Schlüsselwörter

1 Einleitung

Software, die für die Schule entwickelt wird, wird die Kommunikation erleichtern, das Sekretariat entlasten, und Zusammenarbeit verbessern; sie wird das Dokumentieren vereinfachen, den Schulalltag modern gestalten und die hohen Anforderungen aller Schularten erfüllen; Software kann dabei unterstützen, die Herausforderungen der Coronapandemie zu meistern, den Unterricht voranzubringen und das Lernen zu personalisieren.Footnote 1 Das sind nur einige der Versprechen, die in den Werbebroschüren der Schulsoftwarebranche oder in Onlineportalen zu digitalen Medien und Schule zirkulieren. Durch solche Versprechen werden Vorstellungen von einer „guten Schule“ in den Werbekampagnen mitentworfen. Wenngleich sie als „Wunschkonstellation“ (Winkler 1997, S. 17) oder „technologischen Solutionismus“ (techno-solutionism; Milan 2020; Morozov 2013) bezeichnet worden sind, spiegeln diese und ähnliche Versprechen und Hoffnungen die „Lösungsorientierung“, die unter Softwareentwickler*innen mitunter selbstverständlich erscheint (Krypczyk und Bochkor 2018, S. 21): Wenn Nutzer*innen im Fokus stehen sollen, ist eine wesentliche Rolle von Software, Lösungen („pain relievers“) für die Herausforderungen („pains“) dieser Nutzer*innen anzubieten (z.B. value proposition canvas, Osterwalder et al. 2014; siehe auch double diamond design Prozess, Design Council 2019; design thinking, Lewrick 2018).

Man könnte auch sagen, der Entwicklungsprozess von Software unterliegt häufig einem Problem-Lösungs-Paradigma. Unabhängig davon, ob ein Softwareentwicklungsteam selbst ein Problem erkennt, oder ob es interaktiv oder partizipativ mit Nutzer*innen Probleme identifiziert, in der Literatur zu Entwicklung und Design von Software wird davon ausgegangen: Es „gibt“ Probleme, die identifiziert und verstanden werden können. Im double diamond design Prozess zielt der erste Schritt zum Beispiel auf die Entwicklung eines Problemverständnisses: „helps people understand, rather than simply assume, what the problem is“ (Design Council 2019). Design Thinking wird beschrieben als ein Ansatz, der unter anderem „Antworten und Lösungen für Probleme [liefert], die im Zeitalter der Digitalisierung und zunehmend vernetzter Wertschöpfung und Komplexität allgegenwärtig sind“ (Lewrick 2018, S. 9). Softwareanwendungen „werden in Auftrag gegeben und erstellt, um damit Probleme leichter lösen zu können“ (Krypczyk und Bochkor 2018, S. 23).

Parallel zum Verständnis von Daten, das dieses Buch leitet – dass Daten nicht gefunden werden, sondern produziert, und dass sie somit die Welt nicht nur abbilden, sondern mitgestalten (siehe Breiter & Bock 2023 in diesem Buch, Kap. „Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule“) – befindet sich unser Verständnis von „Problemen“. Auch Probleme werden nicht nur identifiziert und verstanden, sondern „als Objekte für das Denken“ entworfen (Bacchi und Goodwin 2016, S. 39; Wrana 2015, S. 128). Im Fokus steht hier also nicht in erster Linie, wie Menschen etwas, das in der Welt als Problem existiert, lösen, sondern wie etwas zu einem „etwas“ gemacht wird durch, zum Beispiel, die Beschreibung von Lösungen, pain relievers oder Anforderungen. Ein Problem ist in diesem Sinne ein Prozess; Probleme werden bei der Bearbeitung zusammengesetzt (put together), geformt und transformiert (Lury 2020, S. 3). Eine „Problematisierung“ – das heißt, eine implizite oder explizite Repräsentation von etwas als einen Sachverhalt, den es zu bearbeiten gilt – „is always a kind of creation“ (Foucault 1983) Michel Foucault betont allerdings, dass es bei seinem Verständnis von Problematisierung nicht darum geht, zu behaupten, die Phänomene seien nicht auch real. Er fragt danach, wie spezifische Phänomene zu einer spezifischen Zeit als Problem, das behoben werden soll, erscheinen: „how and why were very different things in the world gathered together, characterized, analyzed, and treated as, for example, ‚mental illness‘? What are the elements which are relevant for a given ‚problematization‘?“ (Foucault 1983).

Vor diesem Hintergrund, und gerade mit Blick auf datenintensive Schulsoftware, fragen wir in diesem Beitrag: Welche Probleme sollen aus Sicht Softwareproduzierender von der Software gelöst werden, und wie wird dabei eine „gute Schule“ imaginiert? Um diese Frage zu beantworten, analysieren wir Interviews mit „Softwaregestaltungsteams“, das heißt, Geschäftsführer*innen, Entwickler*innen, Designer*innen, Projektmanager*innen, Vertriebler*innen und weiteren an der Entwicklung und Distribution von Schulsoftware involvierten Menschen. Der Fokus liegt auf zwei zentralen Bereichen: „Lernsoftware“ für den Unterricht und „Schulverwaltungssoftware“ für die Administration. Die Softwaregestaltungsteams artikulieren Lösungen für ihre jeweiligen Nutzer*innen, diese Lösungen geben implizite oder explizite Hinweise auf Probleme, die zu beheben sind. Ziel des Beitrags ist, herauszuarbeiten wie die Beschreibung dieser Lösungen Problematisierungen hervorbringt, wie diese Problematisierungen komponiert werden, und welche weiterführenden Implikationen sie für die – wie der Titel dieses Bandes „Die datafizierte Schule“ andeutet – Konstruktion der Schule im Prozess der Datafizierung entfalten.

Der Beitrag fokussiert dabei auf zwei zentrale Themen: Entlastung und Eigenverantwortung. Nach einer Kontextualisierung in der Forschung zur Entwicklung von Software für die Schule und einer Skizze der Methoden, folgen zwei zentrale Abschnitte zu den, von den Softwaregestaltungsteams beschriebenen, Lösungen. Hier werden jeweils die Aussagen der Anbieter*innen von Lernsoftware und Schulverwaltungssoftware in den Blick genommen. Die Abschnitte enden mit einer zusammenfassenden Reflexion, wie die formulierten Lösungen und Zuschreibungen Problematisierungen mit konstruieren und konstituieren, und somit Ideale von dem, was als eine „gute Schule“ gilt, produzieren. Das Fazit reflektiert, welche spannungsreichen Konstruktionen sich von dem Bild einer „guten“ Schule ableiten lassen, und welche alternativen Entwicklungsprozesse für schulbezogene Software denkbar wären.

2 Die Entwicklung von Software für eine „gute Schule“

Die Erkenntnis, dass Unbestimmbarkeiten, Spannungsverhältnisse und Widersprüche für das schulische Geschehen konstitutiv sind, ist in der Forschung zu Schule weitgehend anerkannt (Biesta 2013; Britzman 2009; Edwards 2011; Meseth et al. 2012). Eine lineare Wirkung der Schulsoftware kann vor diesem Hintergrund keinesfalls postuliert werden. Viel naheliegender ist die Annahme einer weniger linearen „Prägekraft“ von Medien und Technologien auf die Praxis. Schulbezogene Software entfaltet in diesem Sinne eine Wirkkraft auf das, was für Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulleitungen, Sekretariate und weitere schulische Akteur*innen als wichtig, selbstverständlich oder wünschenswert gilt. Wie andere Medientechnologien, prägt diese Software die Kommunikation, die Wahrnehmungen und die Erfahrungen der Nutzer*innen (Krämer, 1998, S. 14). Spezifisch auf Bildung ist beschrieben worden, wie Software den („heimlichen“) Lehrplan mitproduziert, indem sie die für die Praktiker*innen zugänglichen Informationen, Wissensangebote und Interaktionsformen selektiert und vorformt (Edwards 2015). Software nimmt eine „ubiquitous role in mediating and shaping many aspects of society“ ein; darin eingeschlossen ist Schule (Lynch 2015, S. 10). Unter anderem erzählt sie Narrative, die bestimmte Rollen und Sozialitäten hervorheben und als selbstverständlich bzw. erstrebenswert setzen (Jarke und Macgilchrist 2021). Software, die für Schulkontexte entwickelt wird, ist somit nicht nur eine technische Unterstützung der Arbeit schulischer Akteur*innen und ein Kommunikationswerkzeug, sondern auch Medium einer algorithmisierten Wirklichkeitskonstruktion (Breiter und Hepp 2018; Floyd 1989). Insgesamt nimmt dieser Beitrag die Forschungsperspektive auf, dass die Verwendung von Software in Lehr- und Lernkontexten und Schulverwaltung Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozesse prägt; sie bringt bestimmte Formen von Schule – genauer, von „guter Schule“ – hervor (Bellmann 2015; Breiter und Jarke 2016; Eder et al. 2017; Eynon 2013; Gapski 2015; Gorur 2014; Grek 2009; Hartong 2016; Ozga 2011; Selwyn 2014; Williamson 2015, 2016).

Forschung zu Softwaregestaltungsteams identifiziert, wie sie ihre Kund*innen als Nutzer*innen konstruieren, die in einem bestimmten Verhältnis zu anderen Bildungsstakeholder*innen und den Softwaresystemen stehen, zum Beispiel im Rahmen von Konsum, Nutzer*innenfreundlichkeit oder Effizienz (Ramiel 2019). Einige „Edupreneur*innen“ (Entrepreneur*innen im Bildungsbereich) stellen sich gute, zukunftsweisende Lehrkräfte in bestimmter Weise vor und entwickeln Angebote für diese Art von Lehrkraft, zum Beispiel als Lernbegleiter*in statt Vortragende*r, als flexible, motivierende, individualisierende Lehrkraft, die die kreativen Arbeitnehmer*innen der Wissensökonomie ausbildet (Ideland et al. 2021). Andere Softwaregestaltungsteams fokussieren gar nicht mehr auf Lehrkräfte als ihre primären Nutzer*innen, sondern auf Schüler*innen oder auf Daten als die wichtigsten Elemente, die Wandel im Schulsystem forcieren (Macgilchrist 2017).

Ähnlich den wenigen weiteren Studien zur Entwicklung von Schulsoftware (z. B. Ideland et al. 2021; Macgilchrist 2017, 2019; Ramiel 2019), basiert dieser Beitrag auf Interviews. In Kontrast zum Ziel dieser Studien, Muster oder Narrative herauszuarbeiten, ist das Ziel dieses Beitrags, wie oben eingeführt, ausgewählte „Problematisierungen“ herauszuarbeiten. Wir identifizieren Momente, in denen die Softwaregestaltungsteams Wünsche, Versprechen, Lösungen, Ziele oder gains ihrer Software beschreiben, um die dabei implizit oder explizit artikulierten Problemkonstruktionen zu identifizieren. Die Analyse fokussiert darauf, wie ähnliche Problematisierungen von unterschiedlichen Gesprächspartner*innen, sowohl bei Software für den Unterricht als auch für die Schuladministration verhandelt werden (weitere Aspekte der Lernsoftware und Schulverwaltungssoftware haben wir an anderen Orten diskutiert, z. B. Jarke und Breiter 2021; Jarke und Macgilchrist 2021; Weich et al. 2021; Zakharova et al. 2022; Zakharova und Jarke 2022). Durch die Analyse der Problematisierungen beleuchten diese Interviews, so unsere leitende Annahme, welche Vorstellungen von guter Schule in Schulsoftware eingeschrieben werden. Ein besseres Verständnis dieser mitunter widersprüchlichen Vorstellungen von guter Schule erscheint heute essenziell, weil diese und ähnliche Software, wie in der Einleitung dieses Buches bereits ausgeführt (siehe Breiter & Bock 2023 in diesem Buch, Kap. „Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule“), die Handlungsoptionen in Schulen zunehmend mitprägen.

