Schlüsselwörter

1 Einleitung

„Deutsche Schulen hinken digital hinterher“, Lehrkräfte bleiben „in der digitalen Steinzeit verhaftet“, „Spiele in Lern-Apps: harmlos oder Süchtigmacher?“ (z. B. Frohn 2020; Münchner Merkur 2021; Süddeutsche Zeitung 2020) – in Schlagzeilen wie diesen werden Lehrkräfte mitunter als technologisch aus der Zeit gefallen und digitale Spiele als gefährlich eingestuft. Es wird selten in öffentlichen Diskursen über die Geschichte und Aktualität der didaktisch-pädagogisch reflektierten Entscheidungen einzelner Lehrkräfte, digitale Medien nicht einzusetzen oder in kreativer Weise für ihre Schüler*innen zu adaptieren, berichtet (Cuban 1986). Bildungspolitische, praxisnahe und mediale Diskussionen über Lernsoftware sind noch weitgehend durch eine binäre what works-Logik der Chancen und Risiken bzw. der Vor- und Nachteile strukturiert (Macgilchrist 2022/i. E.), die auch in wissenschaftlichen Debatten vorhanden sind, zum Beispiel in den Themenbereichen und Zielen führender internationaler Zeitschriften wie Computers & Technology oder Journal of Comp uter-Assisted Learning. Gleichzeitig wächst die forschungsbasierte Kritik an gegenwärtiger (proprietärer) Lernsoftware bzw. an Lernplattformen, da sie beispielsweise die Kommerzialisierung des öffentlichen Schulwesens vorantreiben, durch gamification eine Wettbewerbsorientierung und datengetriebene Selbstoptimierung im Unterricht verstärken oder durch radikal behavioristische Lerntheorien die Autonomie der Schüler*innen einschränken (z. B. Jornitz und Macgilchrist 2021; Knox et al. 2020; Parreira do Amaral et al. 2019; Selwyn 2012; Watters 2021; Weich et al. 2021).

In diesem Beitrag treten wir sowohl von einem Interesse an what works, als auch von der Kommerzialisierungskritik zurück, um anhand von Interviews Spannungen und Ambivalenzen nachzuzeichnen, die zwischen Konzeption und Einsatz einer Lernsoftware sichtbar werden. Im Kern geht es darum, die Entscheidungen nachzuzeichnen, die bei der Entwicklung und dem Einsatz von Lernsoftware gemacht werden, die unterschiedlichen Begründungen für diese Entscheidungen zu eruieren, und sie in ein Verhältnis zueinander zu setzen.Footnote 1 Wir analysieren Interviews mit den AnbieternFootnote 2 einer Mathematik-Lernsoftware – die wir hier System|X nennen – und mit Lehrkräften aus einer DATAFIED-Projektschule, die diese Software in ihren Klassen einsetzen. Durch diese Verschränkung von Reflexionen über die Entwicklung und den Einsatz werden zentrale Annahmen, wie sie in den oben zitierten Schlagzeilen stecken, hinterfragbar. Statt technisch unversierter Lehrkräfte werden in diesem Beitrag „adaptierende Lehrkräfte“ sichtbar, die den Einsatz unterschiedlicher Softwareprodukte für ihre Schüler*innen, vor allem für diejenigen Schüler*innen, für die Schule eine Herausforderung ist, an die spezifische Situation des Unterrichts anpassen und sich so ihre Handlungsräume erhalten und mit der Software gestalten. Statt süchtigmachender gamifizierter Elemente im Mathematikunterricht wird in diesem Beitrag eine adaptive Software sichtbar, die in der Konzeption der Anbieter von möglichst allen Schüler*innen gleichermaßen eigenständig genutzt werden soll. Ziel des Beitrags ist aber auch, die kritische Forschungsliteratur – die die Lernsoftware als Produkt und die Versprechungen der Werbematerialien intensiv analysiert – durch Perspektiven aus der Praxis der schulischen Akteur*innen und der Softwareentwicklung zu ergänzen. Wir gehen dabei den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten nach, die von den Anbietern der Software einerseits und den Lehrkräften als „Nutzer*innen“ andererseits für sich reklamiert werden und gegebenenfalls in einer Spannung zueinander stehen. Eine solche verschränkte Perspektive kann, so die erste These dieses Kapitels, die postulierte Wirkkraft einzelner Lernsoftwareprodukte aufweichen und in einen anwendungs- und entwicklungsbezogenen Kontext stellen. Sie weist auf die Unbestimmtheit und messiness (Unordentlichkeit), die für den Einsatz von Software in Lernkontexten konstitutiv ist (Allert und Richter 2020; Law 2004). Die Analyse zeigt, so die zweite These des Kapitels, wie die Spannungen in diesem spezifischen Kontext dargestellt werden. Es wird zu zeigen sein, wie sich ein Ringen um Handlungsmöglichkeiten vonseiten der Anbieter und der Lehrkräfte entfaltet. Zentral dabei ist, dass die Gestaltung der Lernsoftware an der eigenständigen Nutzung orientiert ist; die Praxis im Klassenraum allerdings die Software in die Texturen des sozialen Miteinanders einflechtet.

Nach einer Verortung des Spannungsfeldes, wie es dem Verhältnis der Interviewpartner entspringt, der Methodologie und des empirischen Materials dieses Kapitels werden drei Aspekte näher analysiert, die sowohl in den Interviews mit dem Softwareanbieter als auch in den Interviews mit Lehrkräften hervorgehoben wurden. Es geht hierbei erstens um den für die aktuelle Diskussion über gutes Lehren und Lernen in zunehmend heterogenen Schulklassen zentralen Aspekt der Leistungsdifferenzierung. Für das Unterrichten bedeutet dies, wie Lerninhalte und -ziele so differenziert gestaltet werden, dass die Leistung aller Schüler*innen steigt. Zweitens geht es um den Aspekt der Fehlertoleranz, eine Praxis, die in den WerbematerialienFootnote 3 von System|X priorisiert wird und auf eine lange Geschichte in der Erziehungswissenschaft zurückblicken kann (Bollnow 1959; Suoranta et al. 2022). Zentral ist dabei, wie Schüler*innen darin unterstützt werden können, zu verstehen, dass Fehler notwendig sind und sie daraus lernen können. Drittens wenden wir uns dem Aspekt der Belohnung zu und damit einem Thema, das oft mit datengetriebener Lernsoftware in Verbindung gebracht wird, vor allem im Kontext der gamification. Wir verstehen unter „datengetrieben“ „solche Systeme, die Daten als Grundlage für die Erstellung oder Anpassung von Inhalten nutzen. Es geht also nicht um eine technikdeterministische Behauptung, dass das Vorhandensein von Daten die Nutzung oder Entwicklung der Systeme ‚treibt‘“ (vgl. Weich et al. 2021, S. 24). Das heißt, es geht um die Frage, wie Schüler*innen durch die Lernsoftware belohnt werden und wie sich die Lehrkräfte zu diesem Element positionieren.

In der Analyse dieser drei Aspekte steht die Relationierung der jeweils unterschiedlichen Akzentuierung im Fokus, wie sie in den Interviews mit dem Entwicklungs- und Vertriebsteam des System|X und den es einsetzenden Lehrkräften einer Gesamtschule artikuliert wird. Es wird so ein Ringen um Handlungsräume sichtbar, die wir zum Schluss mit Blick auf die gegenwärtige und zukünftige Konstruktion der datafizierten Schule reflektieren.

1.1 Über das Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Einsatz einer Lernsoftware

Die Analyse stützt sich auf Interviews mit zwei Vertretern des System|X und zwei Lehrkräften einer Gesamtschule, die das System|X in ihrem Unterricht in je einer 5. Klasse nutzen. Die Interviews mit den Vertretern des System|X wurden 2019/2020 geführt, während die Interviews mit den Lehrkräften im Februar 2021 stattfanden. Jedes Interview dauerte ca. eine Stunde. Im Fokus der Auswertung standen die Reflexionen unserer Interviewpartner über zentrale Aspekte der Software, mit Blick auf den von der Entwicklerseite anvisierten bzw. von den Lehrkräften verwirklichten pädagogisch-praktischen Einsatz im Unterricht. In unserem Datensatz aus vier Interviews treffen also der jeweilige Anspruch und die Selbstpositionierung der Anbieter sowie der Lehrkräfte aufeinander. In der Tradition der qualitativen Forschung bietet der Beitrag vertiefte Einblicke in Erzählungen und Artikulationen, die zu einer breiteren Reflexion über das Ringen um das, was als „guter Unterricht“ gilt, anregen möchte.

Die Entwicklerperspektive ist gerade deshalb aufschlussreich, weil sie die Positionierung – in der sozialen Situation eines Interviews – zu Zielen, Priorisierungen, Vorstellungen über Einsatz, Werte, Normalisierungen und Nutzungsversprechen (siehe Beitrag Troeger et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Digital ist besser!? – Wie Software das Verständnis von guter Schule neu definiert“) analysierbar macht (Wrana 2015). Die Interviewpartner der Softwarefirma artikulieren, wie diese Perspektive zum Teil in die Software eingeschrieben wird, das heißt, durch welche Funktionen, Designelemente oder Aufgaben die artikulierten Ziele etc. in der Praxis ankommen sollen. Die Interviews mit den Lehrkräften zeigen dagegen, was bei diesen Lehrkräften in der Praxis ankommt, wie sie welche Elemente einsetzen, wogegen sie sich entscheiden und wie sie sich die Lernsoftware in ihrem spezifischen Kontext für ihre spezifischen Schüler*innen zu eigen machen.

Um diese Artikulationen über die potenziellen Wirkweisen der Lernsoftware in der Praxis zu analysieren, ohne deterministische Annahmen über eine lineare oder kausale Wirksamkeit von Software auf Praxis in die Analyse zu übernehmen, arbeiten wir in diesem Beitrag mit einem Verständnis von Lernsoftware als Medien, die eine „Wirkkraft“ entfalten. Sybille Krämer fasst dies folgendermaßen: „Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt“ (1998, S. 14).

