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1 Einleitung

Eine theoretische Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit im Kontext von Behinderung ist spätestens seit der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) auch in der politischen Philosophie angekommen. Dies ist deswegen zu betonen, da philosophische Studien nicht nur in sich geschlossene Theoriedebatten darstellen, sondern wichtige Impulse für gesellschaftspolitische Fragen sowohl aufnehmen als auch liefern können. Dabei spitzte sich im Zuge der UN-BRK die Diskussion um soziale Gerechtigkeit mit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Fragestellungen zu, „ob wir solidarische Verpflichtungen gegenüber behinderten Menschen haben, und falls ja, welche das genau sind und mit welcher philosophischen Konzeption diese überzeugend ausgewiesen werden können“ (vgl. Graumann, 2011, S. 137). Vertreter*innen politisch-philosophischer Konzeptionen erhoben dabei den Anspruch, für alle Menschen Verpflichtungen ausweisen zu können, also auch für beispielsweise Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen sowie auch diejenigen zu berücksichtigen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind (vgl. ebd.).

Vor diesem Hintergrund kann auch der menschenrechtliche Teilhabeanspruch als eine „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Art. 3c UN-BRK) eingeordnet werden. Dieser ist universell und umfassend angelegt und betrifft sowohl alle Menschen mit Behinderungen als auch alle Teilhabedimensionen (vgl. Bartelheimer et al., 2020, S. 5), unabhängig von Art und Schweregrad einer Beeinträchtigung. Um eine umfassende Teilhabe für alle Menschen mit Beeinträchtigungen zu ermöglichen, hält daher auch die UN-BRK in Artikel 2 Unterstützung und Hilfestellungen als Ermöglichungsbedingungen von Teilhabe als Prinzip der angemessenen Vorkehrungen fest.

Teilhabe und soziale Gerechtigkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen sind eng miteinander verwoben. Beiden Begriffen liegen nicht nur normative Annahmen über soziales Zusammenleben zugrunde, sie implizieren auch Vorstellungen über oder Erwartungen an die Mitglieder der Gesellschaft. Soll also Teilhabe sinnvoll konzipiert sein, darf nicht ausgeblendet werden, dass mit Blick auf den Gerechtigkeitsdiskurs gerade ein Anspruch nach einer inklusiven Berücksichtigung aller Menschen mit Beeinträchtigungen Schwierigkeiten hervorruft. Im Hinblick auf Teilhabe lohnt sich daher ein Blick auf den Gegenstand der dortigen Diskussion, um Exklusionstendenzen in Teilhabekonzeptionen nicht zu reproduzieren.

Warum Theorien der Gerechtigkeit Schwierigkeiten haben, Menschen mit schweren und komplexen Beeinträchtigungen umfassend zu berücksichtigen, soll am Beispiel der Gerechtigkeitsüberlegungen von John Rawls gezeigt werden. Auch wenn es sich bei dem bei Rawls unberücksichtigt bleibendem Personenkreis um „Grenzfälle“ handelt, so soll in einem zweiten Schritt verdeutlicht werden, wie sich daraus ein kritischer Blick auf Teilhabeanforderungen ableiten lässt. In einem dritten Schritt wird mithilfe eines leibphänomenologischen Zuganges zu Verletzlichkeit sowie durch Lévinas eine Sichtweise vorgestellt, die eine kritische Betrachtung von gesellschaftlich wirkenden Machtverhältnissen erlaubt, die im Hinblick auf Teilhabe nicht ausgeblendet werden dürfen.

2 Soziale Gerechtigkeit und Behinderung

Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit umfasst verschiedene Aspekte, die für gesellschaftliche Teilhabe ebenso eine große Rolle spielen (vgl. Bertmann & Demant, 2014, S. 307). Die angeführten Aspekte, die zur Beurteilung sozialer Gerechtigkeit genannt werden können, wie Zugang zu gesellschaftlichen Gütern oder Ressourcen, „unterscheiden sich nicht grundlegend von den Zielsetzungen, die für die Verbesserung von Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen zentral sind“ (ebd.). Dabei umfasst das Ziel die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ebenso wie umfassende Teilhabe und individuelle wie gesellschaftliche Aspekte: So gilt es gesellschaftliche Strukturen so zu schaffen, dass allen Menschen entsprechende Freiheiten, Chancen oder Zugänge ermöglicht werden. Gleichzeitig können notwendige Voraussetzungen oder Ressourcen in den Blick genommen werden, die eine selbstbestimmte und individuelle Lebensführung ermöglichen sollen.

