1 Problemaufriss

In Deutschland mangelt es an empirischer Forschung zum Wohnen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Im Vergleich zur internationalen Forschung werden standardisierte Erhebungsinstrumente wie Fragebögen, Einschätzungsskalen oder strukturierte Beobachtungsinstrumente kaum genutzt. Häufig fehlen deutschsprachige Instrumente. Der Einsatz zuverlässiger und valider Instrumente ist aber wichtig, um aussagekräftige Forschungsergebnisse zu erhalten, die sich vergleichen lassen mit Ergebnissen anderer, gerade auch internationaler Studien.

Standardisierte Erhebungsinstrumente können zum einen verwendet werden, um Zusammenhänge und Bedingungsgefüge zu erforschen, zum anderen können sie in der Praxis zu Evaluationszwecken eingesetzt werden. Damit werden Grundlagen geschaffen, Umweltbedingungen und Dienstleistungen systematisch dahingehend zu verbessern, die allgemeinen Zielsetzungen von Teilhabe und Lebensqualität von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu verwirklichen.

In diesem Kapitel wird auf international gebräuchliche Erhebungsinstrumente aufmerksam gemacht, auch wenn für viele noch keine deutschsprachige Version vorliegt. Die Übersetzung dieser Instrumente und Testung deutschsprachiger Versionen kann auf die konzeptionelle und testtheoretische Vorarbeit aufbauen, die international geleistet wurde. Wenn wir deutschsprachige Versionen bewährter Instrumente nutzen, lassen sich Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum viel leichter in internationale wissenschaftliche Diskurse einspeisen (Anschlussfähigkeit an die scientific community). Die Entwicklung und erste Ergebnisse der Teamkultur-Skala für Wohndienste – die deutschsprachige Version der Group Home Culture Scale von Humphreys et al. (2020) – zeigen, wie fruchtbar die internationale Zusammenarbeit ist, gerade angesichts beschränkter Forschungsressourcen und Datenzugänge.

Vorgestellt werden standardisierte Erhebungsinstrumente für die vier Themenbereiche: adaptives Verhalten, Selbstbestimmung, Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen und die Qualität von Unterstützungsleistungen. Für die Themenbereiche „adaptives Verhalten“ und „Teilhabe im Sozialraum“ liegen Überblicksartikel vor, welche als Ergebnis einer systematischen Recherche die Erhebungsinstrumente identifizierten, die am stärksten verbreitet sind (Price et al. 2018; Taylor-Roberts et al. 2019). Im Bereich der Selbstbestimmung werden – basierend auf einer Zusammenstellung von O’Donovan et al. (2017) – einige grundlegende Messinstrumente vorgestellt, welche die Wahlmöglichkeiten von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erheben. Die Darstellung von strukturierten Beobachtungsinstrumenten zur Messung der Qualität von Unterstützungsleistungen basiert auf einem Literaturreview der Arbeitsgruppe des Living with Disability Research Centre der La Trobe University in Melbourne (Bigby et al. 2021).

2 Begründung der Bereiche

Adaptives Verhalten

Adaptives Verhalten ist im DSM-5 (APA 2013) und in der ICD-11 (WHO 2017) neben der intellektuellen Funktionsfähigkeit ein entscheidendes Kriterium für die Diagnose einer intellektuellen Beeinträchtigung bzw. einer intellektuellen Entwicklungsstörung (auch Sappok 2019). Im DSM-5 wird auch das Ausmaß einer intellektuellen Beeinträchtigung nicht mehr wie zuvor üblich anhand des Intelligenzquotienten bestimmt, sondern aufgrund der Ausprägung der adaptiven Kompetenzen (APA 2013; Zurbriggen und Orthmann Bless 2017). Adaptives Verhalten stellt damit ein wichtiges Merkmal zur Beschreibung des Personenkreises dar.

Bei der Analyse der internationalen Wohnforschung (Kap. 4) zeigte sich, dass in verschiedenen Untersuchungen der Zusammenhang von adaptivem Verhalten mit anderen Variablen analysiert wurde. Unterschieden werden kann dabei zwischen Studien, welche die Auswirkung von Variablen wie z. B. Wahlmöglichkeiten, Wohnsetting oder das Vorhandensein von Fachkonzepten auf das adaptive Verhalten untersuchten, und Studien, welche untersuchten, wie adaptives Verhalten einer Person verschiedene Dimensionen ihrer Lebensqualität beeinflusst (z. B. Lebensqualität allgemein, soziale Beziehungen, Inklusion).

Adaptives Verhalten ist damit ein bedeutsames Konstrukt zur Beschreibung des Personenkreises von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Darüber hinaus ist adaptives Verhalten eine wichtige Variable, die es bei der Erforschung von Zusammenhängen und Wirkungsfaktoren in der Forschung zum Wohnen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu berücksichtigen gilt. Es ist daher lohnend, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sich adaptives Verhalten messen lässt. Zudem ermöglicht der Einsatz standardisierter Messinstrumente zum adaptiven Verhalten eine Vergleichbarkeit verschiedener Studien.

Selbstbestimmung

Selbstbestimmung ist eine der acht Kerndimensionen im Lebensqualitätskonzept von Schalock und Verdugo (2002). Selbstbestimmung ist eine zentrale Leitidee in der Gestaltung der Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen und im Bundesteilhabegesetz, dem „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“, rechtlich verankert und auch in der UN-Behindertenrechtskonvention von zentraler Bedeutung. In der Forschung wurden vielfältige Variablen untersucht, die einen Einfluss auf die Selbstbestimmung haben (siehe Kap. 4). Die Operationalisierung von Selbstbestimmung und der Einsatz standardisierter Messinstrumente zur Erfassung des Ausmaßes an Selbstbestimmung ist daher notwendig, um in Forschungszusammenhängen Aussagen darüber machen zu können, wie sich Selbstbestimmung beeinflussen lässt und welcher Grad an Selbstbestimmung vorliegt. In der Forschungsliteratur werden im Zusammenhang von Selbstbestimmung v. a. Messinstrumente eingesetzt, welche die Möglichkeiten erheben, die ein Individuum in Bezug auf das Treffen von eigenen Entscheidungen hat.