Lernsoftware, um die Aussage für diesen Beitrag zu spezifizieren, prägt demzufolge das Geschehen im Unterricht, aber sie lenkt es nicht (z. B. Hepp 2012). Ähnlich argumentieren zum Beispiel kultur- und sozialanthropologische Studien zur eigensinnigen Aneignung von Medien, die dichte Beschreibungen von Umdeutungen, Umnutzungen und den komplexen, widerspenstigen Medienpraktiken, die stets in spezifischen Kontexten und Situationen stattfinden, erstellen (Ginsburg et al. 2002; Postill 2021). Die grundlegende methodologische Annahme, die wir aus diesen Arbeiten aufgreifen, ist, dass die Wirkkraft jeder Technologie sich im Kontext und mit den jeweiligen Aktivitäten wandelt (Spitulnik 2002, S. 349).

1.2 System|X

Bei dem, was wir hier System|X nennen, handelt es sich um eine Mathematik-Lernsoftware, die so programmiert wurde, dass sie in allen Bundesländern in Deutschland und in allen Klassenstufen der Sekundarstufe I einsetzbar ist und somit die jeweils gültigen Fachcurricula berücksichtigt. System|X versteht sich als eine adaptive Software, mit der Schüler*innen möglichst selbstständig – und das heißt ohne weitere Unterstützung der Lehrer*innen – mathematische Aufgaben bearbeiten können. Das Wort „adaptiv“ wird in der aktuellen Lernsoftware-Landschaft vielfach verwendet, mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (z. B. Bulger 2016). Als gemeinsamer Nenner lässt sich herausarbeiten, dass es sich um eine Lernsoftware handelt, die darauf zielt, sich automatisch, das heißt, technisch gesteuert, an die Bedürfnisse jedes*r einzelnen Lernenden anzupassen. Der Schwierigkeitsgrad einer Mathematikübung soll sich dem „Leistungsniveau“ der Lernenden anpassen, das heißt, Lernende erhalten Übungen, Aufgaben, Rückmeldungen etc., die ihrem Niveau entsprechen sollen. Dafür werden Daten der Lernenden ausgewertet, von einfacheren Erfassungen – ob Eingaben falsch oder richtig sind, um automatisch angepasstes Feedback zu geben (hierzu gehört System|X) – bis hin zu Auswertungen mithilfe von maschinellem Lernen.

Kern des System|X bilden themenspezifische Aufgaben, die als Übungssets bzw. Aufgabenreihen zugänglich gemacht werden. Dabei ist die Plattform so entwickelt, dass sie dezidiert in der Schule bzw. für den Schulunterricht verwendet werden kann. Das heißt, sie ist nicht für den Nachmittagsmarkt als Nachhilfeangebot gedacht, sondern wurde als unterstützendes, didaktisches Instrument für Lehrer*innen im Unterricht entwickelt. Für die Schüler*innen sind nicht alle Aufgaben eines Sets einsehbar, sondern immer nur die jeweils aktuelle. Die Reihenfolge der Aufgaben eines Sets wird mit jedem neuen Aufruf neu erstellt, sodass diese keinem didaktischen Aufbau folgen. Die Lösung der Aufgaben muss entweder aus vorgegebenen Antworten ausgewählt (multiple choice) oder selbstständig eingegeben werden; nicht möglich ist es, Rechenwege einzugeben. Von jeder Aufgabe aus sind zudem Hilfestellungen in Form von Tipps zugänglich. Diese können über einen Button gesondert aufgerufen werden. Dabei nehmen die Texte teilweise jedoch nicht spezifisch auf die jeweilige Aufgabe Bezug, sondern erläutern das jeweilige Thema, zu dem die Aufgabe gehört. Hat der*die Schüler*in eine Antwort eingegeben, wird diese auf ihre Richtigkeit geprüft. Sowohl bei der richtigen Lösung als auch bei der falschen wird die jeweils richtige Lösung samt des Rechenweges angezeigt. Am Ende des Sets erfolgt eine Auswertung nach Punkten, die sich wiederum zu Münzen und Sternen summieren. Alle diese Werte sind vom System festgelegt und von der Lehrkraft nicht veränderbar. System|X unterscheidet dabei zwischen drei verschiedenen Aufgabensets:

  1. 1)

    Das Aufgabenset als Test, der jedem Themenkapitel vorgeschaltet ist. Mit diesem Test soll geprüft werden, ob das Kapitel gegebenenfalls sogar übersprungen werden kann.

  2. 2)

    Das Aufgabenset als „Test zum Vorwissen“, mit dem geprüft wird, ob die Schüler*innen die notwendigen Kenntnisse für die Aufgaben des Kapitels haben.

  3. 3)

    Das Aufgabenset als Übungsaufgaben mit dem jeweiligen thematischen Schwerpunkt.

Neben diesen fachlichen Aufgaben bilden die Dashboards für Schüler*innen und Lehrer*innen ein Spezifikum der Lernsoftware (Jarke und Macgilchrist 2021). Die Dashboards des System|X zeigen die Auswertung der jeweiligen Aufgaben nach bestimmten Kategorien. So werden die von den einzelnen Schüler*innen noch nicht bearbeiteten Aufgaben angezeigt, Aufgaben mit den meisten Fehlern in der Klasse, die Anzahl der erreichten Sterne und Münzen sowie die bereits erledigten Aufgaben. Mit mehreren Klicks auf die jeweilige Kategorie können sich die Lehrkräfte bis zur einzelnen Aufgabe durchklicken. In der Darstellung arbeitet System|X mit farblicher Codierung von Balkendiagrammen sowie mit Prozentangaben und Zahlen als Punktangaben oder Anzahl von Aufgaben (Pollmanns et al. 2022).

Adaptiv ist das System|X dahingehend, dass auf der Grundlage der jeweiligen Vortests zum Vorwissen Schüler*innen Hinweise gegeben werden, welche Themen sie wiederholen sollten. Die Dashboardübersichten geben wiederum den Lehrer*innen Hinweise darauf, welche Aufgaben oder Aufgabensets erneut verarbeitet werden sollten oder welche erfolgreich bearbeitet wurden.

Mit dem System|X liegt demnach eine fachliche Software vor, die mit ihrem direkten Rückmelde- und Bewertungssystem die Schüler*innen dazu animiert, weitere Aufgaben zu bearbeiten und über jederzeit zugängliche Tipps versucht, Hilfestellungen für das Lösen von Aufgaben an die Hand zu geben. Auffällig ist, dass alle Aufgaben und Hilfestellungen textlich oder grafisch dargeboten werden; in der Plattform sind keine Video- und Audiodateien oder Animationen integriert, die gegebenenfalls noch auf eine andere Art und Weise den mathematischen Gegenstand darstellen und erklären.

System|X wird deutschlandweit in Schulen eingesetzt und in anderen Sprachen weltweit verkauft. Laut Angaben des Anbieters wird es derzeit von über 400.000 Schüler*innen in Deutschland genutzt. Es wird in diesem Beitrag sowohl als spezifischer, kontextgebundener Fall, als auch exemplarisch für die Arbeit mit Lernsoftware im Unterricht, insbesondere für adaptive Systeme, die zunehmend verbreitet sind (Berger und Moser 2020; Weich et al. 2021), verhandelt. Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse unserer Analyse in den drei Aspekten der Leistungsdifferenzierung, der Fehlertoleranz und des Belohnens dar.

2 Leistungsdifferenzierung durch System|X

Softwareprogramme wie System|X haben den Anspruch, für eine möglichst große Nutzer*innengruppe einsetzbar und skalierbar zu sein. Sie sind demzufolge oft nicht auf eine einzige Schulstufe und auf eine einzige Schulform ausgerichtet, weil es über die digitalen Systeme möglich zu sein scheint, in einer einzigen Softwareumgebung mehreren Zielgruppenanforderungen bzw. Leistungsniveaus zu entsprechen. System|X richtet sich demzufolge an alle Schulstufen und Schularten der Sekundarstufe.

Aus den Interviews mit den Vertretern von System|X lässt sich der Anspruch herausarbeiten, der mit der Software verfolgt wird. Dieser erstreckt sich sowohl auf das Schulsystem als Ganzes als auch auf den Unterrichtsprozess im Besonderen. Die Anbieter priorisieren, dass mit System|X der Leistungssteigerung des Schulsystems zugearbeitet wird, denn:

Wenn man in der Breite des Schulsystems die Leistung steigern will, muss man dem Lehrer ein Tool an die Hand geben, was ihn von Arbeit befreit und es befreit ihn von Arbeit, wenn die Schüler selbstständiger lernen können. (Int_GF_2, Z. 168–171)

Der Interviewpartner charakterisiert System|X als etwas, das den Schüler*innen ermöglicht, selbstständiger zu arbeiten, sodass die Lehrenden mehr Zeit im Unterricht haben. Dieses Mehr an Zeit wiederum kommt dem gesamten Schulsystem zugute. Wichtig ist hier, dass das selbstständige Lernen der Schüler*innen einerseits als Voraussetzung gekennzeichnet wird, das heißt, als etwas, über das die Schüler*innen bereits verfügen müssten, um den Lehrer*innen zu der Zeitersparnis zu verhelfen. Andererseits wird diese Voraussetzung aber an das „Tool“, welches das selbstständige Lernen zugleich herstellt, gebunden. Der Interviewpartner hat das Große und Ganze im Blick, wenn er konstatiert:

[W]ir können zur Chancengerechtigkeit oder Chancengleichheit beitragen. Ja? Und dieses durch eben Personalisierung des Lernens, ja? Dass jeder in seinem Tempo, äh, mit seiner, mit der Unterstützung, die er braucht, gefördert durch den Lehrer, dem wir Freiräume geben, sich entwickeln kann. (Int_GF_2, Z. 367–371)

Damit koppelt er die Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit an den jeweils individualisierten Unterricht; dieser wiederum kann nur von den Lehrenden umgesetzt werden, wenn sie die Zeit erhalten, sich tatsächlich einzelnen Schüler*innen zuzuwenden. Es bleibt unscharf, ob die Unterstützung durch die Lehrkraft erfolgt oder durch System|X, das personalisiert auf den*die es benutzende*n Schüler*in eingehen kann. Grundsätzlich wird hier eine Pädagogik skizziert, die sich am Entwicklungsverlauf des*der Einzelnen orientiert und zugleich von der Vielfalt dieser Entwicklungen ausgeht. In einem solchen Szenario stehen sich Software und Mensch nicht gegenüber, sondern sind wechselseitig aufeinander bezogen. Dabei ist es diesem Vertreter von System|X wichtig, dass die Software gerade auch benachteiligten Schüler*innen zugutekommt. In seinem Sinne sind es: „Die [Kinder], die keine Eltern haben, die das im Zweifelsfall am Wochenende oder am Nachmittag oder am frühen Abend kompensieren können.“ (Int_GF_2, Z. 1205–1207). Denn es sei problematisch, „dass wir hier so viele Bildungsverlierer produzieren im Schulsystem, dass wir so viele Menschen, junge Menschen, die viel Potenzial haben, gar nicht entsprechend ihres Potenzials fördern“ (Int_GF_2, Z. 387–389).