3 Methoden und Materialien

Wir verstehen unter schulbezogener Software eine Reihe von Softwareprodukten, die im schulischen Bereich zur Unterstützung von wesentlichen Aufgaben eingesetzt werden (Breiter und Lange 2019, S. 333). Dies umfasst zum einen „Schulinformationssysteme“, wie etwa „Schulverwaltungssoftware“ für die Organisation und Verwaltung der Schul(stamm)daten und des Schulalltags, und zum anderen „Lernsoftware“, welche im Unterricht Anwendung findet. Unter anderem eine steigende Nachfrage nach Bildungsdaten (Bellmann 2015; Breiter und Jarke 2016; Hartong et al. 2018; Lawn 2013; Williamson 2017) führt im Zuge der Digitalisierungsstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK) zu einem verstärkten Einsatz solcher Software in der Schulpraxis.

Schulverwaltungssysteme“ sollen die Schulverwaltung – üblicherweise Schulleitung und Schulsekretariate – bei ihrer Arbeit unterstützen und ihre Arbeitsabläufe in gewisser Weise vorstrukturieren. Die in diesen Schulverwaltungssystemen erzeugten Daten werden Mitarbeiter*innen in Bildungsbehörden über technische Schnittstellen zur Verfügung gestellt, um ihren Aufgaben nachzukommen (Datenfluss von Schule zu Behörde; siehe Jarke et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“). Behördenmitarbeiter*innen nutzen dabei nicht notwendigerweise dieselben Systeme wie Schulen, sondern auch andere Arten von Schulinformationssystemen (Breiter und Lange 2019).

Unser Fokus bei „Lernsoftware“ liegt insbesondere auf adaptiven Softwareprodukten, das heißt, Produkte, die darauf zielen, die Dateneingaben der Lernenden zu erfassen, und aufgrund dieser Eingaben in Echtzeit die Fähigkeiten der Lernenden zu berechnen. Die Präsentation des Lernmaterials wird flexibilisiert mit dem Ziel, die Aufgabenabfolge optimal auf die berechneten Fähigkeiten der Lernenden anzupassen. Systeme können also mehr oder weniger adaptiv gestaltet sein (Berger und Moser 2020; Bulger 2016; Groff 2017).

Dieser Beitrag beruht auf 25 qualitativen, leitfadengestützten Interviews, die mit 29 Personen durchgeführt wurden. Wir sprachen mit zehn Geschäftsführer*innen, sechs Produktmanager*innen, sieben Projektmanager*innen und/oder Ressortleitungen, drei Vertriebler*innen und drei Entwickler*innen von Lern- sowie Schulverwaltungs- bzw. Schulinformationssoftware (im Folgenden „Softwaregestaltungsteams“).

Die Interviews zur Analyse von Lernsoftware führten wir mit einzelnen Softwareentwickler*innen (ein Gespräch fand mit zwei Personen statt) im deutschsprachigen Raum, die Produkte für den Einsatz in Schulen in Deutschland bzw. für Schüler*innen in Deutschland durch, sowohl proprietäre als auch open source Lernsoftware. Diese Gespräche fanden bis auf zwei, welche wir in den Geschäftsräumen der Anbieter*innen geführt haben, mittels Videokonferenztools statt. Die Länge der Interviews mit den Lernsoftwareentwickler*innen variierte zwischen 27 Minuten und 1 Stunde 22 Minuten; und dauerte durchschnittlich ca. eine Stunde. Die Interviews zur Analyse von Schulverwaltungssoftware fanden in den Bildungsministerien bzw. -behörden in vier deutschen Bundesländern statt, davon in jedem Bundesland jeweils zwei Interviews mit je ein bis vier unterschiedlichen Vertreter*innen der Teams (Projektmanager*innen, Entwickler*innen), die zwischen einer und vier Stunden dauerten (durchschnittlich zwei Stunden); alle Interviews bis auf drei fanden vor Ort statt. Zusätzlich haben wir im Kontext eines Bundeslandes ein Interview mit dem Geschäftsführer einer Partnerfirma geführt, welche ebenfalls an der Softwareentwicklung für Schulverwaltung beteiligt ist.

Für beide Corpora der transkribierten Interviews (Schulverwaltungssoftware und Lernsoftware) griffen wir auf kodierende qualitative Auswertungsverfahren zurück, um Problematisierungen (Bacchi 2012; Charmaz und Thornberg 2021; Childers 2014; Law 2004) und „rich points“ (Agar 2006; auch als „Irritationspunkte übersetzt, z. B. Macgilchrist et al. 2014) zu identifizieren. „Rich points“, das sind Momente, in denen wir als Forschende irritiert waren und die Interviews auf der Basis unseres theoretischen und empirischen Vorwissens erklärungs- oder vertiefungswürdig fanden. So wurden zwei zentrale Problematisierungen herausgearbeitet, deren Linien, Spannungen und Implikationen im Folgenden näher analysiert werden.

4 Problematisierungen und Softwarelösungen

4.1 Entlastung/Belastung

Im ersten der beiden thematischen Schwerpunkte dieses Beitrags fokussieren wir die Spannungen zwischen dem expliziten Ziel, eine Softwarelösung anzubieten, die Nutzer*innen entlastet und einfach zu bedienen ist, und der Verknüpfung von Softwarelösungen mit potenziell belastenden Faktoren wie Effizienzsteigerung oder Schnelligkeit. Der erste Schritt der Analyse in diesem Abschnitt zeigt, wie Softwaregestaltungsteams von „Lernsoftware“ einen Schwerpunkt auf die Entlastung und Unterstützung von Schüler*innen und Lehrkräften legen. Im zweiten Schritt zeigen wir, wie Entlastungsstrategien für die Nutzer*innen der „Schulverwaltungssoftware“ verhandelt werden. Im dritten Schritt reflektieren wir, wie bei der Artikulation von Entlastung als eine der von der Lern- und Schulverwaltungssoftware angebotenen Lösungen, Spannungen zwischen dem Ziel der Entlastung und potenziellen Belastungsfaktoren in der Konstruktion von Software, Schüler*innen und Lehrkräften sichtbar werden.

4.1.1 Lernsoftware: Lehrkräfte und Schüler*innen zwischen Entlastung, Förderung und Effizienzsteigerung

In den Interviews beschreiben die Lernsoftwaregestaltungsteams unterschiedliche Belastungsfaktoren für Lehrkräfte, welche durch Lernsoftwareeinsatz behoben werden könnten. So formuliert ein Entwickler, die Ursache für die Belastung von Lehrkräften läge darin, dass Lehrkräfte „ein(en) riesigen Workload haben, schon allein, um das Curriculum irgendwie durchzuschlagen“ (Int_Entw_9_Zf. 44) und im Unterricht oft nur deshalb etwas Neues eingeführt werde, um den Lehrplänen gerecht zu werden. Eine Geschäftsführung sieht in der „Überforderung“ der Lehrkräfte die Ursache für die Produktion von Bildungsverlierer*innen und führt weiter aus, dass junge Menschen deshalb nicht entsprechend ihrem Potenzial gefördert werden:

Und, ähm, dass wir hier so viele Bildungsverlierer produzieren im Schulsystem, dass wir so viele Menschen, junge Menschen, die viel Potenzial haben, gar nicht entsprechend ihres Potenzials fördern, das ist ein Problem, das seine Ursache in der Überforderung des Lehrers mit den vielfältigen Aufgaben hat. Und wie können wir jetzt wie in jedem Berufsbild, das völlig normal ist, Technik an die Hand geben, die dem Lehrer Freiräume schafft, einen personalisierten Unterricht zu machen und die den Schüler ein Stück weit unabhängig von der Qualität des Lehrers macht. Ja? (Int_GF_2_Z. 66–69)

Ein Problem wird identifiziert – die fehlende Förderung von jungen Menschen, die schulische Produktion von „Bildungsverlierern“ – und eine Ursache für das Problem: die Überforderung der individuellen Lehrkraft mit ihren „vielfältigen Aufgaben“. An dieser Stelle wird nicht von der in der Bildungsforschung beschriebenen systemischen, strukturellen oder sozio-ökonomischen Produktion von Ungleichheit oder Ungerechtigkeit gesprochen. Um weniger „Bildungsverlierer“ zu produzieren und junge Menschen „entsprechend ihres Potenzials“ zu fördern wird „Technik“ in Form von Lernsoftware als eine Lösung formuliert. Lernsoftware wird, unter anderem, den Lehrkräften „Freiräume“ für die Personalisierung des Unterrichtes schaffen. Sowohl die expliziten Problematisierungen – Bildungsverlierer, fehlende Förderung der jungen Menschen, Überforderung der Lehrkräfte – und der impliziten Problematisierung – „schlechte“ Qualität der Lehrkräfte – als auch die explizite Vorstellung einer guten Schule – mit personalisiertem Unterricht und den von der Lehrkraft unabhängigen Schüler*innen – priorisieren individuelle Personen, die im unterrichtlichen Geschehen agieren: Lehrkräfte, Schüler*innen. Die Lösung ist an Individuen adressiert: die Technik wird in Lehrkräftehand gegeben bzw. von Schüler*innen im Unterricht genutzt. Und so werden auch die Probleme auf die Individuen bezogen produziert. Um an dieser Stelle kurz auf eine Fluchtlinie zu Alternativen zu verweisen: andere bekannte Lösungen orientieren sich beispielsweise an sozioökonomischen oder rassifizierenden Strukturen und produzieren dadurch das Problem als strukturell statt individuell. Dabei visieren diese Alternativen die „gute Schule“ als strukturell anders eingebettet und gerechter finanziert. Auf diese und weitere Fluchtlinien kommen wir im Fazit zurück.

Für einen weiteren Anbieter ist es vor allem adaptive – bzw. in diesem Fall, von Künstlicher Intelligenz (KI)-getriebene – Lernsoftware, die die Lernenden unterstützen und die Lehrkräfte entlasten kann:

Alle reden immer von Reinforcement, aber die Frage ist doch, welche Daten habe ich denn, um zu gucken, was brauche ich denn als Lerner? An welchen Themen muss ich denn arbeiten, um eine sogenannte unbewusste Kompetenz oder einen Automatismus zu den Themen zu bekommen? Und hier geht der Algorithmus hin und guckt, womit haben Sie als Lerner Schwierigkeiten gehabt? Also woran sind Sie gestruggled, wie die Engländer immer so schön sagen? Und erstellt Ihnen daraufhin einen individuellen/die KI erstellt automatisch einen individuellen Lernnugget, dass Sie an den Themen noch mal arbeiten können. […] Und das ist eben was, wenn wir von, von dem Thema Digitalisierung reden, dass das unterstützend ist für die Lehrkräfte, niemals das gesamte Thema ersetzen, sondern sie unterstützen, um effizienter zu sein. (Int_Entw_17_Z. 15–23).