Community Participation/Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen

Soziale Inklusion ist eine weitere Kerndimension des Lebensqualitätskonzepts von Schalock und Verdugo (2002) und ein wichtiges Leitziel für die Unterstützung der Lebensführung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. In ihrem Überblicksartikel definieren Simplican et al. (2015) das Konzept soziale Inklusion als Interaktion zwischen den zwei wichtigen Lebensbereichen „zwischenmenschliche Beziehungen“ und „Community Participation“, worunter sie die Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen verstehen. Dabei ist die Teilhabe an Aktivitäten nicht auf die örtliche Heimatgemeinde beschränkt, sondern eine Person kann auch an Aktivitäten in verschiedenen Kommunen teilnehmen. Soziale Beziehungen werden in der Forschung zu sozialen Netzwerken unter quantitativen und qualitativen Aspekten untersucht. Im Hinblick auf Community Participation unterscheiden Simplican et al. (2015) fünf Arten von Aktivitäten: Freizeitaktivitäten; politisches oder bürgerschaftliches Engagement; produktive aktive Aktivitäten wie Beschäftigung oder Bildung; konsumptive Aktivitäten (Zugang zu Gütern und Dienstleistungen); religiöse und kulturelle Aktivitäten. Die Teilnahme an solchen Aktivitäten kann dabei in segregierten, teil-segregierten oder integrierten Settings erfolgen (struktureller Aspekt). Außerdem lässt sich das Ausmaß der Beteiligung an Aktivitäten differenzieren: von der bloßen Anwesenheit bei Aktivitäten über Begegnungen bis hin zur Teilnahme in zentraleren Rollen.

In der englischsprachigen Forschungsliteratur ist Community Participation ein wichtiger Indikator für die soziale Inklusion. Im deutschsprachigen Raum ist die Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen zugleich Ziel und Mittel im Handlungskonzept der Sozialraumorientierung.

Qualität von Assistenzleistungen

Die Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigung in unterstützten Wohnsetting ist ein wichtiges Thema der Sozialpolitik und Forschung. Die Forschungsergebnisse zeigen erhebliche Unterschiede der individuellen Lebensqualität zwischen verschiedenen Settings der gleichen Wohnform, z. B. zwischen verschiedenen Wohnheimen. Die Praxis der Unterstützung durch Assistenzpersonen hat einen wesentlichen Einfluss auf die individuelle Lebensqualität (Bigby und Beadle-Brown 2018). Bei der Erhebung der Lebensqualität von Bewohner*innen werden vor allem Befragungsinstrumente oder Interviewleitfäden eingesetzt, die nur selten durch teilnehmende qualitative Beobachtung oder strukturierte Beobachtungsverfahren ergänzt werden (Schäfers 2008). Zur Überprüfung von Assistenzleistungen wurden dagegen strukturierte Beobachtungsverfahren entwickelt, z. B. im Rahmen der Implementierung des Fachkonzeptes Active Support, die Vorteile gegenüber Interview- und Auditverfahren haben.

3 Instrumente in den Themenbereichen

3.1 Adaptives Verhalten

Standardisierte Messinstrumente zu adaptiven Verhalten liegen in deutscher Sprache kaum vor. Obwohl seit Ende der 1950er Jahre adaptive Kompetenzen neben der Intelligenz zentrales Definitionskriterium für eine intellektuelle Beeinträchtigung sind, werden diese im deutschsprachigen Raum nur selten berücksichtigt (Zurbriggen und Ortmann Bless 2017). Dagegen gibt es einige englischsprachige adaptive Verhaltensskalen, die in internationalen Forschungszusammenhängen Anwendung finden, wenn es um die Erhebung der Ausprägung adaptiver Fähigkeiten zur Einschätzung der Personengruppe geht. Price et al. (2018) haben eine systematische Literaturrecherche durchgeführt zu Studien, in denen adaptives Verhalten gemessen wurde. Insgesamt identifizierten sie zwölf verschiedene Erhebungsinstrumente zur adaptiven Verhaltensbewertung, wobei einige davon nicht originär zur Messung des adaptiven Verhaltens entwickelt wurden, aber in Studien für diesen Zweck zum Einsatz kamen. Vier Messinstrumente werden nun ausführlicher vorgestellt:

Die (1) Adaptive Behavior Scale – Residential & Community (second edition) (ABS-RC2), welche eine Weiterentwicklung der Adaptive Behaviour Scale (ABS) ist. Die ABS ging aus der Adaptive Behaviour Checklist hervor, die 1968 als erstes standardisiertes Bewertungsinstrument für adaptives Verhalten entwickelt wurde. Das (2) Adaptive Behaviour Assessment System II (ABAS-II) und die (3) Vineland Adaptive Bahavior Scales II (VABS-II) (bzw. deren Weiterentwicklungen), diese beiden Skalen erwiesen sich in der Studie von Price et al. (2018) als die am weitesten verbreiteten. Und die (4) Diagnostic Adaptive Behaviour Scale (DABS), die 2017 entwickelt wurde und damit das jüngste Instrument darstellt. Eine Beschreibung dieser vier Instrumente nach Zweck, Inhalt, Zielgruppe und Gütekriterien findet sich in Tab. 5.1.

Tab. 5.1 Adaptive Verhaltensskalen mit Angaben zu ihrem Zweck, Inhalt, Zielgruppe und Gütekriterien (Übersetzungen A. Thimm)

Adaptives Verhalten ist ein Kriterium für die Diagnose einer intellektuellen Beeinträchtigung. Insofern wird bei allen vorgestellten adaptiven Verhaltensskalen die Diagnosestellung als Verwendungszweck angegeben. Die Messung adaptiven Verhaltens kann auch der Interventionsplanung dienen im Sinne der Förderung und Entwicklung adaptiver Fähigkeiten, explizit wird dies als Verwendungszweck für die ABS-RC2, ABAS-II und VABS III angegeben. Letztlich können alle standardisierten Instrumente zur Messung des adaptiven Verhaltens auch zu Forschungszwecken verwendet werden. Sie können dienen zur genaueren Beschreibung der Personengruppe und Beschreibung der Schweregrade der Beeinträchtigung und auch zur Messung von Wirkfaktoren und Zusammenhängen. Für die ABS-RC2 und die VABS III wird ausdrücklich auch die Forschung als ein Einsatzgebiet genannt.

Bis heute gibt es keine einheitliche Definition von adaptivem Verhalten. Die Feststellung, „dass adaptives Verhalten das ist, was adaptive Verhaltensskalen messen“ (Price et al. 2018, S. 13, Übersetzung A. Thimm) deutet darauf hin, dass das Verständnis des Konstrukts des adaptiven Verhaltens durch die Operationalisierung in den jeweiligen Messinstrumenten geprägt wird. Den meisten Messinstrumenten liegt eine 3-Faktoren-Struktur zugrunde (konzeptuelle, praktische und soziale Fähigkeiten) (Faktoren/Inhalte in Tab. 5.1), was sich mit den im DSM IV beschriebenen Bereichen des adaptiven Verhaltens deckt. In den Vineland Adaptive Bahavior Scales (VABS-III) werden optional auch motorische Kompetenzen erfasst. Motorische Kompetenzen spielen als weiterer Faktor des adaptiven Verhaltens allerdings nur im Kindesalter eine Rolle (Tassé et al. 2012, S. 293). Sowohl in der ABS-RC2 als auch in der VABS III gibt es zusätzlich auch noch Items zu maladaptivem Verhalten.

