Zusammenfassung
Ausgehend von einem relationalen Verständnis von Teilhabe im Kontext von Behinderung zielt der Beitrag sowohl auf eine theoretische als auch methodische Verortung des Begriffs innerhalb der sozialen Netzwerkforschung. Als Grundlage dient ein Zugang, der einerseits die Strukturen sozialer Netzwerke als eine Bedingung von Lebenslage analysiert, zugleich aber auch der Subjektivität lebensweltlicher Konstruktion Rechnung trägt. Hieraus ergeben sich weitere Perspektiven und Anschlüsse für die Teilhabeforschung.
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Schlüsselwörter
- Teilhabeforschung
- Behinderung
- Soziale Netzwerkanalyse
- Soziale Unterstützung
- Relationaler Konstruktivismus
1 Soziale Netzwerke als prägendes Konzept der Moderne und Bedingung von Teilhabe
Wenn in den unterschiedlichen Handlungsfeldern von Teilhabe die Rede ist, so ist darunter in erster Linie ein sozialpolitisches Leitkonzept zu verstehen, das sich vorwiegend auf die Gestaltung von Lebenslagen und damit die Verwirklichung von gerechten Lebenschancen bezieht (Beck, 2016b, S. 35 f.). Als positiv besetzter normativer Gegenbegriff zu Problematiken sozialer Ungleichheit bezeichnet Teilhabe damit „die Schwelle, deren Unterschreiten öffentliches Handeln und soziale Sicherungsleistungen auslösen soll“ (Bartelheimer, 2007, S. 5). Um den Bedeutungsgehalt dieses Reformbegriffes im Kontext von Behinderung darüber hinausgehend aber näher präzisieren zu können und der empirischen Forschung gegenüber zu öffnen, bedarf es einer weiteren Anbindung an theoretische Begründungszusammenhänge. Grundlegend hat sich eine solche Auseinandersetzung an dem mehrdimensionalen Verständnis von Behinderung zu orientieren, wie es sich auch in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) widerspiegelt und erfordert daran anschließend einen Betrachtungsrahmen, der sich auf das komplexe Wechselspiel von Menschen und ihrem Umfeld bezieht. Behinderung ist weder ein individuelles Schicksal noch ausschließlich als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen, sondern steht im Bezug zu sozialräumlichen Ordnungen, Strukturen und Prozessen (Wansing, 2016, S. 262). Aus dieser Perspektive verweist der Begriff der Teilhabe auf ein Modell der Lebensführung, welches einerseits die strukturellen Bedingungen und gegebenen Handlungsspielräume zur Bedürfnisbefriedigung in den Blick nimmt, andererseits aber genauso der aktiven Rolle des Individuums in der Auseinandersetzung mit diesen Strukturen Rechnung trägt. Unter welchen Bedingungen der Lebenslage sich Teilhabe realisiert, ist also stets aus einer subjektorientierten Perspektive zu betrachten (Bartelheimer et al., 2020, S. 44). Niederschlag findet diese wechselseitige Betrachtungsweise ebenso im international beachteten Konzept des Capabilities Approach, wenn Teilhabe als abhängig vom persönlichen Möglichkeitsraum zum einen und gesellschaftlichen Möglichkeitsraum zum anderen begriffen wird (Röh, 2016). Ein so als prinzipiell relational angelegtes Verständnis von Teilhabe steht demnach in deutlichem Bezug zu sozialtheoretischen Ansätzen, welche den Dualismus von Struktur und Handlung zu überwinden versuchen und die subjektive Entscheidungs- und Gestaltungsmacht von Individuen sowie auch die strukturellen Bedingungen gleichermaßen berücksichtigen. Im Hinblick auf die weitere theoretische und methodische Präzision von Teilhabe im Kontext von Behinderung gehen dabei wichtige Impulse von der sozialen Netzwerkforschung aus, welche den Blick auf die Gestaltung und Funktion sozialer Beziehungen richtet. Diese Relevanz und Anschlussfähigkeit lässt sich vor allem aus zwei Perspektiven begründen:
1.1 Soziale Netzwerke als prägendes Konzept der modernen Gesellschaft
