Zusammenfassung
Partizipative Forschung rückt das Konzept der Teilhabe in und durch Forschung ins Zentrum. Ziel ist es, die gesellschaftliche Teilhabe benachteiligter Gruppen zu stärken – und zwar durch deren Beteiligung an Forschungsprozessen. Drei Komponenten zeichnen den Ansatz aus: a) die doppelte Zielsetzung, Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern, b) die Beteiligung von Co-Forschenden mit Entscheidungsmacht und c) Befähigungs-, Reflexions- und Ermächtigungsprozesse. Ausgewählte Herausforderungen, wie ungleiche Voraussetzungen für Partizipation, werden besprochen.
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Schlüsselwörter
1 Einleitung
„In this historical moment, the presuppositions of the academy, research, and health and social interventions cannot assert neutrality. Insights into the nature of science, language and subjectivity outlined in history and critical social theory alert us to the operation of power in familiar discourses that have tended to disguise or neutralize it. (…) We see more deeply how race and racism, ethnicity, socioeconomic status, nativity, gender identity, sexual orientation, ableism, and so on affect core values and communication that constitute our research practices (…).“ (Wallerstein & Duran, 2018, S. 17-18)
In diesem historischen Moment, so Nina Wallerstein und Bonnie Duran, könne Forschung keine Neutralität mehr behaupten. Es ist mittlerweile bekannt, dass wissenschaftliche Diskurse gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduzieren, auch wenn dies verschleiert werde. Rassismus, ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischer Status, Herkunft, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung und Behindertenfeindlichkeit prägen die Forschungspraxis. Daher ist es erforderlich, dass Wissenschaftler*innen dem Rechnung tragen und sich zu sozialer Ungleichheit und ungleicher Teilhabe positionieren. Die beiden US-amerikanischen Gesundheitsforscherinnen vertreten den Ansatz der community-basierten partizipativen Forschung (CBPR), der im nordamerikanischen Raum weit verbreitet ist. Dieser Ansatz sieht eine enge Zusammenarbeit mit sozial und gesundheitlich benachteiligten Gruppen und lebensweltlichen Gemeinschaften (engl. Communities) vor. Die partnerschaftliche Forschung beginnt mit der Identifizierung und Auswahl von Themen, die für die Communities relevant sind und zielt darauf ab, die Teilhabe der Gruppen zu stärken und gesundheitliche Ungleichheit abzubauen.
Auch im deutschsprachigen Raum erlebt die partizipative Forschung in den letzten Jahren eine wahre Renaissance. Die in den 1970er Jahren populäre Aktions- bzw. Handlungsforschung Jahre war in den 1980er und 1990er Jahren stark zurück gegangen, so sehr, dass einzelne gar von einem Scheitern sprachen und den Ansatz zu Grabe tragen wollten (von Unger et al., 2007, S. 17 ff.). Aber: Totgesagte leben länger, der Forschungsstil überlebte, in unterschiedlichen Ausprägungen und Feldern und mit verschiedenen Labels (wie Praxisforschung, transdisziplinäre Forschung, inklusive Forschung u.v.m.). Zu den neueren Begriffen gehört auch „Citizen Science“, ein Ansatz, der – aus den Naturwissenschaften kommend – aktuell eine große Strahlkraft besitzt.Footnote 1 Die hier vertretene Auffassung von partizipativer Forschung ist dagegen genuin in den Sozialwissenschaften beheimatet und hat einen gesellschaftlich transformativen und emanzipatorischen Anspruch. Letzteres ist nicht bei allen Varianten von Citizen Science der Fall – teilweise geht es ‚nur‘ um eine Beteiligung von Laien an der Datenerhebung, wie z. B. bei dem Mückenatlas oder der Meldung von Vogelsichtungen. Auch diese Form der Einbeziehung von Laien in die Datenerhebung ist wertvoll, kann sie die Forschung doch ungemein bereichern, die Grenzen von Wissenschaft durchlässiger machen und Wissenschaft in der Gesellschaft verständlicher, relevanter und erlebbarer werden lassen. