Nach dem „PISA-Schock“ im Jahr 2001, der durch das schlechte Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich der Leistungsfähigkeit der Erziehungssysteme ausgelöst wurde, führten alle Bundesländer außer Rheinland-Pfalz, die bis dato noch ein dezentrales Abitur hatten, als Strategie im Rahmen der sogenannten „Neuen Steuerung“ im Bildungswesen das Zentralabitur ein. Gleichzeitig wurde das Zentralabitur in den Bundesländern, die bereits auf eine längere Zentralabiturtradition zurückblicken konnten, funktional umgedeutet. Während es zuvor vornehmlich der Selektion diente, sollte es nun auch die Evaluation der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems ermöglichen und der Legitimation des bildungspolitischen Handelns dienen. Über die Reformen des Abiturs hinaus wurden auch die Lehrpläne reformiert. Diese orientieren sich nun an zu erwerbenden Kompetenzen und geben in Form von Regelstandards vor, was die Schüler_innen am Ende eines Lernabschnitts gelernt haben sollen.

Dieser durch die Bildungsadministration auf den Weg gebrachte Wandel der beiden maßgeblichen Steuerungsinstrumente in der Oberstufe – Abitur und Lehrplan – wirkt sich auf den Unterricht aus. Dabei sind Prozesse aufgrund der „polykontexturalen Verhältnisse“ von vornherein nicht linear, sondern komplex angelegt (Vogd, 2005, S. 112–113). Mit dem damit notwendig gewordenen Abschied von der Illusion des didaktischen Dreiecks braucht es Modelle, die sich der Komplexität von Unterricht und dem Prüfen im Unterricht anzunähern vermögen. Hinzu kommen widersprüchliche funktionale Zuschreibungen: Bildung bzw. Erziehung mit der korrespondierenden Förderdiagnostik auf der einen und Selektion mit der Leistungserfassung und -bewertung auf der anderen Seite. Lehrer_innen müssen in der Folge fortwährend in kontingenten Situationen Handlungsalternativen abwägen und Entscheidungen treffen.

Die bildungspolitischen Innovationen bringen verstärkte Forschungsaktivitäten mit sich. So ergibt eine Datenbankabfrage im „Fachportal Pädagogik“ (Stand Juli 2019) seit 2002 3593 Publikationen zum Thema „PISA-Studie“ (Höchststand: 2002: 560 Publikationen), 5083 Publikationen zum Thema „Steuerung“ und „Governance“ (Höchststand: 2013: 419), 1217 Publikationen zum Thema „Kompetenzorientierung“ (Höchststand 2012: 161) und 230 zum Thema „Zentralabitur“ (Höchststand 2007: 38). Dabei sind sowohl die Hintergründe der bildungspolitischen Entscheidungen, als auch die Innovationen selbst und ihre Konsequenzen Forschungsgegenstände. Die Forschung zu Letzteren kann sich auf eine lange englischsprachige Forschungstradition zu den Wirkungen sogenannter „high-stakes Testsysteme“ beziehen, die vor allem Teaching-to-the-Test-Effekte als negative Folgen nachgewiesen haben. Allerdings unterscheidet sich die deutsche Umsetzung der Strategien der „Neuen Steuerung“ derart von den international diskutierten Standardisierungstendenzen und Testsystemen etwa der USA, dass die Ergebnisse nicht übertragbar sind und nur an die deutsche Bildungslandschaft angepasste Forschung substanzielle Beiträge zur Diskussion liefern kann. Diese befindet sich allerdings noch in den Anfängen und liefert lediglich erste Ergebnisse, die bundesländer-, kurs- und auch fachspezifisch ausfallen.

Bezogen auf das Unterrichtsfach Geographie liegen bislang nur erste kleinere Studien zu Klausuraufgaben zur Beurteilungs- und Bewertungskompetenz (Felzmann, 2013) sowie zur Bewertung sprachlicher Leistungen und zum Umgang der Schüler_innen mit Materialien im Kontext des Zentralabiturs (Gohrbandt, Mäsgen, Weiss & Wiktorin, 2013) vor. Ein Forschungsdesiderat stellt somit die systematische Untersuchung der Aufgabenkultur im Geographiezentralabitur dar, wie sie etwa für naturwissenschaftliche Fächer von Kühn (2010) durchgeführt wurde. Zudem gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Auswirkungen des Geographiezentralabiturs auf den Unterricht, sodass hier eine Leerstelle der geographiedidaktischen Handlungsforschung vorliegt.

