Schlüsselwörter

Einleitung

Noch vor zehn Jahren galten soziale Medien wie Facebook als neues Wundermittel für die Demokratie. Es war eine verbreitete Annahme, dass die interaktive Vernetzung mittels Web 2.0 Menschen näher zusammenbringt, Grenzen überwindet und eine hierarchiefreie Kommunikation möglich macht. Als Paradebeispiel dafür galt lange Zeit der Arabische Frühling. Die massenhaften Proteste gegen alteingesessene Diktaturen in den Jahren 2010–2012 hätten sich zu großen Teilen aus der demokratisierenden Kraft zensurfreier Social-Media-Plattformen wie Facebook gespeist, so die dominante Hypothese. Bis heute versuchen unzählige Werbespots der Plattformkonzerne die Botschaft der gesellschaftlichen Integration durch interaktive, soziale Medien hochzuhalten. Inzwischen hat sich die öffentliche Meinung gegenüber den sozialen Medien allerdings um 180 Grad gedreht. Es dominiert ein allgemeines gesellschaftliches Unbehagen, der sogenannte „Tech-Lash“ – eine Wortkombination von Technologie und Backlash (= Gegenreaktion). Insbesondere der Facebook-Konzern (kürzlich unbenannt zu „Meta“) mit seinen Töchterfirmen Instagram und WhatsApp ist in die Kritik geraten, aber auch andere Messenger-Dienste wie Telegram werden zunehmend mit Vorwürfen konfrontiert: Social-Media-Plattformen schaden der Demokratie, bieten einen fruchtbaren Boden für Hetze und Desinformation, manipulieren die Nutzer:innen, entziehen den Zeitungen und Verlagen Werbeeinnahmen, verstoßen gegen Datenschutzrecht und Ähnliches – die Liste der Anklagen ist lang.

Kritik dieser Art lässt sich als gesellschaftliche Gegenreaktion angesichts eines tiefgreifenden „digitalen Strukturwandel[s] der Öffentlichkeit“ (Staab und Thiel 2021) interpretieren. Im Unterschied zu Büchern, Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen zeichnen sich Social-Media-Plattformen nicht nur durch einen neuen Übertragungsmodus und höhere Reichweiten, sondern insbesondere auch durch eine neue ökonomische Funktionslogik aus – ein auf personenbezogenen Daten basierendes Werbegeschäft, das die sozialen Beziehungen der Nutzer:innen selbst kapitalisiert. Der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit lässt sich somit – in Anknüpfung an Jürgen Habermas – auf die materielle Infrastruktur sozialer Medien zurückführen, welche den ökonomischen Imperativ der Werbeindustrie tief in die soziale Kommunikation einschreibt und strukturell in eine „digitale Verhaltenssteuerung“ (ebd., S. 278) umzukippen droht.

Vor diesem Hintergrund fragt der vorliegende Text nach den technopolitischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Demokratisierung der sozialen Medien. Der Fokus liegt dabei auf der strukturellen Stärkung demokratischer Grundrechte und kann folglich nicht als hinreichende, wohl aber als notwendige Bedingung einer Demokratisierung des digitalen Kapitalismus dienen. Insgesamt werden drei aktuelle politische Strategien diskutiert, deren Zusammenwirken den nötigen Freiraum für gemeinwohlorientierte Social-Media-Plattformen schaffen könnte. Die zentrale These lautet, dass Social-Media-Nutzer:innen nur dann freie und selbstbestimmte Bürger:innen werden können, wenn Social-Media-Plattformen stärker staatlich reguliert werden, alternative Social-Media-Plattformen stärker gefördert werden und die Bürger:innen ihre Daten problemlos von einer Plattform auf eine andere übertragen können – die sogenannte technische Interoperabilität.