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen dem Sammeln und Einsenden einer Mücke und der Form der Beteiligung, die in der partizipativen Forschung angestrebt wird. Hier werden Personen als Partner*innen am gesamten Forschungsprozess beteiligt, entscheiden über das Vorgehen mit, nehmen kollektive Reflexionsprozesse wahr und streben zudem gesellschaftliche Veränderungsprozesse an. Um eine Klärung der Frage, was unter partizipativer Forschung im engeren Sinne zu verstehen ist, geht es in diesem Beitrag. Dabei verfolge ich keine Agenda der künstlichen Abgrenzung oder gar Abwertung von benachbarten Ansätzen, sondern ich möchte in dem vielfältigen und teilweise etwas unübersichtlichen Feld des gemeinschaftlichen Forschens solche Aspekte markieren, die eine partizipative Forschungspraxis auszeichnen. Mein Verständnis ist dabei wesentlich von drei Diskurssträngen geprägt: 1) der internationalen Debatte um Action Research (Lewin, 1946; Reason & Bradbury, 2008) und Participatory Action Research (Brydon-Miller et al., 2011; Fine & Torre, 2008), 2) dem nordamerikanischen Ansatz Community-Based Participatory Research (CBPR) (Israel et al., 2018; Flicker et al., 2007; Wallerstein & Duran, 2018) und 3) deutschsprachigen Debatten um Aktionsforschung und partizipative Forschung (z. B. Altrichter & Gstettner, 1993; Bergold & Thomas, 2012; Hartung et al., 2020; Wright et al., 2010). Auch Methodologie-Debatten der qualitativen Forschung und der Forschungsethik fließen ein (von Unger, 2014 2018, 2021).
Partizipative Forschung ist ein „Forschungsstil“ (Bergold & Thomas, 2012, Abs. 2), der in verschiedenen Feldern zur Anwendung kommt, wo die Idee der gemeinschaftlichen Wissensgenerierung in gewisser Weise immer wieder neu erfunden, begründet und legitimiert wird. Dies trägt zu einer methodologischen Wildwüchsigkeit bei, die eine Fülle an Begriffen, Verfahren und Ansätzen für verschiedene Varianten des partizipativen, emanzipatorischen, inklusiven Forschens zur Folge hat. Dies stellt aus wissenschaftlicher Sicht eine Ungenauigkeit und mangelnde Kohärenz dar. Aus forschungspraktischer Sicht ist die begriffliche Vielfalt jedoch eine logische Konsequenz lokaler Kooperationen und situativ eingebetteter Arbeitsweisen, die in der Sprache der beteiligten Akteur*innen jeweils eigene Anschlüsse an Diskurse und Praxisfelder vornehmen. Es gibt also nicht „die eine“ partizipative Forschung, sondern viele Ausprägungen. Ordnungsversuche laufen schnell Gefahr, die vorhandene Heterogenität aus einer bestimmten Perspektive zu reduzieren, einzelne Positionen hervorzuheben und andere zu übersehen oder verkürzt darzustellen. Andererseits sind Ordnungsversuche hilfreich, um die verschiedenen Stränge zueinander in Bezug zu setzen. Da dies aber nicht vollumfänglich gelingen kann, ließe sich als Minimalforderung formulieren, dass die jeweilige Vorgehensweise zu relevanten Ansätzen in dem eigenen Feld in Bezug gesetzt werden sollte. Denn schließlich ist die Beteiligung an Forschung in „diesem historischen Moment“ eine nicht mehr ganz neue Erfindung.
Für das Feld der partizipativen Forschung zu Behinderung, Inklusion und Teilhabe schlägt neben vielen weiteren Stimmen auch Melanie Nind (2014) vor, den Begriff der „inklusiven Forschung“ als Oberbegriff zu verwenden. Gertraud Kremsner und Michelle Proyer (2019) sprechen daran anschließend von einer „Familie sich überlappender Forschungsansätze“. Auch Tobias Buchner, Oliver König und Saskia Schuppener (2016) nutzen den Begriff der inklusiven Forschung als Oberbegriff für partizipative und emanzipatorische Forschung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Während der Begriff der inklusiven Forschung grundsätzlich ein partizipatives Vorgehen impliziert, trifft dies für die Begriffe der „Inklusionsforschung“ oder „Teilhabeforschung“ nicht unbedingt zu. Ein Gros der Forschung über Inklusion und Teilhabe (als Forschungsgegenstand) ist (im Hinblick auf die methodische Herangehensweise) nicht partizipativ gestaltet. Gleichwohl ist der vorliegende Sammelband ein Ausdruck davon, dass auch Teilhabeforschung partizipativ gestaltet werden kann (vgl. Otten & Abay in diesem Band).
