Nachdem in Abschnitt 2.2 eine erste Annäherung an die forschungsleitende Frage erfolgt ist, indem theoretische und empirische Perspektiven der Forschung auf die forschungsleitende Frage aufgezeigt wurden, sollen in diesem Kapitel die eigenen empirischen Ergebnisse vorgestellt werden. In Abschnitt 4.1 werden demgemäß die nachgelagerten Untersuchungsfragen des zweiten Blocks beantwortet: Welche Merkmale weist die Aufgabenkultur im Geographiezentralabitur als Ergebnis von politischem Steuerungshandeln auf? Inwiefern lassen sich Standardisierungstendenzen feststellen? In Abschnitt 4.2 werden sodann die nachgelagerten Untersuchungsfragen des zweiten Blocks beantwortet: Wie beschreiben Geographielehrer_innen die Situation angesichts des Zentralabiturs und seiner Aufgabenkultur? Wie beschreiben und begründen sie ihr eigenes Handeln? Inwiefern lassen sich die Ergebnisse systematisieren?

4.1 Die standardisierte Aufgabenkultur im Geographie-Zentralabitur

In Abschnitt 2.2 wurde deutlich, dass das Zentralabitur ein staatliches Steuerungsinstrument ist, das als Innovation dazu führen soll, dass das Erziehungssystem bessere Leistungen erzielt. Es wurde als Top-down-Maßnahme eingeführt und ist durch dezidierte Verfahrensvorschriften reglementiert. Es ist davon auszugehen, dass diese intendierte Normierungswirkung zu einer Standardisierung der Aufgabenkultur führt. Hierbei sind zwei Ebenen denkbar: Zum Ersten gibt es auf Bundesebene Bemühungen, das Abitur zu vereinheitlichen. Dieser Ebene wird sich in Abschnitt 4.1.1 gewidmet. Zum Zweiten sind die Bundesländer bemüht, Standards zu setzen, um das Abitur von Klausuraufgabe zu Klausuraufgabe, von Prüfung zu Prüfung und von Jahr zu Jahr vergleichbar zu gestalten. Diese Ebene wird in Abschnitt 4.1.2 untersucht.

Alle zitierten Beispiele entstammen Klausuraufgaben, die auch öffentlich verfügbar sind.

4.1.1 Standardisierung auf Bundesebene

Mit den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung gibt es bundesweite Standards für die Prüfungen im Fach Geographie (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2005). Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die Prüfungen im Datenset den Standards entsprechen. Im Detail ergeben sich folgende Fragen und zugehörige zu überprüfende Tatsachenbehauptungen:

Inwiefern werden die Vorgaben zu den fachlichen Kompetenzen berücksichtigt?

Mensch-Umwelt-Themen kommen häufig vor.

Ökologie kommt oft vor.

Die Themen haben eine globale Ausrichtung.

Bei Karten kommen unterschiedliche Maßstabsebenen vor.

Thematische Karten kommen vor.

Aufgaben haben Lebensweltbezug.

Das Antwortformat ist nicht immer ein Aufsatz.

Es kommen vielfältige Materialien zum Einsatz.

Operatoren, die (Sach- und Wert-)Urteile verlangen, kommen vor.

Inwiefern wird zwischen Grund- und Leistungskursfach differenziert?

Die Prüfungsdauer unterscheidet sich je nach Anforderungsniveau.

In Prüfungen auf EA müssen mehr Aufgaben bearbeitet werden als in Prüfungen auf GA.

Die Anzahl der Operatoraufgaben und Materialien hängt vom Anforderungsniveau ab.

In Prüfungen auf EA gibt es weniger Hilfen beim Material als in Prüfungen auf GA.

Materialien in Prüfungen auf EA sind komplexer als Materialien auf GA (Diagrammart, Text-Quelle, Art der Zahlentabelle).

Inwiefern handelt es sich bei den Aufgaben um „materialgebundene Problemerörterungen mit Raumbezug“?

Alle Aufgaben haben Materialbezug.

Alle Prüfungen haben Raumbezug.

Jede Problemerörterung umfasst AFB I bis III.

Die Aufgaben jeder Prüfung bilden eine thematische Einheit, können aber mehrere „in sich schlüssige Bereiche“ haben.

Die Prüfungen sind nicht zu stark untergliedert.

Die Anzahl der Materialien ist nicht „zu hoch“.

Es gibt keine ausdrückliche Zuordnung von Materialien und Aufgaben.

(Text-)Quellen werden präzise angegeben.

In diesem Kapitel werden zentrale Ergebnisse vorgestellt, die Hinweise auf die Steuerungswirkung der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) geben können. Es werden deshalb nur die Analysen derjenigen Aufgabenmerkmale vorgestellt, die Bezüge zu den EPA zulassen. Dabei wird, da es zunächst um die Frage der bundesländerübergreifenden Standardisierung geht, nicht zwischen den einzelnen Bundesländern differenziert.

Zunächst werden die Befunde zu den fachlichen Kompetenzen vorgestellt, bevor der in den EPA geforderte Differenzierung zwischen den Anforderungsniveaus in Grund- und Leistungskursen nachgegangen wird. Schließlich wird geprüft, ob es sich bei den Prüfungsaufgaben in allen Fällen tatsächlich um „materialgebundene Problemerörterungen mit Raumbezug“ (EPA, S. 7) handelt.

4.1.1.1 Berücksichtigung der Vorgaben zu den fachlichen Kompetenzen

In diesem Abschnitt soll die Frage beantwortet werden, inwiefern die Vorgaben zu den fachlichen Kompetenzen berücksichtigt werden. Die Vorgaben der EPA zu den fachlichen Kompetenzen werden nur teilweise oder in geringem Umfang umgesetzt.

Bei der Sachkompetenz werden inhaltliche Anforderungen an die Abituraufgaben formuliert. Themen aus dem Mensch-Umwelt-Bereich, die die Erde „als komplexes Gefüge der Teilsysteme der Natur- und Anthroposphäre“ (EPA, S. 4) aufgreifen, kommen nur selten vor (7,1 % der Operatoraufgaben, n = 946). Dies gilt noch stärker für Aufgaben zum Thema Ökologie (2,9 %, n = 946). Die globale Ausrichtung der Themen wird in den EPA an verschiedenen Stellen betont (EPA, S. 4), allerdings greifen nur wenige Operatoraufgaben (11, 4 %, n = 946) globale Beziehungen oder Vernetzungen auf oder thematisieren die Globalisierung.

Als Indikator für die Berücksichtigung von Räumen „unterschiedlicher Maßstabsebenen“ (EPA, S. 4) zur Überprüfung der Orientierungskompetenz (EPA, S. 4), wurden die Maßstabsebenen der Karten in den Materialiensets herangezogen. Hier dominieren Karten mit mittleren Maßstäben zwischen > 1: 75 000 und < 1: 5 000 000 (38,6 %, n = 334) und kleinen Maßstäben zwischen 1: 5 000 000 und 1: 30 000 000 (27,8 %, n = 334).

Die in den EPA genannten „unterschiedlichen thematischen Anbindungen“ (EPA, S. 4) spiegeln sich gut in der Art der Karten in den Materialiensets wider, die überwiegend thematische Karten sind. Dabei handelt es sich vornehmlich (50 %, n = 334) um komplexe Karten, hinzu kommen die weniger komplexen analytischen Karten (38,6 %, n = 334).

Als Teil der Orientierungskompetenz wird in den Vorgaben die Fähigkeit, „die mit unterschiedlichen Raumwahrnehmungen verbundenen Bewertungen reflektieren und zum eigenen Handeln in Beziehung“ zu setzen genannt (EPA, S. 4). Die untersuchten Operatoraufgaben weisen allerdings keinen Lebensweltbezug auf (100 %, n = 946), noch nicht einmal einen konstruierten.

Als Teil sowohl der Methodenkompetenz als auch der Darstellungskompetenz werden in den bundesweiten Vorgaben „unterschiedliche Arbeitsmethoden der Geographie“ unter anderem zur Darstellung von Informationen verstanden. Dabei werden besonders die „graphische[n] Darstellungen als besondere Form der fachlichen Kommunikation“ (EPA, S. 4) betont. Bei den untersuchten Operatoraufgaben dominiert allerdings der Aufsatz als Antwortformat (97,3 %, n = 946) und nur in Einzelfällen gibt es Zuordnungsaufgaben (7) oder Ergänzungsaufgaben (1) oder werden andere Darstellungsformen wie Kurztext/Stichworte (2), eine (verbalisierte) Rechnung (2) oder die Zeichnung eines Schemas (4), eines Profils (5), einer Kartenskizze (2) oder eines Diagramms (3) verlangt.

In den Vorgaben wird gefordert, dass die Prüflinge Aussagen unterschiedlicher Materialien verknüpfen können sollen (EPA, S. 4). Die Analyse der untersuchten Materialien nach Materialart (vgl. Abbildung 4.1) zeigt eine große Bandbreite und relative Ausgewogenheit. Karten, Texte, Diagramme und Zahltabellen kommen mit jeweils rund 20 % etwa gleichhäufig vor. Grafische Medien fallen demgegenüber ab (5,7 %). Einen Sonderfall bilden die recht häufigen Kommentare beim Material (10,0 %), die über Hilfestellungen hinausgehende zusätzliche Informationen enthalten. Materialien in Materialkombinationen wurden nach Möglichkeit einzeln erfasst, als Restkategorie ergeben sich 2,7 % der Fälle an „untrennbaren“ Materialkombinationen.

Ein Aspekt der in den EPA ausgewiesenen Sozialkompetenz ist die Fähigkeit „begründete Sach- und Werturteile“ zu fällen (S. 5). Die Operatoren „beurteilen“ und „bewerten“ kommen insgesamt in 6,9 % der Fälle (n = 946) vor.

Abbildung 4.1
figure 1

(Quelle: Eigene Erhebung)

Materialarten im Datenset (2009–2015) (n = 1653).

4.1.1.2 Differenzierung zwischen Grund- und Leistungskursfach

In diesem Abschnitt soll die Frage beantwortet werden, inwiefern zwischen Grund- und Leistungskurs differenziert wird. In den EPA ist festgelegt, dass sich die Anforderungen in Kursen auf grundlegendem und erhöhten Anforderungsniveau „deutlich voneinander unterscheiden“ sollen (EPA, S. 5).

Die statistische Analyse (vgl. Tabelle 4.1) zeigt, dass in einigen Fällen Zusammenhänge (Chi-Quadrattest) zwischen Merkmalen von Prüfungen, Aufgaben und Materialien bestehen. Die Stärke der Zusammenhänge fällt allerdings mit einer Ausnahme nur sehr gering bis mittel aus. In vielen Fällen gibt es gar keinen Zusammenhang.

Der einzige sehr starke Zusammenhang besteht zwischen der Bearbeitungszeit und dem Anforderungsniveau. Prüfungen auf grundlegendem Anforderungsniveau sind kürzer als auf erhöhtem Anforderungsniveau. Dies mag auf den ersten Blick nicht verwundern. Auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, weshalb man für eine Prüfung auf niedrigerem Anforderungsniveau weniger (und nicht mehr) Bearbeitungszeit vorsieht als für eine Prüfung auf höherem Anforderungsniveau. Während eine Differenzierung über den Schwierigkeitsgrad sofort einleuchtet, ist der Zusammenhang zwischen Prüfungsdauer und Anforderungsniveau unklar.

Wie viele Handlungsaufforderungen (Operatoraufgaben) und Materialien es pro Prüfung gibt, hängt nur wenig mit dem Anforderungsniveau der Prüfung ab (C = 0,386 bzw. 0,362), ebenso ist es bei der (rechnerischen) Anzahl der Materialien pro Operatoraufgabe (C = 0,386). Sehr schwach ist der Zusammenhang zwischen Hilfen, die beim Material gegeben werden, und dem Anforderungsniveau (C = 0,071). Weitere Analysen zu Eigenschaften des Materials (hier exemplarisch die Art und Komplexität der Diagramme, die Quellen der Texte und die Art und Komplexität der Zahlentabellen) hängen nicht vom Anforderungsniveau der Prüfungen ab.

Tabelle 4.1 Der Zusammenhang zwischen den Anforderungsniveaus und einzelnen Variablen (Kontingenzanalysen). (Quelle: Eigene Erhebung)

4.1.1.3 Aufgaben als „materialgebundene Problemerörterungen mit Raumbezug“

In diesem Abschnitt soll die Frage beantwortet werden, inwiefern es sich bei den Aufgaben um „materialgebundene Problemerörterungen mit Raumbezug“ handelt.

Der Anteil der Aufgaben ohne jeden Bezug zum Materialienset liegt bei 14,1 %. Dabei muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass unter Umständen impliziert sein könnte, dass (nur) der Atlas herangezogen werden soll. Andernfalls muss dieser hohe Anteil kritisch hinterfragt werden.

Die Operatoraufgaben haben durchweg (97,8 %) einen Raumbezug. Nur vier Aufgaben sind überwiegend allgemeingeographisch-thematisch. Meist überwiegt ein Raumbeispiel (51,6 %), Teilweise werden mehrere Raumbeispiele innerhalb einer Operatoraufgabe behandelt oder die Aufgabe ist raumübergreifend-vergleichend (zusammen 36,2 %), eher selten (9,9 %) ist eine Kombination aus raumbezogenen und allgemeingeographisch-thematischen Anteilen.

In den EPAs wird vorgegeben, dass jede Problemerörterung die Anforderungsbereiche I bis III umfassen soll. Für jede Prüfung gilt dies. Allerdings werden oftmals mehrere Klausuraufgaben pro Prüfung bearbeitet (Bayern, Baden-Württemberg bis einschließlich 2014).

In den EPA heißt es recht ungenau, die Prüfungen sollten nicht zu stark untergliedert sein.

Tabelle 4.2 Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung. (Quelle: Eigene Erhebung)

Die Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung kann hier herangezogen werden (vgl. Tabelle 4.2). Es stellt sich allerdings die Frage, ab wann von einer (zu) starken Untergliederung die Rede sein müsste. Tabelle 4.2 zeigt die Häufigkeiten und Prozent der Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung, die zwischen 3 (14,7 %) und 21 (1,0 %) liegt.