Mit viel Emphase stellt der Interviewpartner heraus, System|X helfe genau den Kindern, die zu wenig Unterstützung erfahren und denen das Schulsystem diese gewähren sollte. Dazu liefere System|X einen Beitrag. Dieser liegt jedoch laut Interviewpartner nicht darin, dass sich die Software explizit an die Schüler*innen richtet, die Lernschwierigkeiten haben und hierzu eine spezifische digitale Hilfe anbietet. Sondern eher liegt der Beitrag von System|X darin, alle Schüler*innen selbstständiger bzw. im eigenen Tempo arbeiten zu lassen und dabei die Lehrperson von ihren Aufgaben im Unterricht zu entlasten (siehe Beitrag Troeger et al. 2023 in diesem Buch, Kap. „Digital ist besser!? – Wie Software das Verständnis von guter Schule neu definiert“).

Wie dies geschieht oder geschehen könnte, zeigen die Interviews mit einem Lehrer und einer Lehrerin einer DATAFIED Projektschule. Sie unterrichten beide je eine 5. Klasse einer Sekundarschule, die die Lehrerin als „kulturell vielseitig“ (OI_120221_S5/L2, Z. 77) charakterisiert. Die in dem Bundesland regelmäßig stattfindenden Lernstandserhebungen haben der Lehrerin zurückgemeldet, dass sie „wirklich eine sehr matheschwache {leise} Klasse habe“ (OI_120221_S5/L2, Z. 80). Damit liegt nun genau eine solche Klasse vor, für die sich die Entwickler im Interview stark machen. Doch wie setzt die Lehrerin System|X ein? Sie stellt zunächst heraus, dass „gerade bei uns an der Schule (.) ähm kommen nicht alle Schüler damit zurecht“ (OI_120221_S5/L2, Z. 17 f.). Und begründet dies damit, dass die Handhabung für die Schüler*innen im Gegensatz zu anderen ihr bekannten Lernprogrammen nicht einfach sei. Sie führt aus:

Wenn man bei [Alternativsystem|A] einfach Kästchen anklicken kann, dann muss man bei [System|X] zum Beispiel Strecken einfügen. (.) Und ähm man muss erst auch unten das Tool wechseln. Also man muss dann auf die Hand gehen, um dann eine Strecke zu verlängern oder zu korrigieren. (OI_120221_S5/L2, Z. 32–36)

Sie berichtet, dass bei System|X für die Beantwortung von Aufgaben nicht nur aus einem Set an vorgegebenen Aufgaben ausgewählt und das richtige Ergebnis angeklickt, sondern selbst die Antwort eingegeben werden muss, was zum Beispiel hier bedeutet, Strecken digital zu zeichnen. Dies gelingt anders als mit Stift und Papier nur in einem für die Lehrerin umständlichen Verfahren, bei dem verschiedene Dinge beachtet werden müssen. Ihr Beispiel für die Schwierigkeit des Einsatzes von System|X bezieht sich also zunächst nicht auf die Aufgaben selbst, sondern auf die Art und Weise der Handhabung, das heißt, wie Schüler*innen ihre Antworten in System|X eingeben.

Der interviewte Lehrer – auch er unterrichtet eine (andere) 5. Klasse – stellt fest: „Und bei den, ähm ich sag mal, sehr leistungsschwachen Schülern hab ich gemerkt, dass System|X äh große Schwierigkeiten bereitet“ (OI_100221_S5/L1, Z. 55–57). Diese liegen vor allem darin, dass die Schüler*innen „sowieso sprachlich Schwierigkeiten haben. Dann sind {Räuspern} natürlich auch noch mit Fachbegriffen bestückt. Während Material zum Beispiel wie im {lauter} Förderheft arbeitet sehr viel noch mit bildlichen Darstellungen, ähm …“ (OI_100221_S5/L1, Z. 87–89).

Das heißt, der Lehrer beobachtet auch hier weniger mathematische Schwierigkeiten als solche, die im Lesen liegen. Da aber in System|X die schriftliche Form das dominierende Element ist, ist es nach Einschätzung des Lehrers gerade für die „leistungsschwachen“ Schüler*innen schwer, mit System|X zu arbeiten. Sein Beispiel des Förderheftes macht darauf aufmerksam, wie didaktisch verschieden Unterrichtsmaterialien aufbereitet sein können und gerade eine didaktische Form, die mit Bildern arbeitet, gegebenenfalls das Fachliche vermitteln hilft, auch wenn Fachbegriffe noch nicht bekannt sind.

Doch was bedeutet dies laut den Interviewpartner für den konkreten Einsatz in den Klassen? Die Lehrerin gibt an, dass sie System|X im fortgeschrittenen Unterricht einsetzt:

Vor allem, wenn die Schüler zu dem Themenbereich schon einfache Aufgaben bearbeitet haben, (.) ähm setze ich System|X nochmal als (…) {lauter} Wiederholung ein auch, um auch mit schwierigeren Aufgaben äh (…) zurechtzukommen. (OI_120221_S5/L2, Z. 13–16)

Dem entspricht, wie der Lehrer seinen Einsatz beschreibt:

Dann (.) ähm ist für mich System|X tatsächlich auch eine Differenzierung mehr auch nach oben. […] Und dann ähm als zusätzliche Differenzierung, wenn die Schüler fertig sind, eine Aufgabe in System|X, um da nochmal wirklich gezielt zu üben wirklich. Also nicht jetzt, um das Thema neu einzuführen, sondern um das, was sie gerade eben gemacht haben, nochmal auf einer anderen (.) ähm Niveaustufe nochmal anzuwenden. (OI_100221_S5/L1, Z. 27–35)

Beide verweisen auf die Nutzung von System|X für die leistungsstarken Schüler*innen und zwar als Wiederholung der bereits durchgearbeiteten Themen und Aufgaben. Allerdings hebt der Lehrer hervor, dass es sich dabei nicht um eine Wiederholung von ähnlichen Aufgaben handelt, sondern die Schüler*innen sollen sich mit System|X „nochmal auf einer anderen […] Niveaustufe nochmal zuzuwenden“. Das heißt, selbst für die „leistungsstarken“ Schüler*innen seiner Klasse bedeuten die Aufgaben in System|X eine höhere Schwierigkeitsstufe. Nun könnte konstatiert werden, dass sich System|X entgegen der Einschätzung der Entwickler gerade nicht für den Einsatz bei als leistungsschwach geltenden Schüler*innen eignet. Doch beide Lehrkräfte setzen ja weiterhin System|X ein; gegebenenfalls entgegen der Vorstellungen der Entwickler. Denn ließen deren bereits analysierte Aussagen die Möglichkeit zu, dass gerade die „Leistungsstarken“ mit System|X selbstständig lernen und die Lehrer*innen sich dann ohne System|X den „Leistungsschwachen“ zuwenden könnten, so entstand bei den Lehrpersonen der Eindruck, System|X gerade auch bei den Schüler*innen einzusetzen, die mit Mathematik Schwierigkeiten haben – doch in dieser Einschätzung wurden sie enttäuscht. Stattdessen berichtet die Lehrerin davon, dass System|X ihr die:

[…] Möglichkeit [bietet], ähm (…) differenziert zu arbeiten, indem ich zwei Arbeitsblätter zum Beispiel erstelle. Eins für die Schüler, wo ich weiß, äh die müssen wirklich an den Grundlagen gerade mal üben. Die brauchen vielleicht auch noch ein bisschen andere Aufgaben, (.) ähm einfachere Aufgaben. (OI_120221_S5/L2, Z. 99–102)

Sie fügt enthusiastisch hinzu: „Ähm ich genieße es, mit den Büchern zu arbeiten, mir Ideen da rauszuholen und ähm meine Arbeitsblätter selbst zu gestalten“ (OI_120221_S5/L2, Z. 192 f.). Das heißt, für sie ist System|X ein guter Fundus, aus dem sie sich bedient, um die für ihre Klasse angemessenen Aufgaben herauszuholen, nicht aber um auf die vorgegebenen Aufgabensets zurückzugreifen. Anders als die Anbieter erwarten, will die Lehrerin weiter alle Schüler*innen unterrichten – nur mit verschiedenen, das heißt, dem jeweiligen Leistungsniveau entsprechenden Aufgaben, die sie selbst zusammenstellt. Und auch der Lehrer berichtet von dieser Art der Nutzung:

(.) Ähm und dann hab ich tatsächlich anfangs ganz viel in diesen Büchern gestöbert und hab gesehen, da gibt‘s zusammengestellte Übungen. Und habe die dann aufgegeben. (.) Und späte-r, ähm nach ein paar Wochen, hab ich dann äh dieses… die Möglichkeit entdeckt, selber Arbeitsblätter zu erstellen. Und das hab ich dann für mich als äh sinnvoller empfunden, weil ähm ich das besser auf meine Schüler zuschneiden konnte. (OI_100221_S5/L1, Z. 134–139)

Er beschreibt seinen Umgang mit System|X als Entdeckung und Entwicklung: Als ihm bewusst wurde, dass er nicht an die vorgegebene Aufgabenfolge gebunden ist, sondern diese auch selbst zusammenstellen kann, nutzte er diese Funktion. Er begründet dies wie seine Kollegin damit, dass er so die Aufgaben „besser auf [s]eine Schüler zuschneiden“ kann. Gerade der personalisierte Zuschnitt von System|X, mit dem für das Produkt geworben wird, wird von beiden Lehrpersonen nicht erkannt oder genutzt. Sie sehen sich weiterhin in der Funktion genau diese Aufgabe, die sie auch als „Differenzierung“ beschreiben, selbst leisten zu wollen.