2 Was zeichnet partizipative Forschung aus?
Der Begriff der partizipativen Forschung rückt das Konzept der Teilhabe in und durch Forschung ins Zentrum. Ziel ist es, die gesellschaftliche Teilhabe benachteiligter Gruppen zu stärken – und zwar durch deren Beteiligung an Forschungsprozessen (Bergold & Thomas, 2012; Hartung et al., 2020; von Unger 2014, 2018). Nun ist klar, dass Strukturen sozialer Ungleichheit historisch gewachsen sind und sich nicht über Nacht und auch nicht im Rahmen einzelner Projekte unmittelbar ändern lassen. Es muss daher zwischen längerfristigen Zielen und Visionen einerseits und kurz- bzw. mittelfristigen Projektzielen andererseits unterschieden werden. Beide Ebenen sind wichtig: Ohne die Vorstellung einer anderen, besseren Realität würde ein zentrales transformatives und motivierendes Element fehlen; aber ohne die Fähigkeit, erste Schritte auf dem Weg dorthin als konkrete Projektziele zu definieren, hätte die forschende Zusammenarbeit keine realistische Grundlage.
Aus akademischer Sicht handelt es sich bei der partizipativen Forschung um einen Versuch, Forschung in eine bestimmte Richtung zu bewegen: hin zu mehr Mitsprache von Akteur*innen aus den Forschungsfeldern bei der Problemdefinition und dem Vorgehen, mehr Zusammenarbeit und Reziprozität in den Forschungsbeziehungen und mehr Einfluss der Forschungs-‚Subjekte‘ auf das Wissen, das über sie generiert wird. Partizipative Forschung bewegt sich auf die Felder und die darin verorteten Akteur*innen zu: Sie greift deren Themen auf, nutzt ihre Perspektiven und Relevanzsetzungen als strukturierendes Moment und versucht, die Zusammenarbeit „zum Gewinn für beide Seiten“ zum machen (Bergold & Thomas, 2012, Abs. 1). Die Herausforderungen eines derart ambitionierten Vorhabens sind nicht zu unterschätzen – dies ist eine der Lehren, die aus der Geschichte der Aktionsforschung im deutschsprachigen Raum gezogen werden kann (Altrichter & Gstettner, 1993; von Unger et al., 2007). Vor diesem Hintergrund bespreche ich in diesem Beitrag auch ausgewählte Herausforderungen. Doch zunächst möchte ich drei zentrale Komponenten erläutern, die partizipative Forschung auszeichnen: die doppelte Zielsetzung, Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern (2.1); die Beteiligung von Co-Forschenden mit Entscheidungsmacht (2.2) und Befähigungs-, Reflexions- und Ermächtigungsprozesse (2.3) (von Unger, 2014).