Digitaler Strukturwandel der Demokratie

Innerhalb von nur zwanzig Jahren haben sich Social-Media-Plattformen zum bedeutendsten Kommunikationsmedium unserer Zeit entwickelt: Weltweit ist die Zahl der Social-Media-Nutzer:innen im Jahr 2020 auf 4,2 Milliarden Menschen angewachsen (vgl. Abb. 1 und we are social 2021). Inzwischen verbringt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung durchschnittlich 2 Stunden und 25 Minuten pro Tag auf Facebook, WhatsApp, YouTube und Co. (ebd. und siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Weltgrößte Social-Media-Plattformen nach Nutzer:innenzahlen (in Millionen, 2021). (Quelle: Eigene Darstellung nach we are social 2021)

Zunächst stellt sich die Frage, was die Treiber dieser sogenannten „Plattformisierung“ (Helmond 2015) des Sozialen sind. Aus Sicht der Nutzer:innen erscheinen Social-Media-Plattformen als attraktive technische Innovation, welche die subjektiven Handlungsoptionen der Menschen erweitert. Nutzer:innen können jederzeit und ortsungebunden mit Freund:innen und Bekannten kommunizieren, eigene Videos und Bilder austauschen, Nachrichten und Filmspots konsumieren, die digitale Selbstdarstellung optimieren, Kommentare schreiben und gesellschaftliche Diskussionen führen, sich in digitalen Gruppen(-chats) koordinieren und vieles mehr. Diese Verlagerung sozialer Interaktion in den digitalen Raum erlaubt zweifelsohne neue Formen sozialer Teilhabe. Gerade in autoritär regierten Gesellschaften sind auf diese Weise neue Sozialräume entstanden, in denen sich Menschen anonym und direkt austauschen können.

Doch der Erfolg der sozialen Medien hat insbesondere auch ökonomische Gründe. In dieser Perspektive sind Facebook, YouTube und Co. zunächst Handelsplätze für Werbung, die die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer:innen an Werbekunden verkaufen. Dabei kommt ein neues Geschäftsmodell zum Einsatz, das sogenannte „Micro-Targeting“, bei dem einzelne Konsument:innengruppen gezielt mit Werbung adressiert werden können. Trotz mangelnder Belege für die Wirksamkeit des neuen Werbemodells stiegen die Erlöse der Social-Media-Konzerne innerhalb kürzester Zeit rasant an. Der Facebook-Konzern alleine verdoppelte seinen Gewinn im Jahr 2020 auf 28 Milliarden US-Dollar (Facebook 2021). Im Kontext einer stagnierenden Weltwirtschaft bilden Plattformkonzerne eine attraktive Geldanlage für Investor:innen, die das Wachstum der sozialen Medien mit zusätzlichem Kapital vorantreiben. Kleinere Plattformen wie Myspace oder SchülerVZ konnten bei diesem rasanten Wachstum nicht mithalten und gingen bankrott oder wurden aufgekauft. Übrig blieben die digitalen Platzhirsche Facebook und YouTube, die eine so hohe Abdeckung erreicht haben, dass ihre Nutzung in vielen sozialen Bereichen alternativlos geworden ist.

Für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaften ist diese starke ökonomische MachtkonzentrationFootnote 1 bei wenigen Social-Media-Konzernen äußerst kritisch zu bewerten. Als Nebeneffekt der Verbreitung sozialer Medien zeichnet sich eine zunehmende Zentralisierung von Kommunikations- und Datenströmen ab, in deren Folge immer mehr Gruppen von wenigen marktbeherrschenden Plattformen abhängig werden. Bürger:innen, Politiker:innen und Journalist:innen werden auf diese Weise zu Konsument:innen privater Kommunikationsdienste degradiert und empfindlich in ihren demokratischen Rechten beschnitten. Insbesondere folgende demokratische Prinzipien werden dabei ganz oder teilweise ausgehebelt:

  • Keine Öffentlichkeit: Gemessen am Kommunikationsaufkommen sind Social-Media-Plattformen die öffentlichen Plätze des digitalen Zeitalters. Doch Struktur und Verwaltung der Plattformen sind höchst intransparent und hebeln das Öffentlichkeitsprinzip aus, welches besagt, dass die Dokumente zur Verwaltung eines Gemeinwesens frei zugänglich sein müssen. Wichtige Entscheidungen der Plattform-Moderation, wie zum Beispiel die Löschung von einzelnen Beiträgen, Gruppen oder Accounts, aber auch das gesamte Werbegeschäft sind von außen kaum nachvollziehbar. Desinformation und andere potenziell gefährliche oder manipulative Inhalte können unkontrolliert an vulnerable Gruppen adressiert werden. Selbst für unabhängige Wissenschaftler:innen wird der Datenzugang stark begrenzt.