Auch in diesem Auszug orientiert sich der Gesprächspartner sowohl an den jungen Menschen als auch an den Lehrkräften. Die Lernenden brauchen auf Daten basierte Einsichten, um zu erfahren, woran sie arbeiten müssen. Die Software identifiziert, welche „Schwierigkeiten“ sie gehabt haben und erstellt „individuelle Lernnuggets“. Dieses Verfahren wird als „unterstützend“ für die Lehrkräfte beschrieben. Die Software kann sie unterstützen, „effizienter zu sein“. Durch diese Lösungen werden zwei implizite Problematisierungen artikuliert: Schüler*innen wissen nicht ausreichend, an welchen Themen sie genau arbeiten sollen, um sich zu verbessern. Lehrkräfte sind nicht so effizient, wie sie sein könnten, wenn sie nicht jeden Schüler und jede Schülerin behilflich sein müssten, damit diese verstehen, an welchen Themen sie arbeiten sollen. Die „gute Schule“, so die Implikation mit Blick auf Schüler*innen, kann Schüler*innen gezielt mit individuell auf ihre Kompetenzen zugeschnittenen Themen und Aufgaben („Lernnuggets“) fördern.

Das Wort „individuell“ sollte hier näher betrachtet werden. Die individuellen Lernnuggets für Lernende werden vom System automatisch erstellt, sodass „individuell“ hier eine besondere Bedeutung zukommt. Mit KI, ob maschinellem Lernen oder anderen Verfahren, entstehen solche Nuggets oder weitere Empfehlungen aus der Erkennung und Bearbeitung von Mustern in den Daten mehrerer Nutzer*innen. Dieser Gesprächspartner verweist an anderer Stelle darauf, dass das System über 30 Million Lernende auf der Plattform hatte, und sie, als Unternehmen, deshalb „auch einen Algorithmus mit dreißig Milliarden Datenpunkten“ haben. Das, betont er „ist ja genau das, was die Individualität ausmacht oder das personalisierte Lernen, ne?“ (Int_Entw_17_Z20). Individuelle Lernangebote, in diesem Verständnis, beruhen nicht – um eine alternative Fluchtlinie aufzugreifen – auf einem tiefen oder kontextualisierten Verständnis von einer einzigen Person. Stattdessen entstehen individuelle Lernangebote hier durch die „breite“ Bearbeitung von Milliarden Datenpunkten, um das Lernverhalten dieser Person ins Verhältnis zu weiteren Mustern zu setzen, die sich aus dem Verhalten vieler anderer Personen ergeben. Wir wollen hier nicht ein Verständnis gegen das andere ausspielen: Keins ist besser oder gültiger als das andere: Sie sind aber je sehr spezifische Verständnisse von „individuell“, die eine je unterschiedliche Prägekraft auf die Vorstellung von (und die Praxis in) einer guten Schule entfalten.

Mit Blick auf Lehrkräfte nennen mehrere Interviewpartner*innen konkrete Entlastungsaspekte, zum Beispiel gelinge Entlastung, wenn die Software Lern- und Übungseinheiten übernimmt: Oder gerade, dass so, dass so die Selbstlernphasen eher (..) mehr so das Üben abdecken und weniger die Erarbeitungsphasen (Int_Entw_2_Z. 29). In diesem Fall geht es dem Entwickler darum, den Lehrer von Routinetätigkeiten zu befreien (Int_Entw_2_Z. 26). Auch die Korrektur von Hausaufgaben kann ein Tool [der Lehrkraft] abnehmen (Int_Entw_15_Z. 21). Lehrkräfte, so wird berichtet, finden, dass die Software eine faszinierende Sache sei, weil sie dadurch das Thema Üben ähm so’n bisschen auslagern können (Int_Entw_11_Z. 98). Als positiv wird von einer Geschäftsführung bewertet, dass der Übungsteil des Mathematikunterrichts soweit es geht, äh, auf die Lernsoftware verlagert wird (Int_GF_2_Z. 28 f.). Eine weitere Geschäftsführung spezifiziert, wichtig sei, dass die Lehrkraft:

[…] daneben auch mehr Zeit hat für soziale Interaktion, den Aufbau von sozialen Kompetenzen, Teamarbeitskompetenzen, weil reines Auswendiglernen und Automatisieren vom Kind selbständig an den Computern erfolgen kann. (Int_GF_10_Z. 90–92)

Problematisiert wird hier, dass Lehrkräfte (zu viel) Zeit damit verbringen, Kinder beim Auswendiglernen und Automatisieren zu unterstützen, die als einfachere, schlichtere Lerntätigkeiten („reines“) präsentiert werden im Kontrast zu den implizit komplexeren Aufgaben der Lehrkraft, wie soziale Interaktion und die Förderung von sozialen Kompetenzen bzw. Teamkompetenzen. Der Zeitfaktor wird in weiteren Interviews als Gewinn gerahmt:

Dadurch, dass wir viel kognitives Wissen auslagern können auf diese Plattform, (…) hat der Lehrer viel mehr Zeit, sich individuell um die zu kümmern, die viel mehr Unterstützung brauchen. (..) Das heißt, der Lehrer kann viel mehr auf die Schüler eingehen. (…) und das ist auch das Feedback von Lehrern, dass sie eben sagen: wir sind viel effizienter in dem Umgang mit dem Schüler, als wir das vorher hatten. Vorher hatten wir die Gießkannen und mussten gucken, dass wir unsere Themen durchkriegen, konnten aber nicht individuell auf jeden Schüler eingehen und das hat sich jetzt verändert. (Int_Entw_12_Z. 17–20)

„Befreien“, „auslagern“, „abnehmen“, „verlagern“: In diesen Zitaten wird ein Teil des Lehrens der Lehrkraft von der Software übernommen. Explizit geht es um „kognitives Wissen“, und dessen Bearbeitung zum Beispiel beim Üben und Wiederholen. Die Zeit für „Unterstützung“ wird in dem letzten Zitat als Alternative zum Vermitteln von „kognitive[m] Wissen“ formuliert. Individuell auf Schüler*innen eingehen wird als Gegenteil des Gießkannenprinzips bzw. von Themen „durchkriegen“ und ersteres – auf individuelle Schüler*innen eingehen – vom Gesprächspartner als „effizienter“ zusammengefasst. Die Entwicklung einer Softwarelösung, die kognitives Wissen auf Plattformen auslagert, und Lehrkräften Zeit verschafft, um sich mehr um einzelne, unterstützungsbedürftige Schüler*innen zu kümmern, produziert als Problem die „Gießkannen“ mit denen die „Themen“ im Mittelpunkt stehen und alle Schüler*innen die gleichen Themen behandeln. In dieser Problematisierung hat, ähnlich den Beispielen oben, die Lehrkraft wenig Zeit, um individuell auf Schüler*innen einzugehen, und der Fokus liegt auf denjenigen Schüler*innen, die von der Software als hilfebedürftig markiert werden. Wenn dieses Eingehen dadurch gerahmt wird, dass es die Lehrkräfte „sehr viel effizienter“ als vorher (ohne adaptive Lernsoftware) macht, wird die Problematisierung in zweifacher Weise als Ineffizienz formuliert: Erstens wenig Zeit für individuelle Schüler*innen zu haben, macht die Lehrkräfte weniger effizient in ihrem Umgang mit Schüler*innen, als sie sein könnten. Zweitens sind die Lehrkräfte bei der Unterstützung des Übens (beispielsweise der Selbstlernphasen) nie so effizient wie eine Softwarelösung, weil die Software gleichzeitig bei allen Schüler*innen aktiv sein kann. So wird die „gute Schule“ als eine effiziente Schule mit Fokus auf individuelle Schüler*innen imaginiert. Eine alternative Fluchtlinie hier wäre die Vorstellung von Klassengemeinschaft, Kollektivität oder kollaborativem (peer) Lernen (von- und miteinander), die hier zwar keinesfalls ausgeschlossen wird, aber auch nicht im Vordergrund dieser Diagnose der Probleme der gegenwärtigen Schule und somit der angeboten Softwarelösung und Vision für eine „gute Schule“ steht.

Insgesamt artikulieren die Interviewpartner*innen in diesen Auszügen komplexe Lösungen, die die „adaptive Lernsoftware“ für die Unterstützung/Förderung von Schüler*innen, die Unterstützung/Entlastung von Lehrkräften und die Effizienzsteigerung der Lehrendenpraxis anbieten soll. Bevor wir näher auf die Implikationen für die Konstruktion von guter Schule eingehen, wenden wir uns im folgenden Abschnitt der Thematisierung von Entlastung in den Interviews mit Gestaltungsteams für „Schulverwaltungssoftware“ zu.

4.1.2 Schulverwaltungssoftware: Schulen zwischen komfortablen Arbeitsweisen und permanenten Datenlieferpflichten

Aus der Perspektive der Softwaregestaltungsteams von Schulverwaltungssystemen rücken zum einen die Gebrauchstauglichkeit sowie eine Unabhängigkeit von der schulischen IT-Ausstattung in den Vordergrund. So erklärt der Projektmanager eines Schulverwaltungssystems, wie dieses eine Lösung für solche Anforderungen anbietet:

Das heißt wir gehen da so ein bisschen der Sache aus dem Weg, dass in vielen Schulen zu wenig Hardware, also zu wenig IT vorhanden, also Geräte vorhanden sind. Und gerade in den Zeiten, wenn Zeugnisse geschrieben werden, ist es-, war es früher so, dass dann da wirklich Pläne erstellt wurden, wann wer am Rechner sitzt und die Zeugnisnoten-. Jetzt können sie das theoretisch zu Hause erfassen, die Zeugnisnoten und speichern das. Und am nächsten Tag sagen sie der Sekretärin Bescheid. (I_20191028_1XIII_RL_Z. 11)

Das Schulpersonal – hier Lehrkräfte – können mit der Schulverwaltungssoftware der als Problem formulierten, unzureichenden Hardware „aus dem Weg“ gehen. Mit der Software müssen sie sich nicht mehr um ein Zeitfenster bei einem der wenigen Rechner in der Schule kümmern, sondern können flexibel die Zeugnisnoten zu jeder Zeit, auch zu Hause, erfassen. So bleibt die Problematisierung nicht nur bei der unzureichenden Hardwareausstattung in Schulen, sondern bindet auch die damit einhergehenden praktischen Tätigkeiten ein. Die Lösung, die Eingaben örtlich und zeitlich flexibel, auch von zu Hause, zu machen, wird von der Schulverwaltungssoftware angeboten. Diese Art der flexibilisierten Arbeit, im Sinne des „flexiblen Menschen“ (Sennett 1998), wird nicht explizit als Vision für die zukünftige Schule, wie es in einigen Silicon Valley inspirierten Berichten formuliert wird, sondern eher als niedrigschwelliger workaround („ein bisschen“ „aus dem Weg“ gehen), um ein vorhandenes Problem zu bearbeiten. In diesem Auszug wird die (infrastrukturelle) Lösung nicht aufgeworfen, mehr Hardware deutschlandweit auszurollen, noch die Notwendigkeit der Dateneingabe oder der Validität von Zeugnisnoten zu hinterfragen – um einige Fluchtlinien zu alternativen Problematisierungen zu kartieren. Stattdessen wird mit der Antwort die im Handlungsspielraum der Softwaregestaltungsteams liegende, lösungsorientierte Sicht auf die Schule und die Erledigung von schuladministrativen Aufgaben entworfen.