Die heutige Gesellschaft ist von einem tiefgreifenden sozialen, demografischen und technologischen Wandel geprägt (Schnur, 2016, S. 3). Im Zuge der Ausdifferenzierung von Lebensstilen, der Vernetzung selbst über Ländergrenzen hinweg und neuer Formen der Mobilität scheint eine ausschließliche Ordnung der sozialen Welt in Klassen und Schichten nicht mehr möglich zu sein. „Unter den Bedingungen von Vielfalt und Mehrdeutigkeit […] muss das, was das Zusammenleben ausmacht, immer wieder neu entdeckt werden“ (Drilling et al., 2017, S. 72). Entsprechend kann mit Wolf (2006, S. 245) die kontextuelle Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (z. B. einer Nachbarschaft) als eine empirisch offene Frage bezeichnet werden, was das Interesse auf die Erforschung faktisch bestehender sozialer Beziehungen lenkt. Dem Begriff des sozialen Netzwerks wird in diesem Zusammenhang das Potenzial zugeschrieben, die heutige Vielfalt sozialer Beziehungen abzubilden, indem es als Brückenkonzept zwischen der Mikroebene einzelner zwischenmenschlicher Interaktionen sowie der Makroebene sozialer und gesamtgesellschaftlicher Strukturen vermittelt (Lenz & Nestmann, 2009, S. 13). So erfährt die soziale Netzwerkforschung seit einigen Jahrzehnten einen stetigen Aufschwung, wenngleich hinsichtlich der theoretischen Grundlegung verschiedene Strömungen prägend sind. Als zentral ist dabei die Frage zu werten, inwieweit Netzwerke als „Entitäten mit eigener kausaler Kraft“ (Löwenstein, 2017, S. 15) zu verstehen sind, wenn sie für die Erklärung sozialer Phänomene herangezogen werden. Wie der Beitrag zeigen wird, bestehen Anschlüsse an die Teilhabeforschung vor allem zu jenen Diskursen, die Netzwerkstrukturen relational fassen und diese gleichermaßen als Produkt und als Ressource des Handelns begreifen.
1.2 Soziale Netzwerkförderung als Voraussetzung für die Teilhabe behinderter Menschen
Als conditio humana ist der Mensch nicht nur auf Gemeinschaftlichkeit angewiesen; sie ist Teil seiner selbst. Soziale Beziehungen sind identitätsbildend, prägen die individuelle Persönlichkeit und auch wenn sich Beziehungen im Laufe des Lebens verändern, bleiben sie im Kern existenziell für die menschliche Entwicklung (Lenz & Nestmann, 2009, S. 9). Die Angewiesenheit auf andere Personen zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse tritt umso mehr in den Vordergrund, wenn Menschen von Ausgrenzung bedroht und in der Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung gefährdet sind. Denn individuelle Lebenschancen realisieren sich neben makro- und mesostrukturellen Gegebenheiten über die mikrosozialen Zusammenhänge, in die ein Mensch eingebunden ist (Beck, 2016a, S. 58). Die Basis hierfür bildet eine gemeinsame, über Interaktion und soziale Beziehungen vermittelte Erfahrung. So kann gerade vor dem Hintergrund, dass Behinderung immer auch sozial bedingt ist und die Lebenslage behinderter Menschen übergreifend durch eine erschwerte Partizipation gekennzeichnet ist (ebd., S. 19), die Perspektive auf die Einbettung von Menschen in soziale Netzwerke und die damit verbundene soziale Unterstützung als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe gewertet werden.
Festzustellen ist jedoch, dass beide Perspektiven in der bisherigen Forschung nur selten zusammen gedacht werden. Zwar finden sich gemeinsame Diskurse um die gesellschaftstheoretische Bedeutung sozialer Netzwerke im Hinblick auf die „Krise des Wohlfahrtstaates“ (Beck, 2008, S. 48) und die Erwartungen im Hinblick auf die Leistungen und Funktionen alltäglicher Sozialbeziehungen in Relation zu staatlichen Sozialleistungen. Aus empirischer Sicht ist allerdings noch ein erheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren: So behandeln einerseits originär netzwerkanalytische Studien zwar durchaus Fragestellungen zur sozialen Ungleichheit, allerdings werden diese kaum auf die besondere Lebenslage behinderter Menschen konkretisiert. Andersherum haben sich bisherige Studien im Themenfeld Behinderung vorwiegend Fragestellungen der sozialen Unterstützung gewidmet, nehmen dabei allerdings nur selten Bezug zu den entsprechenden theoretischen als auch analytischen Diskursen der Netzwerkforschung. Der vorliegende Beitrag zielt darauf, beide Perspektiven zusammen zu führen und sowohl aus theoretischer als auch aus methodischer Sicht Anregungen zu geben, Teilhabe in ihrer Relationalität begreifen zu können und im Kontext der Netzwerkforschung zu verorten.
