Ein umfassendes Verständnis über das Entscheidungsverhalten von in Märkten agierenden Personen zu erhalten ist ein wesentliches Ziel der Marketingforschung generell und der Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung im Speziellen (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Meffert et al., 2019). In diesem Zusammenhang ist der Mensch das zentrale Untersuchungsobjekt und wird insbesondere in der deutschsprachigen Literatur mit einer Vielzahl an Begriffen beschrieben, die anhand ihres Bezugsrahmens differenziert werden können (Bruhn, 2019; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Meffert et al., 2019). Im Marketing steht üblicherweise Kaufverhalten im Fokus und, bezogen auf den Erwerb eines Produktes, entsprechend Käuferinnen/Käufer oder aus der Perspektive des Anbietenden Kundinnen/Kunden (= Customers; American Marketing Association, 2017; Meffert, 1974; Meffert et al., 2019). Als nachfragende Gruppen zählen hierzu sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen sowie öffentliche und andere Institutionen (Meffert et al., 2019). Bezieht sich die Nachfrage auf eine Privatperson kann auch von Konsumentinnen/Konsumenten gesprochen werden (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Da sich die Marketingforschung oftmals auf beide nachfragenden Gruppen bezieht, spricht man in der Regel auch von Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung (Kenning, 2020). In dieser Arbeit beschreibt der Begriff Consumer das wesentliche Untersuchungsobjekt. Dieser Terminus soll im Folgenden definiert werden, um ein einheitliches Verständnis zu erhalten.

Der aus dem Anglo-amerikanischen übernommene Begriff Consumer ist im Deutschen im gleichem Maße mit Konsumentin/Konsument und Verbraucherin/Verbraucher zu übersetzen (Bauer, 2013; Blackwell et al., 2001; Kollat, Engel, & Blackwell, 1970; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Diese beiden Begriffe werden entsprechend in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur oftmals synonym verwendet, wobei die definitorischen Grenzen verschwimmen (Bauer, 2013; Brockhaus, 2020; Meffert et al., 2019). Grundsätzlich soll durch diesen Begriff die letzte Gruppe der Nachfrage in einer Reihe von ökonomischen Aktivitäten beschrieben werden (Lehmann, 1998; Meffert et al., 2019). Wie bereits oben erwähnt, wird der Begriff Käuferinnen/Käufer oder, aus der Perspektive des Anbietenden, je nach Beständigkeit der Angebot-Nachfrage-BeziehungFootnote 1, der Begriff Kundinnen/Kunden, sowohl für private als auch gewerbliche Gruppen der Nachfrage verwendet (Brockhaus, 2018; Deichsel, 2014; Hellmann, 2019; Lehmann, 1998; Meffert et al., 2019). Im Gegensatz dazu konkretisiert der im gesetzlichenFootnote 2 und gesellschaftspolitischen Bereich verwendete Begriff Verbraucherinnen/Verbraucher (bpb, 2016; Kenning, Oehler, Reisch, & Grugel, 2017) lediglich die Nachfrage einer Privatperson nach einem KonsumgutFootnote 3 oder einer LeistungFootnote 4 (Brockhaus, 2020; GfdS, 2017; Kenning et al., 2017). Dabei wird bei Verbraucherinnen/Verbrauchern, im Gegensatz zu Nutzerinnen/Nutzern, eine Nachfrage vor der Nutzung eines Konsumgutes oder einer Leistung vorausgesetzt (Meffert et al., 2019). Zudem bleibt bei der Bezeichnung Nutzerinnen/Nutzer, welche aus dem sozialwissenschaftlichen Kontext übernommen wurde, offen, ob und welche Entscheidungs- und Handlungsprozesse die Nutzung begleiten, wie beispielsweise die Freiwilligkeit der Nutzung (Bauer, 2001; Bruhn, 2019).

Verbraucherinnen/Verbraucher können als Konsumentinnen/Konsumenten spezifiziert werden, sofern der Ge- oder Verbrauch eines Konsumobjektes erfolgt, was bedeutet, dass dieses aufgenommen, verarbeitet und verwendet wird (Bruhn, 2019; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Swoboda & Foscht, 2018). Die Verwendung lässt sich sowohl quantitativ, durch ein- oder mehrmalige Nutzung (Meffert et al., 2019), als auch qualitativ differenzieren. Im enger gefassten Sinne lässt sich diese Qualität lediglich als physische Form interpretieren, jedoch soll dieser Arbeit vor dem neurowissenschaftlichen Hintergrund eine erweiterte Interpretation zugrunde gelegt werden, die ebenso eine Verwendung auf psychologischer oder neurophysiologischer Ebene umfasst. Konsumentinnen/Konsumenten als Privatpersonen können somit KonsumobjekteFootnote 5 auf physischer, psychologischer und neurophysiologischer Ebene aufnehmen, verarbeiten und verwenden, die im Rahmen einer Nachfrage entstehen. Im Folgenden wird entsprechend unter einer Konsumentenentscheidung das Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten verstanden, welches u. a. im Rahmen der Konsumentenverhaltensforschung untersucht wird.

2.1 Ansätze zur Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen

Nachdem nun ein einheitliches Verständnis von Konsumentinnen/Konsumenten geschaffen wurde, sollen im Folgenden Ansätze zur Erklärung der Konsumentenentscheidungsprozesse kurz dargestellt werden. Dem übergeordneten Ziel folgend, versuchen die skizzierten Ansätze die Prozesse der Entscheidung von Konsumentinnen/Konsumenten zu erklären, induzieren jedoch ParadoxienFootnote 6, die durch andere Theorien und Ansätze substituiert werden können. Entsprechend soll die zeitliche Entwicklung der (verhaltens-)ökonomischen Ansätze nachgezeichnet werden.

2.1.1 Ökonomische Ansätze

Die Prognose von Marktverhalten und der darin Agierenden ist im Rahmen der strategischen marktorientierten Unternehmensführung von großer ökonomischer Relevanz (Meffert et al., 2019). Dabei sollen Veränderungen in der Umwelt beachtet und idealerweise antizipiert werden, um sich an veränderte Bedingungen erfolgreich anzupassen und eine möglichst überdurchschnittliche Entwicklung im Vergleich zum Wettbewerb zu erzielen (Kreikebaum, Gilbert, & Behnam, 2011; Meffert et al., 2019). Entsprechend existiert in der Forschung der Wirtschaftswissenschaften schon lange ein Interesse, Entscheidungsverhalten mathematisch abzubilden, beginnend mit der Erwartungsnutzentheorie von Bernoulli (Bernoulli, 1738) und späteren Weiterentwicklungen von Von Neumann und Morgenstern (Von Neumann & Morgenstern, 2007). Mit dem Fokus auf einen idealtypischen Kaufprozess wird in diesen Modellen vom Mensch als Homo Oeconomicus ausgegangen, der mittels vollumfassender Information rational und ausschließlich im Eigeninteresse entscheidet, um ein nutzenmaximierendes Ergebnis zu erzielen (BI, 2016; Bray, 2000; Kirchgässner, 1991; Von Neumann & Morgenstern, 2007; Zinkhan, 1992).

Formel 1. Von-Neumann-Morgenstern Erwartungsnutzenfunktion.

Mit den Handlungsalternativen (Aa) verbundene Ergebnisse (xa) werden mittels der Risiko-Nutzen-Funktion U in Nutzenwerte (u(xa)) umgerechnet. Zusammen mit den zugeordneten Eintrittswahrscheinlichkeiten (w(xa)) wird die Alternative mit dem maximalen Erwartungswert ausgewählt.

$$\mathop {\max }\limits_{a} \varphi_{{A_{a} }} = \mathop {{\text{max}}}\limits_{a} {\mathbb{E}}[U\left( {\tilde{x}_{a} )} \right] = \mathop \sum \limits_{{x_{a} }} w\left( {x_{a} } \right) \cdot u\left( {x_{a} } \right)$$

Das mathematisch beschriebene Entscheidungsmodell (Formel 1) ist unter Annahme einiger spezifizierten Rahmenbedingungen gültig, um normatives Entscheidungsverhalten zu modellieren (Coleman & Fararo, 1992). In den meisten Entscheidungssituationen sind beispielsweise Annahmen über vollständige Information, Unabhängigkeit von Motivation oder Zeit nicht uneingeschränkt zutreffend und entsprechend zeigte sich, dass Konsumentinnen/Konsumenten bei vielen realen Entscheidungen eher zu zufriedenstellenden als zu nutzenmaximierenden Entscheidungsoptionen tendieren (Coleman & Fararo, 1992; Jehle & Reny, 2011; Simon, 1991). Dies integrierten nachfolgende ökonomische Modelle, um Entscheidungsverhalten unter weniger restriktiven Annahmen deskriptiv abbilden zu können, wie zum Beispiel Theorien zur begrenzten Rationalität (Simon, 1991), wie die Satisficing Theory (Simon, 1997) oder die Prospect Theory (Kahneman & Tversky, 1979). Im Gegensatz zu den normativen Modellen, die idealtypisches Entscheidungsverhalten unter spezifizierten Rahmenbedingungen modellieren (Von Neumann & Morgenstern, 2007), erheben diese Modelle den Anspruch tatsächliches Entscheidungsverhalten deskriptiv abbilden zu können (Kahneman & Tversky, 1979; Simon, 1991). In diesem Zusammenhang sind Letztere aber oftmals unzureichend, um Entscheidungen umfassend zu beschreiben, und bewahren ihre Gültigkeit nur in spezifischen Situationen, beispielsweise bei Entscheidungen unter Unsicherheit (Kahneman & Tversky, 1979).

2.1.2 Behavioristische Ansätze

Insbesondere durch den psychodynamischen Ansatz von Freud wurde deutlich, dass Konsumentinnen/Konsumenten ihrem unterstellten anthropozentrischen und omniszienten Selbstverständnis oftmals nicht zu entsprechen scheinenFootnote 7. In seiner Theorie zur Psychoanalyse wird unterstellt, dass den menschlichen Entscheidungen größtenteils unbewusste Prozesse, die durch biologische Triebe geleitet werden, zugrunde liegen (Freud, 1917, 2010). Auch wenn seine Theorien aus wissenschaftstheoretischer Sicht diskreditiert wurden (Crews, 1998; Esterson, 1993; Nitzschke, 1989), da diese nicht falsifizierbarFootnote 8 waren und individuelle Kognition und Umwelteinflüsse nur eine limitierte Beachtung erfuhren, dominierte diese Sichtweise das Verständnis des menschlichen Verhaltens zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Bray, 2000).