2.1 Doppelte Zielsetzung: Wirklichkeit verstehen und verändern
Wie in dem Eingangszitat bereits anklang, nimmt die partizipative Forschung in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine konstruktivistische Grundhaltung ein: Wirklichkeit ist nicht einfach da, sondern wird permanent durch Sprache und deutende soziale Akteur*innen hervorgebracht (Gergen & Gergen, 2008). Dies hat Implikationen für Forschung: Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit sind kein einfaches Spiegelbild einer bestehenden Realität, sondern bringen diese mit hervor. Forschung ist grundsätzlich situiert, d. h. in eine spezifische gesellschaftliche, historische, politische, technologische etc. Situation eingebettet und durch diese geprägt. Gleichzeitig prägt auch die Forschung ihre Felder. Ob intendiert oder nicht, Forschung hat immer auch ein intervenierendes Moment, sie nimmt Einfluss und kann Spuren hinterlassen (z. B. allein dadurch, wie und zu welchen Themen Fragen gestellt werden – und welche Fragen nicht gestellt werden). Angesichts dieser epistemologischen Einsichten versucht die partizipative Forschung ihre eigene Verwicklung proaktiv zu nutzen. Sie versucht gar nicht erst, quasi ,gottgleich‘ aus dem nirgendwo auf die Dinge zu schauen, also den „god trick“ (Haraway, 1996) zu spielen, und der unrealistischen „Fiktion“ einer subjektlosen, objektiven Wissenschaft nachzueifern (Breuer et al. 2002, Abs. 2). Stattdessen zielt sie von vornherein darauf ab, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Der Veränderungsimpetus richtet sich im Allgemeinen auf mehr Gerechtigkeit, Teilhabe, und Demokratie und im Besonderen, je nach Feld, Ansatz und Zielsetzung der Zusammenarbeit, z. B. auf mehr Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr gesundheitliche Chancengleichheit, mehr Teilhabe von Menschen mit körperlichen, geistigen und/oder psychischen Einschränkungen, eine bessere Gewährleistung von Menschenrechten, mehr globale Solidarität etc.
In forschungspraktischer Hinsicht definieren Projekte der partizipativen Forschung zweierlei Ziele: Handlungsziele und Erkenntnisziele. In der Regel dienen die Erkenntnisziele den Handlungszielen: Welches Wissen wird benötigt, um welche Veränderungen anzustoßen? Wird kein (neues) Wissen benötigt, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass der Aufwand, der mit Forschung verbunden ist, nicht nötig ist, weil Akteur*innen gleich zur Tat schreiten können, z. B. in Form von politischer Einflussnahme, sozialen und gesundheitlichen Interventionen oder anderen Formen sozialen und politischen Handelns.
2.2 Beteiligung von Co-Forschenden – mit Entscheidungsmacht
Das vielleicht prägnanteste Element, das partizipative Forschung von anderen Varianten der Social-Justice-Forschung, die sich auch einer wertebasierten, doppelten Zielsetzung in dem oben beschriebenen Sinne verschreiben würde (Charmaz, 2011), unterscheidet, besteht in der Form der forschenden Zusammenarbeit mit Akteur*innen aus dem Feld. Personen, Gruppen, Gemeinschaften und/oder Organisationen, die in dem Feld verortet sind, das im Zentrum des Interesses steht, wirken als Partner*innen und Co-Forschende mit. Sie sind als Expert*innen ihrer Lebenswelt an der Planung und Umsetzung der Studie von der Themenwahl bis zur Veröffentlichung und Nutzung der Ergebnisse beteiligt. So können lebensweltlich relevante Anliegen identifiziert und partnerschaftlich erforscht werden, um Wissen zu generieren, das in diesen Zusammenhängen Veränderungen bewirkt.
Co-Forschende zu beteiligen bedeutet nicht nur, deren Teilnahme an Forschungsprozessen zu ermöglichen. Vielmehr geht es darum, auch ihre Teilhabe an Entscheidungsprozessen, die das Studiendesign und das gemeinsame Vorgehen betreffen, zu gewährleisten. Angestrebt wird eine möglichst gleichberechtige Zusammenarbeit aller Partner*innen. Da selten alle Mitglieder einer Organisation, Gemeinschaft, Lebens- oder Arbeitswelt in diesem Sinne involviert werden können (und wollen), kommt abgestuften Formen der Beteiligung ein hoher Stellenwert zu.