Wenn Vogd (2005, S. 112) eine „komplexe Erziehungswissenschaft jenseits von empirieloser Theorie und theorieloser Empirie“ fordert und Herzog (2011, S. 175) bemängelt, dass die Didaktiken „den sozialer Charakter und die soziale Dynamik“ des Unterrichts weitestgehend ausblendeten, wird deutlich, dass neben den skizzierten Forschungslücken in der Bildungsforschung und Geographiedidaktik auch grundsätzlich ein Bedarf an Forschungsarbeiten besteht, die gleichzeitig die Komplexität der Prozesse im Erziehungssystems aufzugreifen und zu analysieren vermögen und dennoch mithilfe einer empirischen Basis bis auf die Objektebene herunterreichen.

Diese Arbeit leistet einen Beitrag zur fachlichen Bildungsforschung, weil – aufbauend auf dem Stand der Forschung – einerseits dem Grad der Standardisierung in der Prüfungskultur im Geographiezentralabitur und andererseits dessen Folgen nachgegangen wird. Diese Arbeit leistet darüber hinaus einen Beitrag zur geographiedidaktischen Forschung, weil wichtige Kontextfaktoren des Unterrichts in der Oberstufe, der „im Rahmen einer komplexen Organisation stattfindet, deren Funktionieren Zwänge erzeugt“ (Herzog, 2011, S. 183), und das darauf bezogene Handeln von Geographielehrer_innen in den Blick genommen werden. Auch wenn der Fokus dieser Arbeit auf den Lehrkräften liegt, soll dabei nicht ausgeblendet werden, dass die Schüler_innen in besonderem Maße von den Handlungsstrategien der Lehrenden betroffen sind:

„Ich finde, dass von Schülern sehr viel gefordert wird heute, gerade, was jetzt die gymnasiale Oberstufe hier angeht, sie haben wahnsinnig viele Klausuren und das ist schon so viel, dass sie taktieren, worauf lerne ich, worauf lerne ich nicht, was bringe ich ein, und was nicht. Und der Spaß ist komplett raus, die sind alle froh, glaube ich, wenn sie ihr Abi haben und aus der Schule raus sind und dass der Stress endlich mal ein Ende hat. Und das ist halt schade, weil es für Lehrer Stress ist, für Schüler Stress bedeutet und da hat keiner so richtig was von und es könnte viel schöner sein, denke ich, könnte viel einfacher sein. Ich bin noch jung, ich habe noch Ambitionen (lacht).“ (7.XXI, 7.47, 141)

Der Unterricht der Oberstufe soll die Schüler_innen nicht nur auf das Abitur, sondern vor allem auf den weiteren Lebensweg jenseits der Schule vorbereiten. Unerwünschte Effekte, die sich zum Beispiel aus der „Zukunfts- und Leistungsorientierung; Codierung und Schematisierung der Bewertungen, die über die weitere Karriere im System entscheiden“ (Luhmann, 1987b, S. 66), ergeben, können dabei die Lebenslauforientierung gefährden.

„Es kann nicht ausbleiben, daß von so überspitzten Sonderbedingungen [des Unterrichts] Sozialisationseffekte besonderer Art ausgehen, wenn diese Strukturen im Handeln aufgenommen und bestätigt werden. Man hat dies (nicht sehr glücklich) den ‚heimlichen Lehrplan‘ genannt.“ (Luhmann, 1987b, S. 66)

Ziel dieses bislang ersten Forschungsprojekts zu Auswirkungen der bildungspolitischen Standardisierungsbemühungen auf Aufgabenkultur und Unterricht im Fach Geographie ist es, durch eine vertiefte Analyse ein Reflexionsangebot zu schaffen. Diese Arbeit mündet dementsprechend nicht in Handlungsempfehlungen für die Bildungspolitik, die Schulorganisation, die Schulpraxis, die Bildungsforschung oder die Geographiedidaktik. Vielmehr sollen die Komplexität des gestaltenden schulischen und insbesondere unterrichtlichen Handelns angesichts des Zentralabiturs herausgestellt und verschiedene Möglichkeiten kontingenten Handelns nachvollzogen werden.

Um dies zu erreichen, wird diese Arbeit metatheoretisch durch die soziologische Systemtheorie nach Luhmann und Schorr gerahmt. Diese bietet aufgrund „der vielfältigen Referenzen“ und des „abstrakten Niveaus ihrer Fragen“ ein hohes „Potential an Unterscheidungen und Anregungen“ (Tenorth, 1990, S. 115).