Dem entgegen treten Ansätze des Behaviorismus, welche sich auf die externe Umwelt fokussieren und Verhalten lediglich auf gelernte Zusammenhänge von externen Einflussfaktoren zurückführen, sodass dieses nur durch Reiz-Reaktion-Verknüpfungen erklärt werden soll (Bray, 2000; Brysbaert & Rastle, 2009). Die drei einflussreichsten Vertreter des Behaviorismus waren PawlowFootnote 9, WatsonFootnote 10 und SkinnerFootnote 11, welche im Gegensatz zu Freud dem logischen PositivismusFootnote 12 folgten und objektive, empirische Methoden anwendeten, um Verhalten zu untersuchen (Bray, 2000; Pavlov, 1927; Skinner, 1938, 2011; Watson, 1930). Mit dem umstrittenen Little Albert ExperimentFootnote 13 überführte Watson die Erkenntnisse vom Pawlowschen HundFootnote 14 auf die Psychologie des Menschen und bewies damit, dass Verhalten durch externe Faktoren erlernt werden kann (Beck & Irons, 2009; Watson & Rayner, 1920). Die Grundannahme im klassischen Behaviorismus ist, dass keinerlei mentales Leben oder interne Zustände existieren. Der radikale Behaviorismus erkennt die Existenz dieser Prozesse zwar an, versteht diese jedoch als epiphänomenologisch, was bedeutet, dass diese durch klassische oder operante KonditionierungFootnote 15 über die Zeit erlernt wurden (Bray, 2000; Watson, 1930). Unter anderem durch die Diversität im Verhalten und unterschiedlich stark ausgeprägten ResilienzenFootnote 16 trotz konsistenter, äußerer Umstände wird deutlich (Fletcher & Sarkar, 2013; Smith et al., 2008; Windle, 2011), dass Behaviorismus das Konsumenten(entscheidungs-)verhalten nicht umfassend erklären kann, insbesondere durch die weitestgehend vernachlässigte Kognition als zentralen Prozess (Brysbaert & Rastle, 2009; Richards, 2002). Infolgedessen zeigen Entwicklungen des kognitiven Behaviorismus (aka. Neobehaviorismus)Footnote 17, dass davon auszugehen ist, dass die irreduziblen Determinanten für geäußertes Verhalten in interpersonalen, kognitiven Prozessen liegen (Bray, 2000; Brysbaert & Rastle, 2009).

2.1.3 Kognitive Ansätze

Im Kontrast zu den behavioristischen Ansätzen fokussieren kognitive Ansätze zur Erklärung von Konsumentenentscheidungen die intrapersonelle Kognition der Konsumentinnen/Konsumenten als Ort der Informationsverarbeitung und öffnen die intermediierende „Black Box“ zwischen Reiz und Reaktion, der mentale Prozesse unterliegen (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Trommsdorff & Teichert, 2011). Den in diesem Zusammenhang grundlegenden, theoretischen Ansatz bildet das S–O-R Modell (Hebb, 1958; Jacoby, 2002; Mehrabian & Russell, 1974, Woodworth, 1929), welches regelmäßig in den Wirtschaftswissenschaften, in Grundlagenbüchern des Marketing und der Konsumentenverhaltensforschung sowie in Abschlussarbeiten Anwendung findet (Danckwerts, 2020; Gelbrich, Wünschmann, & Müller, 2018; Griese & Bröring, 2011; Kern, 2020; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Meffert et al., 2019; Trommsdorff & Teichert, 2011). Entsprechend stellt der Kognitivismus in der Marketingforschung und insbesondere in der Konsumentenverhaltensforschung das dominierende Paradigma dar. Aufbauend auf den Erkenntnissen der kognitiven PsychologieFootnote 18 wurde eine Vielzahl an Faktoren für fundamentale, intrapersonelle Prozesse identifiziert, wie beispielsweise Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Denken, Emotion und Motivation (Bray, 2000; Neisser, 2014). Diese werden in verschiedenen Modellen, wie beispielsweise in der Information Processing Theory bei Gedächtnisprozessen (Craik & Lockhart, 1972), beschrieben. Zunächst ist man bei den Modellen, analog zum S–O-R Modell, von einem unidirektionalen, naiven Verarbeitungsprozess ausgegangen, wohingegen modernere Theorien einen zirkulären Prozess beschreiben, bei dem aufgrund vorheriger Erfahrungen die Informationsverarbeitung verändert und angepasst wird (Bray, 2000).

Im Folgenden sollen nun die für die Konsumentenverhaltensforschung relevanten und häufig referiertenFootnote 19 kognitiven Modelle skizziert werden, die oftmals die Grundlage für neue Theorien in der Marketingforschung darstellen. Dabei können kognitive Ansätze zunächst in umfassende, analytisch-deskriptive und anwendungsorientierte, normativ-präskriptive Modelle differenziert werden (Bray, 2000; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Bei analytisch-deskriptiven Modellen besteht das primäre Ziel darin, einen umfassenden Rahmen unter Einbeziehung von intervenierenden und interagierenden Faktoren zur Erklärung von realem Konsumenten(entscheidungs-)verhalten zu schaffen (Bray, 2000; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Dabei lässt sich in den meisten analytischen, kognitiven Konsumentenverhaltensmodellen ein progressiv ablaufender Kaufprozess über aufeinander folgende StufenFootnote 20 erkennen.

Zwei Modelle, die in diesem Zusammenhang die konzeptionelle Basis für weitere Theorien geliefert haben, sind die Theory of Buyer Behaviour (Howard & Sheth, 1969) und das Consumer Decision Model (Blackwell et al., 2001). In der Theory of Buyer BehaviourFootnote 21 werden dabei soziale, psychologische und marketingbasierte Inputstimuli durch hypothetische Konstrukte, die grob in Wahrnehmungs- und Lernprozesse differenziert werden können, verarbeitet und führen unter Einbeziehung exogener Variablen zu kaufentscheidenden Reaktionen, die sich durch ihren rekursiven Feedbackmechanismus auszeichnen (Bray, 2000; Howard & Sheth, 1969). Dem Consumer Decision Model (auch Engel-Blackwell-Miniard Modell genannt) liegt ein siebenstufiger Entscheidungsprozess zugrunde, welcher von vorangegangenen Erfahrungen sowie durch externe Faktoren und individuelle Prädispositionen beeinflusst wird (Blackwell et al., 2001; Swoboda & Foscht, 2018). Dadurch, dass dieses Modell seit seiner Veröffentlichung (Engel, Kollat, & Blackwell, 1968) kontinuierlich weiterentwickelt wurde, hat sich sein Erklärungspotenzial erweitert. Trotzdem gibt es entscheidende Kritik an den zugrundeliegenden Annahmen und deren Überprüfbarkeit (Bray, 2000). So unterstellen diese Modelle zum einen, ähnlich wie ökonomische Ansätze, ein im Rahmen der Modellannahmen rational-normatives Entscheidungsverhalten der Konsumentinnen/Konsumenten (Kenning, 2020). Zum anderen werden durch den Versuch ein umfassendes deskriptives Modell zu generieren, abgeleitete Hypothesen hochgradig generalisiert, welche durch die Vielzahl an angenommenen, bis dato nicht beobachtbaren Variablen, nur limitiert zu validieren sind, wodurch ihr prädiktiver Wert gemindert wird (Bray, 2000; Swoboda & Foscht, 2018).

Entsprechend versuchen normativ-präskriptive Modelle eine Entscheidungslogik zu formulieren, um den prädiktiven Charakter zu fokussieren und effektive Modelle für die angewandte Forschung bereitzustellen (Bray, 2000; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Im zeitlichen Verlauf haben sich hierbei zwei aufeinander aufbauende Modelle entwickelt – Theory of Reasoned Action (Fishbein & Ajzen, 1975) und Theory of Planned Behaviour (Ajzen, 1991) – die kurz skizziert werden sollen. Ausgehend von dem, nach dem Autor benannten, Fishbein Modell (Fishbein, 1963), wurde dieses zur Modellierung von Präferenzen gegenüber einem Konsumobjekt zur Theory of Reasoned Action weiterentwickelt (Fishbein & Ajzen, 1975).

Formel 2. Fishbein Modell.

In diesem Modell wird die Gesamteinstellung (\({E}_{ij})\) einer Person i gegenüber einem Objekt j anhand der Summe von Wahrscheinlichkeiten \({(B}_{ijk}\)), dass das Objekt eine Eigenschaft k besitzt und der Bewertung dieser (\({a}_{ijk}),\) mathematisch modelliert.

$$E_{ij} = \mathop \sum \limits_{k = 1}^{n} B_{ijk} \cdot a_{ijk}$$

In diesem Modell werden neben der subjektiven Einstellung und Bewertungen gegenüber einem Objekt auch subjektive Normen als einflussnehmende Variablen berücksichtigt, die zur Verhaltensintention und anschließend, mit einer hohen, empirisch nachgewiesenen Korrelation, zu tatsächlichem Verhalten führen (Bray, 2000; Fishbein & Ajzen, 1975). Jedoch ist davon auszugehen, dass das Verhalten der Konsumentinnen/Konsumenten nicht immer deren vollständigen Kontrolle unterliegt (Ajzen, 1991; Bray, 2000). Entsprechend wurde die wahrgenommene und tatsächliche Verhaltenskontrolle in der anknüpfenden Theory of Planned Behaviour (Ajzen, 1991) ergänzt und differenziert, sodass Fertigkeiten, Ressourcen und andere Voraussetzungen, die für die Ausführung eines bestimmten Verhaltens nötig sind, berücksichtigt werden. Die Theory of Planned Behaviour ist seitdem eine dominierende und viel zitierte Theorie in der Marketing- und Konsumentenverhaltensforschung, wobei ihre Anwendung durch Modifikationen des Basismodells auf andere Bereiche ausgeweitet und in ihrer Aussagekraft validiert wird (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019). Als einflussreichster Ableger ist in diesem Zusammenhang das Technology Acceptance Model (Davis, 1989; Davis, Bagozzi, & Warshaw, 1989) zu nennen, welches regelmäßig, insbesondere in der Wirtschaftsinformatik, Anwendung findet (Danckwerts & Kenning, 2018; Davis et al., 1989; Nissen, Krampe, Kenning, & Schütte, 2019; Park, Gunn, Lee, & Shim, 2015). Durch das sparsame, auf das Wesentliche reduzierte Prinzip der Theory of Planned Behaviour ist diese besonders intuitiv und einfach zu verstehen, wodurch sie häufig Anwendung in der Forschung findet und die prädiktive Validität in Metaanalysen bestätigt werden konnte (Conner & Armitage, 1998).