Neben diesen praktischen Anforderungen des Schulpersonals sind Schulverwaltungssysteme auch für Mitarbeitende des Bildungsministeriums, die regelmäßig mit Schuldaten arbeiten, relevant. Um ihre Arbeit zu ermöglichen, erfolgen, beispielsweise, statistische Abfragen an das System. Wie das Softwaregestaltungsteam Lösungen erarbeitet, mit dem Ziel, die Anforderungen beider Zielgruppen zu balancieren, beschreibt ein Projektmanager:

[D]ie Schulen, die müssen halt im September rum die große Schuldatenerhebung durchführen. Das ist für die Schulen immer ein großer Aufwand, war es früher und ein Ziel von [SYSTEM] war es halt mit den normalen Daten, die ich unterjährig pflege, die ich permanent pflegen sollte es möglichst einfach sein die große Statistik durchzuführen. […] an der Sache orientiert sich natürlich auch welche Daten, auch gerade schülerbezogen in [SYSTEM] erfasst werden. Da orientieren wir uns natürlich an den Daten, die nachher auch in der großen Schuldatenerhebung benötigt werden. (I_20191028_1XIII_RL_Z. 31)

Der sonstige große Aufwand der Schulen soll durch die Software reduziert werden, und es soll „möglichst einfach sein“, die große, jährliche Schuldatenerhebung, mit den üblichen von den Ministerien bzw. Behörden „benötigten“ Daten, durchzuführen. Pflegt das Schulpersonal die Daten „permanent“, wird diese jährliche Datenerhebung einfacher sein, als wenn sie einmal im Jahr alle Daten eingeben. So wird aus den konfligierenden Anforderungen eine Entlastungsstrategie entwickelt, die bereits während der Entwicklung und Umsetzung dieser Anforderungen und Anpassungen in der Schulsoftware vorsieht, dass Mehraufwand für die schulischen Akteur*innen vermieden werden soll, beispielsweise wenn überprüft wird, ob bestimmte Daten doppelt angegeben werden müssen. Damit sollen die Anforderungen beider Seiten ausgeglichen werden, um die Arbeit möglichst aller Nutzer*innengruppen zu erleichtern. Die Notwendigkeit der Schuldaten wird naturalisiert („natürlich“, „benötigt“). Problematisiert wird der große Aufwand, den diese Schuldatenerhebung mit sich bringt. Aufwand wird hier zum Problem, nicht Datenerhebung an sich. Die entsprechende Softwarelösung ist die Entlastung durch Reduktion dieses Aufwands. Eine „gute Schule“ wird entworfen als eine, die permanent die „normalen“ Daten einpflegt und dadurch ihren Aufwand bei der jährlichen großen Statistik reduziert, bei gleichzeitiger Ermöglichung der statistischen Arbeit des Ministeriums. Impliziert wird eine gegenseitige Unterstützung, durch alltägliche Praktiken und praktische Software, damit die Arbeit in Schule wie Behörde reibungslos verlaufen kann.

Allerdings führen gerade die Etablierung und weitreichende Nutzung der Software zu noch mehr Anforderungen. Ein Projektmanager erläutert:

Dadurch, dass sich die Instrumente eigentlich bei den Nutzern sehr gut etabliert haben und auch bei denen, die die Anforderungen stellen, kriegen wir natürlich sehr viele Anforderungen. […] Wie können wir [schulische] Arbeit vereinfachen und [Schulen] auch helfen, auch ihren bestimmten Lieferpflichten, die sie dann auch haben, nachzukommen. Aber das möglichst komfortabel. Und die andere Rolle, nach innen ins [Ministerium] zu schauen, gibt es da schon vielleicht Daten? Müssen wir diese Fragen überhaupt noch mal stellen? […] Aber ist wichtig wahrscheinlich, dass man die [Schulen] dabei nicht unheimlich behindert oder verwirrt oder so, sondern abholt und ihnen Werkzeuge gibt, die das ermöglichen, das möglichst komfortabel und schnell zu erledigen. (I_20200122_1XIII_RL_Z. 427)

Ziel ist, die schulische Arbeit zu „vereinfachen“, „möglichst komfortabel“ zu machen, niemanden zu „behindern“ oder „verwirren“, aber gleichzeitig, dem Schulpersonal zu ermöglichen, ihre „Lieferpflichten“ dem Ministerium gegenüber nachzukommen und diese Pflichten „schnell“ zu erledigen. Bei der Optimierung der Schulverwaltungssoftware für diese Nutzer*innen in den Schulen und gleichzeitig für die Ministerien – bzw. mit Blick auf den gesetzlichen Regelungen dazu, welche Daten erhoben werden müssen – stellt sich für Softwaregestaltungsteams die Frage, ob diese Fragen noch einmal gestellt werden, oder ob eine doppelte oder mehrfache Erhebung vermieden werden kann, weil die Daten schon erhoben worden sind. Problematisiert wird eine komplexe Pflichtarbeit, die wenig komfortabel ist und (zu) lange dauert. Wie generell bei Software die auf Reibungslosigkeit und Einfachheit zielt (Macgilchrist 2023), wird die imaginierte „gute Schule“ in einer Konstellation eingebettet, in der diese Aspekte der Arbeit – wie beispielsweise die Eingabe von Zeugnisnoten, Datenerhebung oder Umsetzung von administrativen Aufgaben sowie Verwaltungsaufgaben – einfach, komfortabel und schnell verlaufen sollten. Eine alternative Fluchtlinie in diesem Kontext würde „doing data discrepencies“ (Hartong und Förschler 2019) als selbstverständlich ansehen, das heißt die komplexe, herausfordernde, kreative Arbeit mit Daten, die nicht immer fehler- und widerspruchsfrei sind (siehe auch Jarke et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“). In dieser Fluchtlinie würden die Mitarbeiter*innen ihre Erwartungen für einfache und komfortable Datenpraktiken bei der Entwicklung und Selbstbeschreibung anders bearbeiten.

Ähnlich wie in den Auszügen zu Lernsoftware orientieren sich die Interviewpartner*innen auch in diesen Auszügen zu der Schulverwaltungssoftware an der Entlastung von verschiedenen an der schulischen Praxis beteiligten Akteur*innen. Sie artikulieren durch ihre Lösungen bestimmte Problematisierungen, die Vorstellungen davon, was als „gute Schule“ gilt, mitgestalten.

4.1.3 Entlastung: Reflexion der durch Problematisierungen entworfenen Schule

Die Softwaregestaltungsteams, so sollten die vorherigen Abschnitte verdeutlichen, zielen darauf, Schüler*innen, Lehrkräfte, weitere schulische Akteur*innen und Bildungsministerien zu entlasten. Diese Lösungen, wenn sie mit den dabei entstehenden Problematisierungen zusammen betrachtet werden, entwerfen das, was als „gute Schule“ imaginiert wird. Diese Vorstellungen sind nie ganz spannungslos. Also stellen wir sie in diesem Abschnitt in einer „sowohl-als-auch“ Weise vor. Die als Vorteile der guten Schule beschriebenen Aspekte unterminieren sich teilweise selbst. Unser Ziel hier ist dennoch nicht, sie vorschnell weder als ideologischen, problematischen Neoliberalismus, noch als Technisierung oder Kommerzialisierung der öffentlichen Bildung zu charakterisieren, sondern auf den sowohl potenziell entlastenden, als auch potenziell belastenden Wandel des Schulwesens, der hierbei entworfen wird. Dabei sollen einige der unbestimmbaren Wandlungsprozesse bei der Konstruktion von Schule im Prozess der Datafizierung beleuchtet werden.

  1. (1)

    Die „gute Schule“ fördere individuelle Schüler*innen, vor allem, diejenigen, die den klassischen Unterricht herausfordernd finden. Mit Blick auf die Lernsoftware wird eine Spannung zwischen der in den Interviews formulierten Diagnose eines gesellschaftlichen Problems und dem individualisierenden Technikoptimismus der Interviewpartner*innen sichtbar. Diese Auszüge bieten somit Material für eine mittlerweile klassische Kritik: technikoptimistischer Solutionismus. Die Softwaregestaltungsteams identifizieren ein Problem, für das sie mit Software eine Lösung anbieten „können“: Sie tragen Sorge für das, wofür sie Sorge tragen können. So wird die Produktion von „Bildungsverlierer*innen“ nicht als sozio-ökonomisches, strukturelles Problem beschrieben, sondern als Problem der individuell überforderten oder schlechten Lehrkräfte. Die Lernsoftware verspricht, durch datenintensive Input- und Feedbackschleifen Schüler*innen unabhängig von diesen Lehrkräften zu machen bzw. einige Aspekte des Lehrens von der Lehrkraft auszulagern, um Freiräume für Lehrkräfte zu schaffen. Die Schüler*innen, die im Mittelpunkt der Auszüge stehen, werden allerdings gerade durch diese Beschreibung der Notwendigkeit der individuellen Zuwendung als hilfebedürftig konstruiert (z. B. Rabenstein 2010). Schule wird in den Auszügen sowohl zu einem Ort, an dem Lernsoftware unterstützen kann, Potenziale zu erkennen und individuell zu fördern, als auch einem Ort, an dem es weiterhin vor allem auf individuelle kognitive Leistung ankommt. Dieser Fokus, so die Kritik einiger Forscher*innen, individualisiert das Problem und lenkt essenzielle Ressourcen (personell, ideell sowie finanziell) von der Bearbeitung des strukturellen Problems ab. Der Fokus vergisst auch das kollektive Zusammenleben einer Klassengemeinschaft und das kollaborative Lernen. Mit diesem Beitrag möchten wir allerdings nicht nur diese Kritik wiederholen, sondern die potenzielle Entlastung, über die unsere Interviewpartner*innen von Lehrkräften gehört haben, gleichzeitig aufgreifen. Die Lernsoftware kann sowohl Lehrkräfte entlasten und Schüler*innen unterstützen als auch von strukturellem Wandel und Kollektivität ablenken.

  2. (2)

    Die „gute Schule“ ermögliche die einfache und komfortable, jedoch schnelle und permanente Ausübung von Datenlieferpflichten an Bildungsbehörden. Diese Spannung bei der Schulverwaltungssoftware weist auf eine ähnlich klassische Kritik aus sozialwissenschaftlicher Forschung zu Technik: Auf der einen Seite, das Bestreben, die Arbeit einfacher zu machen; die Nutzer*innen „abzuholen, wo sie sind“; sie nicht zu verwirren oder ihr Leben schwerer zu machen, aber auf der anderen Seite gleichzeitig die Ermöglichung und damit die Normalisierung der Erwartung, dass schulische Akteur*innen stets für die (dateneingebende) Arbeit verfügbar sind; ihre Arbeit auch von zu Hause erledigen. Diese Erwartungen an den „flexiblen Menschen“ (Sennett 1998) ist nicht nur mit Software verbunden, wird aber als Zeitdiagnose mit der Techniknutzung für einige Beobachter*innen verstärkt (Couldry und Hepp 2017; Graeber 2018). Auch hier beobachten wir einen ‚Sowohl-als-auch‘: Die Schulverwaltungssoftware kann das Schulpersonal von dem großen Aufwand einmal im Jahr und der zeitintensiven Eingabe der Daten an wenigen Rechnern in einer Schule „entlasten“ und sie kann das Schulpersonal mit dem permanenten Aufwand, die Daten einzupflegen und zu Hause daran zu arbeiten „belasten“.

