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1 Einleitung

Gemäß Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist Deutschland dazu verpflichtet, den Schutz von Ehe und Familie zu gewährleisten und Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen in diesen Bereichen zu beseitigen. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD, 2015) mahnt in den abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands die unzureichende Unterstützung für Familien mit beeinträchtigten Mitgliedern an und fordert auch dazu auf, Familien mit Migrationshintergrund besser zu versorgen (BMAS, 2016, S. 57). Ebenfalls wird eine erleichterte Adoption von Kindern mit Beeinträchtigungen gefordert (CRPD, 2015, S. 11). Informationen zur familiären Teilhabe- und Versorgungssituation an der Schnittstelle von (Flucht)Migration und BehinderungFootnote 1 liegen bislang kaum vor. Der Beitrag diskutiert zunächst zentrale Ergebnisse und Perspektiven vorliegender Forschungen und argumentiert anschließend mit dem Ansatz des Doing Family (Jurczyk, 2020) für eine familienwissenschaftliche Weitung der Teilhabeforschung. Folgend werden relevante Ergebnisse eines Projekts zum Thema „Migration und Behinderung in Hessen“ (MiBeH) im Hinblick auf zentrale Aspekte der Herstellung von Familie vorgestellt und abschließend resümiert.

2 Familie in der Teilhabeforschung

Der zweite TeilhabeberichtFootnote 2 der Bundesregierung fasst den Lebensbereich „Familie und soziales Netz“ als eine zentrale Dimension von Lebenslage auf (BMAS, 2016). Unter Lebenslage wird die Einbindung in die soziale, ökonomische, historische und kulturelle Umgebung oder – kurz – in verschiedene Lebensbereiche verstanden, die wiederum die Möglichkeiten der Lebensführung von Menschen beeinflussen. Der Familie und dem weiteren sozialen Netz (z. B. Freund*innen, Nachbar*innen) wird eine wichtige Rolle für Teilhabe beigemessen, da diese Ressourcen für Zugänge, Unterstützung und Anerkennung bereitstellen und somit Handlungsspielräume von Personen maßgeblich erweitern können (ebd.).

Auf der Basis vorhandener sozialstatistischer Daten stellt der Teilhabebericht hierzu die Faktenlage für die Jahre 2010–2014 zusammen. Hierzu zählen z. B. Informationen über Haushaltsformen oder über familiäre Zufriedenheit. Die Datenlage erweist sich jedoch als mangelhaft mit Bezug auf Themen wie „besondere Belastungen von Familien mit beeinträchtigten Mitgliedern oder die Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Unterstützungsleistungen“ (ebd., S. 83). Ein Blick in die vertiefende Sonderauswertung vorliegender Daten zu Menschen mit Beeinträchtigung und Migrationshintergrund verschärft diesen Befund erheblich, insofern deutlich wird, dass Informationen über deren familiäre Lebenslage praktisch nicht vorhanden sind. Erste relevante Informationen liegen allein zu ihren Familienformen vor: Demnach leben etwa zu gleichen Anteilen Menschen mit Beeinträchtigungen mit aber auch ohne Migrationshintergrund als Paar ohne Kind (48 %; 47 %) und nur geringe Anteile als Familie mit Kind (9 %; 9 %). Alleinlebend sind in der Gruppe mit Beeinträchtigung ohne Migrationshintergrund höhere Anteile (33 %) als in der mit sozialstatistischem Migrationsmerkmal (26 %). Der Anteil derjenigen, die in Familien mit Kindern leben, sind in den Gruppen ohne Beeinträchtigungen deutlich höher, und dies gilt noch stärker für die mit Migrationshintergrund (26 %; 19 %) (ebd., S. 460). Beeinträchtigungen machen in Kombination mit Migrationshintergrund demnach einen Unterschied für den Teilhabebereich Familie. Diese Daten sagen wenig über die weitere Teilhabe sowie über die durch Familie ermöglichten, belasteten oder verwehrten Zugänge, Unterstützungen und Anerkennungen aus. An weiteren aussagekräftigen quantitativ wie auch qualitativ empirischen Daten über Familien an der Schnittstelle sozialer Kategorien wie Behinderung und Migration fehlt es in der Teilhabeforschung. Wir argumentieren, dass Teilhabeforschung mit Bezug auf Familie sich dabei nicht nur auf die Untersuchung von Bedingungen für barrierefreie Einbezüge beziehen sollte. Zu untersuchen sind sowohl die intersektionalen Ein- und Ausschlüsse bei (familiären) Unterstützungsleistungen als auch die alltäglichen, familiären Handlungs- und Gestaltungsspielräume.