Das prädiktive Vermögen der Theory of Planned Behaviour hängt vor allem vom akkuraten Identifizieren und Bemessen von relevanten Attributen und situativen Einflussfaktoren ab (Bray, 2000; Conner & Armitage, 1998; Terry, Hogg, & White, 1999). Jedoch fokussiert diese Theorie hauptsächlich Kognition, wodurch andere relevante, affektive und oftmals unbewusste Einflussfaktoren vernachlässigt werden (Hale, Householder, & Greene, 2012; Hogg, Askegaard, Bamossy, & Solomon, 2006). Unter anderem vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gewinnen affektive und unbewusste Einflussfaktoren zunehmend an Bedeutung, um scheinbar inkongruentes Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten zu erklären.

2.1.4 Dual-Process Ansätze

Bei der Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen im Alltag tauchen regelmäßig Paradoxien auf (Athey, Catalini, & Tucker, 2017; Bell & Eisingerich, 2007; Blättel-Mink & Kenning, 2019; Kinjo & Ebina, 2015; Mick & Fournier, 1998; Motoki, Saito, Nouchi, Kawashima, & Sugiura, 2018). Durch die Unterstellung eines hauptsächlich kognitiv getriebenen Verarbeitungsprozesses in der Marketing- und Konsumentenverhaltensforschung erscheint paradoxes Verhalten zunächst widersprüchlich und ambivalent, legt gleichzeitig jedoch nahe, dass angewandte Erklärungsmodelle unzureichend sein könnten, um Konsumentenentscheidungsprozesse, dem übergeordneten Ziel folgend, umfassend zu beschreiben (Blättel-Mink & Kenning, 2019; Kenning, 2019). Da Kognition allein komplexe, dadurch paradoxe Konsumentenentscheidungen, insbesondere in sozioökonomischen Kontexten nicht umfassend erklären konnte, rückte eine zweite Kategorie an automatischen mentalen Verarbeitungsprozessen, aus der sozialen Kognitionsforschung kommend, in den Fokus (Chaiken & Trope, 1999; Gawronski & Creighton, 2013).

Die dichotome Aufgliederung der mentalen Prozesse in hauptsächlich automatische oder kontrollierte Verarbeitung, führte zu einer Reihe von sogenannten Dual-Process Ansätzen, die in den letzten drei Jahrzehnten die Konsumentenverhaltensforschung beeinflusst haben (Chaiken & Trope, 1999; Gawronski & Creighton, 2013). Allgemein gehen diese Theorien davon aus, dass mentale Prozesse grundlegend in zwei Verarbeitungsprozesse unterteilt werden können – Automatizität und Kontrolle (Chaiken & Trope, 1999; Gawronski & Creighton, 2013). Anhand vier antagonistischer Charakteristiken – Intentionalität, Kontrollierbarkeit, Effizienz, Bewusstsein – können die Verarbeitungsprozesse differenziert werden. Automatizität ist dabei durch nicht-intentionelle oder nicht-kontrollierbare Verarbeitung gekennzeichnet, die mit einem geringen Verbrauch an kognitiven Ressourcen und ohne bewusste Wahrnehmung agiert (Gawronski & Creighton, 2013; Moors & De Houwer, 2006). Es handelt sich dabei um disjunktive Charakteristiken, das heißt Automatizität kann bereits durch mindestens eine zugeordnete Eigenschaft angenommen werden (Gawronski & Creighton, 2013; Moors & De Houwer, 2006).

Dabei können die beiden Verarbeitungsprozesse parallel-kompetitiv oder default-interventionistisch interagieren, wodurch sich zwei Arten von Dual-Process Theorien differenzieren lassen (Gawronski & Creighton, 2013). Während parallel-kompetitive Dual-Process Theorien simultan ablaufende Verarbeitungsprozese unterstellen, die schließlich auf der Verhaltensebene von einem Verarbeitungsprozess dominiert werden, wird bei default-interventionistischen Dual-Process Theorien zunächst von einem automatisierten Verarbeitungsprozess ausgegangen, der nur bei Bedarf durch kontrollierte Verarbeitungsprozesse moderiert wird (Gawronski & Creighton, 2013). Ebenso lassen sich Dual-Process Theorien anhand ihres Bezugsrahmens – domain-spezifisch oder integrativ-generalisiert – differenzieren. Die ersten Dual-Process Theorien fokussierten ein spezifisches Phänomen, wie beispielsweise Persuasion (Chaiken, 1987; Petty & Cacioppo, 1986), das Verhältnis zwischen Einstellung und Verhalten (Fazio, 1990; Wilson, Lindsey, & Schooler, 2000), Vorurteile und Stereotypenbildung (Devine, 1989), Prozesse der Eindrucksbildung über Andere (Brewer, 1988; Fiske & Neuberg, 1990) oder Zuschreibung von Gemütszuständen (Gilbert, 1989; Trope, 1986). Zunächst nur auf ein spezifisches Phänomen angewendet, lassen sich anhand der phänomenspezifischen Dual-Process Theorien generelle Prinzipien ableiten, die übergreifende Gültigkeit haben und in verschiedenen integrativen Modellen zusammengefasst wurden (Epstein, 1994; Kahneman, 2003; Payne, 2008; Sherman et al., 2008; Smith & DeCoster, 2000). Im Folgenden sollen zwei Dual-Process Theorien exemplarisch skizziert werden, die im Rahmen der Konsumentenverhaltensforschung besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Dabei stellt das domain-spezifische Elaboration Likelihood Model (Petty & Cacioppo, 1986), mit mehr als 12.000 ZitationenFootnote 22, eines der ersten und bekanntesten Dual-Process Modelle dar. Das Intuitiv-Reflektiv Dual-Process Modell von Kahneman (Kahneman, 2003) als integrativ-generalisierter Ansatz verdeutlicht zum einen, wie Dual-Process Ansätze als zugrundeliegender theoretischer Rahmen genutzt werden könnten, aber zum anderen auch die Kritikpunkte an den meisten Theorien dieser Art.

Das Elaboration Likelihood Model (Petty & Cacioppo, 1986) als default-interventionistische, domain-spezifische Dual-Process Theorie, modelliert den Verarbeitungsprozess von Botschaften unter verschiedenen Bedingungen, um eine effektive Verhaltensänderung zu erzielen. Botschaften können dabei über einen zentralen oder peripheren Verarbeitungsweg kodiert werden, sodass entweder alle verfügbaren, objektbezogenen Informationen in den bestehenden Kenntnisstand integriert und sorgfältig abgewogen werden oder nur eine flüchtige Prüfung der verfügbaren Informationen anhand von Heuristiken vorgenommen wird (Petty & Cacioppo, 1986). Dieser Prozess hängt dabei von der Motivation sowie der Fähigkeit zur aufwändigen Informationsverarbeitung ab. Bei einer höher kognitiv elaborierten Verarbeitung werden mehr objektrelevante Informationen berücksichtigt. Einstellungsveränderungen, die basierend auf dieser zentralen Route entstanden sind, sind relativ stabil und entsprechend prädiktiv für das Verhalten. Das Modell kann flexibel eine Reihe von Überzeugungseffekten erklären, wobei die prädiktive Aussagekraft stark von der Spezifizierung der einzelnen Konditionen limitiert wird (See, Petty, & Evans, 2009). Dem übergeordneten Ziel einer Unified Theory kommt man hiermit entsprechend nur bedingt näher, sodass integrative Dual-Process Modelle in dieser Hinsicht vielversprechender scheinen.

Stellvertretend für integrativ-generalisierte Dual-Process Modelle soll das bekannte Intuitiv-Reflektiv Modell von Kahneman (Kahneman, 2003) kurz dargestellt werden. Dieses baut auf anderen integrativ-generalisierten Modellen auf (Epstein, 1994; Smith & DeCoster, 2000), um die Integration von diversen Heuristiken und systematischen Verzerrungen (Bias) in ein theoretisches Konstrukt vorzunehmen (Gilovich, Griffin, & Kahneman, 2002; Kahneman, Slovic, & Tversky, 1974)Footnote 23. Dem Modell werden zwei interagierende Systeme zugrunde gelegt, die anhand verschiedener Eigenschaften charakterisiert werden (Gawronski & Creighton, 2013; Kahneman, 2003). System 1 wird als schnell, parallel, automatisch, mühelos, assoziativ, langsam-lernend und emotional definiert, wohingegen das System 2 durch langsame, serielle, kontrollierte, aufwändige, regelbasierte, schnelllernende und emotional neutrale Prozesse charakterisiert wird (Gawronski & Creighton, 2013). Entsprechend dem default-interventionistischen Dual-Process Ansatz (Evans & Stanovich, 2013) erzeugt System 1 stimulusgebundene Wahrnehmungseindrücke der gegenwärtigen Situation, die durch System 2 überwacht werden und diese bei Bedarf bestärken, anpassen oder blockieren kann. Dieses generalisierte Modell von Kahneman hat einen signifikanten Beitrag dazu geleistet, die Einzeleffekte aus der Heuristik-Forschung (Gilovich et al., 2002; Kahneman et al., 1974) in ein konzeptuelles Modell zu integrieren, wodurch sich die Dominanz der Dual-Process Theorien zur Erklärung von Entscheidungsprozessen manifestieren konnte (Evans & Stanovich, 2013; Gawronski & Creighton, 2013).

Auch wenn dieses Modell exemplarisch in den letzten Jahrzehnten große Popularität erfahren hat und mehrere Dual-Process Theorien und übergreifende Prinzipien integriert (Epstein, 1994; Smith & DeCoster, 2000), entsteht durch das hohe Maß an Generalisierung über diverse Theorien hinweg Kritik an der Stringenz, Kompatibilität und Validität dieser Modelle (Evans & Stanovich, 2013; Gawronski & Creighton, 2013; Grayot, 2020; Keren & Schul, 2009; Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Insgesamt lassen sich fünf Hauptkritikpunkte extrahieren (Evans & Stanovich, 2013; Keren & Schul, 2009; Kruglanski & Gigerenzer, 2011), die im Folgenden kurz diskutiert werden sollen, um mögliche Weiterentwicklungen der Dual-Process Theorien zu evaluieren.