  3. (3)

    Die „gute Schule“ teilt die bisherige Arbeit der Lehrkräfte in zwei Bereiche: das ‚kognitive Wissen‘, die Leistungsarbeit, das Üben und die Selbstlernphasen werden von der Software übernommen, während die Erarbeitungsphasen sowie die persönliche, soziale und eventuell emotionalere Unterstützung verstärkt von Lehrkräften übernommen werden. Das wertschätzende Versprechen, Lehrkräfte zu entlasten und zu unterstützen ist mit einer impliziten oder expliziten Kritik an der Qualität ihrer professionellen Praxis verknüpft. Explizit, wenn es darum geht, wie bereits erwähnt, die Schüler*innen von der Qualität der Lehrkraft unabhängig zu machen. Implizit, wenn sie als überfordert, unfähig, im Unterricht auf einzelne Schüler*innen einzugehen, oder ineffizient beschrieben werden – auch wenn diese in einem wertschätzenden Ton des Verständnisses ausgedrückt oder mit zu hohen Curriculumserfordernissen verknüpft werden. Wenn die Qualität der Lehrkraft in einigen Auszügen entscheidend ist, dann ist die Qualität der Lernsoftware, die diese Aufgaben für die Lehrkraft übernimmt, auch entscheidend, wird aber nicht von den Gestaltungsteams reflektiert (zu der Einschätzung von Lehrkräften zur Qualität eines adaptiven Lernsoftwareproduktes; siehe Beitrag Macgilchrist et al. in diesem Buch, Kap. „Adaptive Lernsoftware oder adaptierende Lehrkräfte? Das Ringen um Handlungsspielräume“; weiterführend zum eigenverantwortlichen Lernen, siehe unten Absatz 4.2). Diese Aufteilung, zwischen kognitiver Förderung und individualisierter Unterstützung, erinnert an die klassische Trennung zwischen kognitiver Arbeit und Sorgearbeit, in der die erste auf- und die zweite abgewertet wird (z. B. Zakharova und Jarke 2022). Kritisiert worden ist diese Wertung von „ethics of care“ Forschung, die Sorge als essenzielle, ökonomische und politische Praxis und Sorgearbeit aufgewertet sehen möchte (Atenas et al. 2022).

  4. (4)

    Die „gute Schule“ sei effizient. Ob durch schnelle Dateneingabe, die flexibel auch von zu Hause durchgeführt werden kann oder mit Blick auf die Unterrichtspraxis wird die anvisierte Entlastung in mehreren Interviewauszügen mit Effizienz verknüpft. Wie auch in weiteren Bildungssettings wird der Effizienzdiskurs in alltäglichen – hier softwarebetreffenden – Situationen relevant gemacht (z. B. Berge et al. 2018). Gerade die mit Optimierung verknüpfte Effizienzsteigerung wird zunehmend als belastend betrachtet (Weich et al. 2021). Wenn die durch die Entlastung ersparte Zeit mit neuen Aufgaben gefüllt wird, werden die Lehrkräfte nicht entlastet. Eine solche Aufgabenneuverteilung kann eher als Umstrukturierung denn als Entlastung erfahren werden. Dennoch gilt hier ebenfalls: Die Auszüge beschreiben auch Momente aus der aktuellen schulischen Praxis, die durch die Lern- und Schulverwaltungssoftware entlastet worden sind.

Die angegebenen Beispiele, die zwischen Entlastung und Belastung unterschiedlicher Nutzer*innen balancieren, deuten somit auch auf Spannungsverhältnisse hin, die die Vorstellung von guter Schule in Schulsoftware auszeichnen. Je nach vorhandenen Ressourcen, gesellschaftspolitischen oder kommerziellen Zielen und relevanten Nutzer*innengruppen entwickeln die Softwaregestaltungsteams unterschiedliche Vorstellungen zur Rolle ihrer Software in einer „guten Schule“. Basierend darauf implementieren sie unterschiedliche Strategien, um aus ihrer Sicht dieses Spannungsverhältnis auszubalancieren. So setzen die Lernsoftwareteams ihr Augenmerk auf die Unterstützer*innenrolle in Lehr- und Lernprozessen. Die Teams in den Bildungsministerien bzw. -behörden sehen sich in der Rolle der Vermittler*innen zwischen den Anforderungen der Schulen und ihren Kolleg*innen in den Ministerien. Gleichzeitig unterliegen sie den (sich ändernden) gesetzlichen Verpflichtungen zur Umsetzung bestimmter Anforderungen. Software führt somit nicht per se zu Entlastung oder Belastung, sondern unterschiedliche Kontexte und Nutzer*innenkonstellationen eröffnen unterschiedliche Spannungsverhältnisse. Die Softwaregestaltungsteams antizipieren deren jeweiligen Nutzungskontext in Hinblick auf Entlastung und Belastung. Die „gute Schule“, die dabei entworfen wird, ist, so die Schlussfolgerung hier, die im Fazit wieder aufgegriffen wird, individuell fördernd, komfortable Arbeit ermöglichend, Wissens- und Sorgearbeit aufteilend und effizient. Gleichzeitig wird sie aber auch – trotz der hier aufgeworfenen Spannungen – im Kern als spannungsfrei imaginiert.

4.2 Eigenverantwortlichkeit

Die Softwaregestaltungsteams gehen in den Interviews unterschiedlich auf den Aspekt der Eigenverantwortlichkeit ein. Bei der Lernsoftware steht das eigenverantwortliche Lernen der Schüler*innen im Vordergrund. Bei der Schulverwaltungssoftware die Frage, wie die Hoheit der Schule, die eigenen Entscheidungen über Nutzungsrechte, Klassengrößen und die weitere Organisation der Schule, mit den gesetzlich verbindlichen Vorgaben, Umfängen und Standards in Einklang gebracht werden kann.

4.2.1 Lernsoftware: Eigenverantwortung übertragen, nehmen und missbrauchen

Neben individueller Förderung im Unterricht spielen das eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lernen bei den Gestaltungsteams der Lernsoftware eine Rolle. Hier geht es zum einen um die Übertragung von Eigenverantwortung für ihr Lernen an Schüler*innen, wie es ein Entwickler beschreibt:

[E]s schreibt ja kein Lehrplan oder irgendwas schreibt ja vor, dass Unterricht so stattfinden muss, wie es aktuell größtenteils stattfindet, ne? Frontal, ähm, sehr strukturiert, sehr durchgetaktet, äh, sehr, ähm/die Arbeitspakete werden vorgeschnürt, es wird abgearbeitet, es wird gesagt, das ist richtig und das ist falsch. Ähm, so muss Schule ja nicht sein, ne? Es gibt ja Möglichkeiten, das Ganze offener, selbstbestimmter zu gestalten, Schülern mehr Eigenverantwortung für ihr Lernen zu übertragen, den Lehrer mehr als Coach zu begreifen, als, ähm, die Lehrkraft, die vorne steht und, äh, instruiert, ne? Also von daher denke ich, ist es in den Möglichkeiten/oder in dem Rahmen, den wir aktuell haben, durchaus möglich, Schule so zu gestalten, dass, ähm, andere Kompetenzen eher gefördert werden, ähm, als es bisher in der Fläche der Fall ist. Ähm, ist halt immer die Frage, ob die Lehrpläne da noch ein Stückweit/(…) ja, immer so die Frage, müssen Lehrpläne entschlackt werden oder können Inhalte nicht auch anders erarbeitet werden. (..) Ja, müssen Noten, so wie sie stattfinden, äh, gemacht werden oder gibt es da nicht auch andere Möglichkeiten, äh, der Leistungskontrolle. (Int_Entw_6_Z. 59–66).

Die aktuelle Schule wird als „sehr strukturiert“, „sehr durchgetaktet“ beschrieben, mit einer „vorne“ instruierenden Lehrkraft, „Frontal[unterricht]“, „vorgeschnürt[en]“ Arbeitspaketen, die „abgearbeitet“ und mit „richtig“ und „falsch“ versehen werden. Die aktuelle Schule wird durch diese Rahmung als für Schüler*innen wenig selbstbestimmt problematisiert. Eine Lösung ist, „Möglichkeiten“ für ein offeneres, selbstbestimmteres Lernen aufzugreifen, und den Schüler*innen „mehr Eigenverantwortung“ für das Lernen zu „übertragen“. Lehrkräfte werden zum Coach, wobei ein Coach als Gegenteil zu einer instruierenden Person entworfen wird. Ein Bewusstsein für die Herausforderungen der rahmenden Lehrpläne und Noten wird artikuliert und die Suche nach Lösungen formuliert. Schüler*innenseitige Selbstbestimmung und Eigenverantwortung werden hiermit als selbstverständlich positiv präsentiert und die „gute Schule“ als förderlich hierfür entworfen. Sie werden auch als etwas artikuliert, das von der Schule oder Lehrkraft an die Schüler*innen übertragen werden kann.

In einem anderen Interview sind es eher die Schüler*innen, die die Eigenverantwortung „nehmen“:

Wir müssen jetzt erstmal sagen, allgemein war gedacht, was ich vorhin gesagt hab ja. Da gibt es ne, ne und dann äh Grundidee, man setzt sich mit den Schülerinnen und Schülern hin, nimmt den Rahmenlehrplan raus und sagt: „Hör zu, Pflicht ist hm (nachdenklich), hm (nachdenklich). Und äh in welcher/Was wollt ihr, was zeckt euch am meisten an, interessiert euch am meisten?“ Das nehmen wir mit rein, sodass [wir] die Gewichtung die Schüler auch mit übernehmen. Dass die Eigenverantwortung für ihren Lerninhalt nehmen. Und dann, in welcher Weise wir was aufarbeiten, ist dann sozusagen die zweite Geschichte. Aber, dass die dann aktiv an ihrem Lerngeschehen teilnehmen können. #00:12:15–2# (Int_GF_3, Pos. 95–99)

In diesem Auszug werden Schüler*innen nicht nur im Unterricht als eigenverantwortlich gedacht, sondern als Mitgestalter*innen der Lernsoftware während der Entwicklung anvisiert. Sie werden bei diesem Open Educational Resources (OER) Produkt eingeladen, Verantwortung für die Inhalte zu „übernehmen“, mit denen sie sich später bei der Arbeit mit dem Produkt auseinandersetzen werden. Durch das angedachte Ziel die Schüler*inneninteressen einzubinden wird implizit auch hier ein zu wenig eigenverantwortliches Lernen in der Schule als Problem entworfen und dadurch eine schüler*innenseitige Eigenverantwortung als selbstverständlich positiv präsentiert.

Auch weitere Softwaregestaltungsteams zielen darauf, Schüler*innen Verantwortung für ihr Lernen zu übertragen:

„[Es] ist bei [PRODUKT] ja ein Grundproblem, dass es relativ die Verantwortung dem Lerner überträgt. Weil wir eigentlich danach verfahren, dass der Lerner selbst bewertet, ob das, was er eingegeben hat, richtig ist. […] Zum einen ist es pädagogisch durchaus sinnvoll, dem Lerner diese Verantwortung zu geben, weil das ein relativ großer Teil des Lernens ausmacht, die eigene Antwort richtig oder die Bewertung des selbst Eingegebenen.“ (Int_Entw_8_Z. 174–176)

Allerdings wird hier die Verantwortungsübertragung selbst problematisiert. Es ist sowohl „pädagogisch sinnvoll“, wenn Schüler*innen ihre Eingaben selbst bewerten als auch ein „Grundproblem“, Schüler*innen relativ viel Verantwortung zu geben. Neben dem pädagogischen Moment liegt die Stärkung der Eigenverantwortung nämlich auch am fehlerhaften System:

Aber das hat auch tatsächlich den Grund in unseren Daten, also die Daten sind halt fix, das heißt, von Verlagen kommen irgendwelche Daten […]. Die haben da ein relativ entwickeltes System dahinter, was ziemlich viele Nutzereingaben als richtig akzeptiert, aber eben doch nicht alles. Und potenziell haben wir immer noch relativ viele falsch-negative Antworten und müssen dem Nutzer einfach die Möglichkeit geben zu sagen, „nee, doch, es war richtig.“ So, aber diese Funktion lässt sich natürlich missbrauchen, da kann man einfach durchgeben und die ganze Zeit sagen, „richtig, richtig, richtig, richtig“, obwohl man das da eingegeben hat. (Int_Entw_8_Z. 176–178)

In diesem Fall ist die Übertragung von Eigenverantwortung in der Nutzung der Lernsoftware nicht als größeres Ziel von guter Schule formuliert, sondern als praktischer workaround für das System, das viele „falsch-negative Antworten“ gibt. Das heißt, die Lernsoftware soll, laut dieser Beschreibung, den Lernenden die Möglichkeit geben, die Einschätzung des Systems („falsch“) zu konterkarieren („nee, doch es war richtig“). Problematisiert wird hier nicht, wie oben, dass falsch und richtig per se extern von Schüler*innen definiert werden, sondern dass die Lernsoftware die falsche Bewertung der Schüler*innenantworten gibt. Als Lösung wird eine pädagogisch sinnvolle Weise gefunden, die Überwindung des Systems in das Lernen einzubinden. Eine gute Schule ist hier eine, die nicht zu viel Verantwortung an Schüler*innen abgibt, dass sie eine solche Funktion „missbrauchen“ könnten.