Bis auf die DABS, für die als Altersgruppe 4 bis 21 Jahre angegeben ist, sind alle vorgestellten Skalen für Kinder und Erwachsene anwendbar. Bei allen vier englischsprachigen Skalen zu adaptivem Verhalten, die hier vorgestellt werden, handelt es sich um normierte Verfahren mit guten psychometrischen Eigenschaften.

Für das ABAS-II liegt eine deutsche Übersetzung von Orthmann Bless (2013) vor, die jedoch nicht veröffentlicht ist. Zurbriggen und Ortmann Bless (2017) haben eine Überprüfung der psychometrischen Eigenschaften dieser deutschen Übersetzung vorgenommen. Die Überprüfung konnte die 3-faktorielle Struktur nicht bestätigen, wohl aber für die zehn Subdimensionen eine hohe interne Konsistenz nachweisen. Zurbriggen und Orthmann Bless empfehlen angesichts der Bedeutsamkeit des Assessments adaptiver Kompetenzen im deutschsprachigen Sprachraum weiter dazu zu forschen.

In dem Forschungsprojekt MEMENTA zur psychischen Gesundheit von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung wurde zur Schweregradbeurteilung der Intellektuellen Beeinträchtigung ein Einschätzungsbogen entwickelt (Koch et al. 2012), der sich an den Einteilungen des adaptiven Verhaltens, wie sie von Gaese (2007) beschrieben werden, orientiert. Die MEMENTA-Studie ist in der psychiatrischen Versorgungsforschung angesiedelt und wurde am Uni-Klinikums Dresden unter der Leitung von Matthias Schützwohl durchgeführt. Der Einschätzungsbogen wurde entwickelt, um das Einschlusskriterium „Vorliegen einer leichten oder mittelgradigen Intelligenzminderung“ der Studie zu prüfen. Auch dieser Fragebogen ist nicht veröffentlicht. Dieses Beispiel zeigt, dass die Einschätzung des adaptiven Verhaltens zur differenzierteren Betrachtung des Personenkreises von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in Forschungszusammenhängen notwendig ist. Es zeigt auch, dass es an deutschsprachigen Messinstrumenten zur Erhebung des adaptiven Verhaltens fehlt und eigene Einschätzungsskalen entwickelt werden, die unveröffentlicht bleiben und somit keine Verbreitung finden können.

Aktuell erschienen ist auch eine deutsche Fassung der Vineland Adaptive Behavior Scales (Vineland-3) (Sparrow et al. 2021). Es gibt zwei Versionen zur Beurteilung von Personen im Alter von 3;0 bis 21;11 Jahren: eine Version für Eltern bzw. eine Hauptbezugsperson und eine Version, bei der die Beurteilung durch eine Lehrkraft bzw. eine*n Erzieher*in erfolgt. Für beide Versionen liegen jeweils eine Kurz- und eine Langform vor.

Um auch in deutschsprachigen Forschungszusammenhängen bewährte Instrumente zur Erfassung des adaptiven Verhaltens anzuwenden, wäre es wünschenswert, bereits vorliegende deutsche Instrumente oder Übersetzungen weiter zu verbreiten (ggfs. zunächst einmal zu veröffentlichen), diese zu nutzen und letztlich damit auch Forschungsergebnisse – auch international – vergleichbar zu machen.

3.2 Selbstbestimmung

Für die Erfassung des Ausmaßes von Selbstbestimmung ist es erforderlich, das abstrakte Konstrukt der Selbstbestimmung zu konkretisieren und zu operationalisieren. In verschiedenen Darstellungen der acht Lebensqualitätsdimensionen nach Schalock et al. (2007) werden zu jeder Dimension exemplarische Indikatoren benannt. Übereinstimmend werden der Dimension Selbstbestimmung als zentrale Indikatoren „Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten“, „Kontrollmöglichkeiten“ und „persönliche Ziele und Werte“ zugeordnet (Schalock et al. 2007; Schäfers 2008; Verdugo et al. 2012; Dieckmann et al. 2013). Nach Shogren (2020, S. 29) bedeutet Selbstbestimmung, dass Menschen Urheber ihres eigenen Lebens sind und im Dienst von frei gewählten Zielen handeln. Eine Wahl bzw. Entscheidung zu treffen, gilt als entscheidendes Kriterium der Selbstbestimmung (Brown und Brown 2009; Stancliffe 2020). Um eine Wahl treffen zu können, müssen Wahlmöglichkeiten verfügbar sein und sie müssen bekannt sein (Brown und Brown 2009, S. 12). Voraussetzung dafür ist, dass Menschen Vorlieben ausgebildet und Erfahrungen mit verschiedenen Optionen gemacht haben (Shogren 2020, S. 34). Erst dann ist es möglich, eine wirkliche Entscheidung treffen und kommunizieren zu können im Sinne einer nicht erzwungenen Wahl einer bevorzugten Alternative aus zwei oder mehr Optionen (Stancliffe 2020, S. 5).

Es gibt empirische Belege dafür, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zum einen zu weniger Wahlmöglichkeiten Zugang haben als Gleichaltrige ohne Beeinträchtigung und zum anderen häufiger andere Personen für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung Entscheidungen treffen oder ihnen eine eingeschränkte Wahlmöglichkeit oder begrenzte Kontrolle gewähren (Stancliffe 2020, S. 6). Erhebungsinstrumente zu Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung messen daher v. a. zwei Aspekte: 1. Die Verfügbarkeit von Wahlmöglichkeiten und 2. die Kontrolle über Wahlmöglichkeiten (wer entscheidet?) (Stancliffe 2020). Dass andere Aspekte zur Entscheidungsfindung (z. B. Schritte zur Entscheidungsfindung oder Quellen der Unterstützung für die Entscheidungsfindung) von Forschern bei der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten weniger beachtet wurden, begründet Stancliffe (2020, S. 7) damit, dass diese Faktoren zunächst irrelevant sind, wenn eine Person gar keine Wahlmöglichkeiten hat.

