche gilt für Braille Lesende, denen bei elektronischen Dokumenten auf der Braillezeile häufig nur ein Textfenster von 40 Zeichen zur Verfügung steht. Dazu erfordert die Anwendung vieler Lesestrategien eine hohe Leseflüssigkeit, die viele Lernende mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit jedoch nicht haben (vgl. hierzu 2.4.1). Überdies sind Textmarkierungen und Notizen unter der Bedingung einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit deutlich schwerer im Text umzusetzen. Lehrpersonen sollten deshalb sehr genau prüfen, welche Lesestrategie sich für ihre Schülerinnen und Schüler am besten eignen und ggf. Adaptionen vornehmen. Dazu empfiehlt es sich, mehr als eine Lesestrategie einzuführen und unterschiedliche Textsorten in der Förderung zu berücksichtigen (Shanahan 2005, S. 32).

Eine Methode, die weitestgehend ohne Adaption angewendet werden kann und sich in mehreren Studien als wirksam erwiesen hat, ist das reziproke Lesen (Vacca et al. 2015, S. 279; NRP 2000, S. 46). Diese gilt als besonders effektiv, weil sie gleich mehrere Aspekte zur Verbesserung des Leseverstehens miteinander kombiniert (Shanahan 2005, S. 32). Im Folgenden wird diese kurz vorgestellt.

Tipps zur Förderung des Leseverstehens

Beim reziproken Lesen [engl. reciprocal teaching] handelt es sich um eine kooperative Lernform, bei der die Lehrperson sukzessive Verantwortung an die Lernenden übertragen (Vacca et al. 2015, S. 297; Palinscar und Brown 1984). In den vergangenen Jahren haben sich verschiedenen Varianten der Methode entwickelt. Gemeinsam sind diesen die vier Grundelemente:

  1. (1)

    Aufstellen von Vorhersagen über den Textinhalt

  2. (2)

    Formulierung von Hypothesen und Fragen

  3. (3)

    Zusammenfassung von Kernbotschaften und

  4. (4)

    Klärung von schwierigen Wörtern

Vor der Einführung in die Methode ist es sinnvoll, die vier Bereiche zunächst einzeln zu thematisieren und mit den Schülerinnen und Schülern einzuüben. Dazu kann die Lehrperson die vier Bereiche beispielsweise durch lautes Denken demonstrieren und modellieren. Des Weiteren sollte der Ausgangstext vor dem Lesen in mehrere Abschnitte unterteilt werden.

Zu Beginn teilt die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen ein. Im Idealfall besteht jede Gruppe aus vier Personen, sodass jedes Gruppenmitglied eine andere Aufgabe im Leseprozess übernehmen kann. Die Rollen leiten sich dabei aus den vier Bereichen ab (s. o.) und können auf Karteikarten protokolliert werden. Nach erfolgter Zuteilung beginnt der Leseprozess. Bei der ersten Erprobung bietet es sich an, die Gruppen nur einzelne Abschnitte lesen zu lassen. Danach sollen die Schülerinnen und Schüler den Textabschnitt besprechen. Je nach Rolle sollten alle Lernenden dabei etwas beitragen können, z. B. Vorhersagen über den weiteren Verlauf der Geschichte, Fragen zum Text, die Kernidee des Absatzes und eine Liste mit schwierigen Wörtern, die direkt in der Gruppe geklärt werden kann. Bei Schwierigkeiten kann die Lehrperson eine Gruppe bei der erfolgreichen Anwendung der Strategien unterstützen. Nach einem Abschnitt können die Lernenden in den Kleingruppen ihre übernommenen Rollen auf den Karteikarten behalten oder wechseln. Durch den stark kommunikativen und kooperativen Charakter der Methoden werden neben dem Leseverstehen auch soziale Kompetenzen gefördert. Die Methode gilt jedoch als voraussetzungsreich und Bedarf einer schrittweisen Einführung.