Der Median beträgt 7, das heißt in 50 % der Prüfungen müssen mindestens 7 Operatoraufgaben bearbeitet werden, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass eine starke Untergliederung üblich ist. Dies gilt insbesondere für die Bundesländer Baden-Württemberg (Mittelwert 9,8, Minimum 6, Maximum 12) und Bayern (Mittelwert 15,8, Minimum 12, Maximum 21). In Hessen gibt es Prüfungen, deren Anzahl an Operatoraufgaben unter und über dem Median liegen (Mittelwert 6,0, Minimum 3, Maximum 11). In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen liegen alle Prüfungen unterhalb des Medians (Niedersachsen: Mittelwert, 3,2, Minimum 2, Maximum 4; Nordrhein-Westfalen: Mittelwert 3,9, Minimum 3, Maximum 4).

In den EPA wird vorgegeben, dass die Anzahl der Materialien pro Prüfung nicht zu hoch liegen und der Arbeitszeit angemessen sein solle, damit intensiv mit ihnen gearbeitet werden könne. Die Anzahl der Materialien pro Prüfung liegt zwischen 3 und 28, der Mittelwert ist 11,71, wobei die Standardabweichung mit 4,563 hoch ist. Der Median liegt bei 11, sodass in 50 % der Prüfungen 11 Materialien oder mehr ausgewertet werden müssen.

Zieht man die sehr variierende Anzahl an Operatoraufgaben pro Prüfung mit in die Überlegungen ein, werden die Unterschiede noch deutlicher. Das (rechnerische) Minimum liegt bei 0,41 Materialien pro Operatoraufgabe – tatsächlich konnte oben herausgestellt werden, dass es auch Operatoraufgaben ohne Bezug zum Materialienset gibt. Das (rechnerische) Maximum liegt bei 9,0 Materialien pro Operatoraufgabe. Der Mittelwert beträgt 1,913 bei einer Standardabweichung von 1,498.

Was als eine angemessene Bearbeitungszeit pro Material angesehen werden kann, ist unklar, und hängt auch von dem jeweiligen Umfang und der Komplexität des Materials ab. Dennoch zeigt ein Vergleich der rechnerischen Prüfungszeit pro Material einer große Breite der empirischen Verteilung: das Minimum liegt bei 10,18 Minuten pro Material, das Maximum bei 80,00. Dabei liegt der Median bei 21, sodass kürzere Bearbeitungszeiten (je nach Bewertung) bei mindestens der Hälfte der Fälle vorliegen.

Tabelle 4.3 Materialbezug der Operatoraufgaben. (Quelle: Eigene Erhebung)

Die Materialien sollen laut EPA nicht den Aufgaben, für die sie herangezogen werden sollen, erkennbar zugeordnet werden. Tabelle 4.3 zeigt, dass beide Vorgaben in erheblichem Umfang nicht eingehalten werden. Nur 30,2 % der Operatoraufgaben entsprechen dem Idealtyp einer implizit materialgebundenen Aufgabe.

Die Maßgabe, Quellen bzw. Fundstellen der Materialien präzise anzugeben, kann anhand der erhobenen Daten exemplarisch bei den Texten überprüft werden (vgl. Tabelle 4.4). Auf den ersten Blick erscheint diese Vorgabe erfüllt, nur bei 3,3 % der Texte fehlen die Quellenangaben. Beim genaueren Blick auf die Art der Texte bzw. Quellenangaben werden aber einige Einschränkungen sichtbar. Die größte Gruppe der Texte sind Klausurartefakte, bei denen aus einer größeren Anzahl an Quellen ein neuer Text zusammengestellt wurde, ohne dass kenntlich gemacht wurde, welche Information aus welcher Quelle stammt und ob alle Informationen aus den angegebenen Quellen stammen. Noch extremer ist dies bei Texten aus Schulmaterialien, bei denen dann zum Beispiel das Schulbuch als Quelle angegeben wird. Hier liegt nur scheinbar eine präzise Quellenangabe vor. Handelt es sich doch erstens um ein Sekundärzitat und zweitens sind die Quellen bei Texten in Schulmaterialien oft nicht angegeben oder eben nur so wie bei den oben genannten Klausurartefakten.

Tabelle 4.4 Quellenangaben bei Texten. (Quelle: Eigene Erhebung)

Auch sind Internetquellen oft unspezifisch, werden oft nur mit URL und Datum angegeben, Verfasser_in und Jahr der Veröffentlichung fehlen. Nur bei 27,5 % der Texte ist die Quelle präzise angegeben. Dabei machen die Zeitungsartikel und wissenschaftlichen Texte (bzw. jeweils Auszüge daraus) die beiden größten Gruppen aus.

Zuletzt soll noch der Hinweis gegeben werden, dass die Eigenschaften der in den EPAs abgedruckten Aufgabenbeispiele in den in Abschnitt 4.1.2.3 abgedruckten Tabellen jeweils in einer Randspalte aufgenommen worden sind, damit ein Vergleich mit den typischen Leistungskursprüfungen der Bundesländer möglich ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bundesweiten Standards, auf die sich die Kultusministerkonferenz der Länder verständigt hat, nicht vollumfänglich umgesetzt werden. Dies ist mit der Zuständigkeit der Bundesländer in Bildungsfragen zu erklären. Lehrpläne und Richtlinien werden auf dieser Ebene erlassen und haben einen stärkeren Steuerungseffekt als die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Nicht alle Vorgaben konnten dabei überprüft werden, aber schon die Häufigkeitsanalysen einiger weniger Variablen konnte zeigen, dass die Steuerungswirkung der nationalen Standards gering ist.

4.1.2 Standardisierung innerhalb der Bundesländer

Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, inwiefern auf der Ebene der Bundesländer von einer Standardisierung gesprochen werden kann.

Zunächst werden in Abschnitt 4.1.2.1 eine Reihe von Kontingenzanalysen beschrieben, die den Zusammenhang zwischen der Variablen „Bundesland“ und weiteren Variablen überprüfen. In Abschnitt 4.1.2.2 wird dann eine Clusteranalyse vorgestellt, die der Frage nachgeht, ob ausgehend von zwei exemplarischen Variablen natürliche Gruppen (Cluster) gebildet werden können und ob diese sich mit der Zugehörigkeit der Fälle zu den Bundesländern überschneiden. Das letzte Teilkapitel (4.1.2.3) widmet sich der bundesländervergleichenden Darstellung der wesentlichen Merkmale der Geographieprüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau.

4.1.2.1 Kontingenzanalysen

Im Folgenden soll anhand ausgewählter Merkmale von Operatoraufgaben und Materialien nachgeprüft werden, ob eine Standardisierung auf der Ebene der Bundesländer mittels einer statistischen Analyse der Zusammenhänge (Chi-Quadrattest) bestätigt werden kann und wie stark gegebenenfalls die Zusammenhänge (Grad der Assoziation) sind. Hierzu werden Kontingenzanalysen vorgestellt, die den Zusammenhang zwischen der Variable Bundesland und den anderen Variablen untersuchen.

Tabelle 4.5 zeigt die Ergebnisse der Analysen. Die Chi-Quadrattests ergeben unter Berücksichtigung der Freiheitsgrade, dass zwischen allen Variablen in Tabelle 4.5 und der Variable Bundesland mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (p immer < 0,001) ein Zusammenhang besteht, die Nullhypothesen also verworfen werden können.

Der Vergleich der normierten Kontingenzkoeffizienten (0 ≤ C ≤ 1) ermöglicht eine Aussage über die Stärke des Zusammenhangs (nicht aber über die Richtung). Die Stärke des Zusammenhangs zwischen den ausgewählten Variablen und der Variable Bundesland fällt gering bis sehr hoch aus.

Tabelle 4.5 Der Zusammenhang zwischen Bundesländern und einzelnen Variablen (Kontingenzanalysen). (Quelle: Eigene Erhebung)

Auf der Ebene der Operatoraufgaben besteht ein sehr starker Zusammenhang zwischen der Bearbeitungszeit pro Aufgabe und den Bundesländern sowie den Materialien pro Operatoraufgabe und den Bundesländern. Hoch ist auch die Stärke des Zusammenhangs zwischen der Art der Aufgaben (explizit oder impliziter Materialbezug oder ohne Materialbezug) und den Bundesländern. Ob Aufgaben zum Beispiel durch ein vorangestelltes Zitat oder eine Hypothese eingebettet sind, ist ebenfalls bundesländerspezifisch. Von geringerer Stärke ist der Zusammenhang zwischen den Themen der Operatoraufgaben und den Bundesländern (hier beispielhaft Stadtgeographie, Klima- und Hydrogeographie, Geomorphologie und/oder Bodengeographie).

Auf der Ebene der Materialien ist die Stärke des Zusammenhangs zwischen der Anzahl der Materialien pro Prüfung sowie der Zeit, die theoretisch durchschnittlich zur Bearbeitung eines Materials zur Verfügung stünde, und den Bundesländern hoch (C = 0,805 bzw. C = 0,806). Dies gilt auch für die Variable Textart. Die Bundesländer unterscheiden sich also signifikant in der Frage, ob Fließtexte oder Stichpunktlisten zum Einsatz kommen. Die Textquellen variieren je nach Bundesland (mittel starker Zusammenhang). Geringer ist die Stärke des Zusammenhangs zwischen der Art der eingesetzten Materialien (C = 0,327), der Themen der Materialien (C = 0,436), der Diagrammart (C = 0,437) sowie den Kartenmaßstäben (C = 0,400) und den fünf Bundesländern.

Im Folgenden sollen nun die Kontingenzanalysen im Detail vorgestellt werden.

Zunächst die Ergebnisse zu den Operatoraufgaben: Die Analyse der Bearbeitungszeit, die zur Lösung einer Operatoraufgabe zur Verfügung steht – unter der Prämisse, dass Schüler_innen gleich viel Zeit pro Aufgabe verwenden – ergibt ein höchst signifikantes Ergebnis. In Baden-Württemberg sind dabei mittelkurze Bearbeitungszeiten (>20–40 Minuten) deutlich überrepräsentiert, in Bayern sehr kurze (≤20 Minuten). In Hessen sind mittlere Bearbeitungszeiten (>40–60 Minuten) überrepräsentiert, wobei für einige Aufgaben (35,7 %) unter 40 Minuten zur Verfügung stehen. In Niedersachsen hingegen stehen für alle Fälle (100 %) mehr als 60 Minuten pro Operatoraufgabe zur Verfügung. In Nordrhein-Westfalen sind die mittleren und langen Bearbeitungszeiten deutlich überrepräsentiert, wobei sich die dichotome Verteilung auf zwei Klassen durch die unterschiedliche Prüfungszeit von Kursen auf grundlegendem und erhöhtem Anforderungsniveau bei weitgehend konstanter Beschränkung der Operatoraufgaben auf drei pro Prüfung ergibt.

Ob Schüler_innen zur Bearbeitung einer Aufgabe Material heranziehen können, ob es einen expliziten Verweis auf zu verwendendes Material gibt oder ob sie sich relevante Materialien aus dem Materialienset auswählen müssen, hängt vom Bundesland ab. Das Ergebnis ist statistisch hoch signifikant, die Stärke der Assoziation der beiden Variablen ist hoch. Bayern ist das.

einzige der fünf Bundesländer in dem häufig (33,5 %, Residuum 13,1) Operatoraufgaben ohne Materialbezug zum Einsatz kommen. In den anderen Fällen wird explizit auf ein oder mehrere Materialien verwiesen, die die Schüler_innen für die Aufgabe verwenden sollen. Dies ist auch der Regelfall in Baden-Württemberg. Auch in Hessen sind Aufgaben mit explizitem Materialbezug überrepräsentiert, während in Niedersachsen aufgrund der unterschiedlichen Handhabe in Prüfungen auf grundlegendem (mit explizitem) und erhöhtem (mit implizitem) Anforderungsniveau zwei der drei Klassen dominieren. In Nordrhein-Westfalen kommen keine Aufgaben ohne Materialbezug vor, nur eine Aufgabe hat expliziten Materialbezug (Residuum −15,5), 99,4 % der Aufgaben haben impliziten Materialbezug.

Die Anzahl der Materialien, die rechnerisch im Durchschnitt pro Operatoraufgabe verwendet werden sollen, variiert zwischen den untersuchten Bundesländern stark (C = 0,912, d. h. die Stärke des Zusammenhangs ist sehr hoch). Eine sehr geringe Anzahl (<1) dominiert nur in Bayern (75,8 % der Fälle), eine mittlere Anzahl (1−>3) dominiert in Baden-Württemberg (80,8 % der Fälle), Hessen (85,7 % der Fälle) und Niedersachsen (100 % der Fälle). In Nordrhein-Westfalen müssen rechnerisch weit überwiegend (88,1 %) drei oder mehr Materialien pro Operatoraufgabe verwendet werden.

Operatoraufgaben können – etwa durch eine These oder eine Frage – eingebettet werden (z. B. Der Alpenraum Frankreichs wird oft als „Raum mit bedrohter Landwirtschaft“ bezeichnet. Begründen Sie…). Ob diese Möglichkeit zum Tragen kommt ist bundesländerspezifisch (C = 0,557, mittelstarker Zusammenhang). In Baden-Württemberg und Bayern recht häufig vorkommend (41,1 bzw. 46,8 % der Fälle), tritt dieser Fall in Niedersachsen und Hessen selten (15,7 % bzw. 12,6 % der Fälle) und in Nordrhein-Westfalen nie auf.

Die Themen in den Abiturprüfungen decken in allen Bundesländern eine breite Spannweite an Themen sowohl aus der Humangeographie als auch aus der physischen Geographie ab. Bedingt durch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Lehrplänen lassen sich jedoch einige Unterschiede ausmachen. Betrachtet man exemplarisch die Themen Stadtgeographie, Klima- und Hydrogeographie und Geomorphologie und/oder Bodengeographie als Thema von Operatoraufgaben lässt sich ein schwacher Zusammenhang zwischen den Variablen und den Bundesländern nachweisen (C = 0,321 bzw. 0,365 und 0,337). Während in Baden-Württemberg und Bayern nahezu keine stadtgeographischen Aufgaben vorkommen (1,1 bzw. 4,3 % der Fälle), sind sie in Hessen (12,2 %) und Niedersachsen (16,9 %) häufiger anzutreffen. Am häufigsten sind Operatoraufgaben, die dem Thema Stadtgeographie zuzuordnen sind, in Nordrhein-Westfalen (21,7 %).