Ein Modell unterscheidet folgende Stufen der Partizipation (Wright et al., 2010): Instrumentalisierung (1) und Anweisung (2) sollten als Formen von Nicht- oder Scheinpartizipation unbedingt vermieden werden. Zu den Vorstufen der Partizipation zählen Information (3), Anhörung (4) und Einbeziehung (5). Diese sind wichtig, um eine größere Anzahl von Personen, Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen adressieren und einbeziehen zu können, stellen aber noch keine ,wirkliche‘ Partizipation dar. Diese beginnt erst dort, wo Partner*innen Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten haben, im Sinne einer Mitbestimmung (6), teilweise Entscheidungskompetenz (7) oder Entscheidungsmacht (8). Diese Stufen der Partizipation werden in der Regel von einzelnen Mitgliedern und Vertreter*innen einer Gruppe, Gemeinschaft oder Organisation wahrgenommen. Selbstorganisation (9) als die letzte und höchste Stufe des Models weist über Partizipation im engeren Sinne – also die projektbezogene Zusammenarbeit – hinaus. Dieses Modell kann dabei helfen, Transparenz über Beteiligungsmöglichkeiten und deren Wahrnehmung in der Zusammenarbeit herzustellen. In der Forschungspraxis kann die konkrete Ausgestaltung der Beteiligung an den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses variieren und im Ausmaß fluktuieren (von Unger, 2012). Andrea Cornwall und Rachel Jewkes (1995, S. 1668) sprechen von einem „zig-zag pathway with greater or less participation at different stages“. Nicht immer können und wollen alle Partner*innen auf den höchsten Stufen (6–8) mit Entscheidungsmacht an allen Prozessen teilhaben. Es geht darum, die jeweils gewünschte und passende Stufe zu finden. Zentral ist allerdings, dass bereits zu Beginn, d. h. möglichst bereits in der Planungsphase, Praxis- und Community-Partner*innen beteiligt sind (von Unger 2012). Nur so kann sichergestellt werden, dass bei der Themenfindung und Zielsetzung tatsächlich die Anliegen der Lebenswelt-Expert*innen berücksichtigt werden. Beteiligung bedeutet in der Regel zudem, dass Co-Forschende am Forschungsprozess selbst mitwirken, d. h. dass sie Daten erheben, auswerten und an Veröffentlichungen beteiligt sind.
Methodisch kommen neben qualitativen und quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung verstärkt auch visuelle, performative und kunstbasierte Verfahren zum Einsatz (wie Photovoice, Digital Storytelling oder Mapping-Verfahren) (vgl. Gangarova & von Unger, 2020; Hartung et al., 2020; Rieger et al., 2018). Es werden solche Verfahren bevorzugt, die für alle Partner*innen nachvollziehbar sind und mit einem überschaubaren Schulungsaufwand ggf. von Community-Partner*innen im Sinne einer Peer-Forschung selbst angewendet werden können (Roche et al., 2010). Allerdings sind alle Partner*innen, also auch die akademischen Partner*innen, an der Generierung und Auswertung von Daten beteiligt. Es ist die Verschränkung der Perspektiven, die den besonderen Erkenntnisgewinn partizipativer Forschung ausmacht. Indem lebensweltliche, akademische und ggf. weitere professionelle Perspektiven und Wissensbestände (wie etwa von Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, Städteplaner*innen, Ingenieur*innen, Künstler*innen, etc.) zusammengeführt werden, kann neues Wissen entstehen. Dass damit auch Differenzen und Deutungskonflikte verbunden sein können, versteht sich von selbst. Auf die wichtige Rolle der Adressierung von Perspektivdifferenzen und der Bearbeitung von Konflikten komme ich später noch einmal zurück.