2.4.5 Hörkompetenzen

Hörkompetenzen werden häufig als selbstverständlich vorausgesetzt, dabei spielen sie eine wichtige Rolle für alle Schülerinnen und Schüler. In den deutschen Bildungsstandards für den Fachbereich Deutsch sind Hörkompetenzen für alle Schularten unter dem Begriffspaar Sprechen und Zuhören verankert, jedoch nehmen sie bislang nur eine Nebenrolle in der Diskussion um die Bildungsstandards ein (KMK 2004b, S. 8, 2004a, S. 10, 2003, S. 10, 2012, S. 15). In der Schweiz wird Hörkompetenzen eine größere Bedeutung beigemessen. Im gemeinsamen Lehrplan für die Deutschschweiz, dem Lehrplan 21, stehen diese auf derselben Stufe wie beispielsweise Lesen und Schreiben. Dazu wurden Mindeststandards festgelegt, die im Bereich Hören in der Schulzeit erreicht werden sollen (EDK 2016, S. 70–74).

Als unbestritten gilt, dass Hörkompetenzen eine wichtige Rolle im Kontext Schule darstellen (Thompson et al. 2004, S. 231). Sie sind wichtig beim Spracherwerb, der Begriffsbildung, im Schriftspracherwerb (z. B. bei der phonologischen Bewusstheit), im Fremdsprachenunterricht, im Musikunterricht und in der Kommunikation im Klassenzimmer. Die Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen und um außerschulische Bereiche erweitern. Allerdings verdeutlicht bereits der kurze Überblick die Wichtigkeit.

Für Kinder und Jugendliche mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit sind Hörkompetenzen zudem besonders wichtig, weil sie eine kompensatorische Funktion einnehmen, z. B. im Bereich Orientierung und Mobilität, in der nonverbalen Kommunikation (z. B. Stimme und Tonlage erkennen) oder beim Zugang zu Textinformationen (z. B. mittels Sprachausgabe) (Herrlich 2012, S. 157; Tuncer und Altunay 2006, S. 353). In der Folge wird oftmals angenommen, dass Personen mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung bessere Hörkompetenzen zeigen müssten, wofür es nach Herrlich (2012, S. 165) jedoch kaum wissenschaftliche Belege gibt. Auf die besondere Rolle von Hörkompetenzen bei Lernenden mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit macht gleichfalls Barclay (2012) in ihrem Buch „Learning to Listen – Listening to Learn“ aufmerksam. Der Titel verweist zudem auf die doppelte Funktion des Hörens, das einerseits gelernt werden muss und anderseits lernen ermöglicht.

Obwohl Hörkompetenzen für ausnahmslos alle Schülerinnen und Schüler wichtig sind, gehören sie im Bildungswesen immer noch zu den „vernachlässigten Kompetenzen“ (Schilcher 2020, S. 6). Einen Grund dafür sehen Thompson et al. (2004, S. 230) in der fehlenden Unterscheidung zwischen einerseits „Hören“ und andererseits „Zuhören“. Für eine bessere Unterscheidung werden beide Begriffe nachfolgend definiert:

  • Hören [engl. hearing] ist ein Überbegriff, der von den meisten Autorinnen und Autoren als passiver (bottom-up) Prozess beschrieben wird, bei dem akustische Reize auditiv wahrgenommen und verarbeitet werden. Dieser Prozess verläuft größtenteils automatisiert und erfordert keine kognitive Steuerung. Bei Kindern ohne Hörbeeinträchtigung wird diese Fähigkeit normalerweise vorausgesetzt (Schilcher 2020, S. 7; Thompson et al. 2004, S. 230; Barclay und Staples 2012, S. 4).