Die Analyse der Interviews zum Themenkomplex der (Leistungs-)Differenzierung zeigt die unterschiedliche Pointierung durch die Anbieter einerseits und die Lehrkräfte andererseits. Die Vertreter des System|X betonen, dass sie die Lehrkräfte unterstützen, sich differenzierter den Schüler*innen zuwenden zu können, indem die Adaptivität des System|X einem Teil der Klasse ermöglicht, selbstständig an den Aufgaben zu arbeiten und so Freiräume für die Arbeit der Lehrkräfte entstehen. Aber nur wenige Anmerkungen der Lehrer*innen beziehen sich dezidiert auf diese Differenzierungsmöglichkeit des System|X. Stattdessen behaupten sie ihre pädagogische Eigenständigkeit und stellen sich nicht außerhalb des Prozesses zwischen Schüler*in und Software. In dieser Nutzung wird das System|X zu einem Steinbruch an didaktischen Ideen, aus dem sie sich bedienen, ohne sich gänzlich an die Logik desselben auszuliefern.

Wo es um Leistung und Differenzierung geht, beschreiben die Interviewpartner hier jeweils, wie sie ihre Handlungsräume so gestalten, damit sie Handlungsräume für andere eröffnen. Die Lernsoftware für Lehrkräfte und Schüler*innen; die Lehrkräfte für Schüler*innen. Die Anbieter kartieren das deutsche Bildungssystem als ihr Handlungsfeld. Um die Lernsoftware für ihren spezifischen Kontext im jeweiligen Unterricht zu adaptieren, brechen die Lehrkräfte diese Perspektive durch eine nahe Sicht auf die sozialen, körperlichen, sprachlichen Relationen in ihren Klassen sowie Aspekte ihrer jahrelang eingeübten professionellen Praxis.

3 Fehlertoleranz

Ein wichtiger Aspekt bei der Programmierung von Lernsoftware ist die Prüfung und Rückmeldung zu eingegebenen Antworten. Wie die Rückmeldung zu bearbeiteten Aufgaben erfolgt und wie die Schüler*innen bei falschen Antworten geleitet werden, zu der richtigen Lösung zu gelangen, ist somit für die Entwicklung und für den jeweiligen Einsatz von Lernsoftware im Unterricht zentral. Wird dieser Umgang mit Fehlern von den Lehrkräften im sozialen Miteinander des Unterrichtens eingeübt und gehört daher zum Handlungsfeld von Erziehung und Sozialisation unter den spezifischen Bedingungen der Schule, so tritt nun mit einem digitalen Medium wie dem System|X etwas Neues hinzu, das selbst eine Art des Umgangs mit fehlerhaft bearbeiteten Aufgaben vorgibt. In den Interviews beschreiben die Entwickler ihre Prioritäten bei diesen Rückmeldungen, und die Lehrkräfte geben darüber Auskunft, wie sie das System zu ihrem Handlungsfeld positionieren. Es werden so die jeweiligen konzipierten und für die Praxis vorgesehenen Handlungsräume zur Sprache gebracht.

Sowohl die Lehrkräfte als auch die Anbieter betonen im Interview, den Schüler*innen vermitteln zu wollen, dass es in Ordnung sei, Fehler zu machen. So führt einer der Entwickler aus:

Aber wenn man es [System|X] einmal eingesetzt hat und mitbekommt, was für Hilfestellungen wir geben, was für Feedback und Tipps und Tricks und eben WISSENSlücken, dass man in seinem eigenen Tempo arbeiten kann. Und dass, wenn man Fehler macht, [System|X] nicht sagt: „Och, ey, Alter, das habe ich dir doch schon dreißigmal erklärt. Bist du eigentlich zu doof, das zu verstehen?“ Sondern dass wir es IMMER wieder sagen: „Ist NICHT schlimm. Guck mal hier.“ Wissenslücken zur Verfügung stellen, nochmal Tipps geben. Ähm dann ist das was, was die Schüler gerne machen, lieber als im Buch oder lieber als mit PDFs zu arbeiten. (Int_Entw_3, Z. 207–214)

System|X wird – anthropomorphisierend – als geduldiges und beruhigendes Element präsentiert; es reagiert nicht genervt oder beleidigend, wenn ein Sachverhalt oft wiederholt werden muss. Stattdessen versichert es, dass es „nicht schlimm“ ist, „wenn man Fehler macht“. Es lädt ein, noch einmal hinzugucken und es bietet „Hilfestellungen“ in Form von „Tipps“ und „Wissenslücken“ an. Im Interview wird so System|X mit der Karikatur einer ungeduldigen und genervt agierenden Person verglichen, aber auch mit Büchern und PDFs, die stumm bleiben und keine Rückmeldung zu den Fehlern geben können.

Ähnlich beschreiben auch die Lehrkräfte, dass sie vermitteln wollen, dass Fehler nicht schlimm sind. Auf die Frage, wie sie den Schwierigkeiten der Schüler*innen begegnet, antwortet die Lehrerin:

Hm ich begegne ihnen insofern, dass ich sage, es ist nicht schlimm, etwas falsch zu haben. (.) U-nd ic-h frag die Schüler zurzeit auch im Fernunterricht häufig, kannst du mir ein Foto oder einen Screenshot davon schicken? (.) Die Schüler machen ganz häufig Screenshots mittlerweile schon von selbst, wenn sie etwas richtig oder etwas falsch haben, so dass ich dann nochmal genau das Problem angucken kann. (.) Ähm (…) es ist nicht immer verkehrt, was die Schüler machen. Das sind häufig nur so ganz kleine (.) Kleinigkeiten, die da vielleicht fehlen, wo das Programm dann aber auch schon sagt, nee, (.) das ist so nicht richtig. Ähm und da spreche ich dann einfach mit den Schülern auch drüber. (OI_120221_S5/L2, Z. 54–61)

Die Lehrerin antwortet, dass sie ihrer Klasse versichert, dass es nicht schlimm sei, etwas falsch zu machen. Das Wort „Fehler“ taucht in diesem Abschnitt nicht auf, sondern „etwas falsch“, „davon“, „fehlen“, „so nicht richtig“, „drüber“. Sie schaut sich „genau“ die Stelle an, an der etwas falsch war, zum Beispiel während der pandemiebedingten Schulschließungen anhand der Screenshots, die Schüler*innen ihr schicken. Die Lehrerin beschreibt, dass sie so sieht, dass es oft nur kleine Aspekte einer Aufgabe sind, die nicht korrekt eingegeben werden, aber das System dies dennoch als Fehler anzeigt. Wo der Vertreter des System|X von Hilfestellungen und Tipps spricht, das heißt, ein Input zum Problem vonseiten des Systems erfolgt, bringt die Lehrkraft sich selbst aktiv ein: Sie spricht mit den Schüler*innen über die jeweilige Aufgabe oder Stelle. Für sie ist dieses Sprechen „einfach“; es liegt nahe. Das Sprechen könnte ebenfalls Hilfestellungen und Tipps bedeuten, aber es könnte auch auf ein Nachfragen hinweisen. Die Lehrerin könnte so mit der Schülerin in einen Dialog über den angezeigten Fehler treten; sie könnte die Schülerin zum Nachdenken darüber bringen. In diesem Auszug vergleicht also die Lehrerin die Rückmeldung zu Fehlern durch das System|X nicht mit stumm bleibenden Büchern und PDFs, sondern mit ihrem eigenen Tun. Sie sieht, dass System|X nur eine Rückmeldung geben kann, ob etwas richtig oder falsch ist, während sie als Lehrperson differenzierter auf das Spezifische der Antwort oder den Lösungsweg eingehen kann. Wo das System die Aufgabe als Ganzes betrachtet, identifiziert die Lehrkraft aus dieser Perspektive Teilaspekte der Aufgabe und der Schülerin.

Sowohl in den Interviews mit den Anbietern als auch in denen mit den Lehrkräften wird ein geteiltes Verständnis für Fehler als notwendiger Schritt beim Lernen artikuliert: Fehler zu machen oder etwas falsch haben, ist aus beiden Perspektiven „nicht schlimm“. Ziel ist es, diese Toleranz für Fehler den Schüler*innen zu kommunizieren, sodass sie weiter lernen. Die Vergleichsebene für beide ist allerdings unterschiedlich: Aus Entwickler*innenperspektive reagiert das System mehr auf einzelne Schüler*innen als statische Bücher oder PDFs. Das technische System teilt nie Ungeduld, Frustration oder Schroffheit, die Personen bei wiederholten Fehlern zeigen können, mit. Aus Lehrer*innensicht ist die Reaktion des Systems allerdings zu stumpf. Es geht weniger differenziert als die Lehrkraft auf einzelne Aufgabenbereiche oder Schüler*innen ein. Gerade diese Sichtweisen ziehen sich durch die weiteren Erzählungen zum Umgang mit Fehlern aus beiden Perspektiven.