  • Keine Repräsentation: Auf Social-Media-Plattformen geht alle Entscheidungsgewalt vom Unternehmensmanagement aus. Die Regeln der Moderation und des sozialen Miteinanders, die algorithmische Architektur der Plattformen, welche die Interaktion steuert, werden einseitig und hierarchisch in den allgemeinen Geschäftsbedingungen festgelegt. Eine politische Teilhabe der Nutzer:innen an den Plattformregeln oder eine Vertretung gesellschaftlicher Minderheiten ist aktuell nicht möglich.

  • Keine Privatsphäre: Mit Einwilligung in die Datenschutzerklärung der Plattformen treten die Nutzer:innen alle Rechte an ihren Daten ab. Plattformunternehmen können deren Verhalten beliebig erfassen, personenbezogene Daten zu Profilen zusammenführen und diese gewinnorientiert verwerten. Menschen werden so ohne ihr Wissen in Kategorien eingeteilt. Insbesondere der Facebook-Konzern ist dafür berüchtigt, gegen Datenschutzbestimmungen zu verstoßen (Bundesgerichtshof 2020). Doch auch staatliche Behörden wie Geheimdienste und die Polizei können zunehmend auf die sensiblen Social-Media-Daten ausgewählter Verdächtiger zugreifen.

  • Mangelnde Autonomie: Facebook und YouTube beanspruchen immer auch das Recht alle Beiträge selbst zu sortieren und sie mit kommerzieller Werbung gemischt ihren Nutzer:innen im Newsfeed bzw. in der Timeline anzuzeigen. Da sich diese Empfehlungsalgorithmen in der Regel nur in sehr geringem Maße personalisieren lassen, haben sie eine starke Wirkung auf die öffentliche Meinungsbildung. Beispielsweise kann die intransparente und selektive Anzeige politischer Werbung das Risiko einer Wahlmanipulation erhöhen. Zudem fördert das von den Plattformen standardmäßig eingesetzte „engagement-based ranking“Footnote 2 besonders extreme und polarisierende Beiträge und somit die Verbreitung von Desinformation und Hate-Speech.

  • Mangelnde Wahlfreiheit: Einzelne Plattformen sind zu alltäglichen Infrastrukturen und essenziellen Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe geworden. Ursächlich sind die starken Netzwerkeffekte im digitalen Raum, welche die Attraktivität der Plattformen mit zusätzlichen Nutzer:innen stetig ansteigen lässt und eine natürliche Konzentration erzeugt. Die Plattformen verstärken diesen Netzwerkeffekt, indem sie proprietäre (also nicht für alle einsehbar und nutzbare) Datenstandards einsetzen und auf diese Weise verhindern, dass Nutzer:innen mit ihren Daten (zum Beispiel ihren Kontakten, Chatverläufen oder Follower:innen) zu anderen Plattform-Anbietern umziehen können.

Darüber hinaus erzeugen Social-Media-Plattformen ein politisches Machtvakuum im Hinblick auf die Moderation von Beiträgen und den Schutz der Meinungsfreiheit. So sind Social-Media-Plattformen ein Hort für Desinformation und Hass-Kommentare – Fake News, Verschwörungsmythen, Gewaltaufrufe und Morddrohungen sind für alle sichtbar. Zwar ermöglichen Plattformen auch eine algorithmische Erfassung, Auswertung und Löschung einzelner illegaler Beiträge. Wer aber soll entscheiden, was „noch“ gesagt werden darf und was schon gelöscht werden muss? Die naheliegende Lösung dieses Moderationsproblems besteht darin, die Plattform dafür verantwortlich zu machen, dass ihr Produkt sicher ist und Menschenrechte gewahrt werden. Die Enthüllungen der Whistleblowerin und ehemaligen Facebook-Angestellten Francis Haugen haben jedoch eindrucksvoll bewiesen, dass Facebook dieser Aufgabe nicht nachkommt und nur ein Bruchteil der unrechtmäßigen Inhalte entfernt – auf Kosten von diskriminierten und vulnerablen Gruppen (Hurtz et al. 2021). Mordaufrufe von autoritären Regimen werden ebenso wenig gelöscht, wie Anstiftungen zu Menschenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten. Entsprechend häufig wird nach einer stärkeren staatlichen Kontrolle verlangt; Polizei und Gerichte sollen die Ordnung in den sozialen Medien herstellen. Eine solche staatliche Aufsicht von sozialen Medien kann aber wiederum die Gefahr von Überwachung und Zensur erhöhen und harmoniert nicht mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Staatsferne der Medienaufsicht.