Normative Konzepte von sozialer Gerechtigkeit erarbeiten Kriterien für Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die die Mitglieder der Gesellschaft untereinander als möglichst gerecht erachten. Auf die Frage, wie Freiheiten zugestanden, Chancen gewährt, Güter verteilt, der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen ermöglicht oder Lasten verteilt werden können, geben Gerechtigkeitskonzepte verschiedene Antworten. Ein wechselseitiges Zusammenleben, welches nicht nur einzelne Gruppen bevorzugt bzw. benachteiligt, sondern Rechte wie Pflichten gleichermaßen verteilt, ist somit Ziel gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen. Umgekehrt muss ein gesellschaftliches Zusammenleben, bei welchem einzelne Personen oder Gruppen benachteiligt oder Güter und Zugänge verwehrt bleiben, folglich als ungerecht bewertet werden. Im Kontext von Behinderung heißt das, dass eine Sozialordnung nur dann als gerecht gelten kann, wenn sowohl alle behinderten Menschen ursprünglich bei der Berücksichtigung aller Gesellschaftsmitglieder einbezogen werden (vgl. Dziabel, 2017, S. 210) als auch Bedürfnissen und Lebenssituationen behinderter Menschen wirklich Rechnung getragen wird (vgl. Graumann, 2011, S. 22). Eine Gerechtigkeitstheorie, die für sich beansprucht, inklusiv zu sein, muss daher Verpflichtungen von Hilfe und Unterstützung im Falle von Bedürftigkeit und Abhängigkeit bejahen und von vorherein in ihre Überlegungen einbeziehen (vgl. Dziabel, 2017, S. 209 ff.).

Nun zeigt sich jedoch in Gerechtigkeitskonzeptionen eine exklusive Tendenz, die Behinderung gar „als Grundproblem der Gerechtigkeit“ (ebd., S. 75) identifiziert. Den Ausgangspunkt einer problematischen Ausweisung solidarischer Verpflichtungen gegenüber behinderten Menschen bildet dabei häufig der Begriff der Reziprozität. Denn Gerechtigkeit als die Gesamtheit „der wechselseitigen Ansprüche und Verbindlichkeiten bzw. moralischen Rechte und Pflichten, die die Menschen gegeneinander vom Standpunkt der Unparteilichkeit aus haben“ (Gosepath, 2010, S. 835), geht im Kern von einer wechselseitigen Übereinkunft zur gegenseitigen Berücksichtigung (Reziprozitätsverhältnisse) aus, bei der Menschen mit Behinderungen unberücksichtigt bleiben, wenn angenommen wird, diese könnten die Bedingungen zur Reziprozität nicht erfüllen. Geht Gerechtigkeit also mit einer Idee von Reziprozität einher, bei der Rechte mit Pflichten gleichermaßen korrelieren und davon ausgegangen wird, Menschen mit beispielsweise schweren kognitiven Beeinträchtigungen können (bzw. sollen) keine Pflichten übernehmen, werden diese in den gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen ausgeblendet (vgl. Dziabel, 2017, S. 76).

Der eigentliche Kern des Problems offenbart sich jedoch im Kontext von Behinderung wie folgt: Sofern Fähigkeiten zur Reziprozität wie beispielsweise Vernunftfähigkeit bzw. Rationalität vorausgesetzt werden, stellen diese die Bedingung für die Zuerkennung eines moralischen Status dar. Dieser Status wiederum ist wesentlich für die Anerkennung moralischer Rechte und die Möglichkeit zur Übernahme moralischer Pflichten und entscheidet darüber, ob und in welcher Hinsicht überhaupt eine moralische Berücksichtigung zukommt oder nicht (vgl. Düwell, 2011, S. 434). Eine Zuerkennung eines moralischen Status, der an bestimmte normative Fähigkeiten geknüpft ist, kann jedoch schnell ein Exklusionspotenzial für diejenigen entstehen lassen, die diesem so gedachten Ideal nicht entsprechen. Für gerechtigkeitstheoretische Überlegungen bedeutet dies in der Konsequenz, um

„als Subjekte von Gerechtigkeit gelten zu können, müssen Menschen also moralische Akteure sein und gegebenenfalls auch die Pflichten zur Gerechtigkeit übernehmen können. Andernfalls fallen sie aus dem Rahmen der Gerechtigkeitserwägungen heraus und sind nicht Subjekt, vielleicht nicht einmal Adressat, der Gerechtigkeitsforderungen.“ (Liesen et al., 2012, S. 196)

Mit einer zugeschriebenen Unfähigkeit zur Reziprozität können so jedoch keine direkten gerechtigkeitsethischen Pflichten ausgewiesen werden. Ansprüche auf Unterstützung oder Hilfestellungen sind in diesem Sinne weder moralisch verpflichtend noch eine fundamentale Gerechtigkeitsfrage, sondern höchstens nachgeordnete Probleme minimalethischer Überlegungen (vgl. Dziabel, 2017, S. 78). Damit ist neben Reziprozität und dem moralischen Status auch das dritte zentrale Problemfeld angesprochen, mit dem sich skizzieren lässt, warum sich Gerechtigkeits- wie auch ethische Theorien häufig schwertun, Menschen mit schweren Beeinträchtigungen einzubeziehen (vgl. Dederich, 2018a, S. 106). Dies zeigt sich in einer Idee von Gleichheit, die mit der Frage nach einem moralischen Status eng verknüpft ist. Eine Idee von Gleichheit impliziert nicht nur einen Vergleich mit Menschen ohne Einschränkungen (vgl. ebd., S. 107), sondern geht mit einer Idealvorstellung von Gerechtigkeitsadressat*innen einher, die zum Ausschluss derjenigen führt, die dieser nicht entsprechen.