Etwa andersherum verhält es sich mit Operatoraufgaben zu Themen aus dem Bereich der Klima- und Hydrogeographie (Baden-Württemberg 35,8 %, Bayern 21,1 %, Hessen 9,8 %, Niedersachsen 3,4 %, Nordrhein-Westfalen 5,6 %).

Operatoraufgaben aus dem Themenbereich Geomorphologie/Böden sind nur in Baden-Württemberg häufig (22,1 %), kommen in Hessen gelegentlich (7,9 %) und in den anderen Bundesländern nur sehr selten vor (Bayern 2,9 %, Niedersachsen 2,2 %, Nordrhein-Westfalen 2,5 %).

Auf der Ebene der Materialien lassen sich ebenfalls Zusammenhänge zwischen den einzelnen Merkmalen und der Variable Bundesland nachweisen.

Die Anzahl der Materialien pro Prüfungen wurde in drei Klassen eingeteilt. Klasse 1 umfasst alle Prüfungen mit bis zu 7 Materialien, Klasse 2 alle Prüfungen mit bis zu 14 Materialien und Klasse 3 alle Prüfungen mit mehr als 14 Materialien. Die Analyse der Zusammenhänge zwischen dieser klassierten Variable und der Variable Bundesland ergibt einen hoch signifikanten Chi-Quadrat-Test (p>0,001) und einen straken Zusammenhang (C = 0,805). Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die Anzahl der erwarteten Häufigkeiten in zwei Fällen kleiner als 5 ist. Die minimale erwartete Häufigkeit ist 4,33. Wenige Materialien (Klasse 1) gibt es in Niedersächsischen Prüfungen (85,7 %), eine mittlere Anzahl in den meisten Prüfungen in Baden-Württemberg (76,9 %), Bayern (75,8 %) und Hessen (76,2 %), während die Anzahl der Materialien in Nordrhein-Westfalen in der Regel (64,3 %) über 14 liegt.

Neben der Anzahl der Materialien pro Prüfung wurde die Art der eingesetzten Materialien erfasst. Unterschieden wurden Diagramme, Zahlentabellen, Karten, Texte, grafische Medien, Kommentare und Materialkombinationen.

Bei der Analyse aller dieser Materialarten ist zu erwähnen, dass die erwartete Häufigkeit bei der Materialart „Materialkombination“ in zwei Zellen (5,7 %) kleiner als 5 ist (die minimale erwartete Häufigkeit ist 3,11). Aufgrund der besonderen Bedeutung der Materialkombinationen in Nordrhein-Westfalen wurden diese dennoch in die Analyse mit einbezogen. Welche Materialarten häufiger oder seltener zum Einsatz kommen, ist abhängig vom jeweiligen Bundesland, die Stärke des Zusammenhangs ist allerdings gering (C = 0,327). Die Bundesländer unterscheiden sich hier im Detail.

Diagramme, Zahlentabellen, Karten und Texte sind mit je rund einem Fünftel der Gesamtstichprobe am häufigsten vertreten (im Detail Diagramme 21,4 %, Zahlentabellen 20,5 %, Karten 20,2 %, Texte, 19,5 %). Dabei sei noch einmal daran erinnert, dass in allen Bundesländern zusätzlich ein Atlas verwendet werden kann, was die unerwartet geringe Bedeutung der Karte als Materialart erklären kann.

Diagramme kommen in Niedersachsen und Hessen seltener vor (13,9 %, Residuum −2,3 bzw. 14,1 −4,4), in allen Bundesländern häufiger, als zu vermuten. Besonders fällt hier Bayern auf (32,4 %, Residuum 4,8).

Bei den Karten ist auffällig, dass diese in Hessen häufiger als erwartet vorkommen (24,6 %, Residuum 2,7).

Texte kommen in Niedersachsen (32,5 %, Residuum 4,2), und Hessen (28,3 %, Residuum 5,6) überdurchschnittlich häufig zum Einsatz, wohingegen in den anderen Bundesländern weniger Texte als zu erwarten Bestandteil der Materialiensets sind. Besonders heraus stechen Bayern (8,8 %, Residuum −4,9) und Nordrhein-Westfalen (15,6 %, Residuum −3,2).

Kommentare, grafische Medien, und Materialkombinationen spielen gegenüber den anderen Materialarten insgesamt eine untergeordnete Rolle (10 %, 5,7 %, 2,7 %).

Auffallend sind hier die in Nordrhein-Westfalen sehr häufigen Kommentare (14,9 %, Residuum 5,4). Gleiches gilt für die Materialkombinationen (4,7 %, Residuum 4,1).

Die Zeit, die die Prüflinge rechnerisch pro Material aufwenden könnten, nähmen Sie sich hierfür gleichmäßig Zeit, unterscheidet sich zwischen den Bundesländern, der Chi-Quadrattest fällt hoch signifikant aus, die Stärke des Zusammenhangs zwischen dieser Variable und der Variable Bundesland ist hoch. In Bayern (57,6 %, Residuum 2,9) und Nordrhein-Westfalen (83,3 %, Residuum 5,9) haben die Schüler_innen weniger als 20 Minuten pro Material zur Verfügung, während es in Baden-Württemberg (50 %, Residuum 1,8) und Hessen (61,9 %, Residuum 4,2) zwischen 20 und unter 30 Minuten und in Niedersachsen (100 %, Residuum 10,6) 30 oder mehr Minuten sind.

Ebenso wie bei den Operatoraufgaben hängt es auch bei den Materialien vom Bundesland ab, welches Thema sie haben, ob die Materialien Bezug zur physischen Geographie oder zur Anthropogeographie haben (C = 0,436, d. h. die Stärke des Zusammenhangs ist gering). Der Anteil der physischen Geographie ist in Baden-Württemberg am höchsten (52,3 %), in Bayern noch hoch (32,1 %) und in Hessen (15,0 %), Nordrhein-Westfalen (10,8 %) und Niedersachsen (4,6 %) wesentlich geringer.

Auch die Art der Texte, ob Fließtexte oder Stichpunkte bevorzugt werden, hängt von der Variable Bundesland ab. Wiederum fällt der Chi-Quadrat-Test hoch signifikant aus, die Stärke des Zusammenhangs ist mit einem normierten Kontingenzkoeffizienten von 0,799 hoch. In Hessen (93,8 %) und Niedersachsen (89,6 %) sind Texte in der Regel Fließtexte, in Nordrhein-Westfalen Stichpunktlisten (76,5 %) und teilweise Fließtexte (23,5 %) und in Baden-Württemberg und Bayern überwiegend Fließtexte und teilweise Stichpunkttexte (BW: 78,9 % und 21,1 %; B: 84,0 % und 16,0 %).

In den Bundesländern werden spezifische Textquellen bevorzugt (C = 0,647, d. h. die Stärke des Zusammenhangs ist mittel). Bei der Kontingenzanalyse wurde eine Klassierung der Merkmalsausprägungen durchgeführt, um die Anzahl der Fälle je Tabellenzelle ausreichend groß (5 oder mehr) zu halten: in einer Klasse wurden Texte ohne Quelle oder mit einer unspezifischen, d. h. nicht nachvollziehbaren (meist Internet-)quelle zusammengefasst (Klasse 1). In einer zweiten Klasse die Klausurartefakte und Schulmaterialien (Klasse 2) und in einer dritten Klasse wissenschaftlichen Quellen, Zeitungsartikel und Quellentexte (Klasse 3). In Baden-Württemberg kommt die Klasse 1 am häufigsten vor (42,1 %), in Bayern dominieren Klasse 1 (36,0 %) und 2 (36,0 %), in Hessen hingegen Klasse 1 (47,7 %) und Klasse 3 (40,0, in Niedersachsen Klasse 2 (49,0 %) und 3 (32,7 %) und in Nordrhein-Westfallen dominiert Klasse 2 (83,5 %).

Bei den Diagrammarten mussten für die Kreuztabellierung ebenfalls Klassen gebildet werden, da andernfalls die vielen verschiedenen Merkmalsausprägungen (vgl. Kapitel zum Kategoriensystem) zu zu vielen Zellen und damit geringen Häufigkeiten in den Zellen geführt hätten. Es wurden wiederum drei Klassen (1: einfache Diagramme, 2: mehrschichtige Diagramme und Kombinationen aus Diagrammen und 3: sonstige Diagramme) gebildet. So lässt sich mit einem hoch signifikanten Chi-Quadrat-Test immerhin noch ein geringer Zusammenhang nachweisen. Es gibt also gewisse Präferenzen bei der Auswahl der Diagramme in den Bundesländern. Diese sich aus der starken Zusammenfassung in Klassen ergebenden Ergebnisse zeigen, dass in Baden-Württemberg die meisten Diagramme (65,7 %) in die dritte Klasse „Sonstiges“ fallen, in Bayern (50,6 %) und Niedersachsen (52,4 %) einfache Diagramme dominieren, in Hessen einfache (44,4 %) und „Sonstige“ (38,1 %) und in Nordrhein-Westfalen einfache (37,7 %) und mehrschichtige Diagramme bzw. Kombinationen aus Diagrammen (45,2 %). Für dieses Kapitel soll der Nachweis eines Zusammenhangs ausreichend sein, weitere Details zu den dominierenden Diagrammformen sind in der Gesamtschau der typischen Prüfungsmerkmale nachzulesen.

Da Karten ohne Angabe eines Maßstabs (oder Leitermaßstabs) selten vorkommen (44 von 334 d. h. 13,2 %) führt dies in einer Kreuztabelle zu zwei Fällen mit erwarteten Häufigkeiten unter 5, sodass diese Karten von der Analyse ausgeschlossen wurden. Zudem wurden zwei Klassen (Klasse 1: Maßstab < 1: 5 000 000 und Klasse 2: 1: 5 000 000 und kleiner) gebildet. Die Analyse kann dennoch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (p < 0,001) eine Kontingenz nachweisen, allerdings mit einem schwachen Zusammenhang (C = 0,400). Während in Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen beide Klassen etwa gleich häufig vorkommen, hat die Mehrheit der Karten in Bayern (65,0 %) einen kleinen Maßstab (Klasse 2) und in Nordrhein-Westfalen (76,6 %) einen größeren Maßstab (Klasse 1).

4.1.2.2 Clusteranalyse

Zuletzt soll in diesem Kapitel der Frage nachgegangen werden, ob sich bei einer explorativen Analyse der Struktur der Daten die Zugehörigkeit der Fälle zu einem spezifischen Bundesland wieder durchpaust. Hierzu wurde eine Clusteranalyse zu den Fragestellungen durchgeführt: Können mittels der Anzahl der Operatoraufgaben und Anzahl der Materialien pro Prüfungen natürliche Gruppen (Cluster) gebildet werden? Decken diese sich mit der Zugehörigkeit der Fälle zu den Bundesländern?

Die Clusteranalyse hat ergeben, dass die Anzahl der Operatoraufgaben und die Anzahl der Materialien pro Prüfung acht Cluster bilden (z-transformierte Variablen, Ward-Methode, quadrierte Euklidische Distanz). Die Anzahl wurde mithilfe des Elbow-Kriteriums festgelegt (siehe Abbildung 4.2).

Zur Beschreibung der Cluster wurden die Mittelwerte der Variablen „Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung“ und „Anzahl der Materialien pro Prüfung“ (vgl. Tabelle 4.6) in jeweils vier Klassen mit gleicher Klassenbreite eingeteilt und diese mit den Bezeichnungen, niedrig, mittel, hoch und sehr hoch versehen.

Abbildung 4.2
figure 2

(Quelle: Eigener Entwurf)

Ermittlung der Clusteranzahl (Elbow-Kriterium).

Die acht Cluster mit ihren Elementen sind in Abbildung 4.3 farblich dargestellt. Es gibt vier Cluster, in denen Prüfungen zusammengefasst sind, in denen die Anzahl der zu bearbeitenden Operatoraufgaben niedrig ist. Sie unterscheiden sich darin, dass einmal die Anzahl der Materialien ebenfalls niedrig ist (Cluster 7, hellblau), einmal ist sie mittel hoch (Cluster 5, gelb), einmal hoch (Cluster 6, rot) und in einem Cluster sehr hoch (Cluster 8, grau).

Tabelle 4.6 Mittelwerte der Variablen Anzahl der Materialien pro Prüfung und Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung der Cluster. (Quelle: Eigene Erhebung)

Dann gibt es zwei Cluster mit einer hohen Anzahl an Operatoraufgaben: einmal mit einer mittleren Anzahl an Materialien (Cluster 4, lila) und einer hohen Anzahl an Materialien (Cluster 3, beige). Schließlich gibt es zwei Cluster mit einer sehr hohen Anzahl an Operatoraufgaben und einer mittleren Anzahl an Materialien, wobei einmal etwas mehr Aufgaben und weniger Materialien (Cluster 1, blau) als im anderen Cluster (Cluster 2, grün) vorherrschen.

In Abbildung 4.3 ist zu sehen, dass sich die Prüfungen einzelner Bundesländer in einzelnen Clustern häufen, dass sich also die Zugehörigkeit der Fälle zu den rechnerisch ermittelten acht Clustern und die Zugehörigkeit zum Bundesland, indem die Prüfung gestellt wurde, in großen Teilen decken.

Abbildung 4.3
figure 3

(Quelle: Eigene Erhebung)

Zugehörigkeit der Prüfungen zu Bundesland und Cluster.

Diese Beobachtung lässt sich auch mit Hilfe der Analyse der Verteilung der Häufigkeiten untermauern. Die Verteilung der Häufigkeiten der Bundesländer in den ermittelten Clustern ist in Tabelle 4.7 dargestellt. Zu den Clustern 1 und 2 mit einer sehr hohen Anzahl an Operatoraufgaben und einer mittleren Anzahl an Materialien gehören nur Prüfungen aus Bayern.