Wie also sehen soziale Medien aus, die weder von ökonomischen Motiven dominiert sind noch von staatlichen Stellen überwacht werden? Wie können demokratische Prinzipien wie eine politische Öffentlichkeit und Repräsentation, Wahlfreiheit, Privatsphäre und Autonomie fest in der algorithmischen Infrastruktur von Social-Media-Plattformen verankert werden?

Drei Demokratisierungsstrategien

Derzeit werden in der Bundesrepublik und der Europäischen Union (EU) verschiedene Ansätze zur Demokratisierung der sozialen Medien diskutiert. Diese Demokratisierungsstrategien lassen sich in drei Typen teilen:

  1. 1)

    die verstärkte staatliche Regulierung der Plattformkonzerne,

  2. 2)

    der Aufbau alternativer Social-Media-Plattformen in kollektivem Eigentum und

  3. 3)

    die technische Öffnung privater Plattformen mittels Interoperabilität und standardisierten Schnittstellen.

Staatliche Regulierung

Für die rechtliche Einbettung von Plattformunternehmen galt seit den 90er-Jahren das Motto, dass keine Regulierung stattfindet („no regulation for the Internet“, Speta 2002, S. 227). Insbesondere die weltweit wirkmächtige „Section 230“ des „US-Communications Decency Act“ schrieb seit 1996 fest, dass Plattformbetreiber nicht für ihre Inhalte haftbar gemacht werden können. Auch die EU adaptierte dieses Laissez-Faire-Prinzip mit der im Jahr 2000 verabschiedeten „E-Commerce-Richtlinie“ und verhinderte damit zunächst einen staatlichen Zugriff auf die Regulierung von Online-Plattformen.

Erst mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) 2016 und dem deutschen Netzwerkdurchsuchungsgesetz (NetzDG) 2017 wurden die Praktiken von Social-Media-Plattformen zum ersten Mal bewusst reguliert. Die DSGVO stärkte die Rechte der Nutzer:innen und verpflichtete die Plattformen zu Transparenz und Offenlegung bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. Das NetzDG ging darüber hinaus und adressierte direkt das Problem der Hasskriminalität in den sozialen Medien. Plattformbetreiber wurden dazu verpflichtet, auf Beschwerden zu reagieren und offensichtlich illegale Inhalte innerhalb von 24 Stunden bzw. komplexere Fälle innerhalb von sieben Tagen zu löschen. Doch unabhängige Kontrollen sind kaum vorgesehen – Plattformkonzerne konnten weiterhin selbst über die Löschung von Inhalten entscheiden und wichtige Informationen zurückhalten.

Angesichts sich verschärfender Debatten um die gesellschaftliche Verantwortung von Social-Media-Plattformen verabschiedete die EU Mitte 2022 den „Digital Services Act“. Ziel dieser Regulierung sind insbesondere Verfahrensvorschriften, die eine effektive Rechtsdurchsetzung in der Plattformökonomie ermöglichen sollen (Piétron und Staab 2021). So sollen sehr große Plattformen insgesamt mehr Informationen bereitstellen, beispielsweise eine Datenbank mit allen Werbeanzeigen des vergangenen Jahres, um die Bekämpfung von Desinformation zu erleichtern. Das Moderationsproblem der sozialen Medien soll durch sogenannte nationale Digital Service Coordinators angegangen werden, die von den EU-Mitgliedstaaten damit beauftragt werden, potenziell illegale Inhalte zu markieren. Darüber hinaus sollen Nutzer:innen erstmals die Möglichkeit erhalten, die Empfehlungsalgorithmen der Plattformen an ihre persönlichen Präferenzen anzupassen.

Die fortschreitende staatliche Regulierung der sozialen Medien könnte die Fehler der Vergangenheit korrigieren und Plattformkonzerne für den von ihnen angerichteten Schaden haftbar machen. Dabei sind vor allem Transparenzpflichten wichtig, um eine unabhängige Plattform-Kontrolle durch Presse, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Zudem könnten zukünftige Gesetze die politische Mitsprache der Nutzer:innen am Management der Plattform durch sogenannte Plattform-Räte verbessern. Dennoch sind die Effekte begrenzt: Zum einen ist die Digitalwirtschaft bestens auf lange Gerichtsprozesse vorbereitet und hat die bis dato größte Lobbymacht der Europäischen Geschichte aufgebaut. Zum anderen ändern die geplanten staatlichen Regulierungsvorhaben wenig an der grundsätzlichen Machtasymmetrie zwischen Plattformunternehmen und Nutzer:innen.