2 Grundlagen und Hintergründe der Netzwerkforschung im Kontext relationaler Theoriebildung
Das Interesse der Netzwerkforschung beginnt an der Stelle, an der sich über gelegentliche Kontakte hinausgehend ein „mehr oder weniger stabiles und vor allem erwartbares Beziehungsmuster“ (Holzer, 2010a, S. 9; Hervorhebung i.O.) herauskristallisiert. Geleitet wird dieser Fokus von der Annahme, dass in der modernen Gesellschaft die Gestaltung sozialer Beziehungen vor allem auf partikularistischen, personenbezogenen Handlungsorientierungen aufbaut, welche nicht zwangsläufig universalistisch definierten Erwartungen auf Basis bestimmter Rollenträgerschaften entsprechen müssen (Holzer, 2010a, S. 10). Diese neutrale, nicht per se normative Perspektive ist offen gegenüber unterschiedlichen Aspekten des Sozialen und dem jeweiligen empirischen Gegenstand (Herz, 2016, S. 690). Dabei interessiert sich die Netzwerkforschung nicht nur für einzelne soziale Beziehungen zwischen zwei Menschen, sondern eben vor allem für deren Einbettung in ein Netz weiterer Beziehungen. Anhand netzwerkanalytischer Kriterien wie Dichte, Zentralität oder Position lassen sich verschiedene Aussagen ableiten, etwa hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Ressourcen, Informationen oder auch den Möglichkeiten sozialer Kontrolle. Der Aufbau der sozialen Welt und damit die Erklärung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Phänomene erschließt sich somit primär über die sozialstrukturelle Einbettung von Individuen auf Basis bestehender sozialer Beziehungen. Mit diesem „antikategorischen Imperativ“ (Emirbayer & Goodwin, 2017, S. 290) grenzt sich die Netzwerkforschung deutlich von der klassischen variablenbasierten Sozialforschung ab, welche versucht, Zusammenhänge aufgrund bestimmter Merkmale von Individuen zu beschreiben, ohne aber deren wechselseitige Beziehungsgeflechte mit zu berücksichtigen.
„Man kann sich niemals einfach auf solche Attribute wie Milieuzugehörigkeit oder Milieubewusstsein, Verbundenheit mit einer politischen Partei, Alter, Geschlecht, sozialer Status, religiöse Überzeugungen, Ethnizität, sexuelle Orientierung, psychologische Prädispositionen und so weiter berufen, um zu erklären, warum sich Menschen so verhalten, wie sie es tun“ (ebd.).
Aus dieser Perspektive realisieren sich folglich Benachteiligungen etwa nicht allein auf Basis einer bestehenden Beeinträchtigung, sondern primär auf Grundlage von Zuschreibungen, die relational über soziale Beziehungen vermittelt werden. Ein geteilter grundlegender Orientierungspunkt in Bezug auf ein mehrdimensionales Verständnis von Behinderung und Teilhabe lässt sich damit schnell ausmachen. Im Sinne einer weiteren theoretischen wie methodischen Konkretisierung ist allerdings zu konstatieren, dass sich die Netzwerkforschung vor allem als sehr heterogenes Programm beschreiben lässt, in dem forschungspragmatische Fragen nach wie vor eine größere Rolle spielen als die Präzisierung der dahinter liegenden Konzepte (Holzer, 2010b, S. 79). Um dies zu erklären, lohnt ein kurzer Rückblick in die Begründungszusammenhänge dieses heute so bedeutenden Forschungsstranges (vgl. ausführlich Freeman, 2004; Gamper & Reschke, 2010), um darauf aufbauend die relevanten Aspekte aktueller Diskurse für die Teilhabeforschung herauszuarbeiten:
Historisch anschließend an die konzeptionellen Überlegungen von Georg Simmel (1908), welche gemeinhin als Startpunkt der Netzwerkforschung ausgemacht werden, lassen sich vor allem zwei Wissenschaftslinien identifizieren, die sich – zunächst allerdings gänzlich unabhängig voneinander – in ihren Ursprüngen der Untersuchung sozialer Beziehungen mit den daraus entstehenden Strukturen widmeten. So war es zum einen die Sozialpsychologie, die mit der Entwicklung von Soziogrammen den Grundstein für die Entwicklung der strukturbezogenen Netzwerkanalyse legte und das Wechselspiel von psychischen Vorgängen und sozialen Kontexten