3 Rawls Theorie sozialer Gerechtigkeit

Vor allem die Frage nach dem Status eines moralischen Subjektes berührt eine tiefgreifende Problematik der Philosophie und Ethik. Je nach philosophischer Ausrichtung werden die verschiedensten Kriterien für die Zuerkennung eines moralischen Status genannt, welche von der Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, bis hin zu hohen Anforderungen an Rationalität oder Vernunftfähigkeit reichen. Im Kontext von Gerechtigkeitsüberlegungen ergibt sich die Bedeutung dessen jedoch daraus, dass allein Mitglied der Gattung Mensch zu sein, noch keine moralischen Ansprüche begründet. Vielmehr gäbe es menschliche Wesen, die zwar die Fähigkeit besitzen, Schmerz oder Leid zu empfinden, denen aber kein moralischer Status als moralisches Subjekt bzw. als eine Person zugesprochen werden kann, da ihnen höherstufige kognitive Fähigkeiten fehlen. Der Personenbegriff nimmt in Abgrenzung zum Begriff des Menschen daher eine besondere Rolle ein, da eine Zuerkennung als vollwertiges moralisches Subjekt an bestimmte kognitive (Denkfähigkeit, Selbstbewusstsein, Rationalität oder Zukunftsbewusstsein) und moralische (Autonomie/Selbstbestimmung, Moralität oder die Fähigkeit zur Übernahme von Verpflichtungen) Fähigkeiten geknüpft ist (vgl. Birnbacher, 2001, S. 312 ff.).

Auch Rawls Konzeption sozialer Gerechtigkeit ist unter diesem Blickwinkel zu verstehen, denn der Rawls’sche Personenbegriff bzw. dessen Ausführungen zum moralischen Subjekt sind in seinen Überlegungen zentral (vgl. Pinzani & Werle, 2015, S. 63 ff.). Rawls greift in seiner Theorie sozialer Gerechtigkeit auf einen kantischen Begriff der Person zurück, in dem viele Autor*innen bereits den Ausschluss von Menschen mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung niedergeschlagen sehen (vgl. z. B. Gutmann, 2010, S. 13; Seelmann, 2012, S. 74 f.; Ladwig, 2010, S. 60).Footnote 1 Rawls konzipiert zwar zunächst in seiner Theorie eine faire Ausgangsbedingung, in der alle zukünftigen Gesellschaftsmitglieder über eine gerechte Verteilung sozialer Güter entscheiden sollen. Die an der Vertragssituation beteiligten Mitglieder müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um in der Vertragssituation in der Lage zu sein, eine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, bestimmte Prinzipien zu verstehen, auszuwählen und schließlich danach zu handeln. Daher müssen sie laut Rawls vernünftig in dem Sinne sein, als dass sie „keine aufeinander gerichteten Interessen haben“ (Rawls, 2020, S. 30), sowie moralische Vermögen mitbringen, das heißt einen Gerechtigkeitssinn sowie die Ausbildung einer Konzeption des Guten. Diese beiden Vermögen wiederum sind es, die Akteur*innen als moralische Subjekte kennzeichnen:

„Wir müssen noch klären, was für Wesen den Schutz der Gerechtigkeit genießen […]. Die natürliche Antwort scheint zu sein: genau die moralischen Subjekte haben ein Recht auf gleiche Gerechtigkeit. Moralische Subjekte zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: erstens sind sie einer Vorstellung von ihrem Wohle (im Sinne eines vernünftigen Lebensplanes) fähig, zweitens sind sie eines Gerechtigkeitssinnes fähig (und haben ihn auch) […].“ (Rawls, 2020, S. 548).

Die Prinzipien der Gerechtigkeit bleiben damit jedoch nur denen vorbehalten, die fähig sind, in der Ausgangssituation mitzuwirken und die in der Lage sind, nach den dabei verfassten Prinzipien zu handeln, da ein enger Zusammenhang zwischen der moralischen Ausgangssituation und den daran Beteiligten sowie der durch sie festgelegten politischen Prinzipien besteht.