Alternative Plattformen

Eine weitere Strategie zur Demokratisierung der sozialen Medien besteht in der Forderung nach gemeinwohlorientierten Plattform-Alternativen in kollektivem Eigentum (vgl. Staab und Piétron 2021). An die Stelle einer zentralistischen Kontrolle durch Privatwirtschaft oder Staat tritt hier die Hoffnung auf eine umfassende Selbstverwaltung der Nutzer:innen, welche die Plattformregeln selbst bestimmen und so die Hoheit über ihre Daten behalten sollen. Die Forderung nach gemeinwohlorientierten Plattform-Alternativen wird von unterschiedlichen genossenschaftlichen, öffentlich-rechtlichen und zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen erhoben:

Ein erster wichtiger Treiber der Debatte ist die transnationale, zivilgesellschaftliche Bewegung der Plattform-Genossenschaften bzw. des „Plattform-Kooperativismus“ (Scholz 2016). Die zentrale Idee besteht darin, die Rechtsform der Genossenschaft auf digitale Plattformen zu übertragen und so plattforminterne Abstimmungsprozesse zu kollektivieren. In Anknüpfung an das Modell der betrieblichen Arbeiterselbstverwaltung, sollen die Nutzer:innen mittels demokratischer Wahlen an allen wichtigen Entscheidungen der Plattformen und der Ausschüttung des Gewinns teilhaben können. Social-Media-Plattformen stehen dabei bisher jedoch selten im Vordergrund. Die Vertreter:innen des Plattform-Kooperativismus konzentrieren sich zumeist auf digitale Plattformen für Dienstleistungsarbeit.

Die öffentlich-rechtlichen Medien aus Deutschland und der EU setzen sich dagegen explizit für den Aufbau einer digitalen europäischen Öffentlichkeit („European Public Sphere“) mit Social-Media-Charakter ein. So forderte 2018 beispielsweise der damalige ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm eine Europäische Super-Medien-Plattform, die neben professionellem Content von Medienanstalten, Rundfunk und Presse sowie Wissenschaft und Kultur auch „User Generated Content“ vorsieht, das heißt Inhalte von allen Nutzer:innen zulässt (Kagermann und Wilhelm 2020). Auf diese Weise soll mit staatlicher Unterstützung eine Social-Media-Plattform in öffentlicher Hand entstehen, bei der die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ihre Interessen besser geltend machen können als bisher. Auch die Rechte der Nutzer:innen sollen durch transparente und ausgewogene Empfehlungsalgorithmen sowie Maßnahmen zur Datensouveränität gestärkt werden. Eine Umsetzung dieses Vorhaben steht allerdings noch aus.

Der dritte Ansatz zum Aufbau alternativer Social-Media-Plattformen konnte sich innerhalb der digitalen Zivilgesellschaft bzw. der „Techie-Szene“ bereits erfolgreich etablieren: das sogenannte „Fediverse“ – ein Kofferwort aus „Federation“, dem englischen Wort für Föderation, und „Universe“, englisch für Universum. Bereits Anfang der 2010er-Jahre entstanden mit Diaspora und Friendica zwei nicht-kommerzielle Social-Media-Plattformen, die sich in zwei wichtigen Punkten von privatwirtschaftlichen Plattformen wie Facebook und Co. unterscheiden:

- sie sind open-source, das heißt ihre Software ist frei verfügbar und kann von allen eingesehen und installiert werden, und

- dezentral aufgebaut, das heißt die Daten der Nutzer:innen werden auf verschiedenen Servern gespeichert und über einen offenen Kommunikationsstandard ausgetauscht.