3 Familie in der intersektional orientierten Forschung

Die Studie von Donja Amirpur (2016) ist ein erster Meilenstein einer intersektional auf Familie bezogenen qualitativen Teilhabeforschung. Dabei geht sie der empirischen Frage nach, wie Familien an der Intersektion von Migration und Behinderung die Angebote des deutschen Hilfesystems wahrnehmen und wie sie sich in diesen zurechtfinden. Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und mit türkischer und iranischer Herkunft bilden das Sample. Sie gelangt zu komplexen Ergebnissen und stellt unter anderem fest, dass Klassen- und Geschlechterverhältnisse sowie soziale Netze die Informationen über und die Zugänge zum Hilfesystem bestimmen. Zudem wird die Bedeutung von machtvollen und sich verschränkenden Ausgrenzungen für Elternschaft herausgearbeitet, die die Problemwahrnehmung in Bezug auf das Kind verstärken. Insgesamt verfügen die Familien über geringe Ressourcen für die Durchsetzung von Leistungen, was nicht zuletzt einen Vertrauensverlust in das Hilfesystem befördern kann (ebd., S. 267 f.). Eine weitere Perspektive liegt mit der Studie von Dinah Kohan (2012) vor. Sie untersucht qualitativ und quantitativ die Verständnisse von Behinderung und familiäre Haltungen und Einstellungen gegenüber Hilfe. Die Untersuchungsgruppe bilden jüdische und russisch-sprachige Kontingentflüchtlinge mit einem geistig oder psychisch beeinträchtigten Familienmitglied. Neben Eltern wurden auch Geschwister und Expert*innen befragt. Im Ergebnis bestätigt sich die verbreitete Annahme einer Doppel- oder Mehrfachbelastung durch Migration und Behinderung eher nicht. Für die Angehörigen relativiert sich Belastung über den Vergleich des Lebens mit Behinderung in der Herkunftsgesellschaft, hier der ehemaligen Sowjetunion, und im Einwanderungsland Deutschland (ebd., S. 104). Für die Familien ergeben sich durch die Migration eher Chancen. Allerdings sind diese abhängig von strukturellen Gegebenheiten, persönlichen Familien- und Lebensverhältnissen sowie individuellen Lebenshaltungen (ebd., S. 297). Dennoch sind herkunftsgesellschaftliche Erfahrungen für (familiäre) Haltungen und Einstellungen, z. B. in Bezug auf die Selbstbestimmung der Kinder, zu beachten. Die Studie von Julia Halfmann (2012) befasst sich mit den Lebenswelten von Familien mit einem Kind mit komplexen Beeinträchtigungen und untersucht die Widerfahrnisse durch Migration und Behinderung. Im Gegensatz zu den beiden anderen Studien werden hier nicht ausgewählte Migrationsgruppen, sondern Mütter unterschiedlicher Herkunftsgruppen untersucht. Insgesamt wird aufgezeigt, dass Widerfahrnisse sehr unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und bewältigt werden (ebd., S. 224 ff.). Neben diesen Studien liegen eine Reihe von Erfahrungs- und Praxisberichten zu Familien an der Schnittstelle von Migration und Behinderung vor (Gültekin, 1989; Skutta, 1998; Firat, 2006; Hennige, 2006; Kaiser-Kauczor, 2014). Die Perspektive richtet sich dabei meist auf Eltern von beeinträchtigten Kindern und auf Herkunft aus der Türkei. Insgesamt ist erkennbar, dass die vorliegende Forschungen sich vorrangig auf nicht-beeinträchtigte Eltern und deren Sicht auf ihre Kinder mit Behinderung beziehen, jedoch die Betroffenen selbst nicht einbeziehen. Zudem zeigt sich eine Konzentration auf bestimmte Migrations(sprach)gruppen oder Beeinträchtigungsarten. Überwiegend befassen sich die Studien, wenngleich theoretisch und methodisch unterschiedlich, mit der Bewältigung der familiären Lebenssituation und mit dem familiären Zugang zum und der Teilhabe im Hilfe- und Versorgungssystem. Familienwissenschaftliche Fragen nach der Herstellung von Familie und damit auch von Teilhabe werden hingegen noch nicht gestellt und untersucht.

4 Familie als Herstellungsleistung

Familie ist trotz gesellschaftlicher Veränderungen und vielfältiger Strukturen und Bedeutungen eine weiterhin beständige, unter politisch-rechtlichem Schutz und Förderung stehende, Lebensform, die durch soziale, häufig verwandtschaftlich und mehrgenerational geprägte, Beziehungen und Bindungen strukturiert ist. Aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Familienforschung ist diese Lebensform nicht vorgegeben, sondern stellt – in Anlehnung an den Ansatz des Doing Family (Jurczyk, 2020) – eine Herstellungsleistung dar. Diese ist umso notwendiger, wenn Familie angesichts inner- und außerfamiliärer Entwicklungen, wie z. B. zunehmender sozialer Ungleichheit oder wachsenden Ansprüchen nach individueller Lebensgestaltung, unter Druck gerät und damit „komplexer, kontingenter und voraussetzungsvoller“ (ebd., S. 7) wird. Familie ist längst nicht mehr ein selbstverständlicher Lebensbereich und gleichzeitig wird Familie politisch re-familialisiert, d. h. Eltern werden in ihrer Verantwortung für die Leistung familiärer Wohlfahrtsproduktion aktiviert (Oelkers & Richter, 2009). Familie muss sich unter diesen Bedingungen über alltäglich und biographisch aufeinander bezogenes Handeln und über eigene Praktiken als eine soziale Gruppe und Gemeinschaft beständig konstituieren. Dabei ist kennzeichnend, dass „(…) die wechselseitige informelle Sorge um das körperliche, emotionale und geistige Wohl im Zentrum steht“ (Uhlendorf et al., 2013, S. 43).