untersuchte. Beispielhaft kann hier die Balancetheorie nach Fritz Heider (1946) oder Leon Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz (1978) eingeordnet werden. Zum anderen lässt sich eine anthropologisch orientierte Linie der Netzwerkforschung beschreiben, deren Ursprung auf die Arbeiten von Alfred Radcliffe-Brown (1940) zurück zu führen ist. Seine Überlegungen prägten insbesondere die Entwicklungen der Organisations- und Gemeindeforschung in den USA und legten den Grundstein für die sogenannte Manchester Schule, welche als Gegenbewegung zu dem in den 1950er und 1960er Jahren dominierenden Strukturfunktionalismus charakterisiert werden kann (Gamper & Reschke, 2010, S. 26). Neben diesen beiden Strömungen waren und sind bis heute schließlich die Weiterentwicklungen der statistischen und grafenanalytischen Verfahren für die Netzwerkforschung relevant, welche in den 1940er und 1950er Jahren mit dem Ziel entstanden, auch größere Netzwerke betrachten zu können. Doch die eigentliche Etablierung einer dezidiert relationalen Perspektive in der Soziologie gelang erst in den 1970er Jahren mit dem sogenannten Harvard-Breakthrough, dessen intellektuelles Zentrum der Physiker und Soziologe Harrison White bildete. Zusammen mit einer Gruppe Studierender verband White bisherige konzeptionelle Ideen mit den neuen Möglichkeiten mathematischer Modellierung und legte damit einen bedeutenden Grundstein für die Netzwerkanalyse als eigenständiges Forschungsprogramm. Hieran knüpften verschiedene weitere, zum Teil bahnbrechende Arbeiten an, welche als Theorien mittlerer Reichweite gefasst werden können (ebd., S. 36). Zu benennen ist hier vor allem die Arbeit von Granovetter (1973), der die Bedeutung schwacher Beziehungen hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen und der Einbettung in das Gesamtnetzwerk zeigen konnte.
Insgesamt bieten diese Bezüge verschiedene Möglichkeiten, die Lebenslage behinderter Menschen im Hinblick auf gemeindesoziologische oder interaktionsbezogene Fragestellungen zu analysieren. Eine handlungstheoretische Verortung einer als relational konstituierten Teilhabeforschung im Rahmen sozialer Netzwerkforschung ist damit allerdings noch nicht erfolgt. Idealtypisch können Emirbayer und Goodwin (2017, S. 303 ff.) folgend die meisten der bisherigen netzwerkanalytischen Studien vor allem zwei allgemeinen Modellen zugeordnet werden, die entweder mehr Gewicht auf die Beziehungen oder die Elemente von Netzwerken legen (Holzer, 2010a, S. 76) und denen jeweils unterschiedliche Menschenbilder zugrunde liegen (vgl. hierzu Fuhse, 2010). So lässt sich zum einen die Linie des strukturalistischen Determinismus ausmachen, der die subjektiven historischen Konfigurationen des Handelns eher vernachlässigt und vielmehr auf strukturellen Erklärungsfaktoren aufbaut. Den Schwerpunkt in diesem Forschungsparadigma bilden entsprechend vorwiegend formale mathematische Modelle und schematische Darstellungen im Rahmen der Analyse größerer Netzwerke. Davon abgegrenzt kann der strukturalistische Instrumentalismus als zweite prominente Linie der Netzwerkforschung bezeichnet werden, in der stärker handlungstheoretisch argumentiert wird. Basierend auf dem methodologischen Individualismus, explizit der Rational-Choice-Theorie, ist in dieser Denkweise die individuelle Motivation zur Nutzenmaximierung leitend für die Entstehung sozialer Netzwerke. So können entsprechende netzwerkanalytische Studien zum Austausch von Ressourcen im Sinne des sozialen Kapitals hier eingeordnet werden. Beiden prominenten Linien gelingt es jedoch nicht, der Entstehung sozialer Netzwerke gerecht zu werden bzw. diese selbst als Produkt sozialer Strukturen zu konzipieren:
„Netzwerke entstehen nicht in einem sozialen Vakuum, sondern sind selbst bereits vorstrukturiert durch gesellschaftliche Vorgaben dafür, welche Kommunikationen und welche Kontakte überhaupt relevant werden können“ (Holzer, 2010a, S. 78).