Ein Interviewpartner von System|X nimmt explizit Stellung zu der Kritik der Lehrkraft – ohne diese gehört zu haben:

Bei uns auf der Website sind Videos [für Lehrkräfte bzw. Kund*innen], da kann man sich es angucken, wie es funktioniert. Also das ist dann nicht, ähm, einfach die Aussage richtig, falsch oder das ist die Lösung, sondern dass es erklärt, warum. (Int_GF_2, Z. 217–220)

Auch der weitere Interviewpartner vom System|X betont, es gehe nicht nur um richtig oder falsch, sondern auch um Erklärungen.

Und ähm deswegen ist UNSER Ansatz eher, dass wir sagen, VIDEOS sind super, um in ein Thema reinzuführen, ja? Und auch GERNE zwischendrin nochmal, um sich vielleicht nochmal eine andere Sichtweise anzugucken. Aber die FEHLER, die muss der Schüler machen. Das heißt, der setzt sich bei uns hin, kriegt eine Aufgabenstellung und dann fängt der an zu arbeiten. Dann gibt der halt was EIN. Und [System|X] sagt ihm: „Nee, [Max], das ist falsch. WEIL Punkt, Punkt, Punkt, Punkt.“ Er kriegt einen Tipp, er kriegt einen Lösungsweg angezeigt, der ihm erklärt, speziell auf seine Eingabe bezogen, warum das jetzt falsch ist. Und was er hätte anders machen können. So. Und durch dieses Fehlermachen und sich dann die, die Lösungswege und das Feedback anzugucken oder die Hilfestellung, fängt er an, das zu verstehen. (Int_Entw_3, Z. 522–532)

Die Warum-Frage wird hier betont. Das System ist so programmiert, nicht nur richtig oder falsch anzugeben – wie andere Mathematikprogramme auf dem Markt – sondern eine Erklärung dafür anzubieten, warum die Eingabe nicht richtig war. Diese Erklärung wird durch Feedback, Lösungswege oder andere Hilfestellungen gegeben. Das System, so der Anbieter an anderer Stelle, soll Schüler*innen „auf jede Eingabe eine didaktisch sinnvolle Rückmeldung“ (Int_GF_2, Z. 129–130) geben. Es wird jeder Aufgabenstand „anschaulich mit den Werten der Aufgabe erklärt, falls die Anregungen und Feedbacks nicht reichen“ (Int_GF_2, Z. 130–131). Gerade durch „dieses Fehlermachen“ und die Erkundung des Feedbacks sollen Schüler*innen die Aufgaben und Lösungen verstehen können.

Auch hier werden also Fehler als notwendiger Schritt beim Lernen betrachtet. Das Lernen findet dann durch die Auseinandersetzung mit dem Input zum jeweils spezifischen Fehler statt. Adaptiv ist hier das automatisierte Angebot der spezifischen Hilfestellung, die zu diesem Fehler passt. Mit dem neuen Wissen wenden Schüler*innen sich der nächsten Aufgabe zu.

Und mit dem Wissen geht er dann in eine Übungsserie, die genau eine bestimmte Kompetenz vermittelt, in die nächste Aufgabe rein und kann das Wissen anwenden. Und wenn dann eine Übungsserie zu Ende gerechnet wurde, und es sind noch Fehler drin, dann ist tatsächlich häufig eine Motivation bei den Schülern da, dass sie nochmal rechnen. (Int_GF_2, Z. 220–224)

Das Wissen um die richtige Lösung, das Schüler*innen sich an bereits gelösten Aufgaben erarbeitet haben, können sie nun für die neue Übungsserie verwenden. System|X bietet in diesem Sinne ein Hin- und Herpendeln zwischen Input und Anwendung. Wenn die Schüler*innen im System sehen, dass nicht alles richtig (grün) gelöst wurde, so berichtet der Anbieter, dass sie „häufig“ motiviert sind, die Übungsserie noch einmal zu rechnen oder eine andere desselben Themas, um am Ende weniger Fehler zu sehen. Die sofortige Sichtbarkeit der Fehler – anders als bei Büchern oder statischen PDFs – erhöht aus dieser Sicht die Motivation, am Thema dran zu bleiben. Das System zielt für die Anbieter auf das eigenständige Lernen der Schüler*innen.

Und, äh, in dieser Kombination von, äh, ähm, individuellen Rückmeldungen, den Hinweisen darauf, welche Fehlvorstellungen man grade hat und wie man überwinden kann und dem individuellen Lernpfad, erreicht man, dass Schüler nicht in Sackgassen kommen und dass sie eigenständig lernen können. Diese Eigenständigkeit ist aber natürlich nur eine, äh, Ergänzung zu den Aktivitäten des Lehrers, niemals ein Ablösen. (Int_GF_2, Z. 129–134)

Der Fokus liegt auf einzelnen Lernenden, die „individuelle Rückmeldungen“ auf ihre spezifischen, mathematischen „Fehlvorstellungen“ erhalten und dadurch „eigenständig lernen“ können. Diese Eigenständigkeit wird „nur“ als „Ergänzung“ zur Lehrkraft bestimmt. Dabei werden weder die „Aktivitäten“ der Lehrkraft im Interview näher spezifiziert, noch die Art und Weise der Hilfestellung, die eine Lehrkraft in Ergänzung zu System|X anbieten kann, identifiziert.

Die Lehrkräfte selbst beschreiben hingegen verschiedene Konstellationen, in denen ihre differenzierten Blicke auf die Eingaben im Mathematikprogramm notwendig waren, um die Art des Fehlers zu erkennen und mit den Schüler*innen zu bearbeiten. So erwähnen sie, beispielsweise, die erwartbaren Vorkenntnisse der Schüler*innen.

Ähm da tatsächlich äh muss ich [System|X] loben. Äh es gibt ja quasi auf der auf der Überblicksseite so eine äh Top fünf fehlerhafte Aufgaben. Und da, genau, seh ich zum Beispiel, bei der einen Übung ähm äh hatte ich jetzt ein Beispiel, da hat das nicht ein einziger Schüler äh geschafft. (.) Und da hab ich festgestellt, oh, da gabs einen Begriff, ähm den hatte ich quasi übersehen. Den konnten sie noch gar nicht kennen. (OI_100221_S5/L1, Z. 369–375)

Der Lehrer nutzt die programminterne Übersicht über die „Top fünf fehlerhafte[n] Aufgaben“, um zu erkennen, dass in einer Übung ein Fachbegriff verwendet wird, den die Klasse noch nicht kennengelernt hat. Die Übersicht hilft ihm zu erfassen, dass die Aufgabe wegen notwendiger Vorkenntnisse für diese Schüler*innen unlösbar war. Ähnlich erwähnt die Lehrerin eine Situation, in der ihre „wirklich stärkste Schülerin“ „verzweifelt“ auf sie zukam und berichtete, dass sie den Begriff aus dem Vorwissentest nicht kenne und die Aufgabe nicht lösen könne. Daraufhin habe die Lehrerin den Vorwissentest genauer angeschaut und gemerkt, dass er „wirklich das Wissen der Schüler einfach so überstiegen“ habe (OI_120221_S5/L2, Z. 121 f.), sodass sie nun nicht mehr mit den Vorwissentests arbeitet.

Beide Beispiele deuten auf die genaueren Kenntnisse hin, über die Lehrkräfte im Hinblick auf ihre Lerngruppen verfügen, als dies bei einem System, das deutschlandweit für Schüler*innen entwickelt wurde, möglich ist. Wo die Lehrerin erwartet, dass der Vorwissentest auf einem angemessenen Niveau für die Altersgruppe angeboten wird, hatte der Lehrer den Begriff „übersehen“. Einsetzbar ist in beiden Fällen das System bei diesen Schüler*innen nur nach Einschätzung der Lehrkraft zur Angemessenheit der Fachbegriffe und des Niveaus.

Die Lehrkräfte nutzen auch ihr lerngruppenspezifisches Einschätzungsvermögen, um Fehler als mögliche motorische Probleme oder Probleme beim Umgang mit Computern und Software zu identifizieren.

{zeigt mit dem Cursor auf die Linie, die falsch gezogen wurde} Und dass es hier komplett richtig ist, (.) aber dass der hier vielleicht nicht auf den anderen Punkt noch gezogen werden konnte. (.) Da finde ich es jetzt gut, dass (.) hm [System|X] {lauter} Gelb gegeben hat, sozusagen als fast richtig. (…) Ja. (.) Aber ich kann mir auch vorstellen, dass es ein, ein motorisches Problem war. (.) Und nicht, dass es Unkenntnis über die Aufgabenstellung war. (OI_120221_S5/L2, Z. 813–818)

Mit Bezug auf konkrete Aufgaben beschreibt die Lehrerin, wie ein Schüler die Aufgabe „fast richtig“ beantwortet habe. Sie findet gut, dass das System die Eingabe mit Gelb markiere, also nicht gleich in Rot etwas anzeige, auch wenn es nicht richtig sei. Sie sucht nach einem Grund, warum die Aufgabe nicht korrekt abgeschlossen wurde und findet ihn in den „motorischen“ Schwierigkeiten des Schülers, die Linie zu ziehen. Hier zeigt sich noch einmal der Unterschied in der Beurteilung zwischen Lehrkraft und System. Das System selbst kann nicht einschätzen, ob ein Fehler ein mathematischer Fehler oder eine Fehlvorstellung ist oder ob ein motorisches Problem bei der Handhabung der Maus oder bei den Fingerbewegungen auf dem Bildschirm vorliegt. Die Lehrerin kann auf den Kontext blicken und setzt die fehlerhafte Aufgabe ins Verhältnis zu der anderen Aufgabe, die dieselben mathematischen Kenntnisse verlangt und „komplett richtig“ gelöst wurde. Dagegen haben andere Fehler ihren Grund in der Handhabung des Geräts und nicht der Software.