Kritik 1: Prozesse innerhalb der Theorien sind vage definiert

Die vermehrte Anwendung der Dual-Process Theorien führte dazu, dass verschiedenartige Attribute den jeweiligen Verarbeitungsprozessen zugeschrieben wurden, woraus missverständliche und vage Definitionen für die beiden Verarbeitungsprozesse entstanden sind. Versuche, verschiedene Dual-Process Theorien zusammenzufassen (Evans, 2003; Smith & Collins, 2009; Smith & DeCoster, 2000; Stanovich, 1999), haben ihr Ziel, Einigkeit und Klarheit zwischen den Theorien zu schaffen, verfehlt. Stattdessen führte dies, durch divergierende Zuordnungen der Attribute, die nicht immer miteinander kompatibel sind, zu verworrenen und unübersichtlichen Definitionen. Entsprechend wird im Umgang mit Dual-Process Ansätzen empfohlen, eine zwingende Zuordnung der Charakteristiken zu den Verarbeitungsprozessen zu vermeiden (Evans & Stanovich, 2013).

Kritik 2: Attribute können nicht reliabel zugeordnet werden

Aufbauend darauf, treten zugeschriebene, als notwendig erachtete Attribute der Verarbeitungsprozesse in Dual-Process Theorien oftmals nicht gemeinsam auf (Keren & Schul, 2009; Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Dieser Aspekt wird je nach Dual-Process Theorie anders definiert, wodurch manche dieser Theorien nicht miteinander kompatibel sind (Evans & Stanovich, 2013). Wie in der Einleitung dieses Kapitels erwähnt, wird oftmals von disjunktiven Charakteristiken ausgegangen (Gawronski & Creighton, 2013), sodass die Unterteilungen der Attribute als korrelierende, hinreichende und nicht als definierende, notwendige Eigenschaften interpretiert werden sollten.

Kritik 3: Verarbeitungsprozesse sind als Kontinuum und nicht als diskrete Typen zu verstehen

Je nach Dual-Process Modell werden verschiedene Begrifflichkeiten für die beiden Verarbeitungsprozesse verwendet, die eine mehr oder weniger strikte Trennung der beiden zugrundeliegenden Entitäten suggerieren. So werden je nach Dual-Process Modell Systeme, Typen und Modi zur Bezeichnung der beiden Verarbeitungsprozesse verwendet, die voneinander differenziert werden müssen (Evans, 2010a, 2010b, 2019; Stanovich, 1999, 2004, 2011). Systembezeichnungen sind aufgrund der implizierten, strikten Trennung der Verarbeitungsprozesse ungeeignet, wohingegen Prozesstypen verschiedene kognitive VerarbeitungsmodiFootnote 24 beinhalten, die innerhalb eines Prozesstyps kontinuierlich variieren können (Evans & Stanovich, 2013). Demgemäß wird in der vorliegenden Arbeit zur Unterteilung der beiden Verarbeitungsprozesse von zwei Typen der Verarbeitung gesprochen.

Kritik 4: Ein Einzelprozess kann Dual-Process Phänomene erklären

Die meiste Kritik an Dual-Process Theorien beruht auf Ansätzen, die einen zugrundeliegenden Prozess der Unified Theory zur Erklärung von Entscheidungen unterstellen (Kruglanski & Gigerenzer, 2011; Osman, 2004). Dabei wird angenommen, dass ein einziger, regelbasierter Prozess die verschiedenen Dual-Process Phänomene erklären kann (Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Dieser Kritikpunkt lässt sich nicht ganzheitlich auflösen, da von unterschiedlichen Zielinterpretationen der Unified Theory ausgegangen wird (Evans & Stanovich, 2013). In der vorliegenden Arbeit wird eine Unified Theory, die Konsumentenentscheidungsprozesse umfassend erklären kann und neurowissenschaftlich fundiert ist, als Ziel definiert, wobei die Struktur der zugrundeliegenden Prozesse offen gehalten ist (Camerer, Loewenstein, & Prelec, 2005; Foxall, 2008; Glimcher & Rustichini, 2004; Kenning & Plassmann, 2005). Für die Anwendung der Dual-Process Theorie impliziert dieses Ziel nicht, dass einer Unified Theory nur ein Verarbeitungsprozess zugrunde liegen darf (Evans & Stanovich, 2013). Auch die beiden Verarbeitungsprozesstypen innerhalb von Dual-Process Theorien folgen bestimmten Regelmäßigkeiten, sodass diese nicht weniger valide sind als die Einzelprozessansätze (Evans & Stanovich, 2013).

Kritik 5: Belege für Dual-Process Verarbeitung sind unklar und wenig überzeugend

Dem vorangegangenen Kritikpunkt weiter folgend, wird argumentiert, dass die Belege für Dual-Process Verarbeitung auch durch entsprechende Einzelprozesstheorien erklärt werden können (Keren & Schul, 2009; Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Darüber hinaus wird bei den meisten Dual-Process Theorien (insb. bei Kahneman, 2003) kritisiert, dass eine Interpretation von empirischen Daten lediglich post-hoc erfolgt, wodurch keine neuen Vorhersagen falsifiziert werden können (Keren & Schul, 2009). Für die Existenz von zwei Verarbeitungsprozesstypen spricht, dass es möglich ist durch experimentelle Anordnungen nur einen der beiden Verarbeitungsprozesse unabhängig zu beeinflussen (Evans & Curtis-Holmes, 2005; Neys, 2006) und der kognitive Verarbeitungsprozesstyp mit entsprechenden Fähigkeiten korreliert (Stanovich & West, 1998; Toplak, West, & Stanovich, 2011; West, Toplak, & Stanovich, 2008). Eine Auflistung von Erkenntnissen für oder gegen den Dual-Process Ansatz führtFootnote 25 nur bedingt zu einer Weiterentwicklung im Hinblick auf die übergeordnete Zielstellung, eine Unified Theory zu identifizieren, sodass sich diese Kritik nicht durch klassische Methoden der Konsumentenverhaltensforschung auflösen lässt.

Entsprechend müssen sich Dual-Process Theorien weiterhin kritischen Argumenten stellen, da sie im Hinblick auf die deskriptive Präzision nur limitiert normative Grundlagen für Entscheidungsmodelle liefern und sich weniger durch empirischen Erfolg als durch ihre narrative Möglichkeit, Entscheidungsanomalien zu rechtfertigen, großer Popularität erfreuen (Grayot, 2020). Dennoch können durch Dual-Process Ansätze interne Dynamiken der Entscheidungsfindung dargestellt werden, die es erlauben, verschiedene AnsätzeFootnote 26 in einem Modell zu integrieren. Dies ermöglicht es, bis dato identifizierte Paradoxien aufzulösen und so bessere Erklärungen von Entscheidungsphänomenen zu ermöglichen (Angner & Loewenstein, 2012; Grayot, 2020). Letztlich lassen sich die angesprochenen Kritikpunkte nur dann auflösen, wenn die prädiktive Aussagekraft der Modelle durch biologische Plausibilität validiert wird (Evans & Stanovich, 2013; Grayot, 2020; Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Aufgrund der Unterstellung eines biologischen Determinismus, sollten kohärente Modelle über Entscheidungsprozesse von Konsumentinnen/Konsumenten biologisch plausibel sein und sich entsprechend in neuralen Korrelaten widerspiegeln. Die zunehmende Anwendung von neurowissenschaftlichen Methoden in der Konsumentenverhaltensforschung erlaubt in diesem Zusammenhang eine Identifizierung von unterschiedlichen neuralen Verarbeitungsprozessen, anhand derer man einer umfassenden Unified Theory näher kommen könnte (Lieberman, 2007b; Lieberman, Gaunt, Gilbert, & Trope, 2002; Strack & Deutsch, 2004). Deshalb soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass Dual-Process Ansätze eine psychologisch evidente und möglicherweise, durch die Integration von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, auch biologisch fundierte Basis für einen plausiblen konzeptionellen Rahmen der Konsumentenentscheidungsprozesse bieten könnten. Dabei stellen diese trotz der adressierten Kritik derzeit den vielversprechendsten und weitestgehend konkurrenzlosen Ansatz dar (Angner & Loewenstein, 2012; Grayot, 2020). Obwohl eine kritische ReflexionFootnote 27 der angewandten Theorien wissenschaftlich angebracht ist, ist die Integration von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zur Erklärung von Konsumentenentscheidungen mit Dual-Process Theorien logisch und zielführend.

2.2 Consumer Decision Neuroscience – Neurowissenschaftliche Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen

Die Integration der Neurowissenschaften in die Konsumentenverhaltensforschung führte zu einer Reihe an neuen interdisziplinären Forschungsrichtungen, die im Folgenden beschrieben und voneinander abgegrenzt werden sollen, um das in der vorliegenden Arbeit zentrale Forschungsfeld der Consumer Decision Neuroscience zu definieren. In diesem Zusammenhang ist es das Ziel einer Unified Theory, Entscheidungsprozesse umfassend beschreiben und erklären zu können, um Entscheidungen im Anwendungskontext der marktorientierten Unternehmensführung effektiv vorherzusagen (Camerer, Loewenstein, & Prelec, 2005; Foxall, 2008; Glimcher & Rustichini, 2004; Kenning & Plassmann, 2005). Die bisher skizzierten Modelle einschließlich der ersten Dual-Process Ansätze scheinen diesem ultimativen Ziel schrittweise näher zu kommen. Gleichwohl zeigen DiskussionenFootnote 28 und kritische Reflexionen der AnsätzeFootnote 29, dass es eine hohe Variabilität im Hinblick auf die zugrundeliegenden Annahmen über Mechanismen und Prozesse gibt (Evans & Stanovich, 2013; Gigerenzer, 1996; Kahneman & Tversky, 1996; Kruglanski & Gigerenzer, 2011). Konsens herrscht jedoch bei der Annahme, dass der Organismus ein zentrales Konstrukt in dem Prozess der Entscheidungsfindung darstellt (Yoon et al., 2012). Entsprechend dem biologischen Determinismus sollten Modelle, die eine umfassende und gültige Modellierung der Konsumentenentscheidungsprozesse avisieren, eine biologische Plausibilität aufweisen und die unterstellten Verarbeitungsvorgänge sollten sich in neurophysiologischen Prozessen widerspiegeln.