Eigenverantwortlichkeit beim Lernen wird in unterschiedlichen Problematisierungen eingebunden, die eine gute Schule als die Selbstbestimmung der Schüler*innen bezüglich der Lerninhalte und des Lernens im Unterricht stärkt, aber auch in Grenzen hält, damit sie nicht zu sehr schummeln können. Auf Paradoxien der Eigenverantwortung, zum Beispiel wie die Zuweisung von Eigenverantwortlichkeit gerade diese Eigenverantwortlichkeit gleichzeitig abspricht, gehen wir nach den Auszügen zur Schulverwaltungssoftware ein.

4.2.2 Schulverwaltungssoftware: Eine geteilte Sicht trotz eigenverantwortlicher Schulorganisation

Auch bei der Diskussion darüber, wie Eigenverantwortung in die Konstruktion guter Schule einfließen, kann der Blick auf die Lösungsansätze von Schulverwaltungssoftware hilfreich sein. Primär betrifft dies die Verantwortung über Nutzungsrollen und Zugangsrechte.

Die Hoheit liegt halt bei dem Schulleiter und wenn er der Meinung ist, er räumt ein, meinetwegen ein[em] informatikaffinen Lehrer dann halt die Berechtigung ein, dass der die Nutzerverwaltung in dem System [hat]. (I_20191028_1XIII_RL_Z. 47)

Die „Hoheit“ für die Einräumung der Nutzer*innenberechtigungen wird in diesem Auszug als selbstverständlich („halt“) bei der Schulleitung liegend beschrieben. Jede Schule bzw. Schulleitung, die mit dieser Schulverwaltungssoftware arbeitet, soll eigenständig entscheiden, wer welche Rechte erhält und somit wie die Arbeit mit dem System unter dem Schulpersonal verteilt wird. Jedoch sollen Schulen auch bei der Erfüllung ihrer Datenlieferungspflichten gegenüber den Ministerien bzw. Behörden unterstützt werden können, sodass ihre individuelle Arbeitsorganisation, wie beispielsweise das Unterrichten in Kleinklassen nicht zu einer statistischen Hürde wird. Dieses Beispiel beschreibt ein Projektmanager:

Manche Schulen arbeiten nicht unbedingt KMK kompatibel, sondern sie arbeiten mit Kleinklassen. Und richten sich da so ein und in der Vergangenheit mussten sie sich dann irgendwie für drei Tage im Jahr die Welt […] so hindrehen, dass das KMK kompatibel aussieht, die Statistik übertragen. Und dann alles wieder zurück […] das ist blöd. Das machen wir also nicht, sondern die können das in [SYSTEM] so lassen wie es ist. Und können dann in ihrer […] Statistik Meldung das so anpassen. Und sagen okay das sind doch nicht 27 Klassen, sondern eigentlich nur acht oder so. (I2_20190725_3III_PM_Z. 13)

Der Projektmanager berichtet hierbei darüber, wie eine Annäherung der gelebten Praxis der Schulen an die nationalen statistischen Standards – in diesem Fall Richtlinien der KMK – durch Schulverwaltungssoftware stattfinden kann. Gleichzeitig wird aus seiner Aussage deutlich, dass diese Annäherung nicht immer gleichermaßen erfolgreich umgesetzt werden kann. Manchmal müssen sich die Schulen an die vorhandenen Standards anpassen, um mit ihnen statistisch „kompatibel“ zu sein. Diese Kompatibilität, die durch Standards erzeugt werden soll, setzt die Anforderungen aus den Ministerien bzw. Behörden an standardisierte, vergleichbare Daten um, aus ihnen qualitativ hochwertige Datensätze für weitere statistische Analysen zu erstellen. Problematisiert wird eine Inkompatibilität von – bzw. eine fehlende Interoperabilität zwischen – zwei Systemen: die eigenständig verantwortete Aufteilung der Klassen in „Kleinklassen“ in der alltäglichen Schulorganisation und Praxis, und die KMK Standards, die eine bestimmte Klassengröße definieren. Dieses Softwaregestaltungsteam entwickelte eine Lösung, um die beiden Systeme miteinander kompatibler zu machen, und so die „blöd[e]“ Hindrehung der Welt nicht mehr notwendig machen. Eine gute Schule ist demnach nicht eine, die sich externen Standards unterwirft, sondern die mit Hilfe von Softwarelösungen geforderte Kompatibilität mit statistischen Standards herstellen kann.

Die Standards, an denen sich die Funktionalitäten der Schulverwaltungssoftware orientieren, können unterschiedlichen Ursprung haben. Zum einen bieten die nationalen Kriterienkataloge wie beispielsweise der KMK-Kerndatensatz eine Orientierung dazu, mit Hilfe welcher Daten eine gute Schule beschrieben und beurteilt werden kann. Dabei handelt es sich auch um Daten, die für weitere, bundeslandspezifische und nationale statistische Auswertungen verwendet werden. In Bildungsministerien beschäftigen sich üblicherweise die statistischen Referate oder Abteilungen mit solchen Analysen, weshalb auch die Gestaltungsteams der Schulverwaltungssoftware im engen Austausch mit den statistischen Referaten stehen. Ein Projektmanager berichtet:

Also da gibt es hier bei uns im Haus […] das Statistikreferat im Ministerium. Das definiert sozusagen welche Daten da rein sollen. […] wir arbeiten dann zusammen […]. Dass dann nachher diese Daten dann auch zum Beispiel für bestimmte KMK Statistiken verwendet [werden können]. Also mit denen arbeiten wir auch sehr, relativ sehr eng zusammen, meine ich mal. (I_20191028_1XIII_RL_Z. 37)

Die Daten sollen von der heterogenen Praxis der verschiedenen Schulen zu unterschiedlichen Orten, einschließlich des Statistikreferates im Bildungsministerium des Landes sowie der Schulämter und Schulträger fließen (siehe Jarke et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“). Der standardisierende Charakter der Schulverwaltungssoftware ist für diverse Prozesse an diesen Orten notwendig. So beschreibt ein Ressortleiter, der mitunter auch die Entwicklung von Schulverwaltungssoftware in einem Bundesland beaufsichtigt, die Relevanz vergleichbarer, einheitlicher Daten für Steuerungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Schulsystems:

[D]ie Schulämter haben Interesse an bestimmten Daten, praktisch für Steuerungsprozesse. Insofern haben wir praktisch eine gemeinsame Arbeitsplattform gesucht, wo [wir] sowohl die Schulen als auch das Schulamt […], mit rannehmen, aber auch inzwischen, sage ich mal, auch die Landkreise für bestimmte Zwecke. So dass alle praktisch bei bestimmten Daten genau dieselbe Sicht haben und damit eben auch mit-, wenn man, ja, Informationen oder Wissen daraus ableiten will, auf die gleichen Daten zurückgreift. (I_20200122_1XIII_RL_Z. 194)

Eine Lösung wurde gesucht, die allen beteiligten Institutionen „genau dieselbe Sicht“ auf die Daten ermöglicht, damit sie alle für die Erarbeitung von Information oder Wissen auf „die gleichen Daten“ Bezug nehmen könnten. Die Problematisierung, die hierbei erscheint, ist die fehlende Vereinheitlichung: unterschiedliche Sichten oder unterschiedliche Daten erschweren, so die hier artikulierte Annahme, die Steuerungsprozesse. Eine gute Schule wird in einer im übergreifenden Sinne verstandenen Interoperabilität eingebettet, das heißt, nicht nur die Kompatibilität der Systeme wird angestrebt, sondern auch „die gleichen“ Daten und „dieselbe“ Sicht, um gut gemeinsam operieren zu können.

Neben den nationalen statistischen Standards können auch internationale technische Interoperabilitätskriterien angewandt werden, um Vergleichbarkeit der Daten über öffentliche und private Anbieter*innen hinweg zu schaffen. Die geplante Kooperation zwischen einer kommerziellen Firma und einem Bundesland zielt genau darauf ab:

Natürlich […] versucht man zu vereinheitlichen und wir sind jetzt auch dabei einen einheitlichen Standard zu implementieren, der auch internationalen Anforderungen genügt. Weil es gibt internationale Standards für den Datenaustausch für EdTech Daten. Also von Educationdaten. Da gibt es internationale Standards und so einen Standard implementieren wir gerade in der Hoffnung, dass genau das dann eben einfacher wird, wo wir sagen, okay, das ist aber auch der Standard, der von Microsoft und Google und [andere Plattform] unterstützt wird. Und es wäre super, wenn wir uns einfach an diesen Standard halten könnten. (OI_20210224_16XLIII_GF_Z. 59)

Die Vereinheitlichung als Ziel wird als „natürlich“ hervorgehoben; Interoperabilität zwischen Systemen ist zur Selbstverständlichkeit geworden, und technische Standards erscheinen als Lösung auf dem Weg dahin. Problematisiert wird nicht die Standardisierung, sondern die Heterogenität. Dass auch Standards viel Arbeit bedürfen, um erstellt, verhandelt, vereinheitlicht zu werden, und um ihre Beweglichkeit fest zu halten (Easterling 2016; Richter et al. 2021), rückt hier in den Hintergrund. Über die Herausforderungen von „Einzelfällen“ bei der Implementierung standardisierter Dokumentation berichten der Projektmanager der Schulverwaltungssoftware in einem Bundesland und der Geschäftsführer des vom Land beauftragten kommerziellen Unternehmens in einem gemeinsamen Interview:

Wir haben Workshops mit Schulen gemacht, die uns ihre, ich sage mal offenen Einzelfälle oder wo sie der Meinung waren, die Statistik zählt hier falsch alle mitgeteilt haben und dann haben wir uns mit denen gemeinsam angeguckt, was macht hier am meistens Sinn und haben das letzten Endes programmieren lassen. Und sind jetzt auf einem Stand, wo ich sagen würde, die zählt zu 99 Prozent korrekt. Es gibt immer noch Sonderfälle, die wir vielleicht noch nicht beachtet habe. Wenn die dann auftauchen, beachten wir sie auch, aber wir sind bei einer sehr, sehr guten Quote, was das angeht. (OI_20210224_2X_RL_Z. 27)

Und jetzt kann man natürlich auch sagen, natürlich will man immer 100 Prozent haben. Das letzte ist dann halt oft 50 Prozent der Arbeit und irgendwann muss man sich fragen, es geht ja bei dieser zentralen Auswertung immer letzten Endes um einen Trend. Ja? […] Und wenn wir jetzt auf 99,5 Prozent sind und die letzten 0,5 Prozent, sagen wir noch nicht […] deklariert sind, wie das zählen soll, dann ist das aus meiner Sicht jetzt […] auch nicht so tragisch, weil wir haben jedenfalls die Möglichkeit echte Aussagen zu treffen und darauf kommt es an. (OI_20210224_16XLIII_GF_Z. 28)