In Cluster 3 mit allen Fällen mit einer hohen Anzahl an Operatoraufgaben bei einer hohen Anzahl an Materialien finden sich dann sowohl Fälle aus Bayern als auch Fälle aus Baden-Württemberg. Die Fälle aus Hessen fallen überwiegend in Cluster 5, indem alle Fälle mit wenigen Operatoraufgaben und einer mittleren Anzahl an Materialien zusammengefasst sind. In Cluster 7 (Anzahl der Operatoraufgaben und Anzahl der Materialien niedrig) fallen fast alle Prüfungen Niedersachsens. Die Prüfungen aus Nordrhein-Westfalen fallen dann überwiegend in Cluster 6 (und Cluster 5): wenige Operatoraufgaben bei einer hohen (und mittleren) Anzahl an Materialien. In Cluster 8, dass nur 6 Fälle umfasst, die alle aus Nordrhein-Westfalen stammen, steigert es sich dann auf eine sehr hohe Anzahl an Materialien bei wenigen Aufgaben.

Tabelle 4.7 Zugehörigkeit der Prüfungen der Bundesländer zu den acht ermittelten Clustern. (Quelle: Eigene Erhebung)

4.1.2.3 Vergleich der Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau

Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass einerseits zwischen den Prüfungskulturen der Bundesländer deutliche Unterschiede bestehen, andererseits der Grad der Standardisierung innerhalb der Bundesländer sehr hoch ist. Im nächsten Abschnitt soll nun über die dort gegebenen ersten Hinweise zu den Spezifika der Prüfungskultur der Bundesländer hinaus ein Überblick über die bundesländerspezifischen Ausprägungen einer größeren Anzahl an Variablen gegeben werden. Zusätzlich veranschaulichen Beispiele aus Prüfungen die Besonderheiten der einzelnen Bundesländer. Alle Beispiele sind öffentlich verfügbar.

Da die Kontingenzanalysen im vorangegangenen Kapitel bei allgemeiner Betrachtung der Daten belastbar (χ2-Test durchweg hoch signifikant) war, konnte dort auf eine Differenzierung zwischen Prüfungen auf grundlegendem und erhöhtem Anforderungsniveau verzichtet werden. Die Darstellung der unterschiedlichen Geographie-Prüfungen in den einzelnen Bundesländern ist nun aber nicht auf übergeordneter Ebene sinnvoll. Da nur Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau in allen Bundesländern vorkommen (vgl. Abschnitt 3.2.1.1 zur Stichprobe), werden im Folgenden diese Ergebnisse wiedergegeben. Einschränkend ist allerdings nochmals drauf hinzuweisen, dass die Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau in Bayern ab 2012 abgeschafft worden sind, sich die Angaben zu den bayerischen Prüfungen in den folgenden Tabellen also nur auf den Zeitraum 2009 bis 2011 erstrecken. Wegen der besseren Darstellbarkeit in den Ergebnistabellen wird in diesem Kapitel überwiegend ganzzahlig gerundet. Damit die Bundesländer besser miteinander verglichen werden können, werden die Angaben in den Ergebnistabellen in diesem Kapitel in Prozent angegeben.

In Tabelle 4.8 wird die Datengrundlage der folgenden Analysen dargestellt.

Tabelle 4.8 Datengrundlage des Bundesländervergleichs der Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau im Überblick (jeweils Anzahl der Fälle). (Quelle: Eigene Erhebung)

Die formale Struktur

Schon ein Blick auf die formale Struktur der Leistungskurs-Prüfungen zeigt, dass die Bundesländer hier ihre eigenen Wege gehen. Tabelle 4.9 zeigt eine Übersicht über die allgemeinen Merkmale der Leistungskurs-Prüfungen der fünf Bundesländer.

Die Prüfungen in Baden-Württemberg zeichnen sich durch eine vergleichsweise kurze Bearbeitungszeit, bis einschließlich 2015 eine gewisse Auswahlmöglichkeit (eine Klausuraufgabe kann verworfen werden) und ab 2015 eine Auswahlmöglichkeit aus zwei Klausurvorschlägen, aus. Die Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung ist eher niedrig, wobei die Umstellung der Prüfungen im Jahr 2015 die hohe Anzahl der Operatoraufgaben in den Jahren 2009–2014 verwischt und zu einer hohen Standardabweichung führt. Die Anzahl der Materialien liegt im Mittelfeld. Verschiedene Hilfsmittel sind zugelassen. Eine Gewichtungshilfe zur Einschätzung der Erwartungen an den Umfang der Bearbeitung ist angegeben.

Die Bearbeitungszeit in Bayern ist ebenso kurz wie in Baden-Württemberg, die Auswahlmöglichkeit recht groß. Als Folge der zwei zu bearbeitenden Klausuraufgaben samt Materialienapparat müssen viele Operatoraufgaben bearbeitet werden, auch die Anzahl der Materialien ist groß. Als Hilfsmittel sind Atlas und Taschenrechner zulässig. Eine Gewichtungshilfe ist angegeben.

Bei einer mittleren Bearbeitungszeit ist die Auswahlmöglichkeit in Hessen groß. Die Anzahl der Operatoraufgaben pro Prüfung ist hoch, wobei diese stärker schwankt. Die Anzahl der Materialien ist ähnlich hoch wie in baden-württembergischen Prüfungen, allerdings schwankt auch diese stärker. Als Hilfsmittel sind Atlas und Duden erlaubt, ab 2011 auch eine Liste der fachspezifischen Operatoren.

Tabelle 4.9 Allgemeine Merkmale der schriftlichen Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau (2009–2015Footnote

Bayern 2009–2011.

). (Quelle: Eigene Erhebung)

Die Prüfungen in Niedersachsen dauern am längsten. Eine von zwei Klausuraufgaben muss bearbeitet werden, die jeweils wenige Operatoraufgaben umfassen. Die durchschnittliche Anzahl der Materialien im Materialienset ist im Vergleich die niedrigste. Zugelassene Hilfsmittel sind Atlas, Taschenrechner und teilweise ein Duden (von 2012–2014). Auf den Aufgabenblättern ist keine Gewichtungshilfe abgedruckt.

Die nordrhein-westfälischen Prüfungen zeichnen sich durch eine mittlere Bearbeitungszeit und eine große Auswahlmöglichkeit aus. Die durchschnittliche Anzahl an zu bearbeitenden Operatoraufgaben ist konstant niedrig (Standardabweichung 0,35), die Anzahl der Materialien ist (mit einigen Schwankungen) sehr hoch. Atlas, Duden und Taschenrechner dienen als Hilfsmittel. Eine Gewichtungshilfe ist angegeben.

Die thematische Struktur

Der folgende Abschnitt beleuchtet die thematische Struktur der schriftlichen Abiturprüfungen der ausgewählten Bundesländer, die in Tabelle 4.10 zusammenfassend dargestellt ist.

Die Pflicht (bis 2014), drei Klausuraufgaben zu bearbeiten, führt in Baden-Württemberg dazu, dass somit in diesen Jahren auch mehrere Themen ausgewählt und bearbeitet werden müssen. Schon auf der Ebene der einzelnen Klausuraufgaben kommen häufig mehrere Themen vor (46 % der Klausuraufgaben, darunter auch die beiden Fälle aus 2015), so auch in einer Klausuraufgabe aus dem Jahr 2011, deren Einleitung dies offenlegt: „Die Region Südostasien ist gekennzeichnet durch eine kleinräumige Differenzierung der klimatischen Verhältnisse. Gleichzeitig wird in dieser Region die Ambivalenz des Globalisierungsprozesses für die Menschen deutlich spürbar.“ (2011: II). Die Anzahl der Themen pro Prüfung ist demgemäß sehr hoch. Alle Arten an Raumbezügen kommen auf der Ebene der Klausuraufgaben vor (ein Raumbeispiel, mehrere Raumbeispiele, Raumvergleich, überwiegend allgemeingeographisch-thematisch und Kombination aus allgemeingeographischen und thematischen Anteilen) und treten dann in den Prüfungen je nach getroffener Auswahl an Klausuraufgaben kombiniert auf. Beide Prüfungen im Jahr 2015 hatten ein Raumbeispiel. Die Klausuraufgaben werden in der Regel durch einen kurzen Einleitungstext kontextualisiert wie beispielsweise (2012: III): „Galicien im Nordwesten Spaniens gilt als wirtschaftlich schwach entwickelte Region ‚am Ende der Welt‘ (Kap Finisterre). Trotzdem ist in dieser Region der Global Player Inditex aus der Textilbranche angesiedelt, der unter anderem durch die Marke Zara bekannt ist.“. Betrachtet man die in den Operatoraufgaben angesprochenen Themenbereiche der Geographie wird die große Bedeutung der physischen Geographie im baden-württembergischen Zentralabitur deutlich. Die Aufgaben nehmen in der Regel keine globale Perspektive ein.

In den untersuchten bayerischen Prüfungen kommen stets mehrere Themen pro Prüfung vor. Da dies bereits für die ganz große Mehrheit der Klausuraufgaben gilt (11 von 12) und jeweils zwei Klausuraufgaben bearbeitet werden müssen, sind also im Regelfall mindestens vier Themen Prüfungsgegenstand.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den Raumbezügen: Schon auf der Ebene der Klausuraufgaben kommen überwiegend (10 von 12) mehrere Raumbeispiele vor, sodass dies verschärft für die Prüfungen als Ganzes gilt. So ist eine Klausuraufgabe (2010: I)– von denen zwei bearbeitet werden müssen – im Jahr 2010 mit der Überschrift „Südeuropa“ überschrieben und behandelt dann als Räume und zugehörige Themen: Jahresniederschläge in Italien und Landwirtschaft in der Po-Ebene, Ökolandbau in Andalusien, Umweltmanagement in Varese Ligure (Italien), EU-Agrarpolitik und Baumwollanbau in Südeuropa, Standortverlagerung in der Automobilindustrie von Norditalien nach Polen. Bei den häufigsten drei Themen liegt mit der Klima- und Hydrogeographie ein Themenbereich der physischen Geographie an der Spitze. Globale Beziehungen, globale Vernetzungen, Globalisierung spielen keine große Rolle.

Tabelle 4.10 Thematische Struktur der schriftlichen Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau (2009–2015Footnote

Bayern 2009–2011.

). (Quelle: Eigene Erhebung)

In den hessischen Prüfungen müssen die Prüflinge ein Thema anhand eines Raumbeispiels (43 %) oder eines raumübergreifenden Vergleichs (33 %) bearbeiten. Es dominieren anthropogeographische Themenfelder. Die Prüfungen werden in der Regel durch eine allgemeine Überschrift eingebettet. Eine globale Perspektive wird selten eingenommen.

In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bestehen die Prüfungen aus einem Thema, das anhand eines Raumbeispiels bearbeitet werden muss. In beiden Bundesländern werden die Prüfungen durch eine Frage oder eine allgemeine Überschrift („Niedersachsen – ein attraktiver Wirtschaftsstandort?“ in der Klausuraufgabe 2011: I in Niedersachsen) oder auch eine allgemeine Überschrift („Strukturen und Prozesse in Metropolen von Schwellenländern – Das Beispiel Rio de Janeiro“ in der Klausuraufgabe 2014: A in NRW) eingeleitet, in Niedersachsen häufiger durch eine Frage, in Nordrhein-Westfalen häufiger durch eine allgemeine Überschrift. Die Operatoraufgaben sind überwiegend anthropogeographischen Themenbereichen zuzuordnen. In beiden Ländern werden immer wieder globale Bezüge aufgegriffen, so in der Aufgabe „2. Erläutern Sie, weshalb sich deutsche Unternehmen im Boom Belt der USA niederlassen.“ (Klausuraufgabe 2011: I).

Die Aufgabenstruktur

Die Struktur der Aufgaben in den fünf Bundesländern ist ähnlich, unterscheidet sich aber in einigen wesentlichen Punkten (vgl. Tabelle 4.12 und Tabelle 4.13).

Tabelle 4.11 Beispiele für alternative Antwortformate am Beispiel baden-württembergischer Operatoraufgaben

In Baden-Württemberg bauen die Teilaufgaben einer Prüfung nicht aufeinander auf, besonders deutlich wird dies natürlich in den Jahren bis 2014, in denen drei Klausuraufgaben, in welchen sich die Aufgaben auch schon jeweils ergänzen, ohne aufeinander aufzubauen, mit unterschiedlichen Themen bearbeitet werden müssen. Die Schüler_innen müssen überwiegend Texte verfassen, aber auch andere Antwortformate (vgl. Tabelle 4.11) werden gefordert.

Es wird explizit darauf hingewiesen, welches Material bei welcher Aufgabe herangezogen werden soll. Die drei häufigsten Operatoren kommen nur in einem Drittel der Operatoraufgaben vor, die Standardisierung ist hier also nicht so stark ausgeprägt wie in anderen Bundesländern. Die Einbettung von Aufgaben mithilfe einer Einleitung kommt häufig vor (vgl. Beispiel für eine Zuordnungsaufgabe in Tabelle 4.11). Wie in den anderen Bundesländern werden die Operatoraufgaben nicht näher erläutert. Genauso durchgängig ist der wie in den anderen Bundesländern fehlende Lebensweltbezug.

Die Teilaufgaben in den bayerischen schriftlichen Geographieprüfungen sind sowohl auf Klausuraufgaben- als auch auf Prüfungsebene unabhängig beantwortbar und ergänzen sich nur lose, Zwischenüberschriften dienen dabei als Orientierung. Als Beispiel sei hier der Fall angenommen, dass eine Schülerin sich im Jahr 2009 für die ersten beiden Klausuraufgaben als Prüfung entschieden hat. Sie bearbeitet daraufhin bei der Klausuraufgabe I zum Thema „Spanien“ zum Thema „Naturraum und Geoökologie“ zwei Operatoraufgaben, zum Thema „Asturien – Wirtschaftliche Entwicklung“ zwei Operatoraufgaben und „Einwanderungsland Spanien“ drei Operatoraufgaben sowie in der Klausuraufgabe II zum Thema „Zentralasien und die Schwarzmeerregion“ zwei Operatoraufgaben zum Thema „Naturraum“, drei zum Thema „Ressourcen“ und vier zum Thema „Wirtschaft der Ukraine“. Das Antwortformat ist in den drei hier betrachteten Jahrgängen mit einer Ausnahme (Zeichen eines Profils) der Aufsatz. Eine Besonderheit der Prüfungen in Bayern sind die vielen Aufgaben ohne Bezug zum Materialienapparat wie: „Schätzungen gehen davon aus, dass etwa ein Fünftel der 14 Mio. Einwohner Ecuadors als Arbeitsmigranten im Ausland lebt, insbesondere in Spanien. Bewerten Sie die Auswirkungen dieser Migration auf die wirtschaftliche Entwicklung des Heimatlandes.“, 2009: III) oder „Der in Norditalien ansässige Automobilkonzern Fiat lagert einen großen Teil seiner Produktion aus den süditalienischen Werken ins südliche Polen aus. Erläutern Sie mögliche Gründe für diese Unternehmensentscheidung.“, 2010: I). Die drei häufigsten Operatoren kommen in der Hälfte der Operatoraufgaben vor. Die Aufgaben sind – hier eine Parallele zu Baden-Württemberg – häufig in eine Kontextualisierung eingebettet, wie es die beiden gerade genannten Aufgabenbeispiele zeigen.