Der technische Fortschritt in der GehirnforschungFootnote 30 ermöglicht es, neurophysiologische Prozesse zu bemessen, zu identifizieren und zu quantifizieren (Kandel & Squire, 2000). So wurde im Jahr 1929 die Elektroenzephalographie (EEG; Berger, 1931) und um das Jahr 1970 die Magnetenzephalographie (MEG; Cohen, 1968) entwickelt, die neurale Aktivität direkt bemessen können, sowie wenig später die Positronenemissionstomographie (PET; Olesen, 1971), die anhand radioaktiver Tracer metabolische Vorgänge im Gehirn aufzeigen kann. Kurz darauf wurde mit Hilfe der (funktionalen) Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS; Jöbsis, 1977) erstmalig nachgewiesen, dass kortikale Oxygenierungsprozesse im Gehirn stattfinden. In der Folge wurde dann im Jahr 1990 die vielfach angewandte (funktionale) Magnetresonanztomographie (fMRT) entwickelt (Ogawa, Lee, Kay, & Tank, 1990; Ogawa & Lee, 1990; Ogawa, Lee, Nayak, & Glynn, 1990)Footnote 31. Begünstigt durch die Decade of the brain in den USA (Proclamation, 1990) und später die Dekade des menschlichen Gehirns in Deutschland (Stahl-Busse, 1999), erleichterte unter anderem die Verfügbarkeit von neurowissenschaftlichen Methoden außerhalb der klinischen Anwendung und damit die interdisziplinäre Öffnung der Neurowissenschaften den progressiven Erkenntnisgewinn für die (Konsumenten-)Verhaltensforschung (Kenning, 2020; Shiv et al., 2005). In verschiedenen Disziplinen wurde entsprechend avisiert, neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Methoden und Ansätze in die Forschung zur Erklärung von Verhalten und Entscheidungsfindung zu integrieren (Camerer et al., 2005; Hastie & Dawes, 2009; Mellers, 2000; Shiv et al., 2005). Es entstanden neue Forschungsansätze, welche sich interdisziplinär zwischen Psychologie, Wirtschaftswissenschaften und Neurowissenschaften ansiedeln lassen (Camerer et al., 2005; Glimcher & Rustichini, 2004; Kenning & Plassmann, 2005; Smith & Huettel, 2010). Durch die Diffusion der neurowissenschaftlichen Ansätze in verschiedene Disziplinen, entstanden zahlreiche Bezeichnungen für die daraus entstehenden, neuen Forschungsrichtungen (Kenning, 2020; Shiv et al., 2005; Smidts et al., 2014). Diese Bezeichnungen werden teilweise synonym verwendet oder werden, je nach Disziplin, voneinander differenziert (z. B. Glimcher & Fehr, 2013; Huettel, 2010). Im Folgenden sollen daher die verschiedenen Spezifizierungen systematisch dargestellt und in Zusammenhang gebracht werden, um zum einen Stringenz in die Forschungsdisziplin zu bringen und zum anderen das der vorliegenden Arbeit zugehörige Forschungsfeld der Consumer Decision Neuroscience zu definieren.

2.2.1 Decision Neuroscience, Neuroeconomics und Social Neuroscience

Zunächst soll die übergeordnete Disziplin der Decision Neuroscience mit den beiden Fachrichtungen Neuroeconomics und Social Neuroscience definiert werden, um anschließend diese drei Forschungsfelder voneinander zu differenzieren. Als interdisziplinäres Forschungsfeld ist es Ziel der Decision Neuroscience, neurowissenschaftliche Forschung mit Erkenntnissen der verhaltensbezogenen Entscheidungsforschung zu verknüpfen (Shiv et al., 2005b). Dabei wird das neurowissenschaftliche Instrumentarium auf Konzepte der SozialwissenschaftenFootnote 32 angewandt (Huettel, 2010), um Mechanismen und Prozesse, die der Entscheidungsfindung zugrunde liegen, zu verstehen (Smith & Huettel, 2010). Da dem Verhalten Entscheidungen vorgelagert sind, ist der Begriff Decision in diesem Fall nicht als Spezifizierung des Untersuchungsrahmens zu verstehen, sondern als allem Verhalten zugrundeliegend. Der Begriff Decision Neuroscience wird in diesem Zusammenhang übergreifend genutzt, um Forschung mit Bezug zur Entscheidungsfindung in den Bereichen der Neuroeconomics, Consumer Neuroscience, und Social Neuroscience einzubeziehen (Smidts et al., 2014).

Decision Neuroscience wird oftmals mit Neuroeconomics gleichgesetzt (Smith & Huettel, 2010), wobei Neuroeconomics in frühen Definitionen umfassender verstanden wurde (Glimcher & Fehr, 2013; Glimcher, Fehr, Camerer, & Poldrack, 2008). Dies liegt vermutlich darin begründet, dass zu Beginn der Diffusion der Neurowissenschaft in andere Disziplinen viele Publikationen und erste Bücher aus dem Bereich der Neuroeconomics kamen und entsprechend diesen Begriff geprägt haben (Glimcher et al., 2008; Glimcher & Rustichini, 2004; Sanfey et al., 2003). Da sich die Neuroeconomics im Nachgang aber insbesondere auf ökonomisch relevante Fragestellungen von Individualentscheidungsprozessen, oftmals im Rahmen der Mikroökonomie (Camerer et al., 2005; Kenning & Plassmann, 2005), fokussiert, wird Neuroeconomics an dieser Stelle als Teilgebiet der Decision Neuroscience differenziert (Huettel, 2010; Smidts et al., 2014). Entsprechend nutzt und kombiniert Neuroeconomics neurowissenschaftliche, psychologische und (mikro-)ökonomische Methoden und Theorien, um zugrundeliegende neurale Korrelate von individuellen Entscheidungsprozessen und damit verbunden, die zentralen ökonomischen Konstrukte zu verstehen (Hubert & Kenning, 2008; Huettel, 2010; Kenning & Plassmann, 2005; Pirouz, 2010). So beschäftigt sich die Forschung im Rahmen der Neuroeconomics unter anderem mit Bewertungs- und Entscheidungsnetzwerken (Hsu, Bhatt, Adolphs, Tranel, & Camerer, 2005), intertemporalen Entscheidungen (Kable & Glimcher, 2007), Selbstkontrolle (Hare, Camerer, & Rangel, 2009), Framing (De Martino, Kumaran, Seymour, & Dolan, 2006) und Heuristiken (Venkatraman, Payne, Bettman, Luce, & Huettel, 2009).

Bereits durch andere Ansätze wurde gezeigt, dass Entscheidungsprozesse ebenso durch exogene Variablen und soziale Normen beeinflusst werden (z. B. Ajzen, 1991; Fishbein & Ajzen, 1975), sodass im Rahmen der Decision Neuroscience neben intraindividuellen Phänomenen, auch Entscheidungsprozesse in sozialen Kontexten untersucht werden (Glimcher & Fehr, 2013; Huettel, 2010). Das damit angesprochene Gebiet der Social Neuroscience untersucht, wie neurale Prozesse der Entscheidungsfindung durch soziale Interaktionen beeinflusst werden (Glimcher & Fehr, 2013; Huettel, 2010; Kenning, 2020). Folglich werden auch hier neurowissenschaftliche Methoden dazu genutzt, die neurale Basis von sozialen Interaktionen zu bemessen (Kenning, 2020; Smidts et al., 2014). Dadurch sollen Einblicke in Prozesse erlangt werden, die mit Vertrauen, Fairness und Reziprozität (Hsu, Anen, & Quartz, 2008) sowie Mentalisierung, Empathie, Emotionsregulation, sozialer Isolation und Schmerz assoziiert sind, um so Entscheidungsprozesse in sozialen Kontexten zu durchleuchten (Lieberman, 2007a; Rilling & Sanfey, 2011; Smidts et al., 2014).

Zusammenfassend, wie in Tabelle 2.1 abgebildet, ist festzuhalten, dass sich die Decision Neuroscience als übergeordnetes, interdisziplinäres Forschungsgebiet der Wirtschafts-, Sozial- und Neurowissenschaften in zwei Teilgebiete differenzieren lässt, die entweder individuelle ökonomische Entscheidungsprozesse fokussieren (Neuroeconomics) oder neurowissenschaftliche Erkenntnisse nutzen, um Entscheidungsprozesse in sozialen Kontexten zu untersuchen (Social Neuroscience). Dabei ist das zentrale Ziel der Decision Neuroscience, Entscheidungsverhalten durch Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden zu beschreiben und zu verstehen, um dem ultimativen Ziel einer umfassenden Theorie näher zu kommen (Yoon et al., 2012).

Tabelle 2.1 Definitionen der Decision Neuroscience. Definitionen zentraler Disziplinen werden mit entsprechenden Referenzen dargestellt