Community- und Praxispartner*innen sind also auch an der Auswertung beteiligt. Partizipative Auswertungsverfahren werden in formale und weniger formale, strukturierte und unstrukturierte, in solche, bei denen die Co-Forschenden besonders geschult werden, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist, sowie explizite und implizite Ansätze unterschieden (Nind, 2011). Melanie Nind betont die Notwendigkeit, Verfahren zu wählen und zu entwickeln, die dem jeweiligen Projektkontext und den Beteiligten angemessen sind. Auch wenn manche Gruppen in ihren Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt sind (wie Kinder oder Menschen mit Lernbehinderung), sollte das analytische Vermögen der Mitglieder dieser Gruppen nicht unterschätzt werden (ebd.). Im Kern geht es in der partizipativen Forschung nicht darum, ein vorgegebenes, methodisches Verfahren lehrbuchmäßig umzusetzen, sondern darum, Reflexion zu ermöglichen – und zwar eine gemeinsame Reflexion der beteiligten Partner*innen, die aus unterschiedlichen Perspektiven Deutungen vornehmen. Im Idealfall verstehen sich die Partner*innen als Teil einer heterogen zusammengesetzten Forschungsgemeinschaft (engl. community of inquiry), in der mit unterschiedlichen Lesarten und „multiplen Wahrheiten“ gearbeitet wird, die komplexe und kontextualisierte soziale Wirklichkeiten widerspiegeln (Nind 2011, S. 359). Der Reflexions- und Auswertungsprozess ist also ein co-konstruktiver Prozess. Dieser zielt nicht darauf ab, einzelne Stimmen (z. B. die Stimmen der Lebenswelt-Expert*innen) als besonders „authentisch“ darzustellen oder eine „reine oder unbefleckte“ Analyse zu erreichen (ebd.). Vielmehr handelt es sich um kollektive Deutungsprozesse, um „Interpretationen von Interpretationen“ (Gregg et al., 2010, S. 150), die erkenntnistheoretisch auf der Annahme basieren, dass grundsätzlich verschiedene Deutungen möglich und Wissensbestände in ihrer jeweiligen Situiertheit keinen Anspruch auf objektive Wahrheit stellen können. Daraus folgt, dass alle Partner*innen einerseits für ihre jeweiligen Wissensbestände anerkannt und wertgeschätzt werden (Brydon-Miller et al., 2011), diese im gemeinsamen Reflexionsprozess aber andererseits auch Gegenstand von Fragen, Interpretationen und Kontextualisierungen sind, um neue Erkenntnisse und Lernprozesse zu ermöglichen.
2.3 Lernprozesse, Empowerment, Capacity Building
Bislang wurde skizziert, dass partizipative Forschung Wissen generiert, um Veränderungen anzustoßen, und dass dafür die Beteiligung von Partner*innen aus den Lebenswelten in forschender Funktion und mit Entscheidungsmacht unerlässlich ist. Doch Beteiligung allein reicht nicht aus. Die Partner*innen sollen gestärkt aus der Zusammenarbeit hervorgehen. Dazu sind Befähigungs- und Ermächtigungsprozesse notwendig, die nicht von außen induziert, sehr wohl aber unterstützt und ermöglicht werden können. Als Grundhaltung werden die Wissensbestände, Ressourcen und Kompetenzen aller beteiligten Partner*innen wertgeschätzt (Brydon-Miller et al., 2011). Dass sich diese unterscheiden, muss angemessen reflektiert werden (Burtscher et al., 2019). Um den Lebenswelt-Expert*innen zu ermöglichen, wissenschaftliche Methoden systematisch anzuwenden, sind in der Regel Schulungen notwendig, die entweder vorab und/oder begleitend im Sinne eines learning-by-doing stattfinden. Hier sind die akademischen Forscher*innen gefragt, darauf zu achten, Methodenwissen verständlich zu kommunizieren und den Partner*innen nicht ihre methodischen Präferenzen aufzudrängen (Ozkul, 2020). Befähigungs- und Ermächtigungsprozesse finden jedoch nicht primär in Schulungen statt, sondern vor allem im Zuge des iterativen Forschungsprozesses, der Handeln und Reflexion verknüpft. In der englischsprachigen Diskussion bezeichnen ‚Co-Learning‘, ‚Capacity-Building‘ und ‚Empowerment‘ jene Prozesse, die zu der individuellen und kollektiven (Selbst-)Befähigung und Ermächtigung der Beteiligten beitragen (sollen) (Israel et al. 2018).
Der ursprünglich aus der Gemeindepsychologie stammende Begriff ‚Empowerment‘ bezeichnet einen Prozess, infolgedessen Personen, Organisationen und Gemeinschaften mehr Kontrolle über ihr Leben erlangen (Rappaport, 1981). Erst durch ermächtigende Prozesse können Beteiligungschancen so genutzt werden, dass sie nicht instrumentalisierend oder manipulativ wirken, sondern tatsächlich Stärkungsprozesse und Teilhabe befördern (Wallerstein, 2006). Um diese Prozesse angemessen begleiten zu können und zu einer partizipativen Zusammenarbeit befähigt zu werden, müssen übrigens auch die akademischen Wissenschaftler*innen Lernprozesse durchlaufen. Der kritischen Reflexion der eigenen Privilegien und Vorannahmen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu (Muhammad et al., 2018).