  • Zuhören [engl. listening] ist demgegenüber ein vielschichtiger und komplexer kognitiver Prozess (Behrens und Krelle 2014, S. 86), der aktiv und intentional gesteuert wird (top-down). Für ein verbessertes Hörverstehen werden Informationen selektiert, organisiert und in vorhandene Wissensbestände eingeordnet (Barclay 2012, S. 115; Imhof 2010, S. 18; Thompson et al. 2004, S. 231).

Wenn im Kontext von Schule von Hörkompetenzen gesprochen wird, geht es meistens um Zuhörkompetenzen. Bereits aus der Definition geht der enge Zusammenhang mit dem Hörverstehen hervor, weshalb dieses nachfolgend beschrieben werden soll.

Hörverstehen. Im engeren Sinn wird darunter die Kompetenz verstanden, einen vorgelesenen Text zu verstehen (Hogan et al. 2014; Kim und Pilcher 2016). Die Definition von Kim und Pilcher (2016) umfasst zudem das Verständnis von gesprochener Sprache, z. B. in Gesprächen oder Diskussionen.

Einigkeit besteht unter allen Forschenden, dass Hörverstehen hauptsächlich auf kognitiven und sprachlichen Voraussetzungen basiert (Kim und Pilcher 2016; Hogan et al. 2014). Eine zentrale Rolle scheint dabei die Aufmerksamkeit (bei einigen Autorinnen und Autoren auch Konzentration genannt) zu spielen (Behrens und Krelle 2014, S. 90; Thompson et al. 2004, S. 235). Darüber hinaus beeinflussen körperlich-neurologische, kommunikative und umweltbedingte Faktoren das Hörverstehen. Aus einer Synthese der Fachliteratur wurde Abbildung 2.15 erstellt. Diese illustriert und präzisiert die genannten Einflussfaktoren. Gleichzeitig kann die Übersicht dabei helfen, Interventionen zur Förderung des Hörverstehens zu planen.

Abbildung 2.15
figure 15

Einflussfaktoren auf das Hörverstehen

Die Abbildung verdeutlicht, dass es auf theoretischer Ebene viele Überschneidungen zwischen Hör- und Leseverstehen gibt. Diese wird auch von den meisten Autorinnen und Autoren hervorgehoben (Barclay 2012, S. 112; Kim und Pilcher 2016; Edmonds und Pring 2006, S. 338). Ein Konsens besteht zudem darin, dass die Erforschung des Hörverstehens sowohl bei Personen mit und ohne Sehbeeinträchtigung ein Desiderat darstellt (Hogan et al. 2014; Kim und Pilcher 2016; Behrens und Krelle 2014, S. 99).

Eine der wenigen Studien, die sich der Thematik annimmt und das Hörverstehen von Lernenden mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit mit dem von Schülerinnen und Schüler ohne Beeinträchtigung des Sehens vergleicht, ist die bereits erwähnte Studie von Edmonds und Pring (2006) (siehe hierzu 2.4.4). Die Forschenden untersuchten in der Studie sowohl das Leseverstehen als auch das Hörverstehen. Im Teil zum Hörverstehen zeigte sich, dass Teilnehmende mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit bei den einfachen Fragen zur Textoberfläche besser abschnitten als die Personen ohne Sehbeeinträchtigung. Bei schweren Fragen, die Schlussfolgerungen erforderten, gab es keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Die Differenzen im Hörverstehen fielen somit gering aus. Dazu fordern die Autorinnen, dass zukünftige Studien das Lese- und Hörverstehen von Personen mit Sehbeeinträchtigung in einer Parallelversion direkt miteinander vergleichen sollten (Edmonds und Pring 2006, S. 349).