2.2.2 Consumer Neuroscience

Durch die Fokussierung auf Konsumentenverhalten und damit eine Spezialisierung auf das Marketing leitet sich die Consumer Neuroscience aus der vorangestellten Decision Neuroscience ab (Karmarkar & Yoon, 2016; Plassmann & Karmarkar, 2015; Plassmann et al., 2015; Plassmann, Yoon, Feinberg, & Shiv, 2011; Smidts et al., 2014; Yoon et al., 2012). Dabei werden neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien, Konzepte und insbesondere Methoden in die Konsumentenverhaltensforschung integriert, um Konsumentenverhalten im Kontext der Absatzwirtschaft besser zu beschreiben, zu erklären und letztlich zu antizipieren, wodurch neue theoretische Perspektiven eröffnet werden (Kenning, 2020; Plassmann et al., 2015; Smidts et al., 2014; Yoon et al., 2012). Die Consumer Neuroscience deckt, im Interesse eines wissenschaftlichen Voranschreitens (Hubert & Kenning, 2008), ein umfassendes Spektrum an Themenfeldern ab, die man beispielsweise grob in die vier Elemente des Marketing-MixesFootnote 33 gliedern kann (Smidts et al., 2014). Analog zu den Teilbereichen der Decision Neuroscience, lassen sich in der Consumer Neuroscience auf deskriptiver Ebene zunächst zwei Teilbereiche – Individual und Social Consumer Neuroscience – spezifizieren (Kenning, 2020). Diese können den beiden Teilgebieten der Decision NeuroscienceNeuroeconomics und Social Neuroscience – entsprechend zugeordnet werden. Durch den stärker anwendungsorientierten Bezug der Consumer Neuroscience auf die betriebswirtschaftliche Praxis, kann darüber hinaus noch der dritte Teilbereich der Commercial Consumer NeuroscienceFootnote 34 spezifiziert werden (Hubert & Kenning, 2008; Kenning, 2020). Das Teilgebiet der Individual Consumer Neuroscience fokussiert, ähnlich wie Neuroeconomics, individuelles Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten, welches zunächst unabhängig von sozialen Kontexten betrachtet wird (Kenning, 2020). Ziel ist es, durch Anwendung neurowissenschaftlicher Instrumente ein besseres Verständnis des individuellen Entscheidungsverhaltens von Konsumentinnen/Konsumenten mittels der damit assoziierten, neuralen Gehirnstrukturen zu erlangen (Kenning, 2020). So wird in der Individual Consumer Neuroscience beispielsweise die Wahrnehmung der Konsumentinnen/Konsumenten von ökonomisch relevanten Stimuli untersucht (z. B. Preisinformationen oder Markeneffekte; Deppe et al., 2005; Knutson, Rick, Wimmer, Prelec, & Loewenstein, 2007; McClure et al., 2004). Da die soziale Dimension des betrieblichen Geschehens insbesondere in der systemorientierten InterpretationFootnote 35 der Betriebswirtschaft im Fokus steht, in der Märkte als Transaktionsmärkte definiert werden (Ulrich, 1989), stellt Konsumentenverhalten in sozialen Kontexten ebenfalls eine zentrale Forschungsrichtung dar (Kenning, 2020). So ergibt sich aus dem Teilgebiet der Social Neuroscience im Rahmen der Consumer Neuroscience die Spezifizierung der Social Consumer Neuroscience, welche sich mit interpersonellen Phänomenen und neuralen Prozessen von Konsumentinnen/Konsumenten, wie beispielsweise Vertrauen, Fairness, Empathie und Kooperation (Kenning, 2020) beschäftigt.

Wie bereits erwähnt, ist die Consumer Neuroscience durch den starken betriebswirtschaftlichen Bezug auch anwendungsorientiert ausgerichtet, sodass neurowissenschaftlich fundierte Erkenntnisse dazu genutzt werden können, eine verbesserte Marktbearbeitung (Marktsegmentierung) sowie neue Maßnahmen der Differenzierung (Marktpositionierung und -differenzierung) zu entwickeln (Briesemeister & Selmer, 2020; Kenning, 2020; Venkatraman, Clithero, Fitzsimons, & Huettel, 2012). Dieses Potenzial wird bereits, unter anderem in Marktforschungsunternehmen, Werbeagenturen und BeratungsfirmenFootnote 36, kommerziell genutzt, die neurowissenschaftliche Instrumente in ihre Angebote integriert haben (Plassmann et al., 2015; Smidts et al., 2014). Entsprechend konstituiert sich das dritte Teilgebiet der Consumer Neuroscience, die Commercial Consumer Neuroscience aka. Neuromarketing (Kenning, 2020). Auch wenn vielfach synonym verwendet, ist die Definition der Consumer Neuroscience eindeutig von der der Commercial Consumer Neuroscience zu differenzieren. Dabei ist die Consumer Neuroscience insbesondere mit einem klaren wissenschaftlichen Bezug zu verstehen, wohingegen die Commercial Consumer Neuroscience die kommerzielle Anwendung dieser Erkenntnisse im Rahmen der Marketingpraxis fokussiert (Hubert & Kenning, 2008). Dem Bereich der Commercial Consumer Neuroscience wird daher oftmals der starke Fokus auf ökonomische Ziele unterstellt, wodurch wissenschaftliche Ansprüche in mancher Hinsicht geschmälert werden könnten. Aufgrund dessen wird dieser Bereich, insbesondere in der wissenschaftlichen Literatur, zunehmend im Hinblick auf die Neuroethik kritisiert (Ariely & Berns, 2010; Matthews, 2014; Murphy, Illes, & Reiner, 2008; Olteanu, 2015). Da die Commercial Consumer Neuroscience durch neurowissenschaftliche Einblicke qualitativ fortgeschrittene Erkenntnisse über die Präferenzen von Konsumentinnen/Konsumenten erlangen kann, die weit über die Eigenauskünfte dieser hinausgehen, muss die Autonomie der analysierten Parteien geschützt werden, um Schaden und Ausbeutung dieser zu verhindern (Matthews, 2014; Murphy et al., 2008; Olteanu, 2015). Diese qualitativ differenzierte Möglichkeit der Konsumentenanalyse und der wachsende Druck auf die PraxisFootnote 37 verstärkten Forderung nach ethischen Grundsätzen innerhalb der Commercial Consumer Neuroscience (Matthews, 2014; Murphy et al., 2008; Olteanu, 2015). Folglich wurde im Jahr 2012 die internationale “Neuromarketing Science and Business Association” (NMSBA) gegründet, die ihre Mission darin sieht, Forschung und Praxis im Rahmen der Commercial Consumer Neuroscience zusammenzuführen, um für die Praxis wertvolle und wissenschaftlich valide Erkenntnisse zu erzielen (NMSBA, 2012). Erst kürzlich veröffentlichte die NMSBA ihren Code of Ethics für die Anwendung der Consumer Neuroscience in der Wirtschaft (NMSBA, 2019), zu dem sich verschiedene Unternehmen offiziell bekennen (NMSBA, 2020). Ob damit der avisierte wissenschaftliche Anspruch nach ethisch vertretbaren und publizierten Erkenntnissen erfüllt wird, bleibt zu prüfen und sollte avisiert werden.

Insgesamt lässt sich die Consumer Neuroscience anhand ausgewählter, zentraler Definitionen und für die Disziplin wesentlicher Referenzen, die in Tabelle 2.2 zusammengefasst sind, in drei Teilbereiche differenzieren, die neurowissenschaftliche Instrumente im Rahmen der Konsumentenverhaltensforschung nutzen. Analog zur Decision Neuroscience, können dabei zwei Teilgebiete für individuelles Konsumentenverhalten (Individual Consumer Neuroscience) und Konsumentenverhalten in sozialen Kontexten (Social Consumer Neuroscience) differenziert werden. Während diese beiden Teilgebiete eher im wissenschaftlichen Kontext zu verorten sind, fokussiert das dritte Teilgebiet, die Commercial Consumer Neuroscience, insbesondere die anwendungsorientierte Verwendung der Consumer Neuroscience in der Marketingpraxis.

Tabelle 2.2 Definitionen der Consumer Neuroscience. Definitionen zentraler Disziplinen werden mit entsprechenden Referenzen dargestellt

2.2.3 Consumer Decision Neuroscience

Nachdem nun die übergreifende Disziplin der Decision Neuroscience und darauf aufbauend die spezifische Disziplin der Consumer Neuroscience, mit dem Fokus auf Konsumentenverhalten, definiert wurden, soll im Nachgang das in der vorliegenden Arbeit zentrale Forschungsgebiet der Consumer Decision Neuroscience definiert werdenFootnote 38. Das ultimative Ziel, welches die Decision Neuroscience verfolgt und somit allen Teilgebieten als übergeordnete Zielstellung dient, ist eine zugrundeliegende, neurowissenschaftlich fundierte, umfassende Unified Theory des Entscheidungsverhaltens zu beschreiben (Camerer, Loewenstein, & Prelec, 2005; Foxall, 2008; Glimcher & Rustichini, 2004; Kenning & Plassmann, 2005). Wie bereits erläutert, ist dabei die Entscheidung als wesentliches Konstrukt nicht als Begrenzung des Untersuchungsrahmens, sondern als zugrundeliegender Prozess, auf den jedes Verhalten zurückzuführen ist, zu verstehen. Durch die Spezifizierung des Forschungsgebiets der Consumer Neuroscience wird insbesondere das Verhalten von Konsumentinnen/Konsumenten fokussiert, sodass es das Ziel der Consumer Decision Neuroscience ist, einer zugrundeliegenden, neurowissenschaftlich fundierten und umfassenden Theorie des Entscheidungsverhaltens von Konsumentinnen/Konsumenten näher zu kommen. Entsprechend wird das Instrumentarium der Neurowissenschaften angewandt, insbesondere deren Methoden. Zusammen mit Konzepten aus den Sozialwissenschaften – im Rahmen der Consumer Decision Neuroscience insbesondere die Konsumentenverhaltensforschung mit Einflüssen aus Psychologie und Wirtschaftswissenschaft – sollen Mechanismen und Prozesse, die dem Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten zugrunde liegen, untersucht werden.

In der Literatur wird der Begriff Consumer Decision Neuroscience als solcher bisher durch Kenning (Kenning, 2014; 2020) expliziert, welcher diese insbesondere mit der Entscheidungsfindung und kognitiven Prozessen assoziiert. Auch hier wird die Consumer Decision Neuroscience eng mit der deskriptiven Entscheidungstheorie und dem Forschungsgebiet der Decision Neuroscience verbunden, sodass das primäre Ziel darin besteht „eine neurobiologisch fundierte Theorie zur Beschreibung und Erklärung menschlicher Entscheidungen zu entwickeln und zu testen“ (Kenning, 2020, S. 172). Komplementär zu der zuvor vorgestellten Definition, positioniert sich die Consumer Decision Neuroscience, als fokussiertes Forschungsgebiet der Decision Neuroscience, durch die Spezialisierung auf die Entscheidungsverhaltensforschung von Konsumentinnen/Konsumenten im Teilgebiet der Consumer Neuroscience. Die Systematisierung der in der vorliegenden Arbeit zentralen Disziplinen und die Einordung der Consumer Decision Neuroscience wird in Abbildung 2.1 graphisch dargestellt. Basierend auf den verschiedenen Forschungsarbeiten im Rahmen der Decision und Consumer Neuroscience sowie den Dual-Process Modellen ist dabei festzustellen, dass „Entscheidungsprozesse regelmäßig einen mehrdimensionalen Charakter […] [besitzen, der aus einem] mehr oder weniger bewussten Wechselspiel von affektiven und kognitiven […] Teilprozessen“ entsteht (Kenning, 2020, S. 172). Dabei sind diese Prozesse mit der Interaktion und Interdependenz von verschiedenen neuralen Strukturen, insbesondere im präfrontalen Kortex, assoziiert. Die vorliegende Arbeit lässt sich entsprechend in der Consumer Decision Neuroscience einordnen, indem sie ausgewählte Beiträge in ein zugrundeliegendes, neurowissenschaftlich fundiertes Gesamtmodell zur Beschreibung von Entscheidungsprozessen von Konsumentinnen/Konsumenten einordnet und so schrittweise einen Beitrag dazu leitet, eine umfassende Unified Theory wissenschaftlich zu fundieren.