Insbesondere Familien, die von herrschenden auf Familie bezogenen Normen abweichen oder (krisenhafte) Veränderungen durchlaufen, müssen sich nach innen und nach außen als funktionierende Familie darstellen und bestätigen. Diese Notwendigkeit wird bei Familien in der (Flucht)Migration als von besonderer Bedeutung angenommen (Westphal et al., 2017; 2019a). Das Thema Migration und Flucht wird inzwischen von der familienwissenschaftlichen Debatte wahrgenommen (Ecarius & Schierbaum, 2020) und mit Bezug auf den Doing Family Ansatz untersucht (Jurczyk, 2020, S. 60 ff.). Dieser wird bislang im Kontext Behinderung noch ausgespart. Es stellt sich zunächst die Frage, für wen und unter welchen Bedingungen an der Schnittstelle Migration und Behinderung Familie überhaupt herstellbar ist. Für Geflüchtete gelten etwa aufenthaltsrechtliche Restriktionen für die Zusammenführung und Aufrechterhaltung von Familie (Westphal & Aden, 2020). Das Recht von Menschen mit Beeinträchtigungen selbstbestimmt eine Familie zu gründen und Elternschaft zu leben sowie eine Ehe zu schließen bzw. eine Partnerschaft zu führen, ist trotz Artikel 23 UN-BRK weiterhin mit etlichen Hürden und Vorurteilen verbunden.

Die empirische Annäherung an das Doing Family erfolgt entlang der Aspekte familiärer Konstellationen, Praktiken, Dynamiken und Vorstellungen. Hierzu ziehen wir die Daten der explorativen Studie „Verbesserung der Teilhabe von Menschen an der Schnittstelle von Migration und Behinderung in Hessen“ (MiBeH) heran. Das Projekt ist partizipativ orientiert, insofern eingewanderte Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Vertretungsorganisationen, Unterstützungsnetzwerke, Selbstorganisationen und Schlüsselpersonen durchgängig eingebunden wurden (Afeworki Abay & Engin, 2019). Es wurde initiiert durch die Beauftragte der hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen und das Referat für Integrationsforschung und Monitoring des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration und in enger Kooperation mit diesen durchgeführt. Die bisher vorliegenden Ergebnisse werden regelmäßig in Politik und sozialer Praxis rückgekoppelt, um konkrete Verbesserungen in der Teilhabe zu erzielen (Westphal et al., 2019b).

30 leitfadengestützte Interviews wurden von einem mehrsprachigen Forschungsteam in verschiedenen Sprachen durchgeführt (Deutsch, Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Russisch und Englisch) und konsekutiv gedolmetscht oder danach übersetzt. Bei Bedarf wurden diese multimodal oder in Leichter Sprache geführt. Ausgewertet wurde das Material deduktiv und induktiv angelehnt an das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2002; Kuckartz, 2014). Fragebereiche waren Barrieren, Ressourcen und Perspektiven aus Sicht von Betroffenen. Familie war somit nicht die zentrale Fragestellung, wurde aber in den jeweiligen Fragefeldern durch die Teilnehmer*innen selbst thematisiert und teils im Interview angeregt oder nachgefragt. Die Teilnehmer*innen sind entweder selbst oder ihre Eltern im Rahmen von Arbeitsmigration, Flucht und Aussiedlung nach Deutschland aus unterschiedlichen Herkunftsländern und zu verschiedenen Zeitpunkten (jedoch alle vor 2014) eingewandert. Zum Zeitpunkt der Interviews lebte der größte Teil seit mehr als 15 Jahren und ein geringer Teil weniger als 7 Jahre in Deutschland. Sie haben unterschiedliche Beeinträchtigungen und Behinderungen, mit denen sie seit Beginn des Lebens oder einem späteren Zeitpunkt im Lebensverlauf umgehen. Vertreten sind in dem Sample sowohl Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung als auch Eltern mit einer eigenen Beeinträchtigung, sowie Personen, die (noch) keine eigene Familie gegründet haben (Westphal et al., 2021).