„Die Theorievorschläge von Luhmann und Schorr sind […] wohl vor allem und primär als kritisches Korrektiv von Bedeutung. Sie zeigen, was nicht mehr geht und ziehen die Konsequenz aus einem Theoriewandel der Wissenschaften […]. Sicherlich, diese Wendung zur Komplexität statt zur elementaren Wahrheit, zur Funktionalität statt zur Substanz, und zur systemspezifischen Dynamik statt zur einlinigen Geschichte ist nicht ohne Folgeprobleme. Zumindest zur autoritativen Normierung des Handelns eignet sich diese Theorie nicht mehr.“ (Oelkers & Tenorth, 1987, S. 44)

Diese Hinwendung zur Komplexität bedeutet aber nicht, dass die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts ohne praktische Bedeutung sind: „Aufklärung ermöglicht die Korrektur falscher Erwartungen und die realistische Einschätzung der Gestaltungsmöglichkeiten des […] Handelns“ (Herzog, 2011, S. 191). Dies gilt auch für „die hohen – gelegentlich naiv ein technisches Verständnis von Erziehung voraussetzenden – Erwartungen“ an die Schulorganisation (Kuper, 2004, S. 151), die die Komplexität von Unterricht ausblenden. Die Systemtheorie dekonstruiert gängige Vorstellungen von der Planbarkeit, der Umsetzbarkeit und dem Ertrag von Unterricht. Man kann mit Oelkers und Tenorth (1987) sagen, dass sie desillusioniert:

„[S]ich keine Illusionen mehr zu machen, mag ein systemtheoretischer Kostenfaktor sein. Aber Entrüstung darüber ist kein theoretischer Ausweg; ein dem Botenmord der antiken Tragödie analoges Verhalten bleibt, zum Glück, ausgeschlossen, auch wenn die Einsicht wider Willen erfolgen mag.“ (Oelkers & Tenorth, 1987, S. 45)

Da die Systemtheorie zwar „Bezüge von der Metaebene bis hin zum Objektbereich versucht“, dabei aber rein theoretische Überlegungen anstellt, „müssen für Aussagen, die für die Objektebene getroffen wurden, empirische Nachweise vorgelegt werden“ (Saldern, 2005, S. 184). Aus diesem Grunde nutzt diese Arbeit die „empirisch nicht gehaltvolle[n] abstrakte[n] theoretische[n] Konzepte“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 62) der Systemtheorie, um sie empirisch zu füllen. Um noch einmal auf die oben zitierten Forderung von Vogd (2005, S. 112) zurückzukommen: Diese Arbeit versucht sich an einer theoriebasierten Empirie, die die forschungsleitende Frage „Wie ist Geographieunterricht angesichts des Zentralabiturs möglich“ beantworten möchte. Darüber hinaus gibt es nachgelagerte Untersuchungsfragen:

  1. (1)

    Welche theoretischen und empirischen Erkenntnisse zum Unterrichten und Prüfen angesichts des Zentralabiturs und der mit ihm verbundenen Regularien liegen vor? Was sind Einflussfaktoren, was Auswirkungen? Wie ist die spezifische Situation im Fach Geographie?

  2. (2)

    Welche Merkmale weist die Aufgabenkultur im Geographiezentralabitur als Ergebnis von politischem Steuerungshandeln auf? Inwiefern lassen sich Standardisierungstendenzen feststellen?

  3. (3)

    Wie beschreiben Geographielehrer_innen die Situation angesichts des Zentralabiturs und seiner Aufgabenkultur? Wie beschreiben und begründen sie ihr eigenes Handeln? Inwiefern lassen sich die Ergebnisse systematisieren?

Zur Beantwortung der forschungsleitenden Frage und der nachgelagerten Untersuchungsfragen werden theoretische und empirische Perspektiven der Forschung auf die forschungsleitende Frage gesichtet, die Ergebnisse zweier Studien – einer quantitativen Analyse der Aufgabenkultur im Zentralabitur und einer qualitativen Interviewstudie zum Lehrer_innenhandeln angesichts des Zentralabiturs – vorgestellt und aus systemtheoretischer Sicht diskutiert.

Zentrale Ergebnisse dieser Arbeit zu den nachgelagerten Untersuchungsfragen in Block (1) sind, dass Unterrichten und Prüfen komplex sind, es eine Diskrepanz zwischen Leistungserfassung und Diagnostik gibt und sich die Komplexität vor dem Hintergrund des sich wandelnden Unterrichts hin zu einer neuen Lernkultur steigert. Angesichts des Zentralabiturs ergeben sich besondere Herausforderungen, etwa eine veränderte Rolle der Lehrkraft und besondere Anforderung an die Bezugsnormierung. Im Fach Geographie offenbart sich ein Spannungsfeld zwischen einem vielfältigen Geographieunterricht und der herkömmlichen Leistungserfassung.

Auch wenn eine pädagogische Autonomie grundsätzlich angenommen, gefordert oder politisch impliziert ist, wird Unterricht organisatorisch gerahmt. Diese Rahmung wird von außen beeinflusst, etwa durch das Zentralabitur als staatliche Steuerung. Das Geographiezentralabitur ist dabei dezidiert reglementiert.