Da passiert was und, oh Gott, dann, Frau L2, ich habe was gemacht, und (.) ähm …. Da wissen sie auf einmal nicht mehr weiter. Und sie können das Problem auch nicht lösen, indem sie einmal auf Zurück klicken. Das können einige, das können auch ähm ein paar mehr Schüler, aber es können nicht alle. Gerade, wenn wir auch ähm … (..) Ja, es sind nicht nur die Kinder mit Förderstaten, es sind viele Kinder, die einfach dieses … äh diesen Umgang auch (.) mit äh Onlineprogrammen (.) noch nicht so verinnerlicht haben. (OI_120221_S5/L2, Z. 267–276)

Die Lehrerin betont, dass einige Schüler*innen gut mit den Geräten umgehen können, aber andere – und nicht nur Schüler*innen mit besonderem Förderstatus – noch nicht gelernt haben, wie sie sich selbst zu einem früheren Punkt oder einer vorherigen Information oder Aufgabe zurücksetzen können. Um das Mathematikprogramm selbstständig nutzen zu können, müssten sie auf einer Metaebene gelernt haben („verinnerlicht haben“), wie sie selbstständig mit Computern, Apps und Webseiten umgehen können. Aber Selbstständigkeit ist noch nicht bei der 5. Klasse gegeben, sondern als Ziel gesetzt.

Und wir wollen sie ja zur Selbstständigkeit erziehen. (.) Deswegen, wenn ich zum Beispiel im Präsenzunterricht (.) mit [System|X] gearbeitet hab, dann hab ich meinen Schülern auch den Hinweis gegeben, hey, schau dir doch mal da das Beispiel an. (.) Das bekommst du ganz einfach, indem du da raufklickst. (.) Das haben die Schüler auch gemacht. (.) Das Problem ist halt, dass sie auch zum Teil noch nicht genau lesen. (…) Und ähm die Schüler sind (.) noch nicht s-o (.) dabei, dass sie sich das auch zweimal oder dreimal durchlesen. (.) Gerade auch sprachschwache Schüler haben vielleicht mit der Fachsprache dann auch (ein Problem). (…) Ähm (.) das war wirklich ähm (.) Mühe, das einmal einzuführen {leise} bei uns in der Klasse. (OI_120221_S5/L2, Z. 477–485)

Ein Teil der Arbeit der Mathematiklehrerin besteht – ganz im Sinne der fächerübergreifenden digitalen Kompetenz der KMK Strategie (KMK 2016) – darin, in die Computerhandhabung einzuführen. Sie weist die Schüler*innen darauf hin, wo geklickt werden muss, um sich ein Beispiel anzuschauen und stützt sie darin, die Handhabung der Software „ganz einfach“ hinzubekommen. Diese Handhabung ist allerdings im System|X direkt mit Fachwissen verknüpft. Dieses Fachwissen wird im System|X über Texte zugänglich gemacht, die gelesen, eventuell sogar zwei- oder dreimal durchgelesen werden müssen, um sie als Hilfestellung nutzen zu können. Diese Schwierigkeiten bei der textbasierten Form der Hilfestellung merkt die Lehrkraft an:

Ähm oft ähm hapert es tatsächlich, auch wenn es um Mathe geht, tatsächlich an der Sprache. Ähm also ich-h äh nutze zum Beispiel parallel auch die App [Alternativsystem|A]. Und wenn ich jetzt zum Beispiel dies … das {lauter} Einsteigerniveau von [Alternativsystem|A] und System|X vergleiche, ähm (.) basiert ähm System|X … die Erklärungen erstmal deu- sind deutlich textbasierter. (OI_100221_S5/L1, Z. 71–75)

Weil die Erklärung in dieser adaptiven Lernsoftware „deutlich textbasierter“ als bei vergleichbarer (nicht-adaptiver) Software sei, „hapert“ es bei einigen Schüler*innen. Rekurrierend auf die langjährige Forschung zur Bedeutung von Sprache für alle Fächer, inklusive der Mathematik, beschreiben beide Lehrkräfte die Herausforderung für einige Schüler*innen, wenn Erklärungen, Feedback und weitere Hilfestellungen – auch beim „Einsteigerniveau“ – durch schriftliche Texte erfolgen.

Insgesamt beschreibt der Lehrer, wie die Nutzung dieser Lernsoftware bei Schüler*innen, die Mathematik in der Schule als Herausforderung erleben, demotivierend wirken kann.

Ähm tatsächlich, ähm die etwas lernschwächeren Schüler, die ich angesprochen habe, die haben, (.) wenn ich dann doch mal sage, ähm (.) ne, jetzt ist eine Aufgabe in System|X äh quasi eine Übung für dich, sind sie {lauter} teilweise ein bisschen demotiviert, weil sie die … ähm das Feedback halt kriegen, dass sehr viel falsch ist. (.) Ähm und dann erscheint ja auch oft äh, ne, also quasi äh der, der rote Smiley. (OI_100221_S5/L1, Z. 272–277)

Der Lehrer hebt hervor, dass sie symbolische Rückmeldung eines rot-gefärbten Smileys dazu führe, dass Schüler*innen, die nicht als leistungsstark gelten, „teilweise ein bisschen demotiviert“ werden. Der Lehrer drückt es vorsichtig aus, nur „teilweise“ und „ein bisschen“, aber demotivierend zu wirken ist das Gegenteil des Zieles des Anbieters.

Als Resümee dieses Abschnitts zum Umgang mit Fehlern kann festgehalten werden, dass sowohl Softwareanbieter als auch Lehrkräfte Fehler als notwendigen Schritt beim Lernen hervorheben. Beide beschreiben sich selbst als fehlertolerant. Aus ihrer Sicht versichern sie sowohl technisch als auch persönlich den Schüler*innen, dass es nicht schlimm sei, etwas falsch gelöst zu haben. Dennoch entfaltet sich ein Ringen um die Handlungshoheit über die Vermittlung dieser Fehlertoleranz. Das System wird vom Anbieter als unterstützend positioniert, zeigt aber rote Smileys, wenn die Antworten falsch sind, was von der Lehrkraft als demotivierend beschrieben wird, vor allem bei Schüler*innen, die Mathematik – oder das fachliche Lernen insgesamt – als Herausforderung erleben, die als lernschwach gelten oder Schwierigkeiten beim Lesen der textbasierten Hilfestellungen haben. Die Selbstständigkeit wird aus Anbietersicht durch die adaptive Plattform gefördert. Von den Lehrkräften wird sie dagegen als Zukunftsziel gesehen, das es noch zu etablieren gilt. Wird ein Vergleich zu potenziell ungeduldigen Lehrkräften oder statischen und damit nicht-responsiven Büchern und PDFs gezogen, wird eine individualisierte, geduldige Feedback gebende Software hervorgebracht. Aber in einem alternativen Vergleich zu adaptierenden Lehrkräften, die ihre Schüler*innen kennen und auf sie eingehen, erscheint das Feedback unpräzise, manchmal demotivierend und die Einschätzung der (mathematischen und sprachlichen) Vorkenntnisse fehlerhaft. Insgesamt zielt System|X darauf, eigenständig Rückmeldungen zu Eingaben zu geben, die das System als Fehler identifiziert hat, um die Schüler*innen beim Lernen zu unterstützen. Diese Fehler können jedoch aus Sicht der Lehrkräfte im Unterrichtskontext so vielfältige – nicht nur mathematische bzw. kognitive – Bezüge haben, dass die Lehrkräfte sich als essenziell für die Fehleridentifikation und die Vermittlung von Feedback einschreiben.

4 Belohnen

Lernsoftware beschränkt sich meist nicht nur auf die Rückmeldung von richtigen und falschen Antworten, sondern vergibt Punkte, die sich zu höheren Symbolwerten akkumulieren können. Das heißt, Lernsoftware „belohnt“ die Schüler*innen selten allein nur mit dem Verstehen der Sache (Gruschka 2019). Gleichwohl stehen die Punkte und Symbolwerte in einer Beziehung zum Unterrichtsgegenstand, denn sie sollen angeben, wie gut die Schüler*innen die Aufgaben beherrschen. Dieses Beherrschen wird nun in Punkten oder Symbolwerten ausgedrückt, was neben den Noten ein weiteres Element im Unterricht einführt. Zugleich versucht diese Art der Rückmeldung, die meist nicht von den Lehrer*innen verändert werden kann, sondern fest in das System einprogrammiert ist, eine Nähe zu Videospielen herzustellen, bei denen die Komplexität mit jedem über Punkte oder andere Symbolwerte zu erreichenden höheren Level und damit auch der Reiz des Spieles steigt. Die Vor- und Nachteile und Wirkkraft dieser als gamification bekannten Prozesse sind vielfach diskutiert worden: Als Vorteil werden, unter anderem, die Motivationseffekte hervorgehoben (z. B. Luria et al. 2021). Als Nachteil wird zum Beispiel die Stärkung der Konkurrenz unter Schüler*innen durch die Sichtbarkeit des jeweiligen Erfolgs oder Versagens betont (z. B. Buck 2017). Weitere Studien verweisen auf die Verstärkung des Behaviorismus in Schule und Unterricht durch digitale Belohnungssysteme (Watters 2021) oder analysieren, wie spielerische Belohnungselemente in Lernsoftware spezifische, sozio-emotionale Verhaltensweisen normalisieren und verstärken (Williamson 2017). In diesem Beitrag interessieren uns, wie eingangs beschrieben, vor allem die Spannungen bei den sozio-technischen Praktiken der Belohnungen: Wie funktioniert Belohnen in und mit System|X? Wie beschreiben Anbieter und Lehrkräfte in den Interviews, wer wen wofür belohnt und warum? Welche Überlappungen und Spannungen entstehen zwischen den jeweiligen Beschreibungen?