4.1 Familienkonstellationen

Die Teilnehmer*innen leben überwiegend kernfamiliär, d. h. zusammen mit Ehepartner*innen und Kindern oder ihren Eltern(-teilen). Nur diejenigen, die im Zuge der Arbeitsmigration kamen, bereits lange in Deutschland leben und über 60 Jahre alt sind, geben mehrgenerationale und verwandtschaftlich erweiterte Konstellationen im Haushalt oder im näheren Umfeld an. Jüngere Personen im Alter zwischen 20 bis 30 Jahren leben meist mit ihren Eltern in einem Haushalt zusammen oder in einer betreuten Wohnform und selten in einer Partnerschaft. Wenige sind geschieden oder getrennt bzw. wiederverheiratet. Einige leb(t)en in binationalen Partnerschaften bzw. Ehen mit deutschstämmigen Personen. Unter den Teilnehmerinnen werden neue Ehen oder Partnerschaften im Vergleich zu den männlichen Teilnehmern selten angesprochen.

Teils sind die Teilnehmer*innen gemeinsam mit Angehörigen und teils allein zugewandert, davon konnten wenige zu bereits hier lebenden Familienangehörigen nachziehen. Insgesamt zeigen sich bei allen Personen Familienfragmentierungen. Es leben nicht nur weitere Verwandte, sondern auch Elternteile oder (Enkel-)Kinder sowie Geschwister im Herkunftsland oder in einem anderen Land. Insbesondere von denjenigen, die im Rahmen von Flucht einwanderten, leben einige gänzlich ohne weitere Familienangehörige in Deutschland. Auch nach einer Ehescheidung haben sich bei Personen mitunter vollständige Kontaktabbrüche im Lebensverlauf ergeben. Diese von verwandtschaftlicher Familie weitgehend getrennt oder distanziert Lebenden geben im Interview allerdings familienähnliche Beziehungen zu betreuendem oder pflegendem Personal an. Bei hohem, d. h. täglichem und mehrstündigem Unterstützungsbedarf, wird das Fachpersonal teils zur Familie gezählt. Die Hilfeleistungen ersetzen, ergänzen und erweitern familiäre Beziehungen. Sie werden insbesondere dann, wenn sie anhaltend an eine Person gebunden sind, als familienersetzend beschrieben. Dabei werden sie nicht nur zur Familie gezählt, sondern stellen diese gleichsam über gemeinsame Sorgepraktiken mit her.

„Sie [gesetzliche Betreuerin A.d.V.] kennt auch schon meine ganze Familie, so lange, Und vorhin habe ich gesagt, die ist schon fast meine Mutter. Wir haben nie Probleme gehabt […] Wenn ich irgendwas brauche, wenn ich Hilfe brauche, so dies und das eigentlich brauch ich sie, mehr sie brauche ich.“ (Herr B)

4.2 Familienpraxis

Zu den bedeutsamen Praktiken familiärer Lebensführung zählen Rituale wie etwa Familienfeiern und gegenseitige Familienbesuche, die bei vielen aufgrund migrationsbedingter Familientrennungen selten stattfinden. Aufenthaltsrechtliche, gesundheitliche und finanzielle Gründe beschränken die Mobilität nachhaltig. Eine transnationale familiäre Lebensführung mittels regelmäßiger Reisen zu Familienangehörigen im Herkunftsland oder in anderen Ländern wird daher nur von sehr wenigen angesprochen. Regelmäßige soziale Kontakte zu entfernt lebenden Familienangehörigen finden vorrangig telefonisch statt, andere vor allem technisch voraussetzungsvollere Kommunikationswege werden wenig thematisiert. Der Aufwand könnte im Zusammenhang mit Alter, Gesundheit und vorhandener Technik stehen. Ferner verfügen in den Herkunftsländern nicht alle Angehörigen über dieselben technischen Voraussetzungen, um Kommunikation außerhalb der Telefonie umzusetzen.

Insbesondere Geflüchtete unterliegen Reisebeschränkungen. Aber auch mit gesichertem Aufenthaltstitel und deutschem Pass können einige aufgrund fehlender Pflegestrukturen im Herkunftsland sowie durch fehlende bzw. nicht zugebilligte Unterstützung seitens deutscher Versorgungsstrukturen die ersehnten Familienbesuche nicht durchführen.

„Das ist ein wichtiges Thema, über das wir sprechen müssen. Ja, 16 Jahre her, dass ich meine Heimat nicht besucht, dass ich weg von meiner Heimat war und ich wollte – weil meine Mutter war schon alt und wollte mich sehen, bevor sie stirbt. Sie weiß nicht, wie lange hat sie weiter zu leben, weil sie war schon über 80. Und, ja, bin ich zu Sozialamt gegangen, ich möchte meine Heimat besuchen und so und ich brauche Unterstützung. Sie sagen, nein, nur in Deutschland, hier ist meine Pflege.“ (Herr C)

Verschränkte Hürden zeigen sich auch darin, wenn Personen aufgrund ihres hohen medizinischen Versorgungsbedarfs selbst nicht reisefähig sind und zum anderen ihre Angehörigen kein Visum für eine Besuchsreise nach Deutschland erhalten. So passiert es, dass etliche Teilnehmer*innen ihre Angehörigen über Jahre oder auch nie (wieder) sehen und treffen werden.