Darauf beruht auch Rawls’ Verständnis moralischer Gleichheit. Die Personen werden insofern als gleich angesehen, als ihnen allen ein unentbehrliches und unbedingtes Mindestmaß des moralischen Vermögens zugeschrieben wird, das notwendig ist, um sich ein Leben lang an der sozialen Kooperation zu beteiligen (vgl. ebd.). Da die Gesellschaft als ein faires Kooperationssystem betrachtet wird, beruht deren Pfeiler auf der Gleichheit seiner Kooperationspartner*innen. Diese Vorstellung der Akteur*innen einer Kooperationsgemeinschaft basiert also auf der Vorstellung als freie und gleiche moralische Personen. Frei, indem sie zum einen a) die bereits genannten moralischen Vermögen mitbringen, sowie, als notwendige Voraussetzung zur Ausübung dieser, ebenso b) das intellektuelle Vermögen des Urteilens, Denkens und Schlussfolgerns. Zudem führt Rawls an, dass diese c) eine bestimmte Konzeption des Guten im Lichte (vernünftiger) Lehren haben sowie d), dass diese die genannten Vermögen und Fähigkeiten während ihres ganzen Lebens besitzen, um normales kooperatives Gesellschaftsmitglied zu sein. Gleich sind sie, wenn sie die genannten Vermögen und Fähigkeiten in einem ausreichenden Mindestmaß besitzen (vgl. Rawls, 2017, S. 159). Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder also eine bestimmte Schwelle an personalem Vermögen überschritten haben (vgl. ebd., S. 278), können sie als voll kooperationsfähige Mitglieder der Gesellschaft betrachtet werden. Das heißt jedoch im Umkehrschluss, dass Personen, die insbesondere die von Rawls genannten Kriterien (moralische und intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie physische Vermögen und Fertigkeiten einschließlich der Auswirkungen von Krankheit und Unfällen auf natürliche Fähigkeiten) dauerhaft nicht erfüllen, außen vor bleiben, wie dies für Menschen mit einer schweren kognitiven oder mehrfachen Beeinträchtigung angenommen werden kann (vgl. Graumann, 2011, S. 161). Damit jedoch kann Rawls die Frage nach Pflichten gegenüber „permanently nonpersons“ (Reinders, 2009, S. 116, Hervorheb. i. O.) in seinen Überlegungen nicht klären.

Da nur diejenigen in der Gerechtigkeitskonzeption Berücksichtigung finden, die als eigenständige Akteur*innen für einen Vertragsabschluss infrage kommen, „[…] ist hier der Kreis der zu berücksichtigenden Wesen am stärksten restringiert.“ (Düwell, 2011, S. 436) Hilfe und Unterstützung kann Rawls in seiner Konzeption als direkte Verpflichtung gegenüber allen Menschen ebenso nicht ausweisen. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt der Grundgedanke des politischen Liberalismus, dass die inhaltliche Ausgestaltung einer guten Lebensführung (Autonomie) dem freien, unabhängigen Individuum selbst überlassen bleiben muss. Das Autonomieverständnis der UN-BRK ist jedoch ausdrücklich „radikal inklusiv“ (Degener & Butschkau, 2020, S. 138) gedacht und nicht mit diesem Verständnis vereinbar.

4 Kritik an einem Fähigkeitenideal

Im Kontext von Gerechtigkeitsüberlegungen wird ein konzipiertes Ideal an personalistischen Fähigkeiten dann zum Problem, wenn damit ein Verständnis eines „Schwellenkonzeptes“ einhergeht, wonach weder Personalität noch die mit diesem Status verbundenen ethischen Ansprüche graduierbar sind (vgl. Quante, 2012, S. 33 f.): „Person ist (und moralischen Status hat) man ganz oder gar nicht“ (Gutmann, 2010, S. 13). Erfolgt keine Zuerkennung eines moralischen Status als Person, erfolgt auch keine Aufnahme in eine gemeinsame moralische Anerkennungs-, bzw. im Sinne Rawls, Gerechtigkeitsgemeinschaft.

Diese Überlegungen lassen eine Reflexion zu Teilhabe als einem normativen Prinzip (vgl. Dederich, 2018b, S. 155), wie auch zu Inklusion als einer normativen Leitidee einer erfolgreich realisierten Teilhabe zu. Wenn Behrendt (2017) beispielsweise den Inklusionsbegriff aus sozialphilosophischer Perspektive systematisch erschließt und hinsichtlich der Anforderungen an ein praxistheoretisches Verständnis zu dem Schluss kommt, dieses lasse sich hinsichtlich der vier Variablen von Inklusionssubjekt, -objekt, -instanz und -regeln fassen, werden die gemeinsamen Schnittpunkte offensichtlich. Unter der Variable Inklusionssubjekt hält er fest:

„Ausschlaggebend ist dabei die Annahme, dass zum qualifizierten Genuss sozialer Teilhabe nur solche Wesen befähigt sind, die potenziell dazu in der Lage sind, die erforderlichen Fähigkeiten und Vermögen vorzuweisen oder zumindest auszubilden, die zur aktiven Mitwirkung am gemeinsamen Zusammenleben benötigt werden. Die Veranlagung dazu kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein, sie darf jedoch einen bestimmten Schwellenwert nicht unterschreiten. Sprich: Teilhabesubjekte müssen sozial hinreichend kompetente Akteure sein.“ (Behrendt, 2017, S. 60, Hervorheb. i. O.)