3 Erfahrungswerte und Herausforderungen
In ihrer Bestandsaufnahme zu partizipativer Gesundheitsforschung im nordamerikanischen Raum kommen Viswanathan und Kolleg*innen (2004) zu dem Schluss, dass die Beteiligung einer lokalen Bevölkerungsgruppe an der Forschung nicht garantiere, dass Macht und Ressourcen tatsächlich zu ihnen verlagert werden. Forschungspartnerschaften können nicht vollständig horizontal sein, so die Autor*innen, da eine volle Gleichberechtigung unter anderem durch Gemeinschaftsnormen, institutionelle Trägheit und verinnerlichte Erwartungen eingeschränkt werde. Dies erlaube den mächtigeren Teilnehmer*innen, so gut gemeint ihre Intentionen auch sind, zu bestimmen, welcher Grad der Beteiligung in welcher Phase für wen am wertvollsten ist (Viswanathan et al., 2004, S. 24). Diese Problembeschreibung weist auf eine zentrale Herausforderung, vielleicht sogar ein zentrales Paradox der partizipativen Forschung hin: Der Ansatz ist besonders auf die Zusammenarbeit von akademischen Wissenschaftler*innen mit marginalisierten Gemeinschaften ausgerichtet, deren Mitglieder nur begrenzten Zugang zu Ressourcen und Entscheidungsmacht haben (Israel et al., 2018). Allerdings sind die Bedingungen, aus denen sich die Notwendigkeit einer partizipativen Methodik ergibt, das genaue Gegenteil eines gleichberechtigten Dialogs (Kelly und van Vlaenderen, 1996, S. 1244). In einer solchen Konstellation kommt der Reflexion ungleicher Voraussetzungen für eine Teilhabe und ungleich verteilter Macht- und Einflussmöglichkeiten in der forschenden Zusammenarbeit ein essenzieller Stellenwert zu. Partizipative Forschung ist qua definitionem von asymmetrischen Beziehungen und unterschiedlichen Wissensbeständen geprägt. Wenn darüber keine Auseinandersetzung stattfindet, dann werde „die Rede von einer ‚Zusammenarbeit auf Augenhöhe‘ oder von ‚geteilter Entscheidungsmacht‘ zur wohlklingenden, aber irreführenden Floskel“ (Burtscher et al., 2019, S. 178). Trotz bester Intentionen kann es zu Formen der Scheinpartizipation kommen. Formulierungen wie „Wir haben gemeinsam entschieden“ verschleierten allzu oft, dass die Entscheidung de facto allein von den Wissenschaftler*innen getroffen wurde (ebd., S. 178–179). Eine gleichberechtigte Zusammenarbeit kann also nicht vorausgesetzt, sondern muss aktiv angestrebt und ermöglicht werden. Gezielte Strategien zur aktiven Ermöglichung von Teilhabe sind vor allem für die Partner*innen erforderlich, deren Teilhabechancen im Alltag stärker eingeschränkt sind (z. B. im Zusammenhang mit niedrigem Einkommen, rechtlichen, sprachlichen, körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen). Nicht nur Aufwandsentschädigungen und Honorare für die Mitarbeit an Forschung sind notwendig. Auch Fragen der Kommunikation und Verständigung müssen bewusst bearbeitet werden. So zeigen Erfahrungen der partizipativen Forschung mit geflüchteten Menschen mit Behinderungen, dass Kategorisierungen und Identitätszuschreibungen sowie komplexe Kommunikationsbedingungen zentrale Herausforderungen darstellen: Nicht nur sprachlich-kulturelle Übersetzungen sind erforderlich, sondern auch die Sinnvermittlung zwischen Hörenden und Nicht-Hörenden oder Sehenden und Nicht-Sehenden, um den Forschungsprozess partizipativ zu gestalten (Otten, 2019).