Eine weitere familiäre Praxis stellt die sprachliche Kommunikation nach innen und nach außen dar, die überwiegend mehrsprachig gestaltet wird. Teils sprechen Personen die deutsche Sprache nicht oder kaum und kommunizieren nach innen vollständig in der Herkunfts- bzw. Familiensprache. Die aktive Gestaltung zeigt sich in alltäglichen Praxen der Übersetzung zwischen der deutschen Umgebungs(laut)- und (schriftlichen) Verwaltungssprache und den Familiensprachen durch deutschsprechende Angehörige oder in die Familie integrierte Assistenz-, Betreuungs- und Pflegekräfte. Der Umgang mit Kommunikation und Verständigung nimmt einen großen zeitlichen wie inhaltlichen Raum im familiären Alltag ein.

Insgesamt werden jedoch vielfältige Sorgetätigkeiten in Pflege, Assistenz und Betreuung als Kern familiärer Alltagspraxis deutlich. Vor allem weibliche Familienangehörige gestalten diese Sorgeverhältnisse. Sie springen ein, wenn formelle Sorge über Fachkräfte misslingt, ausfällt, fehlt oder beendet wurde. Die familieninterne Pflege wird von etlichen so lange wie möglich präferiert. Allerdings verweist ein Teilnehmer darauf, dass er explizit nicht von seiner Frau gepflegt werden möchte.

„Okay ich habe eine Frau, also meine Frau also sagen wir gibt es, aber meine Frau ist doch nicht meine Pflegekraft die 24 h neben mir bleiben kann. Also die Frau muss ja auch ein privates Leben haben, sie muss zum Kurs gehen, muss dies tun jenes tun, die Wohnung dies das, also hat ihr eigenes Dings. Ich sie habe sie doch nicht geheiratet und als Pflegekraft nach Hause gebracht, nun sie ist meine Ehefrau.“ (Herr P)

Er musste gegenüber dem Leistungsträger sein Recht und das seiner Frau auf ein selbstbestimmtes Ehe-/Familienleben jedoch erst hart erkämpfen. Schlussendlich konnte er nach Widerspruch und Klage eine professionelle Pflege durchsetzen.

Insgesamt erscheinen die familiären Praxen weitreichend bis nahezu vollständig eingebunden in formelle wie informelle Routinen der Pflege und der medizinisch-therapeutischen Versorgung. Besonders bei Familien mit einem schwer- und mehrfachbehinderten Kind zeigen sich enge Spielräume für weitere familiäre Aktivitäten. Existentielle Ängste sind bestimmend, wenn ein noch ungeklärter Aufenthalt einen umfassenden Zugang zu medizinischer und pflegerischer Versorgung verhindert. Zu der rechtlich und wirtschaftlich prekären und sozial stark isolierten Familiensituation kommen die alleinige alltagspraktische Verantwortung für die gelingende Pflege des Kindes und die Sorge und Betreuung weiterer Kinder hinzu. So dreht sich im Alltag alles um die Sicherstellung von medizinischer Mindestversorgung, um die Beantragung von und die Hoffnung auf Hilfen sowie um die familiäre Kompensation von abgelehnten oder unzureichenden Hilfen. Zu dieser Belastungssituation kommen nicht zuletzt enorm beengter Wohnraum, sozial segregierte Umgebungen und allgemeine Mobilitätsbarrieren hinzu, die entlastende, gemeinsame, d. h. familiäre, Aktivitäten kaum zulassen.

„Wir sind immer zuhause. Immer. Das ist großes Problem. Mein Kind ganz-, ganzen Sommer wir waren zuhause […] Mein Kind immer hat gesagt, Mama heute schönes Wetter. Wir könnten rausgehen. Zum Beispiel wir gehen zu einem Platz, kann man mit Rollstuhl rauskommen, ein bisschen Kinder-, frische Luft. Und dann wir auch könnten bisschen raus. Wissen Sie, wir könnten mit normalen Leuten leben.“ (Frau J)

Die zitierte Mutter ist jahrelang mit ihren drei Kindern weitgehend auf sich allein gestellt und kann ohne die Hilfe ihres Mannes die Wohnung nicht verlassen. Da er lange Arbeits- und Wegezeiten hat und weder über einen Führerschein noch über ein Auto verfügt, kann sie keine weiteren sozialen Kontakte anbahnen oder gar an Familienausflüge denken. Erst mit Erhalt eines gesicherten Aufenthalts verbessert sich die medizinische Versorgungssituation und die Assistenz- und Pflegepersonen erweitern die familiären Möglichkeiten für Entspannung und Freizeit. Familienentlastende bzw. -unterstützende Dienste sind allerdings weder in dieser noch in anderen Familien vorhanden.