An dieser Kritik setzt die dritte von Emirbayer und Goodwin als strukturalistischer Konstruktivismus bezeichnete Strömung an, die von der wechselseitigen Konstitution von Beziehungen und Elementen in einem Netzwerk ausgeht (ebd., S. 79). Ausgangspunkt und zentrale Position der theoretischen Überlegungen bildet dabei vor allem das komplexe Werk Identity and Control von Harrison White (1992), das aus heutiger Sicht den wohl ganzheitlichsten Entwurf zur theoretischen Grundlegung der Netzwerkforschung bildet. Daneben können die weiteren Arbeiten von Emirbayer, insbesondere sein Manifest für eine relationale Soziologie (1997), als bedeutende Grundlage für den „cultural turn“ in der Netzwerkforschung gewertet werden. Ohne an dieser Stelle auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Werke detailliert eingehen zu können (vgl. hierzu Schmitt, 2017), sollen im Folgenden die wesentlichen theoretischen Grundzüge dieses Forschungsstranges dargestellt werden. Daran anknüpfend werden die sich daraus ergebenden Konsequenzen und Perspektiven für die Konzeptualisierung einer relationalen Teilhabeforschung innerhalb der Netzwerkforschung aufgezeigt. Mit Verweis auf den erkenntnistheoretischen Fokus von Kraus (2017) wird sich dabei der Bezeichnung des relationalen Konstruktivismus angeschlossen.
3 Der relationale Konstruktivismus der Netzwerkforschung als ein Zugang für die Teilhabeforschung
Anders als in den bisher genannten Strömungen der Netzwerkforschung gelten im relationalen Konstruktivismus strukturelle und kulturelle Elemente als konstitutiv für die Schaffung und den Erhalt von sozialen Netzwerken (Mützel & Fuhse, 2010, S. 7). Diese Perspektive geht einher mit einem bedeutungsorientierten Kulturverständnis, das auf einer „symbolischen Organisation der Wirklichkeit“ (Reckwitz, 2004, S. 7) aufbaut und dabei explizit den Fokus auf die „Beachtung von Subjekten, Umwelten und deren Relationen“ (Kraus, 2017, S. 93) legt. So bezeichnet White (1992, zit. n. Holzer, 2010a, b, S. 83) soziale Netzwerke als „phänomenologische Wirklichkeiten“, welche durch Identitäten sinnhaft konstruiert und mit Bedeutungen hinterlegt sind. Ein Kernelement seines Werks bilden sogenannte stories, also Erzählungen, Geschichten bzw. Zuschreibungen, die soziale Netzwerke strukturieren. Soziale Beziehungen stellen demnach fragile Konstruktionen dar, die sich weniger direkt aus bestimmten Merkmalen ergeben, sondern die erst durch die subjektiven Beschreibungen und Symbolisierungen Realität gewinnen (ebd., S. 83 ff.). In der weiteren Ausdifferenzierung beschreibt White eine komplexe Theorie sozialer Identitätsformen, die sich zu komplizierten Vermischungen unterschiedlicher Muster hin entwickelt (Schmitt, 2017, S. 76). Transaktionen zwischen Personen (bzw. Identitäten) gelten dabei nicht als losgelöste Einzelhandlungen, sondern sind angebunden an soziale Prozesse und eingebettet in Möglichkeitsräume. Diese Grundposition von jeweils nur als relational bestimmbaren Analyseeinheiten kann als die wichtigste geteilte Hintergrundannahme dieser Forschungsrichtung formuliert werden (ebd.). In diesem Zusammenhang besteht auch ein deutlicher Bezug zu der weiteren Kontextualisierung von Agency innerhalb soziologischer Theoriebildung bzw. daran anschließend einer als zwischen Struktur und Handlung vermittelnd gefassten Teilhabeforschung. Hierzu lässt sich mit Scherr zusammenfassen:
„Wenn es um die Bestimmung von Agency geht, kann nicht von der vorgängigen Existenz von Individuen oder Gruppen mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen usw. ausgegangen werden, sondern es ist zu untersuchen, wie Akteure ihre jeweiligen Identitäten, Motive, Absichten und damit ihre jeweilige Handlungsfähigkeit in Abhängigkeit von ihrer Situierung in sozialen Strukturen bzw. soziale Beziehungen hervorbringen“ (Scherr, 2013, S. 234).