Im Jahr 2018 wurde auf dieser Basis der internationale Social-Media-Standard „ActivityPub“ veröffentlicht, der neben Friendica auch von vielen weiteren alternativen Social-Media-Plattformen wie Mastodon, Hubzilla, Peertube oder PixelFed implementiert wurde und eine Kommunikation der verschiedenen Dienste untereinander ermöglicht. Die Gesamtheit dieser interoperablen Dienste wird seither Fediverse genannt, welches heute von rund vier Millionen Menschen weltweit genutzt wird. Fediverse-Nutzer:innen können sich nicht nur eine passendes Software, sondern auch einen Speicherort für ihre Daten auswählen und auf diese Weise zum Beispiel selbst entscheiden, wer Zugriff auf ihre Daten erhält oder ob sie Server mit erneuerbaren Energien nutzen wollen. Trotz der erfolgreichen Etablierung und einer breiten Unterstützung der internationalen digitalen Zivilgesellschaft hat das Fediverse bisher allerdings keine breite Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs erlangt.

Zusammengenommen bleibt der Einfluss aller drei Ansätze alternativer Plattformen – genossenschaftlich, öffentlich-rechtlich und zivilgesellschaftlich – letztlich sehr begrenzt. Die Plattform-Alternativen verstehen sich selbst daher meist als zusätzliche Angebote neben Facebook und Co. und werden von diesen nicht als ernsthafte Konkurrenten wahrgenommen. Aufgrund zu geringer Nutzer:innenzahlen können sie die Aushöhlung demokratischer Rechte auf den großen Plattformen nicht wirksam verhindern.

Technische Interoperabilität

Die staatliche Regulierung von Social-Media-Plattformen und der Aufbau von Plattform-Alternativen alleine können das Demokratiedefizit der sozialen Medien nicht beheben, da sie die zentrale technische Machtbasis von Facebook, YouTube und Co nicht adressieren: die Fähigkeit zur exklusiven Aneignung von Nutzer:innendaten mittels proprietärer Datenstandards. Große Plattformkonzerne erfassen nicht nur massenhaft Verhaltensdaten ihrer Nutzer:innen, sie verhindern auch den Transfer dieser Daten zu anderen Plattformen. Dazu greifen sie auf je eigene Datenstandards zurück, die von anderen Plattformen nicht verarbeitet werden können. Nutzer:innen, die gerne zu alternativen, gemeinwohlorientierten Plattformen wechseln möchten, können ihre Daten und die damit verbundene soziale Reputation (Anzahl der Likes und Follower:innen, persönliche Bilder und Videos, vergangene Chatverläufe etc.) nicht mitnehmen und bleiben so langfristig an die dominante Plattform gebunden.

Demgegenüber steht das Prinzip der technischen Interoperabilität auf Basis offener Kommunikationsstandards (Piétron 2019). Interoperabilität bedeutet, dass zwei Informationssysteme fehlerfrei Informationen austauschen und sinnvoll nutzen können. Nur dank interoperabler Standards wie USB, Bluetooth, 5G, das E-Mail- oder das Internetprotokoll TCP/IP können wir gewährleisten, dass verschiedene technische Geräte miteinander kommunizieren und dieselbe „Sprache“ sprechen können. Übertragen auf die sozialen Medien, wäre Interoperabilität für Facebook, WhatsApp und YouTube dann gegeben, wenn bestimmte Daten (bspw. Profilinformationen, Beiträge, Kommentare) eines Nutzers oder einer Nutzerin auf Plattform A von Nutzer:innen auf Plattform B abgerufen und somit plattformübergreifend kommuniziert werden könnte.

Immer mehr Akteure aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft fordern bereits eine staatlich verordnete Interoperabilität von Social-Media-Plattformen und Messenger-Diensten. Zuletzt hat sogar das Europäische Parlament mit seinen Änderungen zum Regulierungsvorschlag der EU-Kommission für digitale Märkte („Digital Markets Acts“) eine Interoperabilitätspflicht für soziale Medien beschlossen (Piétron 2022). Wenn auf technischer Ebene ein plattformübergreifender Datenaustausch möglich wird – wie schon bei Emails oder SMS – können Nutzer:innen einen alternativen Plattformanbieter ihres Vertrauens auswählen, den Wettbewerb zwischen Anbietern wieder in Kraft setzen und strukturelle Abhängigkeiten reduzieren, so das zentrale Argument. Wie stark sich die sozialen Medien tatsächlich diversifizieren und dezentralisieren werden, hängt jedoch maßgeblich von der Nachfrage der Nutzer:innen nach alternativen Social-Media-Diensten jenseits der One-Size-Fits-All-Lösungen von Facebook, YouTube, Twitter und Co. ab. Einer Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbands zufolge wäre „gut ein Drittel der Nutzer […] bereit den Messenger zu wechseln, wenn Nachrichten zwischen unterschiedlichen Anbietern geteilt werden könnten“ (Verbraucherzentrale Bundesverband 2021).