Vorrangig die Teilnehmer*innen, die mit mehrgenerationalen und verwandtschaftlich erweiterten Konstellationen im nahen Umfeld leben, können von regelmäßigen Familienaktivitäten berichten. Zu geselligen mit familiärer Unterstützung möglichen Aktivitäten zählen Spaziergänge und Parkbesuche, die allein nicht möglich wären oder das gemeinsame Fernsehen und Essen. Insbesondere die Personen, die Fachkräfte zur Familie zählen, berichten über gemeinsame kostenpflichtige FreizeitaktivitätenFootnote 3, z. B. Kino- oder Museumsbesuche.

4.3 Familiendynamiken

Der Umgang mit den Familientrennungen ist auch nach Jahren für etliche Teilnehmer*innen sehr belastet, auch wenn sie auf unterschiedliche Weise versuchen die (transnationalen) Beziehungen und Kontakte zu regulieren. Einige fühlen sich dabei zu wenig in ihrem Wunsch nach einem Wiedersehen von anderen unterstützt und verweisen auf Folgewirkungen für ihren Gesundheitszustand. Für andere stellen die regelmäßigen Telefonate mit nahen Verwandten im Herkunftsland lange Zeit die einzige Quelle von Wohlbefinden dar. Die herkunfts-/familiensprachliche Kommunikation vermittelt Geborgenheit und Verständnis und stellt eine alltagspraktische emotionale Stütze dar.

„Manchmal ich sage mal, vielleicht jemand kommt zuhause, hilft auch, ist aber nicht so große Hilfe, wie wenn jemand kommt, sitzt und dann kann man sprechen. Kann man nur erzählen und ein bisschen-. Natürlich, kann ich nicht-, und dann ich rufe nur meine Schwester oder meinen Vater [im Herkunftsland A.d.V]. Ja, ich spreche dann zu viel (lacht).“ (Frau J)

Wiederum andere distanzieren sich und meiden den Kontakt zu Familienangehörigen, die im Herkunftsland leben. Als Grund werden gesellschaftliche Tabuisierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Behinderung in den Herkunftskontexten angegeben. Teils werden Beeinträchtigungen aus Angst vor Vorurteilen und Missachtung innerhalb der weiteren im Ausland lebenden Familie verschwiegen. Des Weiteren werden Beeinträchtigungen aus Rücksicht vor familiärer Sorge heruntergespielt oder geleugnet. Außerdem zeigt sich Scham aufgrund von sozialer Segregation in Förderschulen, Werkstätten und/oder Wohnheimen. Der folgende Teilnehmer verschweigt seit Jahren gegenüber seinem Vater im Herkunftsland seine Erwerbs- und Lebensbedingungen in Deutschland.

„Ich habe meine Krankheit nie meinem Vater erzählt. Der weiß, dass ich nur Rückenschmerzen habe. Ich habe immer gesagt, ich muss schwer arbeiten. Der weiß nicht, dass ich im Wohnheim wohne. Weiß nicht, dass ich in der Behindertenwerkstatt arbeite. Ich bin so ein stolzer Mensch. […] Der weiß nur, dass ich ein bisschen Rückenschmerzen habe. Seit 15 Jahren kämpfe ich mit dieser Krankheit. Ich werde meine Familie nie wiedersehen.“ (Herr M)

Familiäre Zugehörigkeit, Beziehungen und Unterstützungen werden allerdings größtenteils als bedeutsame und oft einzige Ressource für Selbstbestimmung und Wohlbefinden in den Gesprächen betont. Diese spiegeln allerdings auch teils bevormundende Familiendynamiken wieder. So erzählen während des Interviews anwesende Elternteile (insb. Mütter) stellvertretend für ihre betroffenen erwachsenen Kinder, unterbrechen und korrigieren deren Aussagen, obgleich diese zu selbstläufigen und nachvollziehbaren Erzählungen befähigt sind.

Die Einwilligung in gesetzliche Betreuung und ihre Übernahme stellen sich als eine weitere familiäre Dynamik insbesondere bei den jüngeren Personen dar. Nur diejenigen, die keine nahen Familienangehörigen in Deutschland haben, geben eine externe Person mit dieser Aufgabe an. Ein Teilnehmer wird zunächst ehrenamtlich von einer in der Flüchtlingsarbeit engagierten Person begleitet, die ihm auch bei seinen ärztlichen Untersuchungen, Klinikaufenthalten und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zur Seite steht. Zwischen beiden entwickelt sich eine verlässliche Beziehung, bei der die Person für den Teilnehmer zu einem Vaterersatz wird und die gesetzliche Betreuung auf seinen Wunsch hin annimmt.

„Gott sei Dank, ich habe diesen Mann-. Der war meine Rettung gewesen. Also, mein Betreuer […] So lieber Mann. Hat meine Vater-. Was er mir getan hat, hat mein Vater mir nicht getan“. (Herr M)

Für einige ist es wichtig, dass die unterstützende Person die Familiensprache spricht und/oder aus derselben ethnisch-sozialen Community kommt, um auch mit der übrigen Familie kommunizieren bzw. am Familienalltag teilhaben zu können.