Die Teilaufgaben in den Prüfungen in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ergänzen sich und beziehen sich aufeinander. Insbesondere die dem Anforderungsbereich II zuzuordnenden Aufgaben bauen auf Ergebnissen der vorangehenden Aufgaben auf: „Nehmen Sie kritisch Stellung zu Chancen und Risiken dieser Entwicklung.“ (NRW, 2003: HT1). In Hessen kommt ebenso wie in Bayern einmal als Antwortformat ein Profil vor, sonst ist das gängige Format der Aufsatz. Unterschiede gibt es beim Materialbezug, der in Hessen oft explizit ist, in den anderen beiden Ländern implizit. Beim Blick auf die häufigsten Operatoren wird der besonders hohe Grad der Standardisierung in Nordrhein-Westfalen deutlich. Eine Besonderheit ist die große Bedeutung des Operators „lokalisieren“. Dieser ist in der Regel der Operator der ersten Operatoraufgabe und wird sowohl in Kombination mit einer folgenden vor allem physisch-geographischen Aufgabe („Lokalisieren Sie Norilsk und kennzeichnen Sie die in der Region Norilsk gegebenen naturgeographischen Voraussetzungen für eine industrielle Entwicklung.“; 2015: HT1) als auch bei einer anthropogeographischen Aufgabe („Lokalisieren Sie Bremen und kennzeichnen Sie die Entwicklung von Hafen, Stadt und Umland.“; 2015: HT2) als auch bei einer Mensch-Umwelt-Aufgabe („Lokalisieren Sie den Galapagos-Archipel und kennzeichnen Sie das touristische Potenzial.“; 2012: HT2) eingesetzt. In allen drei Bundesländern werden Operatoraufgaben in der Regel nicht eingebettet, in den niedersächsischen Prüfungen sind dennoch die Fälle, in denen zu einer Aussage kritisch Stellung genommen werden soll, interessant: „‚Technologieparks sind der Garant für wirtschaftliche Entwicklung.‘ Nehmen Sie ausgehend von den Beispielen Karlsruhe und Zhangjiang Stellung zu dieser These.“ (2010: HT2).

Tabelle 4.12 Struktur der Aufgaben in schriftlichen Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau Baden-Württemberg, Bayern, Hessen 2009–2015Footnote

Bayern 2009–2011.

. (Quelle: Eigene Erhebung)
Tabelle 4.13 Struktur der Aufgaben in schriftlichen Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 2009–2015, Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung der KMK. (Quelle: Eigene Erhebung)

Die Materialien

Die in den schriftlichen Geographieprüfungen der Bundesländer eingesetzten Materialiensets unterscheiden sich im Detail deutlich (vgl. Tabelle 4.14, Tabelle 4.15 und Tabelle 4.16).

Die Materialien werden in den baden-württembergischen Aufgaben explizit den jeweiligen Aufgaben zugeordnet, in deren Kontext sie ausgewertet werden sollen. Ebenso wie in den anderen Bundesländern kommen gelegentlich Hilfen beim Material vor. Materialkritik wird mit einer Ausnahme („Beurteilen Sie anhand der gezeigten Verteilung der Messstationen die Aussagekraft einer derartigen Klimakarte.“, 2010: I) nicht gefordert. Bei den Themen der Materialien ist der Themenbereich Klima/Wetter am häufigsten vertreten. Diagramme und Zahlentabellen machen mehr als die Hälfte (56 %) der Materialien aus. Aus den in Tabelle 4.13 dargestellten Eigenschaften der eingesetzten Materialien ist besonders die herausragende Bedeutung der Zeitungsartikel(-auszüge) bei den Texten und der Klimadiagramme bei der Gruppe der Diagramme hervorzuheben. Eine Besonderheit bei den Karten ist, dass der Maßstab oft nicht angegeben ist beziehungsweise nicht ermittelt werden kann.

Auch in Bayern (vgl. Tabelle 4.13) ist den Prüflingen auf den ersten Blick ersichtlich, welches Material bei welcher Aufgabe berücksichtigt werden soll. Einige Materialien werden durch Hilfen ergänzt (z. B. Hinweis zur Umrechnung von Barrel in Liter). In zwei Fällen wird eine Kritik am Material gefordert: einmal an einem Text und einmal an einem Diagramm. Das häufigste Thema von Materialien ist wie in Baden-Württemberg Klima/Wetter. Diagramme und Zahlentabellen machen den Großteil der Materialien aus (zusammen 70 %). Karten machen demgegenüber nur 12 % aus und hier dominieren quantitative Karten. So kann insgesamt die Ausrichtung der Materialien auf Zahlen festgestellt werden. Zu den vier häufigsten Materialarten gehören in Bayern grafische Medien wie Modell oder Zeichnung. Zu den Besonderheiten der Materialien zählt, dass bei den 4 Texten keine Quellen angegeben sind.

In Hessen (vgl. Tabelle 4.14) erfolgt – mit Ausnahme der schriftlichen Prüfungen im Jahr 2010 – eine explizite Zuordnung der Materialien zu einzelnen Aufgaben. In keinem Fall wird explizit eine Kritik am Material gefordert. Die häufigsten drei Themen der Materialien sind allesamt anthropogeographisch. Texte bilden mit 28 % die häufigste Materialart. So gehören beispielsweise in einer Klausuraufgabe (2012: A) drei Fließtexte und eine Auflistung an Stichpunkten zum Materialienapparat, sodass im Rahmen dieser Prüfung Texte mit einer Länge von insgesamt über 1500 Wörter bzw. 11.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) gelesen und einbezogen werden müssen. In einer Klausuraufgabe (2011: B) besteht der Materialienapparat neben einem Kommentar und zwei Zahlentabellen sogar aus 11 Texten. Dabei sind Texte oft unspezifische (Internet-)Texte, deren Einordnung und Beurteilung durch die Zitation ohne Autor_in erschwert wird. Karten bilden die zweithäufigste Materialgruppe (24 %). Es handelt sich oft um komplexe Karten und/oder quantitative Karten.

In niedersächsischen Aufgaben (vgl. Tabelle 4.14) werden die Materialien, so wie es auch die Vereinbarungen auf KMK-Ebene vorgeben, nicht explizit den Aufgaben, bei deren Bearbeitung sie berücksichtigt werden sollen, zugeordnet. Wie in Hessen spielen physisch-geographische Themen wie das in Baden-Württemberg und Bayern so häufig auftretende Thema Klima/Wetter bei den Materialien keine Rolle. Ein Drittel der Materialien sind Texte, die in der Regel Fließtexte und in der Hälfte der Fälle Klausurartefakte sind. Kein Materialienset kommt ohne Text aus. Als Beispiel mit einem hohen Anteil an Texten sei die Klausuraufgabe II 2010 angeführt, bei dem die Materialien zur Hälfte aus Texten (und zur anderen Hälfte aus Karten) bestehen: einem längeren Klausurartefakt, und zwei längeren Auszügen aus einem wissenschaftlichen Text. Bei den Karten, die das zweithäufigste Material sind, fällt der im Vergleich zu den anderen Bundesländern höhere Anteil der dynamischen Karten auf.

In Nordrhein-Westfalen (vgl. Tabelle 4.15) werden die Materialien nicht explizit einzelnen Operatoraufgaben zugeordnet, die Schüler_innen müssen diese Zuordnung selbst vornehmen. Die Sortierung der Materialien dient zwar durchaus als Orientierung, dennoch ist eine größere Zuordnungsleistung zu erbringen als in anderen Bundesländern, da im Durchschnitt 18 Materialien pro Prüfung (vgl. Tabelle 4.9) ausgewertet und zugeordnet werden müssen. Hilfen beim Material kommen vor. Materialkritik wird nicht gefordert. Bei den häufigsten Themen der Materialien fällt im Vergleich zu den anderen Bundesländern die besondere Bedeutung der Verkehrs- und Tourismusgeographie auf. Die vier dominierenden Materialarten Diagramm, Karte, Text und Zahlentabelle kommen nahezu gleichhäufig vor. Eine Besonderheit stellen die über eine einfache Hilfe hinausgehenden Erläuterungen in Form von Kommentaren dar (14 %), die im wortwörtlich Kleingedruckten weitere Sachinformationen liefern. Ein Beispiel ist ein Kreisdiagramm (2012: HT2), das die Verteilung der Einnahmen aus dem Galapagos-Tourismus 2006 zeigt: als zusätzliche Information wird angegeben, dass zu den dem Tourismus vor- bzw. nachgelagerten Wirtschaftsbereichen „z. B. öffentliche und soziale Dienstleistungen, Banken, Telekommunikation, Handel, Landwirtschaft“ zählen (= Hilfe), aber auch, dass von den 33 % der Einnahmen, die auf die Tourismuseinrichtungen fallen, „rund 60 % an Hotelschiffbesitzer, die im Ausland bzw. auf dem ecuadorianischen Festland leben“ fließen (= Kommentar). Zudem gehören zu einem nummerierten Material oft mehrere Materialien (oft auch unterschiedlicher Materialart). Meist folgen diese aufeinander und ließen sich auch getrennt erheben, in 3 % der Fälle sind diese allerdings so zu Materialkombinationen verwoben, dass eine getrennte Erfassung aller Einzelmaterialien nicht sinnvoll ist. Bei den eingesetzten Karten fällt die im Vergleich zu anderen Bundesländern geringere Bedeutung der Kartogramme auf. Karten werden oft als Kartenserien von zwei oder mehr Karten zu unterschiedlichen Zeitschnitten angeordnet. Es dominieren mittlere Maßstäbe. Der Anteil der Karten ohne angegebenen bzw. bestimmbaren Maßstab ist eher niedrig. 10 % der Karten sind dynamische Karten.

Bei den Texten dominieren Stichpunkttexte, die oft aus verschiedenen Quellen zusammengestellt wurden, ohne dass im Detail nachvollziehbar wäre, welche Information aus welcher Quelle stammt.Die häufigste Diagrammart ist komplex: mehrschichtige Säulendiagramme. Der Anteil mit Zahlentabellen mit mehr als zwei Dimensionen ist im Vergleich der Bundesländer unterdurchschnittlich. Zu den seltenen vorkommenden grafischen Medien (4 % der Materialien) gehören Luftbild, Schema, Modell, Foto und Profil.

Tabelle 4.14 Struktur der Materialien in Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau Baden-Württemberg 2009–2015 und Bayern 2009–2011. (Quelle: Eigene Erhebung)
Tabelle 4.15 Struktur der Materialien in Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau Hessen und Niedersachsen 2009–2015. (Quelle: Eigene Erhebung)
Tabelle 4.16 Struktur der Materialien in Prüfungen auf erhöhtem Anforderungsniveau Nordrhein-Westfalen 2009–2015 und Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung der KMK. (Quelle: Eigene Erhebung)

4.1.3 Grenzen der Studie

Die offenkundigsten Limitationen der Studie sind, dass nicht alle Bundesländer mit Zentralabitur im Fach Geographie erfasst wurden und dass kein Vergleich zu dezentralen Prüfungen gezogen wurde. Außerdem wurde eine begrenzte Zeitspanne herausgegriffen. Außerdem konnten Entwicklungen nicht erfasst werden. Auch wenn die quantitative Aufgabenanalyse keine Momentaufnahme, sondern eine Zeitspanne von sieben Jahren abdeckt – aufgrund der geringen Fallzahlen pro Jahr und Bundesland müsste eine wesentlich längere Zeitspanne in den Blick genommen werden, um Längsschnittanalysen zu ermöglichen. Es kann sogar vermutet werden, dass diese generell nicht möglich sind. So wurde in Baden-Württemberg nur der erste Jahrgang nach der grundsätzlichen Umstellung des Prüfungsformats auf weniger kleinschrittige Aufgabenstellungen erfasst, aber diese mit allen vorhergehenden Prüfungsjahrgängen „in einen Topf“ geworfen.

Die Analyse der erhobenen Daten unterlag aufgrund des niedrigen Skalenniveaus fast aller Variablen Beschränkungen. Zwar wurde bei der Konzeption der Studie erwogen, auch Variablen mit quasi-metrischer Ordinalskala zu erfassen (zum Beispiel der Komplexität von Materialien oder bezogen auf die Berücksichtigung von einzelnen Kompetenzen). Diese Idee musste jedoch trotz möglichst enger Definitionen der Merkmalsausprägungen aufgrund der Erfassungsungenauigkeit nach dem Testen des Erhebungsinstruments verworfen werden. Es wäre spannend gewesen, weitere Clusteranalysen durchführen zu können, um über Kontingenzanalysen hinaus die bundesländerspezifische Standardisierung nachzuweisen.

Trotz der zahlreichen erhobenen Variablen verbleibt zum Schluss der Eindruck, die Prüfungsaufgaben nicht in all ihren Charakteristika abgebildet zu haben. So wurden die spezifischen Prüfungsinhalte nur grob erfasst, außerdem konnte die Komplexität und letztlich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben nicht erfasst werden. So mussten Fragen wie, ob Leistungskursklausuren schwieriger sind als Grundkursklausuren, unbeantwortet bleiben. Es wurde zwar zunächst erwogen, auch die Beurteilungsbögen, die im Grunde als Musterlösung fungieren, in die Bewertung einzubeziehen. Aufgrund der Forschungslage zur Diskrepanz von Aufgaben und Erwartungshorizonten und später auch aufgrund der in der Interviewstudie geäußerten Kritik an den Erwartungshorizonten, wurde dieser Gedanke aber nicht weiterverfolgt.