Es gibt eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten, die Menschen zur Verfügung stehen. Erhebungsinstrumente zu Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten können nur eine begrenzte Auswahl an Wahlmöglichkeiten abfragen, sodass diese als Indikatoren für die Verfügbarkeit von Wahlmöglichkeiten im Allgemeinen dienen sollen. Faktorenanalytische Untersuchungen ergaben, dass sich zwei Arten von Wahlmöglichkeiten unterscheiden lassen: Entscheidungen über alltägliche Angelegenheiten (z. B. was man anzieht, wann man ins Bett geht) und Entscheidungen über wichtige Lebensfragen (z. B. wo man wohnt, mit wem man zusammenlebt) (Stancliffe 2020, S. 10). Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Entscheidungen über alltägliche Angelegenheiten Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung eher zugänglich sind als Entscheidungen zu wichtigen Lebensfragen (Stancliffe 2020). Eine Analyse verschiedenster Messinstrumente zu Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ergab, dass bestimmte Lebensbereiche wie z. B. Sexualität, Elternschaft oder Fragen am Lebensende fast nie enthalten sind (Stancliffe 2020, S. 9).

In Tab. 5.2 werden vier Messinstrumente vorgestellt, welche die Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erfassen. Sie sind einer Auflistung von O’Donovan et al. (2017, S. 473 f.) entnommen, in der acht Instrumente beschrieben werden. Ausgewählt für die nähere Beschreibung wurden solche Messinstrumente, die über Veröffentlichungen in Zeitschriften leicht zugänglich waren und zu denen damit Informationen zur Formulierung und Bewertung der einzelnen Skalen-Items vorliegen. Außerdem geht es bei allen ausgewählten Messinstrumenten inhaltlich um Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten in Wohn-, Freizeit- und gemeinwesenbezogenen Fragen. Die Gesamtauflistung von O’Donovan et al. (2017) umfasste auch eine Skala, mit der sich Wahlmöglichkeiten am Arbeitsplatz untersuchen lassen (Agran et al. 2010).

Tab. 5.2 Messinstrumente zu Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung mit Angaben zu ihrem Zweck, Inhalt, Zielgruppe und Gütekriterien

Zielgruppe aller vier Instrumente in Tab. 5.2 sind erwachsene Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Die Residence Choice Scale (Hatton et al. 2004) richtet sich nur an Menschen, die in besonderen, früher stationär genannten Wohnformen leben (z. B. in Wohnheimen). Bei allen 4 Instrumenten geht es bei der Bewertung der Items um den Grad der Kontrolle, die der Mensch mit Beeinträchtigung bei verschiedenen Wahlmöglichkeiten ausübt. Der Grad der Kontrolle reicht von „keine Wahl“, weil andere entscheiden oder keine Wahl zur Verfügung steht, über „gewisses Maß an Wahl“, d. h. es gibt ein Mitspracherecht, aber nicht die volle Kontrolle, bis hin zu „volle Kontrolle und eigene Wahl“. Beim Choice Questionnnaire (Stancliffe und Parmenter 1999), dem Daily Choice Inventory (Heller et al. 2000) und dem Decision Control Inventory (Conroy et al. 2003) werden die Items danach eingeschätzt, wer entscheidet. Dies erfolgt beim Daily Choice Inventory auf einer 2-Punkte-Skala (selbst oder andere). Eine 3-Punkte-Skala wird beim Choice Questionnaire (selbst/mit Hilfe/andere) und dem Decision Control Inventory (selbst/bezahlte Mitarbeiter*innen/Wahl zu gleichen Teilen) benutzt. Bei der Residence Choice Scale (Hatton et al. 2004) wird der Grad der Kontrolle nicht danach eingeschätzt, wer entscheidet, sondern auf einer 4-Punkte-Skala das Ausmaß der Wahlmöglichkeiten beurteilt (keine Gelegenheit zur Wahl/kaum wirkliche Wahl/Vorlieben äußern, aber ohne letztlich Entscheidung treffen zu können/Präferenz und letztes Wort bei Entscheidungen haben (es sei denn, sie sind zu gefährlich)).

Inhaltlich werden bei allen vier Instrumenten vorrangig alltägliche Entscheidungssituationen eingeschätzt, mit denen die meisten Menschen häufig zu tun haben (z. B. was man isst oder trinkt, was man anzieht, wann man ins Bett geht, was man in der Freizeit tut, wofür man Geld ausgibt, mit wem man sich trifft etc.). Das Decision Control Inventory und die Residence Choice Scale beinhalten zusätzlich auch Items zu größeren Entscheidungen in wichtigen Lebensfragen (z. B. wo man wohnt, wer einen unterstützt). O’Donovan et al. (2017, S. 473) geben an, dass das Daily Choice Inventory aus 12 Items besteht zu alltäglichen und größeren Entscheidungen. In der Originalquelle werden nur 11 Items aufgeführt und es bleibt unklar, welche Entscheidungen als größere und welche als alltägliche eingestuft werden. Die anderen drei Messinstrumente beinhalten deutlich mehr Items (26 bzw. 35). Der Choice Questionnaire und die Residence Choice Scale fassen die Items zudem in Subskalen zusammen (Tab. 5.2).

Alle Skalen sind so konzipiert, dass sie stellvertretend von Schlüsselpersonen ausgefüllt werden. Lediglich der Choice Questionnaire und das Decision Control Inventory sehen vor, auch zur Selbsteinschätzung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung genutzt werden zu können. Angesichts des Trends, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aktiv an Forschung zu beteiligen, verwundert es, dass sich viele, auch neuere Studien zur Verfügbarkeit von Wahlmöglichkeiten ausschließlich auf stellvertretende Erhebungen konzentrieren (Stancliffe 2020, S. 10). Zur Übereinstimmung von Selbst- und Fremdeinschätzungen in Bezug auf Wahlmöglichkeiten gibt es unterschiedliche Befunde. Während manche Studien eine gute Übereinstimmung konstatieren, kommen andere Untersuchungen zu gegenteiligen Ergebnissen. Stancliffe (2020) empfiehlt daher, wenn beide Datenquellen erhoben werden können, diese auch getrennt zu analysieren.