Abbildung 2.1
figure 1

Systematisierung der Disziplinen zur Consumer Decision Neuroscience. Die Diffusion neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, Theorien, Konzepte und Methoden in die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften führte zu neuen Forschungsgebieten, die in dieser Abbildung graphisch systematisiert werden sollen

2.3 Neurowissenschaftlich fundierte Dual-Process Theorien

Dem Ziel der zuvor definierten Consumer Decision Neuroscience folgend, soll nun eine neurowissenschaftlich fundierte Dual-Process Theorie vorgestellt werden. Dieser liegen neurowissenschaftliche Erkenntnissen zugrunde (Strack & Deutsch, 2004), um das Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten umfassend zu erklären. Als theoretischer Rahmen der vorliegenden Arbeit dient das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004), welches auf integrativ-generalisierten Dual-Process Modellen und insbesondere dem neurowissenschaftlich fundierten Reflexion-Reflektion Modell (Lieberman et al., 2002; Smith & DeCoster, 2000) aufbaut. Das Modell wurde im Jahr 2004 publiziert und bisher in 4210 Publikationen zitiertFootnote 39, worunter auch einige aktuelle Beiträge fallen (Azer & Alexander, 2020; Hubert & Hubert, 2020; Kleissner & Jahn, 2020; Mann, Kurdi, & Banaji, 2020; Novoradovskaya, Mullan, & Hasking, 2020). Hierdurch zählt es mit zu den jüngeren Veröffentlichungen der bekannten Dual-Process Theorien (Epstein, 1994; Kahneman, 2003; Lieberman et al., 2002; Smith & DeCoster, 2000) und unter neurowissenschaftlich fundierten Ansätzen zu den meist zitiertenFootnote 40 (Benhabib & Bisin, 2005; Botvinick & Cohen, 2014; Loewenstein & O’Donoghue, 2004). Das Reflektiv-Impulsiv Modell wird regelmäßig in Literaturübersichtsartikeln gelistet (Gawronski & Creighton, 2013; Grayot, 2020; Perugini, Back, Hagemeyer, & Wrzus, 2020) und wurde von Kritikern und Vertretern anderer Dual-Process Modelle evaluiert, was für eine fundierte Reflexion des Modells in der wissenschaftlichen Gesellschaft sprichtFootnote 41.

Entsprechend stellt es eine neurowissenschaftlich fundierte, aktuelle, viel zitierte und weiterhin angewandte Dual-Process Theorie dar, die einen Rahmen zur Erklärung von Konsumentenentscheidungen in der Consumer Decision Neuroscience bieten könnte.

2.3.1 Reflektiv-Impulsiv Modell

Das Reflektiv-Impulsiv Modell kann als integrativ-generalisierte Dual-Process Theorie eingeordnet werden und geht von einem parallel-kompetitiven Verarbeitungsprozess aus. Im Folgenden wird das Modell anhand der zehn Thesen (Strack & Deutsch, 2004), die das Modell definieren, beschrieben.

Das Reflektiv-Impulsiv Modell trifft die Grundannahme von zwei separaten, parallel agierenden Verarbeitungsprozesstypen (These 1 und 2) – das impulsive SystemFootnote 42 und das reflektive System (Strack & Deutsch, 2004). Wie allen Dual-Process Theorien gemein, werden die beiden handlungsleitenden Prozesstypen durch verschiedene Prinzipien der Informationsrepräsentation und -verarbeitung charakterisiert. Die Verarbeitungsprozesse operieren dabei parallel, wobei die beiden Prozesstypen während der gesamten Verarbeitung interagieren und je nach Intensität des Wahrnehmungsinputs und Aufmerksamkeitsallokation diese Interaktion unterschiedlich stark ausgeprägt ist (Strack & Deutsch, 2004). Im impulsiven Prozesstyp findet die Verarbeitung assoziativ durch verteilte Aktivierungsprozesse statt. Diese werden auf Basis vom Wahrnehmungsinput oder reflektiven Verarbeitungsprozessen hervorgerufen und können durch motivationale Orientierung oder Aufrechterhaltung der Bedürfnisbefriedigung moderiert werden (Strack & Deutsch, 2004). Dem reflektiven Prozesstyp wird ein Entscheidungsprozess unterstellt, dem Abwägungs- und Integrationsprozesse zugrunde liegen (Strack & Deutsch, 2004).

Verarbeitungsprozesse im reflektiven System benötigen kognitive Kapazitäten (These 3; Strack & Deutsch, 2004). In dieser These ist als handlungsbezogene Konsequenz davon auszugehen, dass insbesondere reflektive Verarbeitungsprozesse leicht unterbrochen werden können und entsprechend sensibel auf Erregungszustände reagieren (Strack & Deutsch, 2004). Folglich scheinen vor allem impulsive Verarbeitungsprozesse zu agieren, wenn kognitive Kapazitäten limitiert sind (Strack & Deutsch, 2004).

Während im impulsiven System assoziative Netzwerkverbindungen zwischen Elementen unterstellt werden, generiert das reflektive System semantische Verbindungen zwischen Elementen, denen durch propositionale Kategorisierung und syllogistische Rückschlüsse ein Wahrheitswert zugeschrieben wird (These 4; Strack & Deutsch, 2004). Aufgrund der bisherigen Thesen ist davon auszugehen, dass sich die beiden Verarbeitungsprozesstypen in ihrer Darstellung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen unterscheiden. Dabei wird eine neuronale NetzwerkorganisationFootnote 43 angenommen, in der beide Verarbeitungsprozesse implementiert sind und miteinander interagieren (Strack & Deutsch, 2004). Im impulsiven Prozesstyp werden dabei assoziative Verbindungen zwischen Elementen durch die Prinzipien der Kontiguität und Ähnlichkeit verbunden, die demgemäß unterschiedlich stark ausgeprägte und zeitlich relativ stabile Verlinkungen miteinander graduell aufbauen (Strack & Deutsch, 2004)Footnote 44. Bei regelmäßig parallel aktivierten Verlinkungen entstehen Korrelationen zwischen Wahrnehmungsreizen und erzeugten Reaktionen, die assoziative Cluster formen (Strack & Deutsch, 2004). Erklärt man das Prinzip des impulsiven Prozesstyps am Beispiel einer Lieblingsmarke, löst das Markenlogo zunächst eine Aktivität aus, die sich entsprechend der Gradienten zwischen den Elementen ausbreitet. Dadurch werden verschiedene Elemente, die mit dem Reiz der Lieblingsmarke assoziiert sind, aktiviert, wobei eine zuvor regelmäßige (z. B. durch hohe MarkenloyalitätFootnote 45) oder kürzlich erfolgte Aktivierung (z. B. durch kommunikationspolitische Maßnahmen) die assoziative Ausbreitung über diese Verlinkung begünstigt (Strack & Deutsch, 2004). Werden durch diesen impulsiven Verarbeitungsprozess bereits eindeutige und starke assoziative Cluster aktiviert, werden damit verbundene Handlungsoptionen (z. B. kaufen, nutzen, konsumieren) für das Verhalten leitend (Strack & Deutsch, 2004). Ein solcher Verarbeitungsprozess für eine Lieblingsmarke könnte beispielsweise Effekte wie den First-Choice-Brand (FCB) EffektFootnote 46 oder den Marketing Placebo EffektFootnote 47 (MPE) erklären (Deppe et al., 2005; Krampe, Gier, & Kenning, 2018; McClure et al., 2004; Plassmann, Doherty, Shiv, & Rangel, 2008). Im Gegensatz zum impulsiven, können im reflektiven Prozesstyp neue Verlinkungen zwischen Elementen entstehen, die bisher durch den assoziativen Verarbeitungsprozess nicht miteinander verbunden sind (Strack & Deutsch, 2004). Der reflektive Prozesstyp aktiviert hierzu im impulsiven Prozesstyp entsprechende Elemente, die durch dessen Lernprinzip miteinander einen assoziativen Link aufbauen (Strack & Deutsch, 2004). Dabei wird der reflektive Prozesstyp insbesondere durch die propositionale VerarbeitungFootnote 48 charakterisiert, die es erlaubt eine limitierte Anzahl an Informationen zeitlich begrenzt abzubilden, ihnen eine semantische Bedeutung zuzuschreiben und rationale Schemata auf diese zu übertragen (Strack & Deutsch, 2004). Dadurch kann der reflektive Prozesstyp den Verlinkungen und Elementen Wahrheitswerte zuschreiben, wobei er sich nach dem Prinzip der Konsistenz ausrichtet (Strack & Deutsch, 2004)Footnote 49. Durch diese Flexibilität im reflektiven Prozesstyp werden verschiedene mentale Verarbeitungsprozesse möglich (z. B. denken, planen, simulieren), die jedoch kognitive Ressourcen verbrauchen (vgl. These 3; Strack & Deutsch, 2004). Im impulsiven Prozesstyp wird ein erfahrungsgemäßes Bewusstsein erzeugt, welches entsteht, ohne den genauen Ursprung des Empfindens zu kennen, wohingegen reflektive Verarbeitungsprozesse mit einem noetischen BewusstseinsempfindenFootnote 50 charakterisiert werden, welche ein Gefühl des Wissens erzeugen (Strack & Deutsch, 2004).

Verhalten wird über einen vom impulsiven und reflektiven System gemeinsam genutzten Prozessweg ausgeführt, welcher im impulsiven System lokalisiert ist (These 5; Strack & Deutsch, 2004). Die Verarbeitungsprozesse der beiden Typen laufen am Ende im impulsiven Prozesstyp zusammen und aktivieren verschiedene Verhaltensoptionen, die Schemata genannt werden und in ihrer Konkretisierung variieren (Strack & Deutsch, 2004). Als Verhaltensschemata werden entsprechend die assoziativen Cluster bezeichnet, die durch den Verbund von motorischen Elementen mit assoziierten sensorischen, konzeptionellen, affektiven und verhaltensbezogenen Bedingungen und Konsequenzen entstehen (Strack & Deutsch, 2004). Wenn ein aktiviertes Verhaltensschema einen Schwellenwert übersteigt, wird das damit assoziierte Verhalten ausgeführt (Strack & Deutsch, 2004)Footnote 51.