Insgesamt machen die Ergebnisse der Kontingenzanalysen neugierig, wie groß die Unterschiede im Detail sind. Als Beispiel kann hier die Rolle von Texten im Materialienapparat herangezogen werden. Durch die Charakterisierung über die Eigenschaften Fließtext/Stichpunkte und Textart (vom Quellentext bis zum Klausurartefakt) konnten deutliche Unterschiede der Aufgabenkulturen der Bundesländer herausgearbeitet werden. Nun wäre es spannend gewesen, sich die Texte bezogen auf weitere Merkmale wie Länge oder Fachsprachlichkeit erneut anzusehen. Aufgrund der Entscheidung, eine größere Zeitspanne und fünf Bundesländer in die Studie aufzunehmen, schnellte aber die Anzahl der Materialien derart in die Höhe, dass dies ohne weitere Forschungsmittel und Zeit nicht umsetzbar war.

4.2 Das Handeln von Geographielehrer_innen angesichts des Zentralabiturs

In diesem Kapitel sollen die nachgelagerten Untersuchungsfragen aus dem dritten Block beantwortet werden: Wie beschreiben Geographielehrer_innen die Situation angesichts des Zentralabiturs und seiner Aufgabenkultur? Wie beschreiben und begründen sie ihr eigenes Handeln? Inwiefern lassen sich die Ergebnisse systematisieren?

Unabhängig davon, ob es zentral oder dezentral organisiert ist – der Kreislauf des in Abschnitt 2.2.1.1 vorgestellten heuristischen Modells der diagnostischen Urteilsbildung ist beim Abitur unterbrochen. Auf die Prüfung kann kein unmittelbares pädagogisches beziehungsweise didaktisches Handeln mehr folgen, da die Schulzeit der Schüler_innen dann beendet ist. Das Zentralabitur hat auf dieser Ebene also nur eine reine Selektionsfunktion.

Darüber hinaus hat das Zentralabitur im Rahmen der Reprogrammierung eine Evaluationsfunktion zugewiesen bekommen, die in den Interviews aber nicht erwähnt wird. In Abschnitt 2.2.3.2 wurde ausgeführt, dass keine Hauptfunktion der Evaluation durch das Zentralabitur ersichtlich ist. Die Interviewstudie deutet allerdings darauf hin, dass die Hauptwirkung auf Lehrende, das Erzeugen von Druck zwecks Disziplinierung sein könnte.

Von Seiten der Bildungspolitik wird davon ausgegangen, dass das Zentralabitur als Instrument der Schulentwicklung auch von Lehrer_innen dafür genutzt wird, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Interviewstudie deuten darauf hin, dass die interviewten Geographielehrer_innen eine Ausrichtung auf Unterrichtsinhalte und auf das Zentralabiturprüfungsformat ableiten. Diese Wirkung scheint vornehmlich auf die Ungewissheit, was geprüft werden wird, und auf das spezifische, standardisierte Prüfungsformat zurückzuführen zu sein. Damit hat das Zentralabitur, dessen Standardisierung auf der Ebene der Bundesländer in Abschnitt 4.1 festgestellt werden konnte, wiederum selbst eine standardisierende Wirkung auf den Geographieunterricht. Außerdem deuten die Ergebnisse der Interviewstudie darauf hin, dass die Reprogrammierung der Lehrpläne in Richtung Kompetenzorientierung durch die Steuerungswirkung des Zentralabiturs nicht in vollem Umfang wirksam werden kann.

Das Ausmaß der Steuerungswirkung des Zentralabiturs kann wegen des qualitativen methodischen Vorgehens nicht abgeschätzt werden. Allerdings ermöglicht dieses Vorgehen, dass die Bandbreite der Steuerungseffekte aufgedeckt werden kann. Festgestellt werden können außerdem weitere Bedingungsfaktoren, die sich zusätzlich auf das gestaltende Handeln von Geographielehrer_innen beziehungsweise dessen Intensität und Frequenz auswirken. Diese können die Wirkung des Zentralabiturs verstärken, aber auch stark abschwächen, sodass eine Spannweite von der gestaltungsarmen Routine bis zu einem über den eigenen Unterricht hinausgehenden gestaltenden Handeln festgestellt werden kann.

Zunächst wird im Abschnitt 4.2.1 die Bandbreite an Aussagen in den Interviews der Studie zum Zusammenspiel von Zentralabitur, Unterricht und unterrichtlichen Klausuren vorgestellt, bevor im Abschnitt 4.2.2 eine Typologie der aktualen Gestaltung angesichts des Zentralabiturs entwickelt und anhand von typischen Fällen illustriert wird. Da die Häufigkeit von Nennungen im Rahmen der qualitativen Methodik unerheblich ist und über 1200 Codings vorliegen, werden in diesem Kapitel nur ausgewählte Belege und Zitate angeführt, die die Bandbreite der Ergebnisse anschaulich demonstrieren sollen.

4.2.1 Das Zusammenspiel von Zentralabitur, Unterricht und unterrichtlichen Klausuren aus Sicht von Geographielehrer_innen und die Rolle von Akteur_innen

In diesem Kapitel wird zunächst die Sicht der Geographielehrer_innen im Sample auf das Zentralabitur beschrieben, bevor in den darauffolgenden Teilkapiteln der Steuerungswirkung des Zentralabiturs auf den Geographieunterricht sowie auf die Geographieklausuren im Unterricht nachgegangen wird. Dabei wird der Versuch unternommen, die Bandbreite der Ergebnisse möglichst wiederzugeben. Da ausschließlich die Sicht der interviewten Lehrkräfte wertungsfrei wiedergegeben wird, schließt die Darstellung entgegengesetzte und widersprüchliche Aussagen mit ein.

4.2.1.1 Das Zentralabitur aus Sicht von Geographielehrer_innen

In den Interviews äußern sich die Geographielehrer_innen – auch im Vergleich zu anderen Prüfungsformaten – dazu, inwiefern das Zentralabitur standardisiert ist. Es werden außerdem Vorschläge zu seiner Veränderung oder zu grundsätzlicheren Reformen des Prüfungswesens gemacht. Es wird deutlich, dass die von Befürwortern zentraler Abschlussprüfungen erhofften Wirkungen wie Transparenz der Leistungsanforderungen und die Sicherung der Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen zumindest in Frage gestellt werden müssen (vgl. Abschnitt 2.2.4.2). Das Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte, die die Standardisierung des Zentralabiturs, dessen Eigenschaften als Prüfung und die Beurteilung der von den Schüler_innen im Zentralabitur erbrachten Leistungen thematisieren sowie in zwei Abschnitte, die die in Interviews geäußerte Detailkritik von Operatoraufgaben und Materialien zusammenfassen.

Die Standardisierung des Zentralabiturs im Fach Geographie

In den Interviews wird die Standardisierung des Zentralabiturs thematisiert. Im Zentralabitur gebe es ein „starres Aufgabenkonzept“, die Aufgaben seien „immer noch sehr stur und auch eintönig“ (19.XXXIV, 19.16, 76 und 36), es wird der „korsettartige Charakter“ der Abituraufgaben (8.III, 8.48, 454) thematisiert. Im gleichen sprachlichen Duktus werden Überlegungen angestellt, wie man die Formate „aufweichen“ könne (19.XXXIV, 19.16, 54). Als Beispiel werden die Operatoren und die damit verbundenen Leistungserwartungen genannt (19.XXII, 19.26, 78). Als Lehrer_in sei man bei der Bewertung der Zentralabiturklausuren aufgrund der Vorgaben machtlos:

„Wenn ich da jetzt in meinem Unterricht einen Schwerpunkt draufgelegt habe, die aber vom Ausschuss sagen: Nein, interessiert uns aber nicht. Dann kann ich das nicht bepunkten, das sage ich den Schülern auch, dass ich da keine Macht habe. Aber wenn die sich nicht klar ausdrücken, dann interpretiere ich auch ein bisschen.“ (16.XXIX, 16.67, 92).

Wie „strikt“ die Vorgaben für das Zentralabitur selbst seien, falle auf, wenn man als Lehrer_in aufgefordert sei, einen Vorschlag für eine Zentralabitur-Klausuraufgabe einzureichen (19.XXXI, 19.40, 140–146).

Das dezentrale mündliche Abitur wird kontrastierend in die Argumentation eingebunden. Hier gebe es trotz der Vorgaben „viel mehr Freiheit“ als im schriftlichen Zentralabitur, weshalb man es „viel lieber“ möge (19.XXXVI, 19.42, 152). Man könne jedem zum mündlichen Abitur raten, aber nicht jedem zum schriftlichen (13.XXIV, 13.26, 184).

Die mündlichen Prüfungen seien viel persönlicher (19.XXXVI, 19.42, 152) und man könne auf die Prüfungssituation eingehen:

„Ja, ich finde zum Beispiel mündliche Prüfungen auch immer spannend, weil [wenn] eine mündliche Prüfung im Endeffekt viel besser den Leistungsstand eines Schülers vermittelt als eine schriftliche Klausur.

I: Warum?

B: Weil ich Gedankengänge des Schülers in dem Moment, also ich kann sehen, wie er sich einem Prozess nähert, ich kann seiner logischen Strukturierung folgen und Darstellung spielt für mich auch ein Stück weit da mit rein. […]“ (19.XXXIV, 19.16, 42)

Es gebe vielfältigere Gestaltungsmöglichkeiten:

„B: […] Also ich finde Geographie als mündliches Prüfungsfach eine ganz tolle Sache, weil da kann man zum Teil viel, viel mehr machen, was jetzt diese andere /

I: Als im Schriftlichen.

B: Als im Schriftlichen, ja. Also da kann ich tatsächlich was mitbringen oder mal einen Stein hinlegen oder wirklich einen Schüler mal was erklären lassen, wie er das denn jetzt machen würde und kann aber nachfragen, was ich im Schriftlichen ja nicht kann, und über das Nachfragen kriege ich dann schon relativ gut raus, wie stark ist die Kompetenz ausgeprägt, wie reflektiert steht der hinter der Sache?“ (3.XI, 3.40, 258–260)

Dies gelte zum Beispiel für kreativere Aufgabenformate, zum Beispiel mit dem Operator „entwickeln Sie“, die sich mehr für mündliche als für schriftliche Prüfungen eigneten, da sie schwer zu bewerten seien, insbesondere wenn man nicht nachfragen könne und die Schüler_innen nicht erkennen könnten, wieweit sie ins Detail gehen müssten (15.XX, 15.24, 147–149). Außerdem könne man die mündlichen Prüfungen an den Themen des Unterrichts und den unterrichtlichen Klausuren ausrichten (13.IX, 13.25, 164; 19.XXXVI, 19.42, 152).

Mündliche Prüfungen bereiteten hinsichtlich der Lebenslauforientierung von Schule zudem „authentischer auf das, was ihn oder sie danach erwartet“ vor (19.XXXIV, 19.17, 42).

Es werden Ideen zur Veränderung geäußert. So wird der Vergleich zur Fremdsprache Englisch gezogen, bei der man die Prüfungsformate „massiv geändert“ habe und mündliche Prüfungen nun obligatorisch seien (19.XXVI, 19.49, 36). Darüber hinausgehend wird in einem Gruppen-Interview die Spannbreite der Prüfungsmöglichkeiten von „Stadt-Land-Fluss“ bis zu echtem Handeln diskutiert (8.I, 8.5 3, 478–488).

„B2: Es gibt noch andere Formen von Prüfungen. Also ich hatte […] jahrelang Hochbegabte zu fördern und da haben wir nachmittags so ein Enrichment gemacht. Es gab da für die neben dem normalen Unterricht halt noch einmal zweimal die Woche nachmittags was und die haben nie Prüfungen bei uns gehabt, aber sie mussten dann, wenn sie in der Hochschule zusammengearbeitet haben, mussten sie auch in Vorträgen dann über einem Auditorium, dass sie nicht kannten, erwachsene Menschen, oft Eltern, aber darüber hinaus auch noch andere Hochschulangehörige. Mussten sie dann halbe Stunde lang über ihr Thema sprechen. Das ist erst recht Prüfung. Ob das jetzt im Naturkundemuseum war über Pollenanalyse, oder ob das jetzt über architektonische Elemente waren, astronomische Sachen.

B1: Da kommt genau der Aspekt wieder herein. Sobald ich über ein Thema sprechen kann habe ich die Vertiefung.

B2: Und da waren die völlig frei in der Themenwahl. Wurden von uns nur administrativ begleitet sagt man, dass alles da war, Material, Mittel und dann haben sie ein Zertifikat bekommen, aber das war keine Note. Das ist eine ganz andere Art von Prüfung gewesen.

[…] Ja das ist ein authentischer Ernstcharakter. Der lässt sich eigentlich nicht mehr steigern.“ (8.I, 8.5 3, 479–485)

In einem Interview wird als Alternative zu einer Reform des schriftlichen Zentralabiturs das Einräumen von mehr Möglichkeiten, die Schüler_innen im Unterricht zu bewerten, vorgeschlagen (19.XXXVIII, 19.45, 154).

Zusammenfassend führt die Standardisierung des Zentralabiturs im Fach Geographie gemäß den verschiedenen Äußerungen zu weniger Handlungs- und Einflussmöglichkeiten der Lehrer_innen. Dies spiegelt sich insbesondere im Gegensatz zu den mündlichen Prüfungen wieder, die als freier und kreativer in der Aufgabenkonzeption angesehen werden. Gleichzeitig gibt es Ideen zur Reform des bestehenden Systems, sei hinsichtlich der Prüfungsformate oder der Bewertung.

Das Zentralabitur im Fach Geographie als Prüfung

Es wird kritisiert, dass die Einführung des Zentralabiturs die Situation für die Schüler_innen nicht verbessert hätte: „[…] ich glaube, es ist nicht wirklich für die Schüler fairer geworden, denn die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind ja immer noch da. Die sind ja ziemlich groß. Wir müssen nur einmal über den Rand gucken nach NRW.“ (15.XXI, 15.44, 252).