Schäfers (2008, S. 101 f.) hat einige deutsch- und englischsprachige Befragungsinstrumente zusammengetragen, welche v. a. subjektive Lebensqualitätsaspekte im Sinne von Zufriedenheit und erlebten Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten thematisieren. In zwei deutschen Instrumenten tauchen in der Instrumentenbezeichnung explizit „Selbstbestimmung“ oder „Entscheidungsmöglichkeiten“ auf: Fragebögen im Projekt „Selbstbestimmung und Selbstvertretung im Alltag“ (Kniel und Windisch 2002) und „Interview zu individuellen Entscheidungsmöglichkeiten und Lebenszufriedenheit im Bereich Wohnen“ (Bundschuh und Dworschak 2002). In Deutschland sind Erhebungsinstrumente zur Erfassung von subjektiver Lebensqualität, Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung eher „als Mittel zum Zweck“ im Rahmen von empirischen Untersuchungen zu deren Lebenssituation entstanden. Anders als die vorgestellten englischsprachigen Instrumente wurden sie nicht auf Basis einer systematischen Itemanalyse entwickelt, empirisch überprüft und für Folgebefragungen weiterentwickelt (Schäfers 2008, S. 145). Auch im Themenfeld der Selbstbestimmung wäre es empfehlenswert, bereits existierende, bewährte und empirisch überprüfte englischsprachige Instrumente ins Deutsche zu übersetzen, diese weiterzuentwickeln und in wissenschaftlichen Untersuchungen einzusetzen, um mehr Vergleichbarkeit zwischen Studien zu erzielen. Schäfers selbst hat ein Erhebungsinstrument entwickelt zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit Intellektueller Beeinträchtigung, die in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben. Drei Kerndimensionen stehen im Fokus: (1) die Zufriedenheit in Lebensbereichen, (2) Selbstbestimmungsmöglichkeiten („Wahlfreiheiten und Reglementierungen“) und (3) Partizipation am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben („soziale Aktivitäten“) (Schäfers 2008, S. 185). Der Fragebogen enthält 14 Fragen zur Wahlfreiheit und Reglementierungen, die z. T. aus bestehenden englischsprachigen Instrumenten zur Erfassung der Lebensqualität entnommen und zum Teil neu formuliert wurden (Schäfers 2008, S. 207). Bei der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen den drei Kerndimensionen stellte Schäfers einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Wahlfreiheit und subjektiver Zufriedenheit fest: je mehr Wahlfreiheiten, umso größer war die Zufriedenheit einer Person (Schäfers 2008, S. 291).

3.3 Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen

Taylor-Roberts et al. (2019) haben zwei systematische Recherchen zur Identifikation von Messinstrumenten durchgeführt, welche die „Community Participation“ von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erheben und zu denen Angaben zu psychometrischen Eigenschaften vorliegen. Für die Untersuchung legten die Autoren das Begriffsverständnis von Chang et al. (2013) zugrunde, die „Community Participation“ verstehen als eine aktive Beteiligung an Aktivitäten, die inhärent sozial sind und entweder außerhalb des Hauses stattfinden oder Teil einer außerhäuslichen Rolle sind. „Community Participation“ wird im Folgenden als „Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen“ übersetzt, wobei das Gemeinwesen nicht auf den Wohnort beschränkt wird.

Grundsätzlich lassen sich zwei Dimensionen bei der Erfassung von „Community Participation“ unterscheiden: zum einen die Häufigkeit bzw. Vielfalt der Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen, zum anderen die Erfahrungen und Zufriedenheit mit der Teilhabe bzw. deren Auswirkung auf das Wohlbefinden. Die von Taylor-Roberts et al. (2019) identifizierten Messinstrumente konzentrieren sich auf das quantifizierbare Niveau der Beteiligung an Aktivitäten im Gemeinwesen. Diese Messgröße ist in der empirischen Forschung, bei der „Community Participation“ sowohl als unabhängige als auch als abhängige Variable untersucht wird, weit verbreitet und liefert standardisierte und vergleichbare Informationen.

Taylor-Roberts et al. (2019) haben insgesamt elf für erwachsene Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung konzipierte Messinstrumente zur Erfassung von „Community Participation“ identifiziert, die zwischen 1979 und 2016 veröffentlicht wurden. Bei allen Messinstrumenten stellten sie z. T. erhebliche psychometrische Schwächen fest. Besondere Schwachstellen waren die inhaltliche Validität sowie die mangelnde Aufmerksamkeit für die Faktorenanalyse der Dimensionen und die Überprüfung der Reliabilität. In Tab. 5.3 sind zehn Instrumente aufgelistet mit den von Taylor-Roberts et al. (2019, S. 709 ff.) beschriebenen Informationen. Die ersten beiden Instrumente in Tab. 5.3 (GCPLA und LEC) schneiden bei den von Taylor-Roberts et al. angelegten Qualitätskriterien am besten ab. Von den beiden ist allerdings nur das GCPLA leicht zugänglich in Deutschland. Dies spiegelt ein Grundproblem wider bei der Beschaffung von Messinstrumenten: Viele Instrumente sind nicht vollständig publiziert und damit schwer zugänglich. Auch die Quellenangaben, in denen auf Studien verwiesen wird, in denen die Instrumente eingesetzt wurden, beinhalten z. T. nur wenig Informationen zu den Instrumenten. Oft ist eine Beschaffung der nicht-veröffentlichten Originalmessinstrumenten nur über eine persönliche Kontaktaufnahme zu den Autor*innen möglich (Schäfers 2008, S. 101; Taylor-Roberts et al. 2019, S. 714).

Tab. 5.3 Messinstrumente zu Community Participation (Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen) (Quelle: Taylor-Roberts et al. 2019)