In einer weiteren Studie verglichen Erin et al. (2006) Unterschiede in der Testleistung und Testzeit von Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit in Abhängigkeit vom Präsentationsmedium (taktil oder akustisch). Ziel der Studie war es, herauszufinden, wie die mündliche Präsentationsform als eine beliebte Form des Nachteilsausgleiches die Testleistung von Lernenden in der Sekundarstufe 2 beeinflusst. Insgesamt nahmen 30 Schülerinnen und Schüler an der Studie teil, die sich auf drei gleich große Gruppen in Lernende mit Blindheit (n = 10), Sehbehinderung (n = 10) und ohne Sehbeeinträchtigung (n = 10) verteilten. Die Teilnehmenden wurden in einem Untersuchungszeitraum von sechs Wochen mehrmals mit unterschiedlichen Lese- und Hörmedien getestet. Das Ergebnis der Studie zeigt für alle Gruppen Vorteile geschriebener Sprache hinsichtlich des Verstehens (Erin et al. 2006, S. 528). Insbesondere die Testpersonen mit Blindheit benötigten jedoch deutlich mehr Zeit bei Leseaufgaben als bei Höraufgaben. Bei mündlich durchgeführten Multiple-Choice-Tests schnitten sie zudem besser ab als die beiden Vergleichsgruppen, allerdings fielen die Unterschiede gering aus. Eine weitere interessante Erkenntnis aus der Studie ist die Feststellung, dass viele Testpersonen zwar ihr schnellstes Medium (taktil oder akustisch) vorhersagen konnten, jedoch nicht das beste hinsichtlich des Verstehens (Erin et al. 2006, S. 529). D. h., in vielen Fällen führte eine Präferenz, z. B. für akustische Testpräsentation, nicht zu einem besseren Testergebnis.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aus der bisherigen Forschung kaum Unterschiede im Hörverstehen zwischen Personen mit und ohne Sehbeeinträchtigung festgestellt wurden. Einschränkend muss jedoch hervorgehoben werden, dass die beiden vorgestellten Studien mit sehr kleinen Stichproben gearbeitet haben, weshalb die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden sollten. Dazu kommt, dass in beiden Studien das Hörverstehen mittels Audiotapes erhoben wurde. Im Unterrichtsalltag werden diese jedoch nur selten eingesetzt, weshalb nachfolgend auf den Zusammenhang zwischen auditiven Hilfsmitteln aus dem Bereich assistiver Technologien (z. B. der Sprachausgabe) und Hörverstehen eingegangen werden soll.

Hörverstehen und assistive Technologien. Die Beherrschung von assistiven Technologien, wie Screenreader und Sprachausgabe, ermöglichen Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit selbstständigen Zugang zur Informationsvielfalt digitaler Texte (Herrlich 2012, S. 182).

Vereinfacht ausgedrückt ist ein Screenreader eine Vorlesesoftware, die den digitalen Text akustisch über die Sprachausgabe und taktil über eine Braillezeile ausgeben kann. Am Computer arbeiten die meisten Personen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit mit dem Screenreader JAWS (WebAIM 2017). Viele nutzen jedoch auch zusätzlich Voiceover (Apple) und NVDA (Freeware). Unabhängig von der verwendeten Software ist die Funktionsweise der Screenreader sehr ähnlich. Für gewöhnlich wird der digitale Text in eine synthetische Computerstimme überführt. Dabei gehen typische Merkmale menschlicher Stimmen wie Rhythmik und Prosodie verloren. Dafür kann die Sprachausgabe mithilfe von Tastaturbefehlen kontrolliert werden. So kann beispielsweise ein Text zeilen-, satz- oder absatzweise angehört werden. Dazu lässt sich auch die Sprechgeschwindigkeit anpassen. Viele Prozesse ähneln dabei dem klassischen Lesen mit dem Unterschied, dass der Text nicht dekodiert, sondern gehört wird. Einige Autorinnen und Autoren betonen deshalb die Parallelität zum Lesen, indem sie vom „auditiven Lesen“ (Schulz 2017, S. 304), „auditory reading“ (Vik und Fellenius 2007, S. 551) oder „aural reading“ (Holbrook et al. 2017a, S. 419) sprechen. Diese besondere Form des Lesens ist anspruchsvoll, weil sie hohe Bedienkompetenzen im Screenreader erfordert sowie ein besonders ausgeprägtes Hörverstehen (Herrlich 2012, S. 187). Problematisch erscheint in diesem Kontext, dass der Einfluss der Sprachausgabe auf das Hörverstehen bislang kaum untersucht wurde. Es ist deshalb unklar, wie sich beispielsweise synthetisierte Computerstimmen auf das Textverstehen und die Ermüdung beim Hören auswirken. Offen ist zudem, ab welcher Hörgeschwindigkeit das Textverstehen nachlässt.