Beide Systeme agieren auf Basis unterschiedlicher Vorgänge – Impulsreaktion oder reflektive Entscheidung – um Verhalten zu erzeugen (These 6; Strack & Deutsch, 2004). Verhaltensschemata werden dem impulsiven Prozesstyp zugeschrieben und sind daher durch die assoziative Verarbeitung der verteilten Aktivierung getrieben (Strack & Deutsch, 2004). Entsprechend werden regelmäßig genutzte Verhaltensschemata impulsiv aktiviertFootnote 52, ohne ihnen in Abhängigkeit von der Situation eine Wertigkeit oder Erfolgswahrscheinlichkeit zuzuschreiben (Strack & Deutsch, 2004). Eine Evaluation verschiedener Verhaltensschemata findet dagegen im reflektiven Prozesstyp statt, wo Verhaltensschemata anhand noetischer Entscheidungen über Machbarkeit und Erwünschtheit aktiviert werden (Strack & Deutsch, 2004). Entsprechend wird davon ausgegangen, dass beide Verarbeitungsprozesstypen Verhaltensschemata aktivieren, die je nach Kompatibilität der impulsiv und reflektiv selektierten Optionen, geäußertes Verhalten kontrollieren (Strack & Deutsch, 2004). Die Kompatibilität kann dabei sowohl synergetisch als auch antagonistisch sein. Gemäß dem Prinzip der EnergieeffizienzFootnote 53, wird primär von einer Verhaltenssteuerung durch den impulsiven Prozesstyp ausgegangen, da, These 3 folgend, der Verarbeitungsprozess über den reflektiven Prozesstyp mit einem kognitiven Ressourcenverbrauch verbunden ist (Strack & Deutsch, 2004). Bei antagonistischen Verhaltensschemata wird von einer bedingten Dominanz des reflektiven Prozesstyps ausgegangen, wobei diese stark von den gegenwärtigen externen und internen Bedingungen beeinflusst werden können (Strack & Deutsch, 2004).

Durch den Prozess des Intendings verknüpft das reflektive System avisierte Verhaltensentscheidungen mit Verhaltensschemata, welche solange durch ein Monitoring des impulsiven Systems verfolgt werden, bis das intendierte Verhalten ausgeübt werden kann oder das damit verbundene Verhaltensziel erfüllt wurde (These 7; Strack & Deutsch, 2004). Durch den Mechanismus des Intendings kann der reflektive Prozesstyp in seinem Verarbeitungsprozess getroffene Entscheidungen umsetzen, indem er entsprechende Handlungsoptionen in ihrer Durchführung begünstigt und diesen Prozess beendet, sobald ein entsprechendes Verhalten ausgeführt wurde (Strack & Deutsch, 2004)Footnote 54.

Einflussfaktoren auf die operativen Verarbeitungsprozesse sind die motivationale Orientierung (These 8) und deren Kompatibilitätsprinzipien im geäußerten Verhalten (These 9) sowie homöostatische Deregulierungen (These 10; Strack & Deutsch, 2004). Ein spezifischer Beitrag des Reflektiv-Impulsiv Modells liegt in der Integration von motivationalen Aspekten in den Dual-Process Ansatz. Dabei können die Verarbeitungsprozesse und selektierten Verhaltensschemata durch die motivationale Orientierung des impulsiven Prozesstyps, aber auch durch ein homöostatisches Ungleichgewicht in eine korrespondierende Richtung gelenkt werden (Strack & Deutsch, 2004). Die motivationale Orientierung kann beispielsweise durch Verarbeitung von positiven und negativen Informationen, das Empfinden von positiven oder negativen Gefühlzuständen sowie die Beobachtung oder Ausführung von entsprechendem Verhalten hervorgerufen werden. Es dient zur allgemeinen Vorbereitung von Reaktionen gegenüber der Umwelt, die entweder die Distanz zu dieser verkleinern oder vergrößern (Strack & Deutsch, 2004)Footnote 55. Die Informationsverarbeitung, Gemütsempfindungen und Verhaltensäußerungen werden nach der motivationalen Orientierung ausgerichtet, sodass nachfolgende Wahrnehmungsreize, die zu dieser Orientierung komplementär sind, begünstigt werden (Strack & Deutsch, 2004). Infolgedessen geht man bei der motivationalen Orientierung von einem bidirektionalen Einfluss ausFootnote 56. Dabei bestimmt zum einen die bereits bestehende motivationale Orientierung, welche Wahrnehmungsreize in der Verarbeitung begünstigt werden, zum anderen kann diese jedoch durch die Verarbeitung von Wahrnehmungsreizen verändert werden (Strack & Deutsch, 2004). Ebenso können Verarbeitungsprozesse der beiden Verarbeitungsprozesstypen durch ein homöostatisches Ungleichgewicht gelenkt werden (Strack & Deutsch, 2004). Wird beispielsweise ein Mangel in einem Grundbedürfnis (z. B. Hunger) identifiziert, werden Verhaltensschemata aktiviert, die die Verarbeitung passender Wahrnehmungsreize (z. B. hochkalorische Lebensmittel) avisiert und Bewertungsprozesse moderiert, um so diesem Mangel entgegenzuwirken (z. B. Essen; Strack & Deutsch, 2004).

Das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) beschreibt anhand von zehn Thesen wie impulsive und reflektive Verarbeitungsprozesstypen agieren, um Entscheidungsverhalten zu erzeugen und wird schematisch in Abbildung 2.2 dargestellt. Aufbauend auf vorherigen Erkenntnissen aus Dual-Process Ansätzen (Lieberman, 2007b; Lieberman et al., 2002; Smith & DeCoster, 2000) könnte das Modell einen möglichen konzeptionellen Rahmen zur Erklärung von Konsumentenentscheidungen bieten. Durch den Einbezug von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen stellt dieses ein vielversprechendes, neurowissenschaftlich fundiertes Dual-Process Modell dar, welches im Rahmen der Consumer Decision Neuroscience genutzt werden könnte, um das Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten umfassend zu erklären und so dem übergeordneten Ziel einer Unified Theory näher zu kommen.

Abbildung 2.2
figure 2

Überblick über das Reflektiv-Impulsiv Modell. Modifizierte schematische Darstellung der impulsiven und reflektiven Verarbeitungsprozesse (Strack & Deutsch, 2004)

2.3.2 Wissenschaftstheoretische Einordnung nach Kuhn

Nach der wissenschaftstheoretischen Interpretation von KuhnFootnote 57 (Kuhn, 1979) geht man, analog zu den Ansätzen von Lakatos (Lakatos, 1974) und Feyerabend (Feyerabend, 1983), davon aus, dass eine Wissenschaft theoretische Rahmenbedingungen definiert, innerhalb derer wissenschaftliche Aktivitäten und Auseinandersetzungen stattfinden (Chalmers, 1999). Entsprechend könnte das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) als mögliches ParadigmaFootnote 58 für eine neue Normalwissenschaft der Consumer Decision Neuroscience dienen. Jedoch scheint sich noch keine vollständig entwickelte Normalwissenschaft konstituiert zu haben, was sich anhand verschiedener Indikatoren vermuten lässt.

Zunächst scheinen die hauptsächlich kognitiv geprägten AnsätzeFootnote 59, die weiterhin regelmäßig Anwendung in der Betriebswirtschaft finden (Danckwerts, 2020; Gelbrich et al., 2018; Griese & Bröring, 2011; Kern, 2020; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Meffert et al., 2019; Trommsdorff & Teichert, 2011), Konsumentenentscheidungen teilweise nur unzulänglich erklären zu können. Dies könnte nach Kuhn auf eine Krise hindeuten (Chalmers, 1999; Kuhn, 1979). Durch eine Revolution aus der Psychologie und Neurowissenschaft heraus, konstituierte sich die (Consumer) Decision Neuroscience. Diese veränderte die Möglichkeit zur Betrachtung der Konsumentinnen/Konsumenten durch Integration neuer Methoden in die Normalwissenschaft der Betriebswirtschaftslehre, insbesondere des Marketing, radikalFootnote 60. Dies könnte somit auf Merkmale einer Revolution nach Kuhn hinweisen (Chalmers, 1999).

Durch das Zusammentreffen verschiedener Wissenschaften in der Consumer Decision Neuroscience entstehen hohe Freiheitsgrade in der Wahl und Konzipierung von Studien. Dies kann jedoch auch zu konkurrierenden Ansichten und InkommensurabilitätFootnote 61 der bestehenden Paradigmen führen, was laut Kuhn ebenfalls für eine Revolution typisch ist (Chalmers, 1999). Es kommt, wie bei der Consumer Decision Neuroscience, zu einer „wachsenden Verlagerung der fachwissenschaftlichen Bindungen“ (Kuhn, 1979, S. 169), die bei einer erfolgreichen Revolution den Großteil der wissenschaftlichen Gesellschaft überzeugt (Chalmers, 1999). Anhand der in der vorliegenden Arbeit bereits dargestellten Diskurse in der wissenschaftlichen Gesellschaft über die Grundannahmen der Theorien (Evans & Stanovich, 2013; Gigerenzer, 1996; Grayot, 2020; Kahneman & Tversky, 1996) lässt sich jedoch erkennen, dass Dual-Process Ansätze als disziplinäres System bisher noch keine umfassende Problemlösungen bieten, die vorwiegend akzeptiert sind (Kuhn, 1979). Dennoch könnte sich die Consumer Decision Neuroscience zu einer neuen Normalwissenschaft entwickeln, der es zurzeit noch an weiteren Musterbeispielen bedarf, um ein disziplinäres SystemFootnote 62 dieser zu definieren. Entsprechend sollen in der vorliegenden Arbeit ausgewählte Beiträge Musterbeispiele innerhalb der disziplinären Matrix liefern und bestätigenFootnote 63. Selektiv werden die Wirkungszusammenhänge, wie im Reflektiv-Impulsiv Modell unterstellt, fokussiert und mit verschiedenen methodischen Herangehensweisen untersucht. Dadurch soll die weitere Entwicklung der Consumer Decision Neuroscience im Sinne eines disziplinären Systems der Normalwissenschaft vorangetrieben werden, um dem übergeordneten Ziel einer Unified Theory zur Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen näher zu kommen.