Das Guernsey Community Participation and Leisure Assessment (GCPLA) von Baker (2000) ist ein strukturiertes Interview, mit dem Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung danach befragt werden, wie häufig sie an verschiedenen Aktivitäten teilnehmen und wer sie dabei begleitet. Nur wenn die Menschen mit Beeinträchtigung selbst nicht in der Lage sind, darüber Auskunft zu geben, wird der Fragebogen stellvertretend ausgefüllt. Insgesamt werden 49 Items aus 6 Bereichen abgefragt: Dienstleistungen (Hausärzt*innen, Zahnärzt*innen, Krankenhaus, Polizei), Öffentliche Verkehrsmittel (Bus, Zug, Taxi, Boot, Flugzeug), Indoor-Freizeitaktivitäten (Kunst, Spiele, TV, Video, Musik (hören, spielen, Haustiere), Freizeit, Sport und Erholung (Kirmes, Museum, Sport, Kino, Theater, Konzert, Park, Strand, Laufen, Schwimmen, Urlaub, Segeln etc.), soziale Aktivitäten (Disco, Party, Restaurant, zu Hause bei Nachbar*innen, zu Hause bei Freund*innen etc.) und Einrichtungen (Geschäfte, Frisör*in, Supermarkt, Post, Bank, Kirche etc.) (Baker 2000, S. 181). Im Vergleich zu den anderen Messinstrumenten werden hier eine große Breite und Vielfalt verschiedenster Aktivitäten im Gemeinwesen abgefragt. Ausgenommen das Leisure Assessment Inventory, in dem 53 verschiedene Aktivitäten thematisiert werden, werden bei den anderen Instrumenten lediglich 18 oder weniger Aktivitäten erfasst. Von den von Simplican et al. (2015) unterschiedenen fünf Arten von Aktivitäten werden in den Instrumenten Aktivitäten zu politischem oder bürgerschaftlichem Engagement und produktive aktive Aktivitäten wie Beschäftigung oder Bildung nicht aufgegriffen. Im GCPLA werden die 49 Items zum einen nach der Häufigkeit, mit der eine Aktivität in den letzten 6 Monaten durchgeführt wurde, eingeschätzt. Dies geschieht auf einer 5- stufigen Skala. Es gibt andere Instrumente, die weniger differenziert lediglich zwischen Ja/Nein-Antworten unterscheiden und damit einen groberen Wert erzielen, der weniger etwas über die Häufigkeit der Teilnahme als eher etwas über die Anzahl verschiedener besuchter Aktivitäten und über Vorlieben oder Einschränkungen ausdrückt (s. Tab. 5.3: z. B. Index of Community Involvement, Community Integration Scale oder Leisure Assessment Inventory). Das GCPLA fragt auch danach, mit wem die Aktivitäten meistens durchgeführt werden. Diese Kontakte werden kodiert als: beaufsichtigte Kontakte („supervised“, Mitarbeiter*innen als Aufsicht mit dabei), begleitet von Mitarbeiter*innen (aber nicht als Aufsicht), allein und mit Freund*innen („peer group“). Die Häufigkeit der Kontakte – auch zu Verwandten und Freund*innen – wird in halbjährlich stattfindenden Interviews erfasst. Auch das Community Participation Inventory (CPI) von Stancliffe und Keane (2000) fragt neben der Anzahl und Häufigkeit von aufgesuchten Orten in der Gemeinde danach, ob die Teilnahme an den Aktivitäten eher mit oder ohne personelle Unterstützung verbunden ist. Alle anderen Instrumente erfassen lediglich die Anzahl bzw. Häufigkeit von Aktivitäten im Gemeinwesen.

In der zusammenfassenden Bewertung der vorgestellten Instrumente stellen Taylor-Roberts et al. (2019) kritisch fest, dass es an einem überzeugenden Instrument, das Community Participation erhebt und psychometrische Eigenschaften aufweist, fehlt. Viele der Messinstrumente sind veraltet und wurden isoliert und ohne Bezug zu den bestehenden Messinstrumenten entwickelt. Alle vorgestellten Instrumente befassen sich ausschließlich mit einem quantifizierbaren Maß der Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen. Bei der Bestimmung und Sicherstellung von Teilhabe spielen aber auch andere Aspekte eine Rolle: die Wahlmöglichkeiten oder die Intensität der Beteiligung (Taylor-Roberts et al. 2019, S. 717), die Erfahrungen und Zufriedenheit mit der Teilhabe, die Art der Rolle, welche bei der Teilnahme eingenommen wird und nicht zuletzt die Herstellung sozialer Beziehungen durch die Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen. Dabei kann die Teilnahme an Aktivitäten auch danach unterschieden werden, ob sie in segregierten, teil-segregierten oder integrierten Settings erfolgt. Im GCPLA wird diese Unterscheidung bei zwei Items aufgegriffen (Aktivitäten im Verein (integriert und segregiert)).

Alle genannten Aspekte der Teilhabe, die über das quantifizierbare Maß an Vielfalt und Häufigkeit der Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen hinausgehen, werden allerdings erst dann relevant, wenn Menschen an diesen Aktivitäten teilnehmen. Eine geringe Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen ist bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oft auch eine Folge der kleinen sozialen Netzwerke, wenn nämlich nur professionelle Unterstützer*innen und Angehörige Aktivitäten mit initiieren und begleiten. Insofern kann die Häufigkeit der Teilnahme ein wichtiger Indikator für Teilhabe sein. Für eine umfassendere Beurteilung der Teilhabe sollten allerdings noch weitere Aspekte erhoben werden. Hier besteht ein Entwicklungsbedarf an Messinstrumenten, die umfassendere Aspekte von sozialer Teilhabe erfassen. Interessanterweise hat Schäfers (2008, S. 300) bei der Analyse des Zusammenhangs von der Häufigkeit der Ausübung von Aktivitäten und der Zufriedenheit mit Freizeit- und Teilhabemöglichkeiten (beides erfasst mit seinem Instrument zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung) festgestellt, dass ein höherer Aktivitätsindex nicht mit höherer Zufriedenheit mit Teilhabemöglichkeiten einhergeht. Er interpretiert dies mit einem unterschiedlichen Erwartungs- und Anspruchsniveau der befragten Personen. „Offenbar scheint es so zu sein, dass die befragten Personen, welche weniger am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, auch nicht den Wunsch besitzen, mehr Aktivitäten auszuüben (selbstbestimmte „Nicht-Teilhabe“). Auf der anderen Seite wünschen sich diejenigen Personen mit höheren Aktivitätsniveaus, diese sozialen Aktivitäten häufiger ausführen zu können“ (Schäfers 2008). Das Ergebnis kann aber auch anders gedeutet werden: Personen mit weniger Erfahrungen und Möglichkeiten, an Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen, wissen vielleicht gar nichts von diesen Möglichkeiten und können daher aufgrund mangelnder Erfahrungen ihre Zufriedenheit mit den Teilhabemöglichkeiten nur eingeschränkt beurteilen, da sie nicht den Vergleich haben, wie es wäre, wenn sie an diesen Aktivitäten teilnehmen könnten. Letztlich spricht der vorgestellte Befund von Schäfers dafür, zur Beurteilung von Teilhabe und Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen zusätzliche Aspekte als das rein quantifizierbare Maß von Häufigkeiten zu erheben, um differenzierte Aussagen machen zu können, wie gut die Teilhabe im Gemeinwesen letztlich gelingt und wie zufrieden die Menschen mit Beeinträchtigungen damit sind.

3.4 Strukturierte Beobachtung von Assistenzhandlungen

Die Ausführungen zu strukturierten Beobachtunginstrumenten für die Qualität von Assistenz beruhen auf Arbeiten der australischen Forschungsgruppe von Christine Bigby an der La Trobe University in Melbourne (Bigby et al. 2021; Humphreys et al. 2021; Araten-Bergman et al. 2021). Strukturierte Beobachtungsinstrumente wurden eingesetzt in Untersuchungen zur Interaktion von Mitarbeiter*innen mit Personen mit Beeinträchtigungen und zur Implementierung der Fachkonzepte „Active Support“ und „Practice Leadership“. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Assistenz für Personen, die in Wohngruppen oder Wohngemeinschaften leben.

Die strukturierte Beobachtung des Assistenzhandelns hat gegenüber Interviews oder der Analyse von Leistungsdokumentationen nach Bigby et al. (2021) entscheidende Vorteile:

  • Sie bildet ab, was tatsächlich von den Diensten geleistet wird.