So verlockend eine technische Lösung gegen die Macht der Social-Media-Konzerne auch sein mag, die Standardisierung von Datenflüssen zwischen Online-Plattformen ist ein sehr aufwendiger Prozess, der politisch koordiniert werden muss. Die Entwicklung eines einheitlichen Kommunikationsprotokolls unter Einbezug aller beteiligten Akteure, konstante Sicherheitsprüfungen und stete technische Weiterentwicklung des Standards sowie die Beaufsichtigung der Implementation und weitere Aufgaben erfordern viele Ressourcen und kompetentes Personal in den Behörden. Allerdings hat das Fediverse mit der Entwicklung des ActivityPub-Standard bereits vorgemacht (Piétron 2019), wie ein solcher Schritt gelingen kann.

Fazit: Regulieren, Fördern und Standardisieren

Die sozialen Medien, allen voran Facebook und YouTube, stellen unsere Demokratie in mehrerer Hinsicht auf eine Belastungsprobe: Sie haben eine quasi-monopolistische Machtstellung eingenommen und können weite Teile der gesellschaftlichen Kommunikation zu ihren eigenen Gunsten beeinflussen. Lange erkämpfte Bürger:innenrechte, wie das Öffentlichkeits- und das Repräsentationsprinzip, der Schutz der Privatsphäre sowie die Sicherstellung von Autonomie und Wahlfreiheit, werden mit den Geschäftsbedingungen der Plattformen außer Kraft gesetzt. Zudem verhelfen die Plattformen Hassrede und Fake-News zu mehr Reichweite, ohne sich ausreichend um die negativen sozialen Folgen zu kümmern.

Und dennoch stellen Social-Media-Plattformen eine wichtige technologische Entwicklung dar, die zwischenmenschliche Kommunikation stark vereinfacht und auch zukünftig auf absehbare Zeit Bestand haben wird. Es ist somit eine wichtige Aufgabe unserer Zeit, die sozialen Medien zu demokratisieren und ihre schädlichen Folgen einzugrenzen.

Die drei hier diskutierten Demokratisierungsstrategien weisen jeweils eigene Vorteile auf, greifen für sich genommen jedoch zu kurz: Staatliche Regulierung kann die breite Schicht der Nutzer:innen effektiv vor Missbrauch schützen, nicht aber die exorbitante Machtkonzentration der Social-Media-Konzerne selbst abbauen. Gemeinwohlorientierte Plattform-Alternativen können konkrete Modelle für eine dezentrale, demokratische Selbstverwaltung von Social-Media-Nutzer:innen bereitstellen, werden aktuell jedoch noch von zu wenigen Menschen genutzt. Erst wenn große Social-Media-Konzerne dazu verpflichtet werden, interoperable Datenstandards zu verwenden, können die Nutzer:innen tatsächlich selbstbestimmt entscheiden, welche Plattform sie nutzen möchten, welche Informationen sie lesen wollen und was mit ihren persönlichen Daten geschehen soll.

In diesem Sinne bedarf es eines kombinierten technopolitischen Ansatzes zur Demokratisierung der sozialen Medien, der staatliche Regulierung, die Förderung gemeinwohlorientierter Alternativen und technische Interoperabilität zusammendenkt – regulieren, fördern und standardisieren. Damit dies gelingt müssen Staaten ihren Gestaltungsauftrag erweitern und frei nach dem Leitsatz „Code is Law“ auch zunehmend technische Vorgaben in die Gesetzgebung integrieren. Dass dies technisch möglich ist, hat die digitale Zivilgesellschaft mit dem Activity-Pub-Standard für die dezentralen Social-Media Plattformen des Fediverse bereits bewiesen. So liegt es nun insbesondere an der EU-Kommission, die vom EU-Parlament beschlossene Interoperabilitätspflicht mit Unterstützung der politischen Öffentlichkeit gegen die Interessen der Digitalkonzerne durchzusetzen.