Gemeint sind damit kognitive und habituelle Vermögen bzw. Fähigkeiten, ohne welche ein Subjekt nicht als sozial kompetente Akteur*in gilt und daher nicht Teil einer durch soziale Praktiken definierten, kooperierenden Gesellschaft sein kann. Diese Annahmen sind es jedoch, die im Rahmen gesellschaftskritischer Betrachtung wie auch mit Blick auf die UN-BRK als problematisch betrachtet werden müssen, zumindest dann, wenn damit hohe Anforderungen hinsichtlich Autonomie oder Unabhängigkeit einhergehen. So wendet sich auch Hauptkritik der Disability Studies gegen ein gesellschaftliches Fähigkeitsideal, welches eng mit Vorstellungen von Leistungsfähigkeit verbunden ist und daher insbesondere für Menschen mit Behinderungen, die auf umfassende Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, diskriminierend oder ausgrenzend wirkt. Dabei geht es vor allem um eine Zurückweisung eines neoliberalistischen Gesellschaftsbildes autonom und unabhängig agierender Bürger*innen und einer Argumentation gegen eine „Behindertenhierarchie“, „deren Rangordnung nach der Autonomiefähigkeit strukturiert ist“ (Waldschmidt, 2003, S. 20). Denn eine so verstandene Defizitsichtweise von Behinderung führt nicht nur zum Ausschluss, sie ermöglicht auch die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, indem menschliche Normalität Gesellschaft konstruiert und zugeschriebene Abweichung die eigene Normalität rückversichert (vgl. Köbsell, 2015, S. 25).

Die Kritik der Disability Studies bezieht sich auf ein neoliberales Gesellschaftsbild, wonach nur diejenigen an gesellschaftlichen Gütern partizipieren können, die den Leistungsanforderungen der Gesellschaft gewachsen sind. Im Hinblick auf die konkrete Realisierung gesellschaftlicher Teilhabe oder umfassender Inklusion kann daran anknüpfend die zugespitzte Frage formuliert werden, ob Teilhabe und Inklusion überhaupt in einer „hoch selektive[n] und exklusive[n] Leistungsgesellschaft möglich“ sind (Dederich, 2018a, S. 117). Dederich verweist auf Becker (2016), der in seinem Buch Die Inklusionslüge mit Blick auf Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitik konstatiert, dass in der derzeitigen leistungszentrierten Gesellschaft umfassende Ausgrenzungsprozesse stattfinden, die den Grundgedanken von Teilhabe und Inklusion entgegenstehen. Zwar bestünden auf der einen Seite politische Bekenntnisse zu sozialer Gerechtigkeit oder zur Umsetzung der UN-BRK, auf der anderen Seite jedoch werde häufig der Verweis auf ein „finanzielles Realitätsprinzip“ (ebd., S. 8) angebracht, dem sich alle anderen Forderungen zu fügen hätten. Eine so verstandene Politik jedoch zementiert eher gesellschaftliche Ausgrenzung, da notwendige Veränderungsprozesse unterbleiben. Zudem bleibt eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in einem Leistungssystem nur denjenigen vorbehalten, die die „Minimalstandards der Anpassungsfähigkeit an das System und an seine spezifische Rationalität erfüllen“ (Dederich, 2018a, S. 117). Laut Becker geht damit eine „eigenartig reduzierte Perspektive“ (Becker, 2016, S. 184) auf gesellschaftliche Teilhabe einher, bei der man den Eindruck gewinnen könne, dass kursierende Bilder von „Behinderung“ einem selektiven Denken gleichkämen, „das eigentlich nur bestimmte, latent ökonomisch verwertbare Menschen mit Behinderung i[m] Blick hat“ (ebd.) und bei dem vor allem Menschen mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung aus dem Raster fallen (vgl. ebd., S. 186). So spiegelt sich in gesellschaftlicher Ausgrenzung letztlich auch eine soziale Hierarchisierung wider. Peter Radtke, selbst körperlich beeinträchtigt, hielt in einem Interview hierzu einmal fest: „Wer sich am meisten an die Normen der Nichtbehinderten anpassen kann, ist in der Hierarchie ganz oben. Geistig Behinderte rangieren ganz unten“ (Goetsch, 1999, o. S.).

5 Verletzlichkeit als Gegenentwurf

Menschen sind weder stets autonom und unabhängig, sondern, wenn auch nicht in gleichem Maße, in bestimmten Lebensphasen und -situationen bedürftig und aufeinander angewiesen. Eine Kritik an einem exklusiv wirkenden Fähigkeitenideal muss dieser Tatsache daher Rechnung tragen. Dies lässt sich mithilfe eines erneuten Blickes auf politische Theorien sozialer Gerechtigkeit zeigen. Da Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie von Fähigkeiten ebenbürtiger und unabhängiger Kooperationspartner*innen ausgeht, schlossen Gegenentwürfe und Begradigungsversuche vor allem an diesem Ideal an. Dabei geriet vor allem der Begriff der Verletzlichkeit in den Fokus der Betrachtung, der mittlerweile einen festen Bestandteil eines Menschenbildes in sowohl menschenrechtlichen wie gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen zur Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen bildet (vgl. Burghardt et al., 2017, S. 28). Neben Verletzlichkeit oder Angewiesensein sind es ebenso Stichworte wie Abhängigkeit oder Bedürftigkeit, die eine vulnerable Grundbedingung menschlichen Seins konstatieren. So beziehen MacIntyre (1999), Kittay (1999) oder Nussbaum (2007) Verletzlichkeit als eine anthropologische Grundkonstante ein und weisen damit moralische Pflichten wie Sorge und Unterstützung explizit in ihren Überlegungen aus. So geht Care-Ethikerin Kittay davon aus, dass die moralische Berücksichtigung untereinander darin zu verorten sei, als Mensch von anderen abhängig zu sein und daher der Fürsorge zu bedürfen (vgl. Kittay, 2004, S. 67 ff.). Da jeder Mensch nicht von anderen getrennt existieren kann, sondern in Beziehungen zu anderen steht, die nicht nur zwischen Ebenbürtigen geschlossen werden, das heißt, auch zu Menschen, die hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Kräfte nicht gleich sind, müsse dieser Tatsache in Gerechtigkeitsüberlegungen Rechnung getragen werden. Kittay bestimmt daher Verletzlichkeit als einen wesentlichen Ausgangspunkt von Gerechtigkeitsvorstellungen, indem Abhängigkeit von Anfang an anerkannt und berücksichtigt werden muss (vgl. Kittay, 1999, S. 75 ff.).