Resümierend lässt sich festhalten, dass durch den Gebrauch von assistiven Technologien, wie Screenreader und Sprachausgabe, die Bedeutung des Hörverstehens zunimmt. Gleichzeitig steigt dadurch die Notwendigkeit, die erforderlichen Bedienkompetenzen im Unterricht oder Fördersituationen zu erwerben.

Abschließend sollen einige Ideen zur Förderung des Hörverstehens speziell für Lernende mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit vorgestellt werden.

Tipps zur Förderung des Hörverstehens

  1. 1)

    Hörumgebung. Eine wichtige Voraussetzung für aktives Zuhören ist eine störungs- und ablenkungsfreie Lernumgebung. Dazu kann die Sitzposition und Körperhaltung das Hörverstehen beeinflussen, weshalb die Lernenden dazu angehalten werden sollten, beim aktiven Zuhören eine aufrechte Körperposition einzunehmen.

  2. 2)

    Hörtexte. Die Sprachausgabe verbalisiert Texte unabhängig von der Eignung und dem Schwierigkeitsgrad. Aus diesem Grund muss der Auswahl an Hörtexten ein besonderes Augenmerk geschenkt werden. Texte mit vielen Zahlen, Tabellen und Fremdwörtern sind beispielsweise ungeeignet. Dazu sollte die Anforderung beim Lesen bzw. Hören mitgedacht werden. Statt einen Roman im Deutschunterricht mithilfe der Sprachausgabe anzuhören, sollte stattdessen auf eine professionelle Hörproduktion (z. B. DAISY-Buch oder Hörspiel) ausgewichen werden, um den Hörgenuss und das Lektüreerlebnis zu verbessern.

  3. 3)

    Hörgeschwindigkeit. Die Präferenzen bei der Hörgeschwindigkeit können sich individuell stark unterscheiden. Anhand von einem Beispieltext können die Lehrpersonen zusammen mit den Lernenden die individuelle Standardhörgeschwindigkeit im Screenreader festlegen. Erfahrende Nutzerinnen und Nutzer sollten zudem lernen, wie sie diese je nach Höranlass selbstständig anpassen (=adaptive Hörgeschwindigkeit).

  4. 4)

    Hörverstehen verbessern durch Notizen. Eine Strategie, um das Gehörte zu organisieren und somit besser zu verstehen, sind Notizen, die während des Hörprozesses erstellt werden können. Dies kann mithilfe einer Braillezeile mit Notetaker-Funktion oder einer Punktschriftmaschine umgesetzt werden. Auf diese Weise können Lese-, Schreib- und Hörkompetenzen gleichzeitig gefördert werden.

  5. 5)

    Hörstrategien. Hörstrategien müssen explizit thematisiert und eingeübt werden. Einige der bekanntesten Lesestrategien (z. B. einen Textüberblick verschaffen oder einen Text mehrmals mit unterschiedlichen Intentionen lesen) können ebenfalls hörend umgesetzt werden. Dies setzt jedoch voraus, dass die Hörtexte in einem barrierefreien Format vorliegen (z. B. dem E-Buch-Standard) und die Schülerinnen und Schüler bereits über gute Bedienkompetenzen im Screenreader und der Sprachausgabe verfügen (z. B. die Geschwindigkeit beim Lesen anpassen und die Überschriftebenen abrufen können).