In System|X werden für jede Aufgabe Punkte vergeben, die sich zu einer Gesamtpunktzahl eines Aufgabensets summieren. Diese akkumulieren sich zu Münzen und diese wiederum zu Sternen. In den Interviews berichten die Softwareanbieter von positiven Rückmeldungen der Lehrer*innen zum Belohnungssystem in System|X. Sie beschreiben Lehrende, die es durch die Punkte, Münzen und Sterne schaffen,

[…] ihre ganze Klasse, äh, zu mobilisieren, indem sie, äh, sagen, ähm, ich zähle an, ich guck mal, wie viel Sterne ihr gesammelt habt. Und dann gibt es ganz viele Schüler, die solange die Aufgabenserien wiederholen, und wie gesagt, mit immer neuen Werten, heißt, das ist kein Auswendiglernen, das ist wirklich ein toller Übungseffekt, bis sie einen Stern haben. (Int_GF_2, Z. 914–919)

In dieser Darstellung des Anbieters tritt durch die Sterne einerseits die Klasse als Team in Erscheinung, aber andererseits auch der*die einzelne Schüler*in, der*die nun durch die Sterne zum Üben im Sinne eines mehrfachen Bearbeitens der Aufgaben nahezu überlistet wird. In diesem Verständnis spornt das System die Einzelnen und indirekt auch die Klasse an, die Aufgaben so lange zu wiederholen, bis der höchste Symbolwert erreicht wird. Im weiteren Interview führt der Anbieter aus, was mit den Sternen getan werden könnte. Seine Vorschläge sind auf den Eintausch der erlangten Münzen und Sterne gerichtet:

Du als Lehrer könntest natürlich sagen, wer zehn Sterne gesammelt hat, das ist schon echt schwer, der kriegt dann einmal hausaufgabenfrei. Oder es gibt halt auch Schulen, die sagen halt, wer so und so viel Sterne gesammelt hat, der darf sich im Sekretariat ähm (-) äh ein Gimmick abholen, die haben dann einen/ eine, eine Baseballkappe von der Schule oder es gibt dann ein Hoodie von der Schule, KEINE Ahnung, was die da so alles haben. (-) Äh oder eben man bindet die Leh/ die Eltern mit ein und sagt den, den Eltern: Guckt doch mal regelmäßig drauf. Und wenn dein Kind so und so viel Sterne oder Münzen gesammelt hat, (-) dann wäre doch eine schöne Belohnung, dem Kind einen Kinogutschein zu schenken. (Int_Entw_3_Z. 757–765)

Er gibt sich nicht mit dem bloßen Erreichen der Symbolwerte in System|X zufrieden, sondern will diese entweder als Tauschobjekt in der Schule oder im Elternhaus verstanden wissen. Wie üblich bei Belohnungssystemen liegt damit die Belohnung für das Erreichen nicht in den Aufgaben und damit im Verstanden-Haben der Sache selbst, sondern bedarf der Befriedigung eines anderen Bedürfnisses. System|X lagert allerdings auch dieses weitere Bedürfnis aus der Lernsoftware aus: Das Sammeln von Sternen und Münzen schaltet zum Beispiel kein Spiel und keine erweiterten Features wie Avatargestaltungsmöglichkeiten innerhalb von System|X frei. Stattdessen liegt die Belohnung hier als „Gimmick“ oder als „Kinogutschein“, also als etwas, was Kindern außerhalb der Schule Freude machen könnte. Im Gewähren von Hausaufgabenfreiheit werden nicht nur die einzelnen Schüler*innen belohnt, sondern sichtbare „Gewinne“ können unter Schüler*innen verglichen werden. Grundsätzlich ist System|X so gestaltet, dass die Nutzung dieser Symbolwerte nicht in der Hand von System|X liegt, sondern in den Entscheidungsspielraum der Lehrkräfte oder Eltern gelegt wird: „wir sagen: ‚Das, das musst du, lieber Lehrer, entscheiden, wie du das einsetzt, ja?‘“ (Int_Entw_3, Z. 825–826).

Im Falle der beiden von uns interviewten Lehrpersonen werden die Sterne und Münzen eher zurückgewiesen. Die Lehrerin ist der Ansicht, dass Symbolwerte als Rückmeldung oder Belohnung für geleistete Aufgaben eher in die Grund- als in die Sekundarschule passen. Sie führt im Interview aus:

Ein Belohnungssystem wie Münzen, wie man häufig in der Schule hat, so hier, das sind die Sternchen-Schüler, die immer irgendwie sich einen Sticker aussuchen dürfen, haben wir in der weiterführenden Schule nicht mehr. […] Ich denke, dass System|X ein Programm ist, das besser in der Sekundarstufe angesiedelt ist. Und da frag ich mich, warum man denn dieses Münzsystem noch braucht? (.) Wenn man aber von dem Programm dafür (.) keinen Mehrwert hat wie in [Alternativsystem|A], dass Spiele freigeschaltet werden. Was äh von selbst ein viel größerer Antrieb und eine größere Motivation für die Schüler ist. (OI_120221_S5/L2, Z. 906–918)

Für sie ist ein solches Belohnungssystem inadäquat für eine weiterführende Schule, weil es auf das bloße Sammeln von Münzen und Sternen begrenzt sei und sie dies eher als eine kindliche Art und Weise betrachtet, das Schüler*innensein zu belohnen. Denn „welchen Nutzen haben die Münzen, außer zu sagen, hey, du hast die und die Aufgaben alle schon geschafft, bearbeitet“ (OI_120221_S5/L2, Z. 895 f.). In dieser Perspektive wird von ihr erneut als Gegenmodell ein bekanntes alternatives Mathematiklernprogramm eingebracht. Bei diesem Alternativsystem|A werden auch Symbolwerte erzielt, die dort aber innerhalb des Systems für etwas anderes, nämlich außerunterrichtliche Videospiele eingetauscht werden können. Aus ihrer Sicht seien Sternchen und Münzen als Sammelobjekte für Grundschulkinder „noch“ genug, aber ältere Schüler*innen wollten diese gegen etwas eintauschen, woran sie Freude haben. Dementsprechend kommentiert die Lehrerin auf eine eigene Art und Weise die Erfahrungsberichte der Anbieter. Sie selbst nutzt die spezifischen Symbolwerte des System|X nicht; verweist darauf, dass sie bereits Belohnungssysteme in der Klasse etabliert habe, die anderen Zwecken dienen. Es handelt sich um solche, „wo (.) der Zusammenhalt der Klasse gestärkt wird, (.) wo ich gucke, hat die ganze Klasse das und das geschafft?“ (OI_120221_S5/L2, Z. 905 f.). Das heißt, außerhalb der Lernsoftwarenutzung positioniert sie sich positiv zu Belohnungssystemen, die sie unterstützen, die Klasse als Team zu formieren: Diese dienen einem dezidiert erzieherischen Ziel, nämlich der Herstellung einer Klassengemeinschaft; nicht primär dem Lernfortschritt des*der einzelnen Schüler*in.

Anders der Lehrer. Dieser berichtet davon, dass die Schüler*innen sich an der vom System zurückgemeldeten Punktzahl orientiert und dies auch als Ansporn genommen haben, „weil sie natürlich dann nochmal schauen können, äh ich mach vielleicht eine Übung nochmal, äh weil ich will da unbedingt die hundert Prozent schaffen. Ähm also das war auf jeden Fall ein Anreiz, ja“ (OI_100221_S5/L1, Z. 219–222). Er konnte beobachten, dass Schüler*innen seiner Klasse, die Systemrückmeldungen als Hinweis interpretiert haben, Aufgaben erneut zu machen, um sie letztendlich vollständig richtig zu lösen. Dass dies so angenommen wurde, liegt nach Ansicht des Lehrers an Erfahrungen mit anderen Programmen:

Ähm ich g- ich glaube, es ist ein Faktor tatsächlich, weil ähm sie das natürlich auch aus anderen Apps kennen, die wir eingeführt haben, generell dieses, dieses Feedback-System mit Sternen, Münzen, äh Smileys ist ja je, je nach Programm unterschiedlich, aber es ist halt ein, ein sofortiges Feedback. Ähm (.) und (.) viel--e (.) viele meiner Schüler sind dann, ich weiß nicht, nicht unbedingt in einem Wettbewerbgedanken mit der Klasse, aber auch so ein bisschen mit sich selber (.) so, okay, äh ich versuche es nochmal. (OI_100221_S5/L1, Z. 228–234)

Er hebt hervor, dass die Münzen ein direktes Feedback den Schüler*innen geben, das sie bereits von anderen Plattformen kennen. Mit einem „natürlich“ weist er auf die zunehmende Normalisierung von solchen Belohnungssystemen in der Schule hin. Auch er macht auf die doppelte Funktion im Hinblick auf die Klasse und auf die einzelnen Schüler*innen aufmerksam. Er weist die Erwartung, die Sterne und Münzen würden den Wettbewerbscharakter unter Schüler*innen verstärken, zurück, aber lässt noch Raum für diese Möglichkeit – „nicht unbedingt“, „so ein bisschen“.

Sterne, Münzen und weitere spielerische Belohnungselemente sind zur Selbstverständlichkeit bei Lernsoftware, Apps oder Plattformen geworden. System|X verfügt wie jede Lernsoftware über Bewertungssysteme, die oftmals als Belohnungssysteme konzipiert sind. Es trägt damit ein System in den Unterricht hinein, das, auch wenn es früheren Belohnungsmöglichkeiten ähnlich sein mag, nicht von den Lehrkräften selbst erstellt wurde und das, wie im Fall von System|X, auch nicht von diesen angepasst und verändert werden kann. In diesen Auszügen betonen alle Interviewpartner*innen die sozialen Prozesse, die durch die Belohnung in Gang gesetzt und am Laufen gehalten werden, statt der einschlägigen Outcomes oder Erfolgsmeldungen. Es geht darum, die Klasse zu mobilisieren, weiter zu üben – nicht darum, erfolgreich abzuschließen; die Klassengemeinschaft zu stärken – nicht darum, die Konkurrenz zu stärken – und sich selbst in ein Verhältnis zu den eigenen Leistungen zu setzen, um sich zu verbessern – nicht darum, besser zu sein als andere Schüler*innen.