Geographie gilt als schriftliches Prüfungsfach als „schwierig“, die Noten seien „doch eher schlechter“, weswegen es von den Schüler_innen kaum gewählt werde, heißt es in einem anderen Fall (13.XXIX, 13.4, 33).

Als Gelingensbedingung für das Bestehen der Prüfung im Zentralabitur im Fach Geographie wird ein gewisses Maß an Intelligenz, die Fähigkeit zu strukturieren und mit Materialien umzugehen sowie die Fähigkeit zu schreiben genannt (18.XXV, 18.32, 610–617).

Es wird kritisiert, dass das Zentralabitur das Leistungsspektrum der Schüler_innen nicht gut abbilde; es sei zu schwierig sehr gute Noten zu erzielen, aber leicht, zu bestehen (18.XXV, 18.39, 212 und 18.32, 523–554). Zwei Interviewpassagen verdeutlichen dies:

„Es ist relativ einfach bei den Zentralabi-Aufgaben auf 4, 5 Punkte zu kommen. Also die Basis ist da, die ist leicht. Es wird sehr schwer in die hohen Punktzahlen zu kommen, weil oft sehr wenig klar ist oder transparent für die Schüler, was wird eigentlich genau noch erwartet. Ich habe ja alles geliefert. Aber wo verliere ich die Punkte Nr. 13, 14, 15? Das haben wir inzwischen öfter, dass gute Schüler irritiert sind und sagen: Was hätte ich denn machen sollen?“ (15.XXI, 15.11, 56)

„Also es ist, ich sage mal, sehr gute Schüler, also wer Medizin studieren möchte, sollte nicht in Geographie Abitur, weil es halt zu schwierig ist, eine sehr gute Note zu bekommen. Also Eins, das ist, finde ich, nahezu unmöglich. Bei den sehr, sehr schlechten Schülern, die haben das Problem, also dass es ja in der Regel keine Schüler sind, die nur in Geographie sehr, sehr schlecht sind. Sondern halt wirklich irgendwo letztendlich das Abitur machen müssen und da kann man dann Geographie schon auch wieder empfehlen. Weil, wenn man lernt und so weiter, denke ich mal, eine Vier drin ist.“ (13.X, 13.34, 186)

Als Ursache wird eine fehlende Transparenz bezüglich der Leistungserwartungen angegeben, die in anderen Fächern gegeben sei (15.XXXIV, 15.47, 256–258). Die Vorabdefinition der Operatoren gaukle eine „Pseudo-Objektivität“ vor (15.XXI, 15.10, 58).

Als problematisch wird angesehen, dass man „guten Leuten eigentlich vielleicht nicht die Chance gibt, die sie eigentlich haben, weil sie […] sprachlich schwach sind“ (8.XXII, 8.52, 473–478) oder weil nicht ersichtlich sei, was als Leistung erwartet werde. Dies gelte sogar für die Lehrer_innen selbst:

„Und ganz oft gehen wir Kollegen auch ran und sagen: Hier, versucht es einfach mal selber zu lösen. Wir nehmen die Schülerperspektive, wir kennen ja auch nicht mehr, versuchen es, legen dann unsere Lösung gegen den Erwartungshorizont und stellen fest: Oh, wir hätten aber auch gerade mal 6 Punkte geschafft. Und dann sagen wir: Wie bescheuert ist denn die Aufgabe oder Vorgabe? Oder was setzt man voraus, ohne [dass] wir es wussten. Also wir sind sehr unzufrieden […].“ (15.XXI, 15.43, 252)

Der „extreme[n]“ Zeitdruck im Abitur sei „total bescheuert“ und führe dazu, dass die Noten der Schüler_innen „nicht so berauschend“ seien (12.II, 12.30, 198; 12.XXII, 12.36, 230).

Andererseits wird in einem anderen Interview argumentiert, aufgrund seiner Standardisierung sei das Zentralabitur „kalkulierbar“ und damit schülerfreundlich (19.XXXVI, 19.49, 40). Ein Interviewter moniert, das Zentralabitur prüfe zu wenig im Unterricht erworbenes Wissen ab, es gebe zu viele Materialien (18.XXV, 18.32, 635). Er wünsche sich mehr Wissensabfragen insbesondere bei „natürlichen Voraussetzungen“ im ersten Klausurteil (18.XXVI, 18.34, 560).

In einem anderen Interview werden vielfältigere Raumbezüge gefordert: von allgemeingeographischen Aufgaben mit Raumbeispiel, über ein Raumbeispiel, Raumvergleiche bis zu einer globalen Perspektive (5.XII, 5.35, 182).

Zusammenfassend wird die Ambivalenz des Fachs Geographie im Zentralabitur deutlich: Einerseits wird das Zentralabitur als nicht fairer für die Schüler angesehen, da weiterhin Unterschiede zwischen den Bundesländern bestünden, das Notenspektrum nicht gut abgebildet werde und es einen überflüssigen Zeitdruck gebe, andererseits sei die Prüfung durch die Standardisierung für die Schüler_innen einfacher vorherzusehen. Kritik an Konzeption und Inhalt der Prüfungen gibt es aus verschiedenen Perspektiven.

Die Beurteilung der Leistungen

Es wird Kritik an den Erwartungshorizonten formuliert, etwa am Niveau der geforderten Leistung (zum Umgang mit Autorentexten: „im Erwartungshorizont steht die Nacherzählung. […] Das ist für mich zu wenig Leistung.“ 15.IV, 15.8, 50–52).

Es gibt Zweifel daran, dass Spielräume, die die Erwartungshorizonte bieten, durchgängig genutzt werden. Besteht etwa die Möglichkeit, für alternative Lösungswege Zusatzpunkte zu vergeben, werde dies „relativ selten“ genutzt: „Also ich habe bis jetzt wenig Abituraufgaben gesehen, wo Zusatzpunkte im Bogen vermerkt waren. Kann natürlich auch an den Schülern liegen, aber ((lacht)) /“ 3.XVI, 3.14, 67).

Als Lehrer_in müsse man trotz der Korrekturvorgaben zum Beispiel bei alternativen Antwortformaten wie einem Wirkungsgefüge „dann halt eine Entscheidung treffen“ (5.XVI, 5.32, 150–152), sie seien „schwer […] gut zu stellen“ und es sei „sehr schwer, sie sauber zu korrigieren“ (5.XVI, 5.31, 150). In Baden-Württemberg, wo es alternative Antwortformate schon seit längerer Zeit gebe, habe man aber „nicht so große Probleme“ (3.XVI, 3.9, 58). Durch das „atomisieren“ der Lösungshinweise, das kleinschrittige Vorgeben der Leistungserwartungen versuche man, Unterschiede in der Bewertung zu verhindern:

„Wie viel ist zum Beispiel das Zeichnerische wert und wie viel ist dann das Inhaltliche wert? Weil da klafft es ja dann auseinander, dass der eine Kollege sagt: ‚Ich lege total viel Wert auf das Profil und gebe da jetzt mal fünfzehn Punkte dafür.‘ Und das darf natürlich nicht passieren.“ (3.XVI, 3.9, 61)

Es wird von Spielräumen berichtet, die genutzt werden könnten, um Einfluss auf die Noten zu nehmen: „Das hängt dann immer davon ab, wie gut ist der Schnitt, wie schlecht ist der Schnitt, brauche ich noch so ein BE, dass ich dann nicht Qualität optimieren kann. Im Endeffekt“ (10.V, 10.24, 102). Problematisch sei es, wenn die Schüler_innen durch Folgefehler Nachteile hätten, etwa wenn sie bei einem Klimadiagramm „die Skalen falsch angelegt haben“ (11.XXXI, 11.43, 202).

Die Erwartungshorizonte ließen weite Spielräume zu, sodass Lehrer_innen „wohl auch unterschiedlich“ vorgingen und es bei der Punktvergabe „ein ungeheures Spektrum“ gebe (18.XXV, 18.19, 227–235). Davon zeugen auch widersprüchliche Aussagen aus Interviews zum Umgang mit Passagen, die Schüler_innen unter der falschen Teilaufgabe nennen würden.

Es wird in einem Interview angegeben, man dürfe in Bayern Punkte für Aussagen nur vergeben, wenn diese unter der richtigen Teilaufgabe getroffen würden (10.XVII, 10.27, 121–122). Dies wird aber in einem anderen Interview kritisiert, es gebe mehr Freiheiten bei der Korrektur:

„B: Also wir bekommen in Bayern einen Erwartungshorizontvorschlag, den viele Kollegen 1:1 so hernehmen, leider. Man ist angehalten und versucht es auch so zu machen, dass man natürlich seinen Unterricht berücksichtigt. […] dass zu einer Aufgabe immer mindestens zwei Teilaufgaben gehören und die Punktzahl für die gesamte Aufgabe vergeben wird. Das heißt, man kann die Punkte dann ein bisschen hin- und herschieben. Und da kann man natürlich dann relativ, ja, relativ viel, ein bisschen was zumindest steuern.“ (13.XXV, 13.27, 198–200)

Ein anderer Interviewter fühlt sich hingegen auch bei der Korrektur von unterrichtlichen Klausuren eigentlich an eine strikte Korrekturpraxis gebunden. Da im Zentralabitur Punkte nur vergeben werden könnten, wenn die richtigen Aussagen bei der richtigen Aufgabe genannt würden:

„B1: Konsequenterweise dürfte man das eigentlich nicht werten, muss ich ganz ehrlich sagen. Weil es im Abitur ja auch nicht gewertet wird zum Beispiel.

Wenn man das sagt, es ist jetzt eine schöne Frage, die passt zwar zur 1.3, du hast mir jetzt aber hingeschrieben, das ist 1.2, hast du halt leider gelitten, ja. Ich muss bekennen, wenn er es irgendwie deutlich macht, dass er es verstanden hat, dass es zweimal das gleiche ist, dann lasse ich zumindest einen Teil davon werten. Also wenn er irgendwie schreibt: Habe ich ja oben schon einmal beantwortet oder irgendwie so etwas /“ (10.XVII, 10.27, 122–123)

Außerdem gebe es Missverständnisse und Unsicherheiten hinsichtlich der Korrektur, etwa wenn im Erwartungshorizont Beispiele genannt würden. Es handele sich dabei nicht um strikte Erwartungen, sondern es seien auch alternative Antworten zulässig: „Ich glaube, viele Kollegen inklusive mir, denen war das nicht so klar. Ich dachte, das wäre auch mehr als Vorgabe“ (19.XXVII, 19.19, 70).

Unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Korrektur können dazu führen, dass Erst- und Zweitkorrektur zu stark unterschiedlichen Ergebnissen kommen:

„Ich hatte am Ende bei der Bewertung der Klausuren, hatte ich intern, im Haus intern die Zweitkorrektur mit einem Kollegen, der Fachleiter auch ist und eine sehr viel strengere Herangehensweise hat in der Klausurbewertung. Und da lagen wir schon sehr weit auseinander, obwohl wir auch privat gut befreundet sind, […] Also die Frage ist immer, wo ist meine Skalierung, da gibt es ja auch verschiedene Ansätze und ich war vielleicht aufgrund der Tatsache eben neu, erstes Jahr, netter Kurs, gutes Kursklima, zu positiv. Vielleicht war auch der andere Kollege zu strikt in der Umsetzung.“ (19.VI, 19.59, 78)

Veränderungen in der Aufgabenkultur, wie in Baden-Württemberg, bringen Veränderungen der Korrekturerfordernisse mit sich, die von Geographielehrer_innen als Herausforderungen angesehen werden können. Deshalb sei die „Akzeptanz von Kollegen“, die aufgrund naturwissenschaftlicher statt geisteswissenschaftlicher Zweitfächer „holistisches Korrigieren“ bei umfangreicheren Erörterungen nicht gewöhnt seien, ein Problem (3.XVI, 3.9, 44–45). Dies führe zu Reibungspunkten zwischen Erst-, Zweit- und Drittkorrektur (5.XVI, 5.33, 154–164).

„Also ich glaube das ist ein Prozess, der wird wahrscheinlich noch Jahrzehnte dauern, bis wir so weit sind dann wirklich auch vom Schüler aus zu denken und den Schülerweg erst mal im Kopf nachzuvollziehen. Und dann haben wir halt immer den Spagat, wo wird es dann fachlich wirklich falsch, also wo macht man dann Stopp?“ (3.XVI, 3.18, 79)

Trotz der Standardisierung des Prüfungsverfahrens gibt es also insgesamt nach Ansicht der interviewten Lehrer_innen weiterhin Unterschiede und Spielräume in der Beurteilung der Leistungen im Zentralabitur.

Die Aufgabenstellungen im Geographiezentralabitur im Detail: die Operatoraufgaben

Über Operatoren werde das Anforderungsniveau von Prüfungsaufgaben gesteuert (5.XII, 5.20, 104). Ein Interviewter aus Baden-Württemberg schätzt die Reform des Zentralabiturs hinsichtlich der Reduktion der zu bearbeitenden Teilaufgaben vor diesem Hintergrund positiv ein:

„Ich persönlich halte das für eine gute Sache, weil wir natürlich den Schülern bei diesen größeren Aufgaben einfach mehr Zeit geben müssen, um was zu bearbeiten. Wir hatten früher so Sachen wie: ‚Erörtern Sie…‘, und es gab dann acht Verrechnungspunkte, und acht Verrechnungspunkte sind ungefähr 32 Minuten. Kein Mensch kann in 32 Minuten schriftlich irgendwas nur halbwegs sinnvoll erörtern. Also wir haben jetzt tatsächlich durch das neue Format die Möglichkeit, den Dreieroperatoren, also wo es um Reflektion geht, deutlich mehr Raum zu geben.“ (3.XIII, 3.8, 36)

Er wünscht sich, dass die Anzahl und Art der Aufgaben im Prüfungsvorschlag sich noch weiter verändert: nur noch zwei Teilaufgaben, „die sehr, sehr groß“ sind, „dass dieses Systemische auch in der Prüfungsaufgabe abgefordert werden kann“ (3.XIII, 3.8, 40).