  • Sie ist objektiver und beruht weniger auf Interpretationen.

  • Personen mit schweren oder tiefgreifenden intellektuellen Beeinträchtigungen, die sich nicht zur Qualität der Unterstützung äußern können, lassen sich einbeziehen.

  • Auf die stellvertretende Befragung von Angehörigen oder Mitarbeiter*innen, die Interessenkonflikte haben können, kann verzichtet werden. Effekte der sozialen Erwünschtheit oder geringe Ansprüche an Unterstützung, die in Interviewaussagen hineinspielen, werden vermieden.

  • Berichte von Audits oder die Auswertung von Leistungsdokumentationen haben sich als wenig zuverlässig erwiesen.

Nachteile der strukturierten Beobachtung liegen darin, dass sie aufwendiger ist, Kompetenzen bei der Durchführung voraussetzt und die subjektive Sicht der Nutzer*innen von Wohndiensten nicht abgebildet wird (Bigby et al. 2021).

Neben der Untersuchung der grundlegenden Zusammenhänge zwischen Kontextvariablen, der Unterstützung durch Assistenzpersonen und der Lebensqualität von Bewohner*innen können die Instrumente in der Praxis eingesetzt werden zur Verbesserung der Qualität von Wohndiensten, zur Messung des Erfolgs von Mitarbeiterfortbildungen, als Feedback im Rahmen der Teamentwicklung und zur externen Beurteilung der Qualität von Assistenzleistungen.

Die Instrumente erfassen die Arten von Aktivitäten, an denen Bewohner*innen beteiligt sind, wie z. B. soziale/gesellige Aktivitäten, einfache oder komplexere Aktivitäten der Selbstversorgung, im Haushalt oder in der Freizeit; die Häufigkeit und Art der Unterstützung durch Mitarbeiter*innen sowie Merkmale der Interaktionen zwischen Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen.

Ausführlicher werden in der Tab. 5.4 vier Instrumente vorgestellt, die auf die Entwicklung des Fachkonzepts „Active Support“ zurückgehen. Sie wurden bereits von verschiedenen Autor*innen in zahlreichen Studien verwandt, sind vergleichsweise einfach gehalten, ermöglichen Assistenzhandeln in einer kompletten Wohngemeinschaft oder Wohngruppe zu erheben und sind auf die Weiterentwicklung der Assistenzpraxis im Wohnen ausgerichtet.

Tab. 5.4 Strukturierte Beobachtungsinstrumente für Assistenzhandlungen

Diese vier Instrumente sind für die direkte Beobachtung im Alltag vorgesehen (Echtzeit-Beobachtung). Mit dem EMAC (Engagement in Meaningful Activity and Relationships) wird das in einem Zeitintervall von einer Minute Beobachtete direkt in wenigen Kategorien festgehalten (Zeitstichproben). Für die ASM (Active Support Measure) gibt es eine 15-Beobachtungsitems umfassende Langversion (Mansell und Beadle-Brown 2005) und eine kürzere Variante mit 10 Items (ASM-short; Humphreys et al. 2021). Aspekte des in einem Zeitraum von 2 h beobachteten Geschehens werden auf 4-stufigen Likert-Skalen festgehalten (Ratingmethode für Beobachtungsperioden). Das OSS (Observing Staff Support; Araten-Bergman et al. 2021) baut auf der ASM auf und soll von Professionellen in der Berufspraxis (Teamleitungen, Fachdiensten, Supervision, interne und externe Evaluation) angewandt werden. Es ist noch in der Entwicklung. Das Institut für Teilhabeforschung arbeitet zurzeit an deutschsprachigen Übersetzungen dieser vier Beobachtungsbögen.

Daneben sind in den letzten Jahren strukturierte Beobachtungsinstrumente für die Interaktion von Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen entwickelt worden (Bigby et al. 2021). Sie werden hier nicht im Einzelnen beschrieben, weil sie sich entweder stark an der ASM orientieren oder weil sie sich zulasten des gesamten Interaktionsgeschehens auf Teilaspekte beschränken (z. B. nonverbales Verhalten) oder weil sie als wenig zuverlässig erscheinen (z. B. wenn jedes Item ein mehrdimensionales Konzept abbilden soll). Zum Teil arbeiten diese Instrumente auch mit Videoaufzeichnungen, die nach der Aufzeichnung feinkörnig analysiert werden.

Das Dementia Care Mapping ist ein in Pflegeeinrichtungen gebräuchliches Beobachtungsinstrument, um Aktivitäten und Stimmungslagen von dementiell erkrankten Bewohner*innen und deren Interaktion mit Mitarbeiter*innen abzubilden. Versuche in Schottland, das Dementia Care Mapping auf die Situation von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in unterstützten Wohnsettings zu adaptieren, waren nicht erfolgsversprechend (Bigby et al. 2021).

4 Fazit

In Deutschland ist die Anwendung von standardisierten Erhebungsinstrumenten weniger verbreitet als in anderen Ländern. International bewährte Messinstrumente zu übersetzen und weiterzuentwickeln lohnt, weil die deutschsprachige Forschung dann anschlussfähig wird und ihr zuverlässigere und validere Erhebungsinstrumente zur Verfügung stehen. Das spart auch aufwendige Neuentwicklungen.

In der Forschung herrscht allerdings die Tendenz vor, Frage- oder Beobachtungsbögen im Rahmen eines eng umrissenen Forschungsprojekts für einen ganz bestimmten Studienzweck zu entwickeln. Diese Forschungspraxis geht mit folgenden Nachteilen einher:

  • Konzepte, wie z. B. Beispiel Selbstbestimmung, werden nicht hinreichend oder idiosynkratisch, ausschließlich auf den konkreten Studienzweck hin operationalisiert. Dadurch fällt es auch schwer, Ergebnisse einer Studie mit anderen Untersuchungen zu vergleichen.

  • Häufig wird auf eine Itemanalyse und Überprüfung der Gütekriterien wie Reliabilität und Validität verzichtet. Es bleibt unklar, wie zuverlässig die Instrumente messen, und ob sie das abbilden, was sie vorgeben zu messen.