Bei Standardisierungsversuchen können selten alle Einzel- oder Sonderfälle berücksichtigt werden. Besonders komplexe Fälle der Datenverarbeitung oder „Ausreißer“ können bei der Softwaregestaltung nicht antizipiert werden. Solche Ergebnisse der eigenständigen Arbeit an spezifisch situierten Schulen mit ihren besonderen Schüler*innen und Lehrkräften widersprechen den üblichen Erfahrungen der Mehrheit schulischer Akteur*innen bzw. die Erfassung dieser Daten. Diese Diskussion zwischen zwei Leitungen der verpartnerten Entwicklungsteams illustriert wie eine endgültige Standardisierung als unmöglich verworfen wird und welche Strategien bei der Gestaltung der Schulsoftware dafür entwickelt werden, um mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen. Problematisiert wird ein Perfektionismusanspruch bzw. das Bestreben, vollkommen alles – „natürlich will man immer 100 Prozent“ – akkurat deklarieren zu können. Eine Lösung ist, auf möglichst viele „Einzelfälle“ einzugehen, und bei den immer noch nicht erfassten Fällen, das, was als größeres Ziel entworfen wird („Trends“) zu fokussieren. Für eine gute Schule gilt es hiernach, auch diese größeren Trends im Blick zu haben und zu erkennen, dass die eventuell für sie wichtigen Einzelfälle, die außergewöhnlichen Momente ihrer in eigener Regie verantworteten Arbeit (0,5 Prozent) ausmachen, als Teil einer „echten Aussage“ auf aggregierte Ebene nicht integriert sein müssen.

4.2.3 Eigenverantwortung: Reflexion der durch Problematisierungen entworfene Schule

Die Eigenverantwortung – ob bei Schüler*innen oder Schulleitungen – wird, wie die Auszüge zeigen, als hohes Gut verhandelt. Lernsoftware wird als eine Möglichkeit beschrieben, den Schüler*innen Eigenverantwortlichkeit für ihr eigenes Lernen zu übertragen, bzw. ihnen den Weg zu ebnen, diese Eigenverantwortung zu übernehmen. Bei der Schulverwaltungssoftware wird die Selbstverständlichkeit von der Heterogenität der schulischen Organisationspraktiken mit der Selbstverständlichkeit der Notwendigkeit der Standardisierung zusammengebracht. Werden diese Softwarelösungen mit den dabei entstehenden Problematisierungen zusammen betrachtet, entwerfen sie das, was als „gute Schule“ imaginiert wird. Wie im vorherigen Abschnitt sind diese Vorstellungen nie ganz spannungslos, also stellen wir sie auch hier in einer „sowohl-als-auch“ Weise vor. Die gute Schule wird als Ort der Selbstbestimmung und Autonomie konstruiert und sie wird als sich den extern gegebenen Standards unterordnend entworfen.

  1. (1)

    Eine gute Schule verantworte ihre Organisation selbstständig, ist aber auch in regionalen, nationalen und internationalen Standardisierungsprozessen eingebunden. Software auf Verwaltungs- und Administrationsebene zielt darauf, für Nutzer*innen in Schulen und Ministerien bzw. Behörden, ein möglichst akkurates Bild von Schulrealität in einem Bildungssystem zu zeigen. Damit dies gelingt, sollen einige individuelle Merkmale, wie beispielsweise eine Berücksichtigung der Klassenstrukturen, in Software wiedergefunden werden können. Aber die Schulen in Deutschland verfügen über einen hohen Grad an Eigenverantwortung für ihre Organisationsprozesse. Dadurch können nicht alle Nutzungsszenarien vorgeschrieben werden, sondern es wird den Schulleitungen eine Entscheidungsflexibilität eingeräumt. Gleichwohl trägt Schulverwaltungssoftware per se zu einer Standardisierung der Organisations- und Verwaltungsprozesse bei. Somit können Prozesse über Organisationen und Länder hinweg kompatibel, interoperabel und vergleichbar werden. Im Umgang damit werden von Softwareentwicklungsteams unterschiedliche Strategien angewendet, welche auf die priorisierten Bedürfnisse ihrer unterschiedlichen Zielgruppen eingehen.

  2. (2)

    Eine gute Schule überträgt Schüler*innen die Eigenverantwortung, auch wenn sie durch die Übertragung gerade diese Eigenverantwortlichkeit untergräbt. Eine zentrale Paradoxie der Eigenverantwortung in formalen Institutionen wie Schule ist, dass sobald sie übertragen, zugewiesen oder vergeben wird, sie den Schüler*innen abgesprochen wird, und nicht mehr Eigenverantwortung bzw. Selbstbestimmung sein kann (Nullmeier 2005). Werden Lehrkräfte zu Coaches, verschwindet die disziplinierende Funktion der Schule nicht, sondern sie verschiebt sich von der Instruktion zu der Responsibilisierung und Aktivierung, in der die Eigenverantwortung zu einer lehrer*innenseitig formulierten Erwartung wird, die erfüllt werden „muss“ (Burman 2016). Spannungen entstehen hierbei zudem, wenn die Schule zu Eigenständigkeit erziehen möchte, die Software allerdings diese Selbstständigkeit voraussetzt (siehe auch Macgilchrist et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Adaptive Lernsoftware oder adaptierende Lehrkräfte? Das Ringen um Handlungsspielräume“). Eine Fluchtlinie zu Alternativen, die hier nur angerissen werden kann, spielt mit den Worten „Ver-Antwort-ung“ oder „Ver-Antwort-lichkeit“, um die These zu entfalten, dass wir immer in Antwort auf andere agieren, das heißt, dass Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Autonomie konstitutiv soziale, reziproke, kollektive Verhältnisse sind (Haraway 2016; Hark 2021, S. 199; Rössler 2017). Eigenverantwortung muss in diesem Verständnis nicht nur individuell, sondern kann kollektiv wahrgenommen werden (Nullmeier 2006, S. 176).

  3. (3)

    Eine gute Schule strebe eine möglichst vollständige Datenerfassung an. Die Interviewpartner*innen artikulieren an einigen Stellen in den Interviews eine Sicht auf Daten – als unvollständig, heterogen, noisy, beweglich und kontextualisiert – die dem Verständnis von Daten in den critical data studies, an die sich dieser Band anschließt (siehe Breiter & Bock; in diesem Buch, Kap. „Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule“), ähnelt. Wenn, beispielsweise, eine zentrale Auswertung darauf zielt, Trends zu identifizieren, dann müssen die Daten einer Einzelschule nicht notwendigerweise genau deklariert werden. Sind 0,5 Prozent in einer Statistik wenige Fälle oder wenige Vorkommnisse im Schulalltag (zum Beispiel eine Lehrstunde, die vom 30. eines Monats auf den 2. Tag des darauffolgenden Monats verschoben wird und nun korrekt abgerechnet werden muss) für die Schule identifizierbar und eventuell wichtig anzuerkennen, sind sie für die aggregierte zentrale Auswertung nicht relevant. An anderen Stellen in den Interviews wird das Ziel artikuliert, genau „dieselbe“ Sicht an verschiedenen schulsteuerungsrelevanten Orten zu sehen und auf „die gleichen“ Daten zugreifen zu können. Das Streben nach Genauigkeit und Vollständigkeit, um die gute Arbeit über Schulen und weiteren Institutionen möglichst reibungslos zu gestalten, besteht also auch weiterhin. In der Forschung zu critical data studies sowie in feministischen Forschungsansätzen wird dieses Ausklammern der „Ausreißer“ und Einzelfälle jedoch kritisch betrachtet. Es wird betont, dass insbesondere bereits marginalisierte Praktiken und/oder Personen als Einzelfälle betrachtet, als „Anderes“ („other“) deklariert und ohne weitere Behandlung als abgeschlossen und nicht weiter relevant markiert werden können. So können beispielsweise systemische Probleme als Einzelfälle versteckt werden (Bowker und Star 1999; D’Ignazio und Klein 2020).

Im akademischen Diskurs zu Bildungsorganisation, -verwaltung und -steuerung, werden Individualisierung – und die damit einhergehende Eigenverantwortung bzw. Selbstbestimmung oder Autonomie – und Standardisierung oftmals als gegenüberliegend verstanden. Einerseits werden die heterogenen, individuellen Praktiken und gelebten Erfahrungen in den Schulen, die von Softwarehersteller*innen und politischen Akteur*innen versprochen werden, analysiert (Selwyn 2020). Andererseits werden die unterschiedlichen Standards in Form von Steuerungsinstrumenten, Curricula und Qualitätsevaluationen untersucht, die als Kriterien zur Kategorisierung der Bildungspraktiken und zur Präsentation der daraus entstehenden Ergebnisse benutzt werden können (Bradbury 2019). Wie die oben aufgeführten Beispiele zeigen, entstehen Standardisierungsanforderungen oftmals in bildungspolitischen, Bildungssteuerungs- und Bildungsentwicklungsvorhaben (Brüggemann 2021; Förschler 2021; Hartong und Nikolai 2021; Schildkamp et al. 2017). Standardisierende Funktionen der Schulverwaltungssoftware gehen über die üblicherweise diskutierten Implikationen der Standardisierung der Bildung – zum Beispiel durch Leistungstests – hinaus und greifen in Steuerungsprozesse der Schulorganisation ein. Schulische Akteur*innen, die sich diesen Prozessen widersetzen und zum Beispiel eigene, von den Standards abweichende Not- und Übergangslösungen entwickeln, werden nicht mehr lediglich als Nutzer*innen verstanden, sondern erhalten weitere Verantwortlichkeiten (engl. Accountability; Gorur und Dey 2021; Hartong 2021). Die Eigenverantwortlichkeit, die von der Lern- und Schulverwaltungssoftware ermöglicht bzw. im Einklang mit den übergreifenden Standards gebracht werden soll, ist damit nicht nur eine Antwort auf die (erhobenen oder imaginierten) Anforderungen aus den Schulen, ihren heterogenen Lern- und Steuerungspraktiken gerecht zu werden, sondern auch ein Instrument der Plattform- oder Software-Governance.

Eine gute Schule, so die Schlussfolgerung hier, wird als eine imaginiert, die sich eigenverantwortlich organisiert bei gleichzeitiger Einbettung in Standardisierungen, die Schüler*innen die Eigenverantwortung überträgt und somit auch unterminiert, und die eine möglichst vollständige – wenngleich keine 100 Prozent vollständige – Datenerfassung anstrebt.

5 Diskussion und Fazit

Interviews mit Softwaregestaltungsteams können leicht verführen. Die Gesprächspartner*innen sind, in unseren Erfahrungen, sympathische Personen, die sich oft aus politischer oder ethischer Überzeugung entschieden haben, im Bildungsbereich zu arbeiten – statt Software für Recht, Wirtschaft o. ä., zu entwickeln und vertreiben. Wo Tom L. Lynch vor zehn Jahren noch fordert, dass „[c]ompanies and philanthropic groups should have to articulate clearly how the software-powered technologies they promote put the goals of pedagogy before those of profit and ideology“ (2015, S. 26), können unsere Interviewpartner*innen heute mit Überzeugung die pädagogischen und organisatorischen Vorteile und Ziele ihrer Schulsoftware präsentieren. Sie artikulieren, wie gerade ihre Software hilfreiche Lösungen („pain relievers“) für die Probleme („pains“) von Schulen anbietet. Gleichzeitig sind diese Vorteile und Ziele mit den Idealen (wir könnten schreiben: „Ideologien“) ihrer Zeit verwoben.