„Sie [Fachkraft A.d.V.] sollte unsere Kultur wissen, die Gerichte wissen, kennen, und was soll sie denn mit jemand Fremden sitzen und gemeinsam bereden. Sie könnte sich nicht anvertrauen, nicht unterhalten. Also du kannst jetzt nicht mit jemand Deutschem sitzen und einen Film ansehen.“ (Frau K)

Die familiäre Dynamik zeigt sich schließlich durch den Umgang mit institutioneller und alltäglicher Diskriminierung bestimmt. Dabei reflektieren Eltern, vor allem diejenigen mit höherem Bildungsabschluss sowie mit expliziten Rassismuserfahrungen, die Folgen der Intersektionalität von Alltagsrassismus und Dis-/Ableismus für Erziehung und Bildung. Sie zeigen sich dabei bemüht, ihre Kinder oder auch ihr Umfeld diversitätssensibel aufzuklären, offen verschiedene Diskriminierungserfahrungen aufzuarbeiten und eine gesellschaftskritische Haltung einzunehmen.

Weitere Herausforderungen nehmen Eltern mit einer Beeinträchtigung wahr, insofern sie teils abhängig vom Aufenthaltsstatus stets für die eigene adäquate Versorgung mit Hilfsmitteln kämpfen müssen. Bei Elternschaft, Erziehung und Betreuung werden sie vorrangig innerfamiliär unterstützt. In keinem Fall wird auf außerfamiliäre Elternbegleitung oder -assistenz hingewiesen. Insgesamt wird eher beiläufig eine selbstständige Wahrnehmung der Elternrolle dargelegt.

4.4 Familienvorstellungen

Viele wünschen sich mehr Familie, da mit dieser Lebensform Erfahrungen und Vorstellungen von ganzheitlicher alltäglicher Sorge, emotionaler Verbundenheit und sozialer Anerkennung einhergehen. Familiäre Erfahrungen und Vorstellungen werden im Interviewverlauf oft im Zusammenhang von Ressourcen thematisiert.

Gefragt nach Wünschen und eigenen Perspektiven geben etliche den Wunsch nach Gründung und dem Gelingen einer eigenen Partnerschaft und Familie an. Insbesondere die jüngeren und in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen Beschäftigten geben dabei an, sich eine „normale“ Familie zu wünschen.

„Ich würde gerne eine Familie haben. Eine Familie so zu Hause mit Frau und Kinder. Und tolle Weihnachten feiern. Zusammen in Kirche gehen. Ich brauche eine Frau zu streiten, weißt Du. Die schmeißt … bei mir an Kopf. (lachen) Weißt Du. Ich kaum geh raus, komm drei, vier Stunden wieder, weißt Du ich meine, Kind weint: „Papa wohin gehst du?“ Weißt Du ich meine. Ich komm gleich, ich komm gleich. So. Ich kauf Schokolade oder Lutscher, weißt Du. (…) ja, ich würde gerne Familie haben. Eine perfekte, so normale, vernünftige, bisschen stützen kann ich sie und sie mich auch.“ (Herr B)

Die geringen sozialen Kontakte außerhalb von Werkstatt und Familie erschweren allerdings die Suche nach einer Partnerschaft. Eine der wenigen Personen, die ihren Partner in der Werkstatt kennen gelernt hat, wünscht in Zukunft mit ihm als Familie zusammenleben zu können, was allerdings mit Hürden verbunden ist.

„Mit meinem Freund auch einmal irgendwann, mal gucken, zusammenziehen, mal sehen […]. Und sein Kind zu uns holen halt. Er hat ein Kind. Weil es darf ja uns nicht sehen. Das ist doof ein bisschen momentan. Wir sind jetzt am Kämpfen für das Sorgerecht. Und da wollen wir jetzt einmal gucken, ob wir es nach Ort xy kriegen. Dass es zu uns kommt.“ (Frau S)

Der Wunsch nach Ehe und Familiengründung wird auch von im Interview anwesenden Eltern vorgebracht. Während ein Betroffener sich zu diesem Thema selbst nicht ausdrückt, wiederholt die Mutter den Wunsch mehrfach. Vermutlich erhofft sie eine Familie für ihren Sohn, wenn sie selbst einmal nicht mehr für ihn sorgen kann.

Vorstellungen von Familie und Sorge sind schließlich von den Erfahrungen in den Herkunftskontexten im Hinblick auf Verständnis von und Umgang mit Behinderungen geprägt. So wird etwa mit Bezug auf afrikanische Herkunftskontexte verdeutlicht, dass die Sorge nicht allein bei der Kernfamilie liege, sondern als eine Aufgabe der erweiterten Verwandtschaft und der dörflichen Gemeinschaft angesehen werde.