Missverständnisse und Konflikte sind ein unausweichlicher Bestandteil der Zusammenarbeit von Partner*innen, die mit sehr unterschiedlichen Interessen, Perspektiven und Möglichkeiten ausgestattet sind. Konflikte können diese Partnerschaften einerseits strapazieren, sind aber andererseits auch Ausdruck davon, dass die beteiligten Partner*innen in der Lage sind, ihre jeweiligen Interessen und Wahrnehmungen zu artikulieren. Gelingt es, die Sichtweisen nachvollziehbar darzulegen und sich zuzuhören, können Konflikte in der Zusammenarbeit eine Chance sein, Perspektivdifferenzen zu verstehen und Kompromisse zu finden. Auf diese Weise können Konflikte einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leisten, dem Ideal der gleichberechtigten Zusammenarbeit in der Forschungspraxis tatsächlich einen Schritt näher zu kommen.
Neben den ungleichen Voraussetzungen für Partizipation kann die Vulnerabilität der beteiligten Community-Partner*innen eine weitere Herausforderung für das partnerschaftliche Forschen darstellen. Sind sie selbst Angehörige einer marginalisierten Gruppe, sind auch sie Benachteiligungen ausgesetzt, die in der Rolle als Co-Forschende und Peer Researcher zu besonderen Belastungen führen können. Auch dies gilt es kommunikativ zu adressieren, um Risiken und Belastungen abzubauen, die betroffenen Partner*innen zu unterstützen und einen angemessenen Umgang zu finden, der paternalistische Bevormundung vermeidet und statt dessen die Selbstbestimmung der beteiligten Partner*innen achtet und stärkt. Best-Practice-Empfehlungen für partizipative Forschung zu sensiblen Themen wie gender-basierte Gewalt raten dementsprechend, in der Zusammenarbeit auf die Gewährleistung der Sicherheit von Teilnehmenden und Forschenden zu achten und darauf hinzuwirken, Machtungleichheiten innerhalb des Forschungsprozesses auszugleichen (Thomas et al., 2020). Räume für individuelle und kollektive Reflexivität sowie Supervisionsangebote werden damit zu einer Notwendigkeit in der forschenden Zusammenarbeit.
4 Schlussbemerkung
Wird es in diesem historischen Moment gelingen, den Ansatz der partizipativen Forschung auch im deutschen Sprachraum längerfristig zu etablieren? Im internationalen Kontext fällt auf, dass vor allem indigene Communities partizipative Forschung einfordern und befördern (Ball & Janyst, 2008; Castleden et al., 2012; Fraser et al., 2017; Willows, 2019; Wong et al., 2013). Hier spielen negative Erfahrungen mit akademischer Forschung, die koloniale Ausbeutungsverhältnisse perpetuiert und sowohl Respekt als auch Reziprozität vermissen lässt, eine zentrale Rolle. Forschungsethische Leitlinien wurden formuliert, beispielsweise in Kanada, die eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit diesen Bevölkerungsgruppen verbindlich für staatlich finanzierte Forschung festlegen (TCPS2, 2018). Forschungsethische Argumente, zivilgesellschaftliche Fürsprecher*innen und staatliche Forschungsfördermechanismen können also einen entscheidenden Unterschied machen. Gleichzeitig ist partizipative Forschung kein ‚one-fits-all approach‘ für Forschung allgemein. Sie kann vor allem dann ein passender Zugang sein, wenn marginalisierte Gruppen und Gemeinschaften ein Interesse daran haben, wissenschaftliche Erkenntnisse und Repräsentationen über sich mitzugestalten und die erforderlichen Bedingungen für eine solche Teilhabe gegeben sind. Neben den materiellen Voraussetzungen bedarf es einer wertschätzenden Haltung gegenüber lebensweltlichen Wissensformen, einer Bereitschaft zur Selbstreflexion und partnerschaftlichen Zusammenarbeit sowie eines Diskurses unter partizipativ Forschenden, der jenseits dogmatischer Setzungen zur Reflexion über die beträchtlichen Herausforderungen einlädt und gelungene Beispiele als Lösungsansätze aufzeigt.
Notes
- 1.
Vgl. Citizen-Science-Plattform https://www.buergerschaffenwissen.de (Zugegriffen: 15.05.2021).
Literatur
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von Unger, H. (2022). Mehr Teilhabe durch partizipative Forschung: Grundzüge eines Forschungsstils. In: Wansing, G., Schäfers, M., Köbsell, S. (eds) Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Beiträge zur Teilhabeforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38305-3_16
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