When researching the often-exuberant promises that accompany new technologies and new forms of computational media, we navigate the seas between the Scylla of pure description (or worse: naïve celebration), and the Charybdis of all too easy deconstruction or critiques of others’ ideology. (Bachmann 2021, S. 15)

Um in diesen Gewässern zu navigieren, hat dieses Kapitel eine Herangehensweise gewählt, die die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Lösungen und damit einhergehenden Problematisierungen der Interviewpartner*innen für Lernsoftware und Schulverwaltungssoftware versucht zu verstehen. Ziel war, Elemente der impliziten und expliziten Entwürfe für eine „gute Schule“ herauszuarbeiten: Welche Probleme sollen aus Sicht der Softwaregestaltungsteams von ihrer Software gelöst werden, und wie wird dabei eine gute Schule imaginiert?

Zwei zentrale Problematisierungen wurden identifiziert, die sowohl bei Lernsoftware zum Einsatz im Unterricht als auch bei Schulverwaltungssoftware zur Unterstützung der Administration der Schulen thematisiert wurden: Erstens werden schulische Akteur*innen als überfordert entworfen. Sie werden belastet. Sie werden nicht entsprechend ihrer Potenziale gefördert. Eine Lösung ist, dass Lern- und Schulverwaltungssoftware Schüler*innen, Lehrkräfte, Mitarbeitende der Bildungsministerien und weitere schulbezogene Akteur*innen entlasten soll. Die gute Schule, die beim Sprechen über diese Problematisierungen und Lösungen hervorgebracht wird, ist eine, die Schüler*innen individuell fördert, Lehrkräften eine komfortable und effiziente Arbeit ermöglicht, und Wissens- und Sorgearbeit zwischen Software und Lehrkraft aufteilt. Zweitens wird ein schulischer Ausgangspunkt entworfen, in dem die Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen vom System Schule blockiert wird und in dem die Eigenverantwortlichkeit der Schulen mit ihren Datenlieferpflichten nicht kompatibel ist. Eine Lösung hierfür ist, dass die Lern- und Schulverwaltungssoftware Schüler*innen die Eigenverantwortung übertragen, und Schulen im Gefüge der Standardisierungen bei ihrer Eigenverantwortung nicht behindern soll. Die gute Schule, die hierbei entworfen wird, ist eine, die individuellen Schüler*innen die Eigenverantwortung überträgt, die sich selbstständig organisiert bei gleichzeitiger Akzeptanz der allgemeineren Standards, und die eine möglichst vollständige Datenerfassung anstrebt.

Software, so unser Ausgangspunkt, prägt die Handlungsoptionen im schulischen Alltag. Die datenintensive, adaptive Lernsoftware und die datenerfassende Schulverwaltungssoftware, deren Entwicklung hier im Fokus standen, entwerfen Ideen einer guten Schule, die performative Effekte auf die Praktiken in Schule haben, welche als solche nicht deterministisch zu definieren ist. Aber, die Prioritäten und das pädagogische bzw. organisationale Verständnis der Gestaltungsteams werden in die Software eingeschrieben, und rahmen Optionen für das Handeln der schulischen Akteur*innen. Diese Optionen eröffnen bestimmte Entwicklungspfade für die Schule der Zukunft und schließen andere Wege aus.

Die bei der Lernsoftware anvisierte Schule fokussiert, beispielsweise, stark auf einzelne Schüler*innen und Lehrkräfte. Die hierbei entworfene „gute Schule“ orientiert sich hier, auf den ersten Blick, eher an Individuen als an Klassengemeinschaften, kollegiale Zusammenarbeit oder kollektive Solidarität. Dieser Fokus auf das Individuum ist in der Bildungsforschung bisher – als neoliberale/kapitalistische Flexibilisierung, Individualisierung und Responsibilisierung des Bildungssystems bzw. der Gesellschaft – kritisch analysiert worden. Wir möchten hier allerdings weder digitale Bildungstechnologien „naiv“ zelebrieren noch eine, wie Bachmann schreibt „too easy deconstruction or critiques of others’ ideology“, betreiben, sondern die Verwobenheit dieser Individualisierung mit Kollektivität, die in diesem Beitrag auch sichtbar wird, hervorheben: Gerade durch die kollektive Produktion von Milliarden von Datenpunkten, kann eine adaptive Lernsoftware Angebote für das, was die Anbieter als individualisiertes oder personalisiertes Lernen bezeichnen, machen. Gerade durch die intensivierte Unterstützung von Schüler*innen im gemeinschaftlichen Klassenraum – das heißt, die politische und solidarische Sorgearbeit der Lehrkräfte – die fast alle Interviewpartner*innen betonen, kann Lernsoftware für individuelle Schüler*innen produktiv werden. Gerade die Aussage der Softwaregestaltungsteams, dass sie eine Lösung für überforderte Lehrkräfte anbieten wollen, sollte Entscheidungsträger*innen, die sich mit Strukturen und Systemen befassen, erneut auf die sozioökonomischen Probleme, die eine solche Überforderung verstärken, aufmerksam machen.

Insbesondere die bei der Schulverwaltungssoftware anvisierte „gute Schule“ thematisiert die reibungslose Zusammenarbeit über System- und Organisationsgrenzen hinweg, die mit Schule zu tun haben. Auch diese Vorstellung einer reibungslosen, glatten, problemlosen, einfachen, effizienten Arbeits- und Lebensweise, die durch Software ermöglicht werden soll und die Welt als möglichst reibungslos statt konfliktreich und brüchig vorstellt, ist kritisch analysiert worden – sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch in Serien wie Black Mirror. Wir möchten hier allerdings die Momente hervorheben in der die Softwaregestaltungsteams auch auf Brüchigkeit und Spannungen verweisen. Die akkurate Erfassung der Daten ist nicht nötig und sollte gar nicht angestrebt werden. Wo früher jede Organisation, ob Schule, Schulamt, Schulträger oder Bildungsministerium nach unterschiedlichen Logiken arbeitete, scheint sich heute nur die Schule allen anderen anpassen zu müssen. Wenn die Software nun dazu dient, diesen Organisationen eine geteilte Sicht auf die gleichen Daten zu ermöglichen, bringt sie sie zusammen, aber eröffnet gerade dadurch neue Möglichkeiten für spannungsreiche Kommunikation – über diese Daten, die nun alle sehen können. Die Schulverwaltungssoftware soll unterstützen, dass nicht eine Organisation (insbesondere die Schule) ihre Praktiken auf den Kopf stellen muss, um die Logiken, Standards und Erwartungen einer anderen Organisation (insbesondere die Ministerien) erfüllen zu können. Niedrigschwellig werden workarounds und Lösungen gefunden, damit die Heterogenität zwischen Bildungsorganisationen gerade durch die Vereinheitlichung und Standardisierung nicht zu einheitlich wird.

Problematisierungen zeigen auf, welche Prioritäten aktuell die Arbeit mit Software für Schulen rahmen und in Schulen performativ werden können. Die Analyse der Interviews in diesem Beitrag zielte darauf, die verschiedenen Spannungen und Möglichkeiten „innerhalb“ dieser Problematisierungen sichtbar zu machen, die, wenn sie „auf diese Weise“ gelesen und vollzogen werden, eine vielleicht unerwartete (kollektive, solidarische, spannungsreiche) Wirkkraft auf schulische Wirklichkeit entfalten könnten.

Noch expliziter können wir über alternative Fluchtlinien spekulieren, in der andere Entwicklungsweisen von schulbezogener Software vollzogen werden. Hier wären zum Beispiel nutzerorientierte oder menschzentrierte Ansätze der Softwaregestaltung zu erwähnen, die die Rahmung von Problemen, die eine Software lösen soll, immer vom jeweiligen Nutzungs- bzw. Anwendungskontext her denken. Nutzerzentrierte Softwaregestaltung stellt etwa den Fokus auf den Nutzungskontext einer Software (Kubicek et al. 2019). Akteur*innen, zum Beispiel Lehrkräfte oder Schulleitungen, werden jedoch primär in ihrer Beziehung zu einer Software verstanden. Das heißt, sie werden ausschließlich als Nutzende von Software definiert; Beziehungen, Interessen und Praktiken, die nicht im Kontext der Softwarenutzung stehen, werden ausgeblendet. Ansätze der menschzentrierten Softwaregestaltung wollen hingegen den „gesamten Menschen“ in den Blick nehmen. Wie dies gelingen kann, zeigen partizipative Ansätze zur Softwaregestaltung, die in iterativen Schritten, die pains und gains der schulischen Akteur*innen viel intensiver bearbeitbar machen, als bei derzeit üblichen Entwicklungspraktiken (z. B. Costanza-Chock 2020; Ehn 2008; Muller 2007). Wichtig ist hierbei der Fokus auf der gemeinsamen Exploration und Definition eines Problems, das gelöst werden soll. Es können dann gemeinsam Lösungen entwickelt werden, die nicht unbedingt nur technischer Natur sind (Light und Akama 2014).

Aus der Analyse dieses Beitrags entstehen eine Reihe von Fragen für zukünftige Forschung: Inwieweit beziehen Gestaltungsteams Nutzer*innen in die Entwicklung ein? Wer trägt wann die Verantwortung für das Design? Was ändert sich beim Produkt, wenn partizipative Elemente verstärkt werden, damit die Lösungen der Software auf von zukünftigen Nutzer*innen artikulierten, komplexen, kontextualisierten Problembeschreibungen antworten? Welche Nutzer*innen erhalten aktuell eine Stimme beim Entwicklungsprozess, und welche Implikationen hätte eine breitere Einbindung diverser Nutzer*innen auf die Konstruktion der „guten Schule“, die in zukünftiger Software eingeschrieben werden würde? Darüber hinaus besteht weiterhin ein großer Bedarf an Forschung, die die Entscheidungsprozesse während der Arbeitsprozesse (statt durch Interviews) beobachtet und analysiert: Wie werden, zum Beispiel, Entscheidungen in der Praxis darüber getroffen, welche Daten erhoben werden sollen oder welche Daten von wem einsehbar sind (z. B. Beyer und Holtzblatt 1999)?

Insgesamt zeigt dieser Beitrag, basierend auf Interviews mit Softwaregestaltungsteams zwei Problembündel, die aus Sicht der Softwaregestaltungsteams von der Software gelöst werden sollen: schulische Akteur*innen sollen entlastet werden, und ihre Selbst- bzw. Eigenverantwortung soll gestärkt werden. Dabei wird eine „gute Schule“ auf den ersten Blick als individualisierend imaginiert. Beim näheren Hinsehen – durch die qualitative Analyse der Interviews in diesem Beitrag – werden Spannungen erkennbar, die komplexere Prozesse bei der Softwareentwicklung sichtbar machen. Wir sehen dabei die Vision eines effizienten, reibungslosen, interoperablen, entlasteten, eigenverantwortlichen, vollständigen Lernens und Arbeitens mit Daten in der guten Schule der Zukunft, die durch Schulsoftware ermöglicht werden soll. Aber diese imaginierte Schule wird „auch“ in den Fluchtlinien der Interviews als sozial, kollektivverantwortlich, reibungsvoll, lückenhaft und belastend entworfen. Diese Spannungen, so die Schlussfolgerung dieses Beitrags, sind keine Probleme, die behoben werden sollen, sondern markieren die komplexen, situierten, messy Praktiken im Alltag der Schule, die produktive und gemeinsame Möglichkeiten der Zusammenarbeit offenhalten.