Eine besondere Sichtweise auf den Begriff der Verletzlichkeit wird bisher jedoch eher wenig rezipiert. Diese leitet sich aus Leiblichkeitstheorien ab, die vorwiegend auf einer von Husserl ausgearbeiteten Phänomenologie und dessen expliziter Leibanalysen gründen. „Frage- und Blickrichtung modifizierend“ (Dederich, 2007, S. 143) lieferte anknüpfend an Husserl vor allem Merleau-Ponty (1966) wesentliche Impulse zur Erforschung der Leiblichkeit. Der Begriff der Leiblichkeit zeichnet sich durch eine Einheit von Körper und Geist aus und wendet sich unter anderem gegen Personenkonzeptionen, die allein mentale Fähigkeiten in den Vordergrund stellen. Der Leib ist jedoch kein körperlicher Gegenstand, sondern führt in seiner Bedeutung darüber hinaus: „Der Leib, das sind wir selbst“ (Fuchs, 2018, S. 49). Der Leib als eine „lebendige Einheit, die sich als Subjektivität erlebt und von anderen als Subjektivität erlebt wird“ (Reichold, 2004, S. 195), hat zudem immer auch eine intersubjektive Komponente, da mithilfe des lebendigen Leibes der Andere erfahrbar wird. Mit Hilfe des Anderen oder des Fremden lassen sich in einer phänomenologischen Tradition daher auch „Aspekte der Leiblichkeit als Grundlage für die ethische Beziehung zu anderen Personen“ (ebd., 193) herausarbeiten, da mit einer endlichen Leiblichkeit auch eine Verletzlichkeit und Angreifbarkeit der Person in den Blick genommen werden kann, die eine Ethik überhaupt erst erforderlich werden lässt (vgl. ebd., S. 194).

Diesen Grundgedanken greift beispielsweise Rehbock (2005) in Anknüpfung an Merleau-Pontys „Zur-Welt-Sein“ und Heideggers „In-der-Welt-Sein“ auf. Sie wählt einen leibphänomenologischen Zugang, der auch für eine „Ethik im Sinne anthropologischer Reflexion der Moral“ (ebd., S. 297) fruchtbar gemacht werden müsse. Dabei fasst sie Personalität als etwas, mit dem wir uns selbst in einer reflektierenden Rückbesinnung auf uns selbst beziehen. Mit „auf uns selbst“ meint sie einen „[…] leiblich, sprachlich, interpersonal, zeitlich, kultural konstituierten – personalen Sinnhorizont unseres Lebens oder In-der-Welt-Seins“ (ebd., S. 285), mit welchem eine Einsicht in eine leibliche Endlichkeit einhergehe. In diesem Bewusstsein unserer eigenen Endlichkeit, so Rehbock (2005, S. 242), werden wir uns auch unserer bedingten Bedürftigkeit oder Verletzlichkeit gewahr. Und da unser personales Dasein laut Rehbock immer interpersonal zu verstehen ist, wir also mit unserem personalen Gegenüber einen gemeinsamen Sinnhorizont unserer Existenz teilen, teilen wir auch die gemeinsamen Erfahrungen unserer Endlichkeit als eine menschliche Grundsituation unserer Existenz. Damit wiederum wird auch unsere moralische Grundorientierung auf unser je eigenes möglichst gutes Leben hin gleichsam bedeutsam für eine gemeinsame Gestaltung eines moralischen Lebens. Wir nehmen unser personales Gegenüber als ein moralisches Gegenüber wahr, und zwar unabhängig von dessen vorhanden Fähigkeiten, Eigenschaften oder faktischem Zustand:

„Ja, die Wahrnehmung und Beschreibung welcher faktischen Situation auch immer ist überhaupt nur dann im vollen Sinne adäquat oder objektiv, wenn sie von vornherein im personalen Sinnhorizont der Moral erfolgt. Um es auf den Punkt zu bringen: Nicht nur der erwachsene und gesunde Mensch, sondern auch der altersverwirrte, schwer demente oder irreversibel komatöse Mensch, ja, selbst der bereits verstorbene Mensch begegnet uns nach diesem Verständnis als personales bzw. moralisches Gegenüber, und nicht als […] nicht-personales Wesen mit einem moralischen Status ,zweiter Klasse‘“ (ebd., S. 243).