Aus erkenntnistheoretischer Sicht findet die relational konstruktivistische Ausrichtung der Netzwerkforschung unmittelbar Anschluss an die phänomenologischen Wurzeln des Lebensweltbegriffes, welche gleichsam mit dem sozialwissenschaftlichen Ansatz der Lebenslage verbunden werden:
„Das eine ist die subjektive Konstruktion unter den Bedingungen des anderen. […] Die Lebenswelt ist ebenso die subjektive Konstruktion eines Menschen wie die Wirklichkeit, und diese subjektiven Konstruktionen vollziehen sich unter den Bedingungen der Lebenslage beziehungsweise der Realität“ (Kraus, 2017, S. 102).
Soziale Strukturen werden durch gemeinsames Handeln hervorgebracht und existieren unabhängig vom individuellen Bewusstsein, prägen dieses aber gleichermaßen (Beck & Greving, 2012, S. 16). Mit diesem Verständnis können also die Strukturen sozialer Netzwerke als ein Faktor der Lebenslage bestimmt und als externe Bedingungen zur Bedürfnisbefriedigung analysiert werden. Gleichermaßen richtet der relationale Konstruktivismus der Netzwerkforschung aber eben auch den Blick auf die subjektiven Sinnzuschreibungen hinsichtlich der Gestaltung sozialer Beziehungen. Damit knüpft diese Perspektive zum einen unmittelbar an ein mehrdimensionales Verständnis von Behinderung und die bestehenden Begründungslinien und Konzepte im Rahmen der Teilhabeforschung an (vgl. Beck, 2016a; Bartelheimer et al., 2020). Zum anderen geht mit dieser Forschungslinie eine vermehrte Öffnung gegenüber qualitativen Zugängen einher, wodurch sich der relationale Konstruktivismus von den weiteren oben genannten Strömungen der Netzwerkforschung auch methodologisch deutlich abgrenzt.
4 Soziale Netzwerke behinderter Menschen – Forschungsstand, Anschlüsse und Perspektiven
Bedingt durch die aufgezeigte partikularistische Handlungsorientierung eignen sich soziale Netzwerke nicht nur als wissenschaftliches Konzept der Moderne, sondern auch als Ansatz und Instrument zur „Sicherung von Interessen und zur Verteilung von Handlungsspielräumen“ (Beck, 2008, S. 47). In ihrer Funktion können Netzwerke damit als Voraussetzung zur Realisierung von Teilhabe und Bedingung zur Bewältigung kritischer Lebensereignisse gewertet werden. Entsprechend richten die meisten der bisher durchgeführten Untersuchungen zu den sozialen Netzwerken behinderter Menschen auch den Schwerpunkt auf die geleistete bzw. potenziell zu leistende soziale Unterstützung innerhalb der bestehenden Strukturen und knüpfen damit an die weitläufigen Stränge der Social-Support-Forschung an (vgl. Nestmann, 2010). Im Hinblick auf die Wirkungsweisen können dabei verschiedene Effekte und Kategorien identifiziert werden. So differenzieren Diewald und Sattler (2010, S. 691 f.) soziale Unterstützungsleistungen in:
-
a)
Konkrete, beobachtbare Interaktionen (z. B. Pflege, materielle Hilfen, Beratung),
-
b)
Vermittlung von Kognitionen (z. B. Anerkennung, Orientierung an sozialen Normen, Zugehörigkeitsbewusstsein),
-
c)
Vermittlung von Emotionen (z. B. Geborgenheitsgefühl, Liebe und Zuneigung).
Entscheidend ist dabei allerdings nicht nur die tatsächlich erhaltene, sondern vor allem eben die subjektiv wahrgenommene Unterstützung, die auch unabhängig von konkreten Belastungssituationen wirkt und das persönliche Wohlbefinden und die Gesundheit positiv beeinflusst. Die individuelle Bewertung der Hilfeleistung, die dadurch bedingte Bewältigung von Belastungen sowie die Einordnung in den gesamten Beziehungskontext sind demnach grundlegend für ein ganzheitliches Verständnis sozialer Unterstützung – und bilden zugleich eine der zentralen Herausforderungen der Social-Support-Forschung (Heckmann, 2012, S. 119 f.). In Abgrenzung zur Netzwerkforschung, wo die Analyse großer Gesamtnetzwerke mithilfe grafischer Modelle üblich ist, fokussiert dieser Ansatz damit vor allem die individuelle Ebene und steht in deutlicher Tradition der oben genannten sozialpsychologischen Linie. Eine empirische Forschung, welche im Kontext sozialer Netzwerke primär die Ressourcen sozialer Unterstützung fokussiert, ist demnach gefordert, hierauf sowohl theoretisch als auch methodisch Bezug zu nehmen.