Gleichzeitig stehen die Positionierungen zu dem, was belohnt wird und wie belohnt wird, in Spannung zueinander. Die Anbieter stellen die Belohnungsstruktur als grundsätzlich motivierend dar. Sie verorten die Belohnungssysteme aktiv als Anreize im Unterricht, die zur Lösung des nächsten Aufgabensets motivieren. Die Lernsoftware setzt dabei fest, was belohnt werden soll. Die Anbieter geben dann den Lehrkräften die Entscheidungshoheit darüber, wie mit den Sternen und Münzen umgegangen wird. Die Lehrkräfte erweitern allerdings den ihnen von der Lernsoftware zugewiesenen Handlungsspielraum, in dem sie die grundsätzlicheren Entscheidungen aufgreifen, was überhaupt belohnt werden soll und warum. Dies schließt zum Teil die Ablehnung des angebotenen Münzsystems ein und schafft eine Etablierung alternativer Belohnungssysteme mit anderen Prioritäten. Dennoch sehen die Lehrkräfte auch durchaus, dass der Wettbewerbsgedanke, vor allem im Wettbewerb mit sich selbst, zu einem Wiederholungseffekt führt, den sie positiv bewerten. Auffällig ist, dass die Anbieter nicht thematisieren, in welchem Verhältnis diese Belohnungsstruktur der Software zur bestehenden in der Schule und im Unterricht steht. Gerade diese soziale Kontextualisierung nehmen die Lehrkräfte in den Interviews vor.

5 Reflexion und Fazit

Dieses Kapitel ging anhand von Interviews mit Anbietern von adaptiver Lernsoftware und Lehrkräften, die diese Software im Unterricht einsetzen, der Frage nach, welche Spannungen und Ambivalenzen zwischen Konzeption und Einsatz einer Lernsoftware sichtbar werden. Die Interviewpartner*innen positionierten sich zu Handlungsräumen, die durch die Lernsoftware vorstrukturiert, erwartet, ergriffen, umgewandelt oder zurückgewiesen werden. Diese Spielräume wurden im Hinblick auf die drei Aspekte der Leistungsdifferenzierung, der Fehlertoleranz sowie des Belohnens näher bestimmt. In diesem Abschnitt reflektieren wir, erstens wie das Ringen um Handlungsspielraum mit einer Spannung zwischen Eigenständigkeit und sozialer Einbettung einhergeht und zweitens wie „neue“ Formen der vermittelten Vermittlung die Frage adressieren, ob – und wenn ja, wie – Schule mit adaptiver Software und Plattformen neukonfiguriert wird.

Erstens zieht sich über die drei Aspekte ein Ringen um die Handlungsräume bei der Adaption der Software. Unsere erste These war abstrakt: Durch die unterschiedlichen Handlungsräume, die die Anbieter der Lernsoftware und Lehrkräfte für sich selbst reklamieren und sich gegenseitig zuweisen, wird sichtbar, wie jede postulierte Wirkung eines adaptiven Lernsoftwareprodukts durch den adaptierenden Einsatz in spezifischen, situierten, sozialen Unterrichtskontexten irritiert und unterbrochen wird. Unsere zweite These spezifizierte diese Beobachtung mit Blick auf eine Spannung, die sich um Eigenständigkeit und soziale Einbettung dreht, die beim Ringen um Handlungsspielraum durchgehend artikuliert wird. Die Anbieter beschreiben System|X als adaptiv. Sie kontextualisieren es im gesamten deutschen Bildungssystem. Ihre Überlegungen betreffen alle Schüler*innen. In diesem (übergreifenden) Kontext wird die eigenständige Nutzung durch Schüler*innen priorisiert – wenngleich die Anbieter betonen, dass System|X die Lehrkräfte nicht ablösen soll. Die Lehrkräfte beschreiben sich selbst als adaptierend. Sie kontextualisieren System|X in den Texturen der alltäglichen Praxis im Unterricht, in der eine eigenständige Nutzung immer schon auch sozial ist. Ihre Überlegungen betreffen ihre Schüler*innen. In diesem (situierten) Kontext wird die Einbettung der Lernsoftware im sozialen, materiellen, körperlichen, sprachlichen, symbolischen Gefüge des Unterrichts priorisiert.

Diese Spannung zwischen Eigenständigkeit und sozialer Einbettung wird sichtbar, wenn das Team von System|X in seinen Beschreibungen große Ziele betont, wie Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit, ein hohes Maß an Fehlertoleranz und die Mobilisierung der ganzen Klasse durch unterschiedliche Belohnungssysteme, die mit der Adaptivität verwirklicht bzw. zumindest unterstützt werden sollen. Gerade eine adaptive Lernsoftware, so diese Sicht, die allen Schüler*innen in Echtzeit individuell Rückmeldung und Hilfestellungen geben kann und die eigenständige Arbeit erleichtert, könne schulischen Erfolg unterstützen. In den Aussagen der Lehrkräfte wird dagegen eher die soziale Situation hervorgehoben. Der Einsatz von System|X erscheint als chancenungerecht oder -ungleich, wenn die Lehrer*innen Eigenständigkeit eher als ein pädagogisches Ziel, denn als eine Voraussetzung betrachten. Die Komplexität der Leistungsdifferenzierung, die im Einzelfall demotivierende Visualisierung von Fehlern durch das System und die Notwendigkeit, alternative Belohnungsstrukturen zu etablieren, zeigen, wie essenziell das soziale Gefüge des Unterrichtens ist. In ihrer Nutzung der Lernsoftware für die ihnen bekannten Schüler*innen wird der vom System bereit gestellte Handlungsraum der Software weniger wichtig, weil sie ihn sich über ihre eigenen Einsatzszenarien selbst kreieren und darüber dann Differenzierung, Fehlertoleranz und Belohnung zur Geltung bringen und an ihre Person koppeln.

Die zweite Reflexion betrifft die Aufgabe der Vermittlung und die potenzielle Neukonfiguration von Schule. Das Unterrichten mit Lernsoftware bewegt sich hier zwischen zwei viel besprochenen Polen: Diese Lehrkräfte sind nicht den digitalen Systemen ausgeliefert (Lankau 2015; Lembke und Leipner 2016). Aber sie positionieren ihre professionelle Praxis auch nicht als von jeder Technik autonom im Sinne eines „Primats des Pädagogischen“, in dem die pädagogische Entscheidung vor – und unabhängig von – der Entscheidung für eine Technik steht (BMBF 2016; KMK 2016). Sie positionieren sich selbst als adaptierend. Innerhalb der Verwobenheit von Lernsoftware, Schüler*innen und der lehrer*innenseitigen kontextualisierten Einschätzung von Schüler*innen adaptieren sie den Einsatz der Software für ihre Klasse (z. B. Fawns 2022).

Aus was besteht eine potenzielle neue Konstruktion der Schule in Bezug auf (adaptive) Lernsoftware? Um die (Neu-)Konstruktion von Schule theoretisch zu fassen, schlagen wir eine Reflexion des Vermittlerbegriffs vor.Footnote 4 Die Interviews beschreiben je unterschiedlich, wer was für wen vermittelt. Die Lehrkräfte verorten sich selbst als Vermittler zwischen Lernsoftware und Schüler*innen. Sie positionieren sich nicht im Sinne einer Fremdbestimmung, bei der sie mechanisch unveränderbare Inhalte übertragen, sondern im Sinne der kreativen Verarbeitung bzw. der eigensinnigen Aneignung: Die Lehrkräfte greifen die von System|X angebotenen Aufgaben und Erklärungen auf und adaptieren sie für den Alltag ihres Unterrichtens. Sie interpretieren die Fehlermeldungen des Systems an die Schüler*innen um, als motorische statt kognitive Aspekte. Sie etablieren eigene Belohnungsstrukturen. Vermittlung ist hier die klassische Kernaufgabe des Lehrens, um Lernen zu ermöglichen.

Die Anbieter verorten dagegen in erster Linie die Lernsoftware als Vermittlerin zwischen Lerninhalten und Schüler*innen. Die Lehrkraft wird von Arbeit befreit, wenn die Software die Vermittlerrolle übernimmt. Das System versichert den Schüler*innen, dass Fehler in Ordnung sind. Durch die programmierte Personalisierung kann – so die Implikation – System|X die Lerninhalte angepasst an die Leistung der einzelnen Schüler*innen vermitteln. Die Lehrkräfte werden vor allem in ihrer Funktion der Förderung (der „leistungsschwächeren“ Schüler*innen) oder Umsetzung (wie Sterne umzutauschen sind) statt derjenigen der Vermittlung – von Inhalten, von gemeinschaftsorientierten Kompetenzen – definiert. So wird die Aufgabe des Förderns von derjenigen des Vermittelns getrennt und unterschiedlich auf Maschine und Akteur*innen verteilt.

Das Ringen um Handlungsspielraum zeigt sich also auch als ein Ringen um die Möglichkeit zu vermitteln. Zugleich kann medientheoretisch eine klare Trennung der Vermittler*innen nicht standhalten: Wenn wir annehmen, dass Medien sich „in den Prozess der Vermittlung mit ein[schreiben]“, dann „bedingen [sie] diesen und haben einen Einfluss darauf was in, mit und durch Medien zur Erscheinung kommt“ (Burckhardt 2015, S. 28). In diesem Sinne deutet die Analyse in diesem Beitrag auf die „vermittelte Vermittlung“ im Alltag des Einsatzes von adaptiver Lernsoftware, das heißt, die Software vermittelt, wie die Lehrkräfte vermitteln können, und die Lehrkräfte vermitteln, wie die Software vermitteln kann. Die Neukonfiguration von Schule durch Lernsoftware entsteht, wenn neue Entscheidungen und Reflexionen über diese vermittelte Vermittlung in kleinen, alltäglichen Momenten des Schulalltags entstehen.

Mit Blick auf die Herausforderungen des Einsatzes soll insgesamt deutlich geworden sein, wenn Lehrkräfte ein Lernsystem nicht einsetzen – oder nicht so einsetzen, wie es die Anbieter anvisieren – es nicht nur daran liegt, dass sie, wie im Eingangszitat, in der „digitalen Steinzeit“ verhaftet bleiben, sondern dass sie gegebenenfalls gut begründen können, warum sie anders agieren. Sowohl Lernsoftware als auch Lehrkräfte zeigten sich hier in einem bestimmten Sinne adaptiv bzw. adaptierend.