Solch leibphänomenologische Zugänge im Bereich der Ethik können nun auch für den Gerechtigkeitsdiskurs fruchtbar gemacht werden. So ist es vor allem Lévinas, der – ebenfalls an die Leibkonzeption HusserlsFootnote 2 anknüpfend –, auch Gerechtigkeitsvorstellungen formulierte. Lévinas verschiebt in seiner Konzeption jedoch den Fokus hin zu einer rein ethischen Fundierung der Erfahrung des Anderen, indem er die Leibkonzeption Husserls geradezu radikalisiert (vgl. Reichold, 2004, S. 215). Leiblichkeit erhält ihren primären Sinn bei Lévinas erst in einer Ethik, die Lévinas als die erste Philosophie begreift, da sie alle theoretischen Zugänge zur Welt erst ermöglicht (vgl. ebd., S. 207).

In der Ethik Lévinas lässt sich die Erfahrung des Anderen begreifen als eine Erfahrung des Anderen als ein absolut Fremdes. Fremd deshalb, weil sich das Wesen des Menschen nicht theoretisch fassen lässt, sondern sich nur in einer ethischen Beziehung zeigt. Das Subjekt erlebt etwas in der Begegnung mit dem Anderen, das sich dem Verstehen entzieht. Für das Moment der Begegnung des Anderen verwendet Lévinas den Begriff des Antlitzes in einem ethischen Sinne. Begegnet das Ich dem Anderen, dann „[…] nötigt sich das Antlitz mir auf, ohne daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte, d. h. ohne daß ich aufhören könnte, für sein Elend verantwortlich zu sein“ (Lévinas, 2017, S. 223).

„Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu (sic!) Antwort. Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewußt, so als handle es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit […]. Von daher bedeutet Ichsein, sich der Verantwortung nicht entziehen können“ (ebd., S. 224).

Lévinas leitet an dieser Stelle eine unabweisbare und unbedingte Aufforderung zur Antwort als Anspruch ab, die sich nicht aus Vernunftgründen oder Freiwilligkeit herleitet, sondern auf der direkten Konfrontation mit dem Antlitz des anderen beruht. Da das Antlitz „nackt“ ist, d. h., da das Antlitz sich jeder Form entkleidet und in direkter Not offenbart ist, verweist uns das Antlitz auf unsere Verletzlichkeit. Zum einen sind wir im Antlitz des Anderen mit dessen Verletzlichkeit konfrontiert, aber auch mit unserer eigenen. Dieser Verletzlichkeit sind wir unentwegt ausgesetzt. Aus ihr ergibt sich daher bei Lévinas ein unbedingter Anspruch nach Berücksichtigung. Verantwortung als Antwort auf diesen Anspruch bestimmt die ethischen Beziehungen der Verantwortung, die dabei asymmetrisch und nicht reziprok verstanden werden müssen, da die unausweichlichen Ansprüche des Anderen einer Antwort stets vorgeordnet sind (vgl. Mertens, 1998, S. 246). Eine Verantwortung für den Anderen rührt daher gerade nicht von einer gedachten Gleichheit her, aus welcher gegenseitige Rechte oder Pflichten zuerkannt werden, sondern „nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil er als einer erkannt wäre, der zu selben Gattung gehörte wie ich. Er ist gerade Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm gegenüber“ (Lévinas, 2011, S. 194 f.).

Neben der Beziehung zum Anderen bestehen bei Lévinas aber auch Beziehungen zu Anderen, denn der „Andere ist von vornherein der Bruder aller anderen Menschen“ (ebd., S. 2011, S. 344). Gerechtigkeit kommt für Lévinas dort ins Spiel, wo viele Andere in der Figur des Dritten als viele Individuen und gesellschaftliche Institutionen nach Ordnung verschiedenster Ansprüche verlangen. Beziehungen zu Anderen machen laut Lévinas nun, anders als Beziehungen der Verantwortung zu einem Anderen, der „Nicht-Reziprozität schlechthin“ (ebd., 189), auf gesellschaftlicher Ebene durchaus Reziprozität erforderlich. Denn die Herstellung einer sozialen Ordnung bedarf verallgemeinerter Kriterien, sodass Unvergleichbares gegebenenfalls verglichen und gleich gemacht werden muss. Für Lévinas besteht daher trotz der asymmetrischen Natur menschlicher Beziehungen in politischen Ordnungen eine Notwendigkeit zu Reziprozität. Da diesem Prinzip des Vergleichens und Gleichmachens jedoch auch eine gewisse Gewaltsamkeit anhaftet, gilt es nach Lévinas, Gerechtigkeit immer wieder an das Grundprinzip der Verantwortung zurückzubinden, da allgemeine Normen oder regulierende Gesetze den Einzelnen keineswegs aus dieser entlassen (vgl. Dederich, 2013, S. 255 f.). Gerechtigkeit ist daher laut Lévinas auch immer wieder vor dem „asymmetrischen Ursprung moralischer Ansprüche“ (Dziabel, 2017, S. 200) zu korrigieren.