Bei Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes zu sozialen Netzwerken behinderter Menschen zeigt sich, dass diese sich als vergleichsweise klein, räumlich nah und dicht beschreiben lassen und dass nur wenige informelle Quellen sozialer Unterstützung bestehen, welche wiederum hoch belastet sein können (Heckmann, 2012). Dabei ist wesentlich, zwischen den verschiedenen Personenkreisen und Lebenslagen zu differenzieren, etwa im Hinblick auf die Art und den Eintrittszeitpunkt der Beeinträchtigung oder auch das Alter der befragten Personen (Harand et al., 2021). Insbesondere im sozialen Netzwerk von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung scheinen professionell Tätige und Familienangehörige oftmals eine große Rolle in der Bereitstellung von Hilfe im Alltag zu spielen (vgl. u. a. Windisch, 2016; Franz & Beck, 2015; Seifert, 2010). Kennzeichnend für die sozialen Netzwerke vieler behinderter Menschen ist entsprechend eine hohe soziale Abhängigkeit und eine Tendenz zur Homogenität (Kirschniok, 2016, S. 430). Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung eines sozialraumorientierten Handlungsansatzes in der Unterstützung behinderter Menschen, der sich in Techniken und Methoden der Netzwerkförderung sowohl auf personenorientierter als auch personenübergreifender Ebene niederschlägt (Röh & Meins, 2021).
Mit Blick auf den weiteren Forschungsbedarf zeigt sich aber auch, dass die subjektive Perspektive seitens der Menschen mit Beeinträchtigung hinsichtlich der qualitativen und sinnhaften Gestaltung und Rekonstruktion ihrer persönlichen Netzwerke in den bisherigen Studien eher unterrepräsentiert bleibt. So findet die individuelle Bedeutungszuschreibung einzelner sozialer Beziehungen kaum eine Berücksichtigung. Vielmehr konzentrieren sich die durchgeführten Untersuchungen primär auf Maße wie Größe und Zusammensetzung der jeweiligen Netzwerke auf Basis bestimmter Rollenträgerschaften, ohne dabei aber eine handlungs- bzw. erkenntnistheoretische Verortung im Kontext der Netzwerkforschung vorzunehmen. Basierend auf der hier aufgezeigten relational konstruktivistischen Perspektive stellt sich jedoch nicht nur die Frage, wie einzelne Netzwerke strukturell beschaffen sind und welche Unterstützung sie durch welche Personen bieten, sondern eben auch, wie die damit verbundenen Handlungsspielräume wahrgenommen und subjektiv (re)konstruiert werden. Soziale Unterstützung wird auf diese Weise zu einer Kategorie, welche sinnhaft mit einer individuellen Bedeutungszuschreibung verknüpft wird, sich gleichwohl aber auch innerhalb bestehender Strukturen manifestiert bzw. aus diesen herausgebildet wird. Eine Herangehensweise, die derart mehrdimensional angelegt ist, ist allerdings in der gesamten Netzwerkforschung nur wenig erprobt, was auch mit den dahinterstehenden Traditionen und dem Schwerpunkt auf die strukturale Analyse sozialer Netzwerke begründet werden kann. So kann mit Diaz-Bone diagnostiziert werden, dass die meisten der bislang durchgeführten qualitativen Untersuchungen zu sozialen Netzwerken die grundlegende Strukturanalyse der Netzwerkforschung eher vernachlässigen, wodurch „Ego […] zu dem erklärenden Prinzip für die Netzwerkanalyse inthronisiert [wird]“ (Diaz-Bone, 2008, S. 339; Hervorhebung i.O.). Diese Kritik lässt sich auch auf die Teilhabeforschung übertragen, wenn die Visualisierung durch Netzwerkkarten primär als kognitive Erleichterung gesehen wird, um komplexe Beziehungsmuster abzubilden und diese „im Dialog transparenter zu machen“ (Hintermair, 2009, S. 201). Eine notwendige Integration von Strukturanalyse und subjektiver Bedeutungszuschreibung sozialer Beziehungen im Kontext sozialer Netzwerkanalyse bleibt damit aus. Um diesbezüglich alternative Wege aufzuzeigen, kann exemplarisch die Arbeit von Löwenstein (geb. Hoffmann, 2015) hervorgehoben werden, der Verflechtungen zwischen der Gestaltung von (Unterstützungs-)Netzwerken und der Identitätsbildung von Menschen mit Borderline-Diagnose untersuchte. Hierzu kombinierte er quantitative Daten einer Analyse von 59 egozentrierten Netzwerken mit ausführlichen narrativ-biografischen Fallstudien einzelner Personen, die auf Basis einer Clusteranalyse ermittelt wurden.