  • Es wird oft ausschließlich ein einziges Erhebungsformat benutzt – z. B. ein Fragebogen für die Fremdauskunft oder ein Fragebogen in schwerer Sprache usw.. Um die Lebensrealität von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in ihrer Vielfalt zu erheben, sind aber unterschiedliche Erhebungsformate notwendig, die die verschiedenartigen sozialen und kommunikativen Kompetenzen berücksichtigen. Während in der Vergangenheit Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung noch als ungeeignet für jegliche Form von strukturierter Befragung galten, hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die meisten von ihnen sehr wohl selbst Auskunft geben können, wenn die Instrumente und die Erhebungssituation entsprechend gestaltet sind, z. B. durch die Verwendung von leichter Sprache mit oder ohne Unterstützung durch Bilder, durch das Anbieten einer mündlichen oder schriftlichen Befragung in Papierform oder Online. Beobachtungsinstrumente stellen auch eine Alternative zu Fremdauskünften (Proxy-Befragungen) dar.

  • Einige Messinstrumente werden gar nicht publiziert. Die transparente Veröffentlichung der verwendeten Instrumente ist eine wichtige Voraussetzung, um effizient an vorhandener Forschung anzusetzen und Instrumente weiterzuentwickeln.

Die Entwicklung theoretisch-konzeptuell gut verankerter, testtheoretisch überprüfter Instrumente mit verschiedenen, auf die sozialen und kommunikativen Kompetenzen angepassten Formaten erfordert jedoch erhebliche Ressourcen. Wie aufwendig eine solche Entwicklung sein kann, zeigt der Teilhabe Survey, der im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Teilhabe und Teilhabebarrieren von Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen in ganz Deutschland erheben soll (Schröder et al. 2017; Schäfers und Schachler 2021). Finanzielle Ressourcen für eine anspruchsvolle Instrumentenentwicklung können unseres Erachtens eher akquiriert werden, wenn die Instrumente nicht nur in der Forschung, sondern – mitunter in abgewandelter Form – auch für Zwecke in der Praxis verwandt werden können.

Das Vorhandensein theoretisch fundierter und klar definierter Konzepte und Konstrukte, die von einer breiten Forschungsgemeinschaft geteilt und weiterentwickelt werden, fördert die Entwicklung wissenschaftlich fruchtbarer Instrumente. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Lebensqualitätskonzept von Schalock und Verdugo (2002) mit seinen acht Dimensionen, das sich in die Tradition der Lebensqualitätsforschung stellt, diese weiterentwickelt und spezifiziert durch Erkenntnisse aus dem Forschungsfeld „Behinderung“. Das Lebensqualitätskonzept integriert Leitkonzepte der Unterstützung und beruht auf zahlreichen empirischen Untersuchungen in unterschiedlichen Ländern. Das Lebensqualitätskonzept als Messkonstrukt hat eine hohe integrative Funktion für die Forschung, was in den Kapiteln 3 und 4 ausgeführt wird. Und gleichzeitig ist es nicht in Stein gemeißelt, sondern lässt sich in andere theoretische Bezüge stellen, zum Beispiel zum Konzept der Teilhabe und der Klassifikation von Aktivitäten und Teilbereichen in der ICF (Kap. 2), und weiterentwickeln.

Konkrete Empfehlungen zu den Themenbereichen:

  • Instrumente zu adaptivem Verhalten: Die vorgestellten Skalen knüpfen an die Definition von adaptivem Verhalten im DSM-IV an und erfüllen hinreichend die Gütekriterien. Es gibt bereits deutsche Übersetzungen für die Skalen ABAS II (aber nicht veröffentlicht) und Vineland III (veröffentlicht). Instrumente zu adaptivem Verhalten sollten in Forschungszusammenhängen genutzt werden, um den Schweregrad kognitiver Beeinträchtigungen einer Stichprobe zu erfassen und Zusammenhänge mit anderen Variablen in der Wohnforschung zu untersuchen.

  • Fragebögen bzw. strukturierte Interviews zur Selbstbestimmung: Die vorgestellten Fragebögen messen den Grad der Kontrolle bei Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Dabei wird zwischen alltäglichen Entscheidungen und größeren Lebensentscheidungen unterschieden. Für keinen der Fragebögen gibt es bislang eine deutschsprachige Übersetzung. Methodisch sinnvoll sind Instrumente, für die sowohl eine Selbst- wie auch eine Fremdauskunftsversion vorliegen – wie z. B. das Decision Control Inventory von Conroy et al. (2003). Bestimmte Themen (z. B. zur Sexualität oder zu Fragen am Lebensende) tauchen in Fragebögen zu Wahlmöglichkeiten bisher selten auf und sollten noch hinzugefügt werden. Zudem wird empfohlen, ergänzend auch die subjektive Zufriedenheit mit Wahlmöglichkeiten zu erfassen.

  • Fragebögen bzw. strukturierte Interviews zu Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen: Erfasst werden die Häufigkeit und Vielfalt von Aktivitäten im Gemeinwesen. Das Guernsey Community Participation and Leisure Assessment (GCPLA) von Baker (2000) bildet eine breite Vielfalt von Aktivitäten ab und schneidet bei der Qualitätsbewertung im Vergleich zu den anderen Fragebögen am besten ab – eine Übersetzung ins Deutsche wäre wünschenswert. Das Konstrukt „Teilhabe an Aktivitäten im Gemeinwesen“ beinhaltet aber noch andere Aspekte, z. B. Wahlmöglichkeiten; eingenommene Rollen bei Aktivtäten; Beziehungen, die durch die Teilnahme entstehen. Instrumente sollten entwickelt werden, die auch diese Aspekte erfassen.

  • Strukturierte Beobachtung von Assistenzhandlungen: Die englischsprachigen Beobachtungsinstrumente fokussieren das Handeln von Assistenzpersonen in unterstützten Wohngemeinschaften oder Wohngruppen. Ein kurzes und mithilfe einer App einfach handhabbares Instrument wird gerade für die Berufspraxis entwickelt. Deutschsprachige Übersetzungen sind in Arbeit. Die Instrumente fokussieren die Art der Einbeziehung in Aktivitäten und die Interaktion zwischen der Assistenzperson und dem/der Klient*in. Theoretischer Hintergrund ist das Fachkonzept Active Support. Wünschenswert wären Instrumente, die die Einbettung der Unterstützung durch Assistenzpersonen in die personenorientierte Teilhabeplanung und das Teilhabemanagement im Alltag berücksichtigen. Das könnte zum Beispiel durch die Auswahl der beobachteten Situationen passieren, die sich an der gewünschten Teilhabeunterstützung orientiert. Die strukturierte Beobachtung ist ein Weg, Qualitäten der Unterstützung zuverlässiger und näher am Alltagsgeschehen zu erfassen, als das mit Dokumentationen und Audits der Fall ist. Daneben müssen strukturelle Aspekte der Unterstützungssituation einbezogen werden, wie es z. B. das Quality of Support-Instrument versucht, das zurzeit für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung im Alter von Schepens und Kolleg*innen an der Katholischen Universität Leuven erprobt wird.