Das Zentralabitur und die in der Oberstufe ihm vorgelagerten Regularien fungieren als pädagogische Programme. Sie sind als Innovationen positiv intendiert, basieren aber auf Entscheidungen. Bei kompetenz- und standardorientierten Lehrplänen und dem Zentralabitur handelt es sich um Reprogrammierungen. Es stellt sich die Frage, ob die Kompetenzorientierung im Fach Geographie die Gefahr eines Verständnisses als Technologie birgt.

Schulorganisatorischen Entscheidungen ist ein Rationalitätsdefizit inhärent, sodass nicht intendierte Effekte vorprogrammiert sind. Dies können im Kontext von Unterricht Unsicherheiten und Stress der Lehrkräfte sein, im Kontext des Zentralabiturs Effekte wie Teaching-to-the-Test-Strategien.

Zentrale Ergebnisse dieser Arbeit zu Block (2) sind, dass die Aufgabenkultur im Zentralabitur als Ergebnis von politischem Steuerungshandeln zwischen den Bundesländern variiert, auf der Ebene der Bundesländer aber ein hoher Grad an Standardisierung vorliegt.

Zentrale Ergebnisse dieser Arbeit zu Block (3) sind, dass das standardisierte Zentralabitur eine Steuerungswirkung auf den Geographieunterricht und die unterrichtlichen Klausuren hat. Die Geographielehrer_innen schätzen das eigene Handeln angesichts des Zentralabiturs, die ursächlichen Bedingungen, den Kontext ihres Handelns, die strukturellen Bedingungen, die auf das Handeln einwirken und die sich daraus ergebenden Konsequenzen aber unterschiedlich ein. Dennoch können Handlungstypen identifiziert werden, die sich hinsichtlich der Intensität und der Frequenz der schulischen Gestaltung unterscheiden.

Das zentrale Ergebnis zur übergeordneten forschungsleitenden Frage ist schließlich, dass der Geographieunterricht angesichts des Zentralabiturs durch Selbst- und Fremdbeschränkung sowie durch Konkurrenz von Vermittlung/ Aneignung und Selektion gefährdet ist.

Diese Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Zunächst wird in Abschnitt 2.1 Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive beleuchtet. Die ersten drei Teilkapitel widmen sich den drei die Erziehung betreffenden Systemtypen: dem Erziehungssystem als Funktionssystem der Gesellschaft (Abschnitt 2.1.1), dem Unterricht als Interaktionssystem (Abschnitt 2.1.2) und der Schulorganisation als Organisationssystem (Abschnitt 2.1.3). Im Anschluss wird dargelegt, wie Erziehung aus systemtheoretischer Sicht in die Gesellschaft eingebunden ist (Abschnitt 2.1.4) und wie Erziehung, Selektion und Prüfungen in Beziehung zueinander stehen (Abschnitt 2.1.5). Als Fazit werden im Teilkapitel 2.1.5 schließlich vier Leitperspektiven für diese Arbeit abgeleitet: (1) Unterricht als komplexe Interaktionssituation und Prüfungen, (2) Die „falsche Sprache“? – Einflüsse von außen, (3) Das Zentralabitur und seine vorgelagerten organisatorischen Regularien als pädagogische Programme – Scheintechnologie als Technologiersatz? und (4) Entscheidungen der Schulorganisation und ihr Rationalitätsdefizit.

Diese vier Leitperspektiven werden dann im Abschnitt 2.2 aufgegriffen und strukturieren die Darstellung der theoretischen und empirischen Perspektiven der Forschung auf die forschungsleitende Frage. Dabei gliedern sich die vier entlang der Leitperspektiven entwickelten Teilkapitel 2.2.1 bis 2.2.4 jeweils wiederum in drei Teile: einer Darstellung des übergeordneten Forschungsstands, einer Erläuterung der Rolle des Zentralabiturs und einer Beschreibung der Situation im Fach Geographie.

In Abschnitt 2.3 folgt darauf die Synthese der theoretischen Überlegungen.

Darauf folgt die Vorstellung der empirischen Studien in den Kapiteln 3 und 4. Im Kapitel 3 wird das Forschungsdesign vorgestellt. In Kapitel 4 werden die Ergebnisse der quantitativen Studie zur Aufgabenkultur im Zentralabitur und der Interviewstudie zum Lehrer_innenhandeln angesichts des Zentralabiturs dargestellt. Davon ausgehend wird in Kapitel 5 die forschungsleitende Frage „Wie ist Geographieunterricht angesichts des Zentralabiturs möglich?“ abschließend diskutiert, indem die zentralen Forschungsergebnisse systemtheoretisch eingeordnet werden. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und Ausblick in Kapitel 6.