Die Argumentation, dass eine Gesellschaft auf den ersten Blick nicht ohne gewaltförmige Momente auskommt, mag im ersten Moment ernüchternd wirken. Sie ermöglicht jedoch eine stete Rückbesinnung auf menschliche Verletzlichkeit, sodass sowohl individuelle wie auch gesellschaftliche Verhaltensweisen an diesem Kern der Moral Orientierung finden können. Auch wenn eine Gesellschaft laut Lévinas nicht ohne eine gewisse Gewaltsamkeit vor allem gegenüber einzigartigen, vulnerablen Personen (ebd., S. 204) bei der Gestaltung ihrer sozialen Prinzipien auskommt, lässt sich so gleichzeitig festhalten, dass Gerechtigkeitsurteile, die in einer Gesellschaft gefällt werden müssen, „als Form von Gewalt aber rechtfertigungsbedürftig und stets mit Rekurs auf die sich aus der Verletzlichkeit des Menschen ergebenden asymmetrischen Natur ethischer Beziehungen kritisch zu hinterfragen und zu korrigieren“ sind (ebd., S. 205). Wenn menschliche Verletzlichkeit in einem realen, sozialen Kontext verortet wird (ebd.), ergeben sich so auch mit Blick auf Teilhabe Möglichkeiten eines kritischen Umgangs mit gesellschaftlichen Anforderungen. Denn eine Verortung von Verletzlichkeit enthüllt einen Blick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die Verletzlichkeiten auslösen oder erhöhen können und betont die Notwendigkeit einer „kritischen Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik“ (ebd.).

Auch in den Disability Studies rückt der Begriff der Verletzlichkeit zunehmend ins Blickfeld (vgl. z. B. Hirschberg & Valentin, 2020; Kaiser & Pfahl, 2020). So lässt sich unter anderem mit einer uns allen gemeinsam geteilten Verletzlichkeit zeigen, dass Beeinträchtigungen als ein Spektrum betrachtet werden können, in dem wir uns alle mehr oder weniger Zeit unseres Lebens bewegen und in bestimmten Phasen unseres Lebens auf Hilfe oder Unterstützung angewiesen sind (vgl. Hirschberg & Valentin, 2020, S. 91–92). Ein Blick auf menschliche Verletzlichkeit verschiebt zudem den Fokus von ökonomisch zu verwertenden Fähigkeiten hin zu „z. B. Sorgetätigkeiten oder die Fähigkeit, die eigene Angewiesenheit auf Andere und die des Anderen auf mich ausdrücken und erwidern zu können“, die ebenfalls Bestandteil reziproker, gesellschaftlicher Beziehungen sind (Kaiser & Pfahl, 2020, S. 99 f.). Plädoyers für eine Anerkennung menschlicher Verletzlichkeit müssen diese aber auch in einen gesellschaftskritischen Kontext einfassen, um eine Notwendigkeit für Wandlungsprozesse aufzeigen zu können. Verletzlichkeit aus phänomenologischer Sicht meint gerade nicht nur eine individuelle Verletzbarkeit als Eigenschaft, sondern sie ereignet sich als eine erlebte Erfahrung im Zusammenspiel mit sozialen Widrigkeiten (vgl. Dederich, 2018a, S. 112). Der Mensch als leibliches und verletzliches Wesen ist auf eine soziale Welt bezogen, die mit ihren gesetzlichen Regelungen, institutionellen Strukturen usw. potenzielle Ereignisse umfasst, die eine verletzende Erfahrung bedingen können (vgl. ebd.). Damit ist zumindest ein kritischer Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse frei, der notwendig ist, um am Prinzip gesellschaftlicher Teilhabe für alle Menschen mit Beeinträchtigungen festhalten zu können.

6 Fazit

Die vorangegangenen Überlegungen hatten das Ziel, skizzenhaft kritische Anknüpfungspunkte von Teilhabeaspekten mithilfe philosophischer Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit im Kontext von Behinderung aufzuzeigen. Ausgangspunkt war eine Kritik an voraussetzungsvollen Anforderungen an Gerechtigkeitsadressat*innen, die dazu führen, dass Menschen mit kognitiven oder schweren Beeinträchtigungen im Gerechtigkeitsdiskurs häufig unberücksichtigt bleiben. Mithilfe eines phänomenologischen Zugangs zu Verletzlichkeit lassen sich hingegen voraussetzungsvolle Anforderungen kritisch beleuchten und für Verletzlichkeit als einem normativen Bezugspunkt politischer Ordnungen plädieren. Auch Menschen mit schweren und kognitiven Beeinträchtigungen sollten sich nicht mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie als ein mit notwendigen Teilhabefähigkeiten ausgestattetes Subjekt der Gesellschaft gelten, denn sie sind bereits „integraler Bestandteil“ (Waldschmidt, 2020, S. 68) unserer Gesellschaft.