„Bei uns, die Familie hilft dort, wo kein Assistent ist. Du bist wie der Boden für die Familie, weil die Familie muss machen, was hier Assistenten machen“ (Herr A)

Aus diesem Verständnis heraus kann es als belastend wahrgenommen werden, wenn Familienangehörige nicht verfügbar sind. Auch werden wohlfahrtsstaatliche Hilfen nicht unbedingt als selbstverständlich angefragt und beansprucht. Allerdings können Personen mit Beeinträchtigungen in Deutschland jedoch auf formell organisierte Sorgeleistungen hoffen.

„Hier, weißt du, die Regierung unterstützt behinderte Leute […] Aber dort, wenn du behindert bist, das sind deine Probleme. Das ist deine- deine Familie. Keine Unterstützung von Regierung.“ (Herr C)

Auch vor diesem Hintergrund wird Familie sowohl auf praktischer als auch normativer Ebene zu einer eigenständigen und nicht selbstverständlichen Herstellungsleistung.

5 Resümee

Ausgehend von den bestehenden Lücken in der Teilhabeforschung zu Familie an der Schnittstelle von Migration, Flucht und Behinderung haben wir eine familienwissenschaftliche Perspektive vorgeschlagen. Den Blick haben wir dabei nicht auf die Familie im Hilfesystem gerichtet, sondern auf die Bedeutung von Hilfe im Familiensystem selbst. Hierzu wurden Daten einer explorativen Studie genutzt, die Familie im engeren Sinn nicht zum Forschungsgegenstand hatte. Allerdings wurde Familie in den Interviews explizit selbst thematisiert, beiläufig erwähnt oder ausgespart. Dennoch verweisen alle auf die (normative) Herstellung von sorgender Familie bzw. familienähnlicher Arrangements. Die Praxen der Herstellung erweisen sich als begrenzt. Intersektionale Benachteiligungen zeigen sich zum einen in Bezug auf Gründung und Erhalt von Familie als Gemeinschaft und zum anderen in Bezug auf alltägliche familiäre Aktivitäten, in denen die adäquate Versorgung im Zentrum steht. So verweisen diese ersten empirischen Annäherungen auf die zentrale Bedeutung des Hilfesystems als Ko-Produzent von Familie (Jurczyk, 2020, S. 11).

Die Relevanz von Behinderung wie auch von Migration als Intersektionalitätskategorien (Schildmann & Schramme, 2018) für die Teilhabe und das Bemühen um Doing Family zeigt sich sehr komplex. (Flucht)Migrations- und behinderungsspezifische Herstellungsleistungen sind zwar separat zu identifizieren, überlappen sich in unterschiedlicher Weise auch mit anderen Kategorien (insb. Alter, Geschlecht, soziale und ethnisch-nationale Herkunft, Bildungshintergrund) in verschiedenen familiären Kontexten und Aspekten. (Flucht)Migrationsspezifik kann je nach (Flucht)Migrationsform und -zeitpunkt sehr unterschiedlich für Familie ausfallen. Ausländer- und asylrechtliche Bedingungen fördern und begrenzen jedoch (kern)familiäres Zusammenleben sowie den Zugang zu sozialrechtlichen und gesundheitlichen Hilfen. Obgleich viele der Teilnehmer*innen seit vielen Jahren in Deutschland leben, eingebürgert und hier geboren sind, sind eklatante Benachteiligungen ihrer Teilhabe festzustellen. Sprachbarrieren, fehlende Aufklärung und Systemunkenntnis sowie Rassismuserfahrungen sind Hemmschwellen bei der Durchsetzung von Ansprüchen auf Hilfen (z. B. familienentlastender Dienst, Elternassistenz). Diese (flucht)migrationsspezifischen Bedingungen verstärken die häuslich-familiäre Verantwortung für Hilfe bei Familienangehörigen mit Beeinträchtigung und erzeugen vielfach soziale Isolation. Es zeigt sich aber auch, dass bei Vorhandensein formeller Hilfe (z. B. Betreuungs- und Assistenzpersonen) familiäre Verluste durch (Flucht)Migration aufgefangen und familienähnliche Beziehungen neu hergestellt werden können. Schließlich sind die spezifischen Benachteiligungen für junge Erwachsene bei der Herstellung von eigener Familie anzuführen. Die Separationslogik im Kontext von Behinderung schränkt die Möglichkeiten für Partnerschaften und Familiengründung nachhaltig ein, darauf verweisen bereits die Ergebnisse des Teilhabeberichts (BMAS, 2016, S. 460). Die hier vorgestellten qualitativen Daten veranschaulichen, dass dies – so ist anzunehmen – mit wachsender Relevanz für Personen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation und Förderschul- bzw. Werkstattbesuch gilt. Weitere differenzierte Analysen zur Verwobenheit von Migration und Behinderung sowie weiterer Kategorien für die Möglichkeiten und Herausforderungen des Doing Family stehen noch aus.