Eine weitere noch junge Methode, die die Perspektive der strukturalen Analyse sozialer Netzwerke mit analytischen Standards der qualitativen Sozialforschung kombiniert, stellt die Qualitativ Strukturale Analyse (QSA) nach Herz et al. (2015) dar. Diese Methode verfolgt den Anspruch, Netzwerkkarten, wie sie für die Erhebung egozentrierter Netzwerke mannigfaltig bereits umgesetzt werden (u. a. Kupfer & Nestmann, 2018; Straus, 2010), nicht nur als Hilfestellung, sondern auch in die qualitative Analyse als für sich stehendes Material mit einzubeziehen. Diesbezüglich formuliert die QSA basierend auf den Verfahren der formalen Netzwerkanalyse mehrere Leitfragen, die sich in strukturbezogene, akteur*innenbezogene und relationenbezogene Beschreibungen unterscheiden lassen. Die Ergebnisse, Annahmen und Hypothesen, die sich aus der Analyse der Karte ableiten lassen, dienen daran anschließend als Grundlage, um das Datenmaterial der qualitativen Interviews sequenziell aufzuschlüsseln. Durch diese Verknüpfung hat die Methode das Potenzial, einerseits der subjektiven Rekonstruktion und sinnhaften Bedeutungszuschreibung einzelner sozialer Beziehungen Raum zu geben, zugleich aber auch die Strukturen von Netzwerken als Bedingungen der Lebenslage in die Auswertung zu integrieren. Eine entsprechende Anwendung erfährt die QSA unter anderem im eigenen – im Jahr 2021 noch laufenden – Promotionsprojekt, in dessen Zentrum die Analyse nachbarschaftlicher Unterstützung für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung steht. Hierzu wurden insgesamt 33 Menschen mit Beeinträchtigung zu ihren alltäglichen Beziehungen befragt. Überdies wurden acht weitere Interviews mit Nachbar*innen ohne Beeinträchtigung geführt, zu denen nach Auskunft der behinderten Menschen ein persönlicher Kontakt besteht. Auf Basis des hier vorgestellten Zugangs können damit neue Erkenntnisse zu den Bedingungen sowie der subjektiven Bedeutung informeller sozialer Unterstützung innerhalb der sozialen Netzwerke erwartet werden.
5 Fazit
Es konnte gezeigt werden, dass sich durch die Netzwerkforschung und die dahinterstehenden theoretischen Begründungslinien und analytischen Instrumente mannigfaltige Perspektiven für die Teilhabeforschung ergeben. Der hier fokussierte relational konstruktivistische Ansatz kann dabei als ein Weg gewertet werden, empirische Forschung im Kontext sozialer Netzwerke behinderter Menschen handlungs- und erkenntnistheoretisch zu verorten und zu einem relationalen Verständnis von Teilhabe beizutragen. Daneben bestehen weitere Bezüge, unter anderem zur Social-Support-Forschung, wenn Netzwerke in erster Linie in ihrer Funktion und als Voraussetzung zur Realisierung von Teilhabe gewertet werden. Wesentliche Erweiterungen im Hinblick auf den aktuellen Forschungsstand können darüber hinaus durch die Analyse von Gesamtnetzwerken erwartet werden, etwa mit Bezug zur Organisationsforschung im Kontext von Bildung oder der Teilhabe am Arbeitsleben. Diese Anschlüsse und die dahinterstehenden theoretischen Begründungslinien darzulegen und zu reflektieren, sollte ein zentrales Anliegen zukünftiger empirischer Forschung sein, nicht zuletzt, um die verschiedenen Erkenntnisinteressen sichtbar und Ergebnisse vergleichbar zu machen.
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Meins, A. (2022). Zwischen sozialer Einbettung und lebensweltlicher Konstruktion. In: Wansing, G., Schäfers, M., Köbsell, S. (eds) Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Beiträge zur Teilhabeforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38305-3_9
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