Es wird thematisiert, dass die Operatoren vorhersehbar seien: „Und wenn eine Tourismusklausur kommt, weiß ich ganz genau, Aufgabe eins ist so und so gestrickt und Aufgabe drei ist immer eine Bewertung der zukünftigen Entwicklung“ (19.XXXVI, 19.49, 40).

Operatoren bedürften einer Definition, sie gelten als „abstrakt“ (6.XX, 6.34, 117) und „nicht […] ganz so griffig“ (5.XXIV, 5.34, 166):

„Also, wenn ich mir dann diese Operatorenliste in Chemie und Geographie angucke, denke ich manchmal auch so, ok, wie sollen sie es dann wissen, also am besten müssten die wirklich jedes Fach neben dran liegen haben, um zu gucken, was wird denn da jetzt eigentlich, genau, das ist schon schwierig, das stimmt.“ (6.XX, 6.34, 119)

Es wird kritisiert, dass Operatoren eine „Pseudo-Objektivität“ suggerierten und „Interpretationsspielraum“ böten (15.XXI, 15.10, 58). Operatoren seien nicht immer allgemeinverständlich oder entsprächen nicht der „natürlichen Auslegung dieses Wortes“ (5.XXIV, 5.34, 166–170), außerdem sollte der Operatorenkatalog den Prüfungsunterlagen beigelegt werden: „Ich frage mich, warum so ein Schüler auswendig lernt, was die Abituraufgabenkommission unter vergleichen versteht.“ (5.XXIV, 5.34, 170). Der Operatorenkatalog führe nicht dazu, dass die Aufgabenstellungen klar würden, dies gelte sowohl für Schüler_innen als auch für die Lehrer_innen selbst:

„Das merke ich eigentlich sehr häufig, dass die Schüler mit der Aufgabenstellung große Probleme haben. Trotz Operatoren und trotz dieser Vereinheitlichung, dass der Schüler halt nicht weiß, was will ich von ihm. Was will der Abituraufgabensteller von mir? Das ist auch schwierig, muss ich ehrlich zugeben.“ (10.II, 10.31, 160–161)

Als Beispiel wird der Operator „erörtern“ genannt, der den Schüler_innen zwar aus dem Deutschunterricht der Mittelstufe bekannt sei und auch im Geographieunterricht intensiv geübt werde, ihnen aber dennoch Probleme bereiteten: „Und das ist unheimlich schwer für die Schüler zu sehen, was wird alles erwartet. Erörtern, okay, ja. Aber inhaltlich, worauf sollen sie Bezug nehmen, was sollen sie aus dem Vorwissen einbringen, was dürfen sie …/“ (15.XXI, 15.10, 60; ähnlich 18.XXVII, 18.20, 269–271 sowie 16.IX, 16.48, 16). Auch gebe es Fälle, in denen der Lösungsvorschlag im Erwartungshorizont nicht zur Definition des Operators passe (15.IV, 15.8, 50–52). Es wird angeführt, dass die Operatoren bei der Korrektur der unterrichtlichen Klausuren wenig Beachtung fänden (16.IX, 16.48, 16) und dies bei gleicher Handhabung im Abitur zu Divergenzen mit dem Zweitkorrektor geführt habe und deswegen nun bei der Korrektur unterrichtlicher Klausuren die Definitionen stärker beachtet würden (19.XXXII, 19.26, 78). Die „Auslegung“ von Operatoren sei auch Diskussionspunkt beim Entwickeln von Abituraufgaben in (5.XXIV, 5.34, 168) und Testen von Abituraufgaben für die Aufgabenkommission gewesen (19.XXVII, 19.19, 66):

„B: […] Wenn Sie den Operator ‚charakterisieren‘ hernehmen, da jetzt also ihn in seinen wesentlichen Merkmalen beschreiben, glaube ich, und dann steht dabei ‚in Grundzügen bestimmen‘, so irgendwie, ja. Ja, wenn ich Sie jetzt charakterisieren soll, würde ich Ihre Merkmale zusammenstellen, fertig.

I: Genau.

B: Fertig, da wäre ich aber zu Ende, da würde ich nicht nochmal mit irgendwas anderem anfangen, ja. Und da haben wir uns gestritten in der Abituraufgabenkommission, wenn ich das Klima charakterisieren soll, so die wesentlichen, Temperatur, Höchst/Mittelwert und Schwankungen, und so weiter, Niederschlagsverteilung und so, und jetzt muss ich zum Schluss nochmal angeben, dass das der Klimatyp xy ist, das wäre ja quasi dieser Grundzug der Charakterisierung.

I: Ah, okay.

B: Und da sage ich für mich eigentlich nein, aber es hat sich quasi als Mode so eingebürgert. […]“ (5.XXIV, 5.34, 166–170)

Es wird auch Kritik an einzelnen Operatoren geäußert. Der Operator „zusammenfassen“ sei im Fach Geographie im Gegensatz zu anderen Fächern wie den Sprachen zu undefiniert und fordere zu wenig Leistung (15.IV, 15.8, 50–52). Es sei den Schüler_innen „oft nicht klar“, was beim Operator „erörtern“ verlangt werde, außerdem steuere hier das Material, in welche Richtung die Argumentation gehe (18.XV, 18.42, 269). Der Operator „lokalisieren“ sei unklar und erklärungsbedürftig, Schüler_innen, Referendar_innen und man selbst habe das Problem (gehabt) (18.XXIV, 18.31, 574–592). Der Operator „entwickel[n]“ sei für schriftliche Prüfungen wenig geeignet, da er schwer bewertbar sei (s. u., 15.XX, 15.24, 147–149). Mit dem Operator „bewerten“ erziehe man die Schüler_innen „zur Arroganz“, da sie dann glaubten, „sie könnten wirklich was bewerten“ (18.XXVI, 18.34, 560), dies sei „vermessen“, auch Lehrer_innen könnten letztendlich nicht adäquat beurteilen, da sie keine „Propheten“ seien (18.XXVI, 18.34, 592–600). Der Operator „Stellung nehmen“ sei zu schwer und lasse die meisten Schüler_innen scheitern (15.XXI, 15.57, 141–145; ähnlich: 14.XIV, 14.14, 96–100: „dann – krrrrrrrg (macht Geräusch ‚Halsumdrehen‘ nach, lacht) – kriegt es keiner mehr raus“), es sei sogar vorgekommen, dass dies die Lehrkräfte betreffe:

„In einem Thema war die These, zu der man Stellung nehmen sollte, so verdreht und kompliziert, meine Kollegin, die den Parallelkurs hatte, hat die These nicht kapiert. Ihr ganzer Kurs hat die These nicht kapiert. […] Das ist lustig, aber auch bitter, weil manche Schüler, die 12/13 Punkte haben, da auf einmal mit 5 Punkten rausgehen. Da habe ich gesagt: Was soll das? Die Aussage in sich ist nicht klar.“ (15.XXI, 15.57, 143–145)

Da es in allen Unterrichtsfächern Operatorenlisten gibt, führt dies laut den Interviewten zu zweierlei Problematiken. Einerseits sei eine solche Liste ein „Kompromiss“ mit „ein paar Lücken und Schwächen“, auf den sich verschiedene Unterrichtsfächer hätten einigen müssen (5.XII, 5.20, 102). Andererseits sei es für die Schüler_innen problematisch, dass Operatoren je nach Fach andere Leistungen verlangten (15.XXI, 15.10, 58). Für die Lehrer_innen sei es wiederum problematisch, dass je nach Bundesland Operatoren anders definiert würden und damit Lehrmaterialien aus anderen Bundesländern nicht zu verwenden seien (15.XXI, 15.10, 58).

Es wird als sinnvoll erachtet, dass sich die Operatoren in Klausuren vom Anforderungsniveau von Aufgabe zu Aufgabe steigern (3.IX, 3.35, 141). Dies wird bei unterrichtlichen Klausuren ebenso gehandhabt (8.XVII, 8.21, 225), wobei es auch Ausnahmen gibt (Fehlen eines Operators aus dem Anforderungsbereich III, 3.IX, 3.35, 142).

In den Interviews werden nicht nur bestehende Operatoren thematisiert, sondern auch über neue Aufgabenformate nachgedacht:

„Wobei ich es trotzdem für richtig hielte, dass das Abitur, ich habe noch keine klare Idee, aber dass das Abitur da mehr in die Richtung geht, also dass dieses Denken, dieses geographische Denken, das man bei Exkursionen lernt, dass das auch im Abitur ein bisschen mehr noch kommen müsste.

I: Mehr Anwendungsbezug?

B: Ja. Also mehr Fallbeispiele, mal rätselhafte Aufgaben, wo was enträtselt werden muss. Es geht ja jetzt schon in die Richtung, dass es einfach kompetenzorientierter und offener wird, aber diese Problemlösungsfähigkeit, dieses: ‚Ich erkenne etwas oder ich überprüfe etwas‘, das sollte noch mehr im Zentrum stehen, […].“ (3.XIII, 3.44, 224–226).

Operatoren steuern außerdem auch, ob ein Fließtext oder auch alternative Antwortformate von den Schüler_innen verlangt werden. Unterschiedliche Antwortformate werden aus fachlicher Sicht als adäquat und sinnvoll angesehen, insbesondere Wirkungsgefüge bildeten die „Komplexität des geographischen Schaffens gut“ ab (5.IV, 5.43, 149–150). Es sei „einer der wirklich innovativen Schritte“ (in Baden-Württemberg) gewesen, eine Kompetenzorientierung des Zentralabiturs anzustreben, um auch eine Kompetenzorientierung des Unterrichts zu erreichen (3.VII, 3.13, 49). Dies ermöglichten alternative Antwortformate wie Wirkungsgefüge, Analysespinne, thematische Karte und kommentiertes Profil und deren Einbindung in eine weitergehende Argumentation (3.VII, 3.13, 49–50; 8.XIII, 8.33, 277–328).

Alternative Antwortformate seien auch der Proportionalität von Unterricht und Prüfung zuträglich:

„I: Nein. Natürlich, aber weil Sie eben gesagt haben, man muss dann die verschiedenen Formate auch trainieren. Könnte das dann sein, dass man denkt, ach Gott, jetzt muss ich wieder die thematische Karte [behandeln] oder machen Sie das so?

B: Also offen gestanden ist es so, wenn ich jetzt einmal an meine Aktion vom Donnerstag denke und an das Protokoll, das der Kurs dann entwickelt, ist es so, im Protokoll ist Text drin, sind, da gibt es eine ganze Arbeitsgruppe, die beschäftigen sich nur mit dem Erstellen von neuen Grafiken, die dann ins Protokoll kommen, da gibt es eine Arbeitsgruppe, die macht Bilder und bearbeitet sie aber, schreibt was rein oder sowas, also ich finde, also das ist mein persönliches Bild.

Gerade die Vielfalt zum Beispiel auch in einer Klausur ist in Geographie etwas Schönes.

Es bringt mir auch was. Weil ich dann bestimmte Aspekte aus allen möglichen Sichtwinkeln betrachte.

Ich mache Ihnen ein Beispiel. Neulich bin ich mit einer Gruppe von Orthopäden durch Staufen bei Freiburg gefahren, mit dem Rennrad. Staufen bei Freiburg, der typische Schadensfall von Geothermie. Die haben nämlich durch den Gipskalk gebohrt. Das wussten sie, aber sie waren unvorsichtig. Die Häuser haben alle Risse, die meisten sind unbewohnbar. Haben mich die Orthopäden gefragt, alles gestandene Orthopäden, kannst du uns das mal erklären?

Ja, das kann ich natürlich mit einem Fließtext über 17 Seiten machen, ich kann aber auch einfach ein Bild machen, es kommentieren und schreiben, guck einmal da und dann mache ich ein Profil, ein geologisches Profil, stratigrafisch und da steht dann halt da irgendwie, die Deckenböden liegen ziemlich weit unten, da hat man durchgebohrt und schon ist es erklärt.

Also das ist meine ehrliche Überzeugung.

Wir brauchen viel. Glücklicherweise ist es bei uns so, dass es auch angefordert wird.

Darüber bin ich froh. Vieles muss ich nicht beschreiben, das ist vielleicht auch eine Qualität, wenn man das kann, ich weiß es nicht, muss ich auch Text schreiben, aber manches erklärt sich an einer Zeichnung eben viel schneller.

Was ist denn ein Fußball? Erklären Sie mal jemanden einen Fußball. Ich würde sagen, wir zeichnen und gut. Entschuldigen Sie, dass ich da so abgleite, aber so ist es, also deswegen bin ich auch froh über diese Vielfalt.“ (2.XVII, 2.36, 142–150)

Ein Interviewter bedauert, dass es in seinem Bundesland bislang keine alternativen Antwortformate im Zentralabitur gebe (19.XXXVI, 19.49, 40). Ein anderer bedauert, dass diese seit der Umstellung auf G8 nicht mehr im Zentralabitur vorgekommen seien (9.VII, 9.34, 139).

Es wird vorgeschlagen „kreativere Aufgabenformate“ im Abitur einzusetzen (19.XXXVIII, 19.45, 154). Diese könne man als Wahlpflichtaufgaben etablieren:

„In Englisch ist es ja zum Beispiel so, dass man die dritte Aufgabe in der Klausur zur Wahl hat, A oder B, man kann kreativ Tagebucheinträge schreiben. Das wäre ja auch eine Idee, sowas so aufzuweichen. […] Ich könnte ja auch sagen, schreibe eine Broschüre für den Reiseanbieter, in dem er den nachhaltigen Tourismus in (unverst.) bewirbt.“ (19.XXXIV, 19.16, 54–56)

Außerdem werden Methoden des Thinking-Through-Geography wie z. B. „lebendige Karte“ (3.XIII, 3.47, 242), praktische Anteile wie im NWT-Unterricht (3.XIII, 3.17, 75), zeichnerische Antwortformate wie „Croquis“ (Kartenentwürfe) (19.XXXVI, 19.49, 36), mehr Kausalzusammenhänge (zum Beispiel komplexe Kausaldiagramme) als Antwortformat (11.XXXVI, 11.44. 196) genannt.

Die Aufgabenstellungen im Geographiezentralabitur im Detail: die Materialien

Die Materialbasiertheit der Zentralbiturklausuraufgaben wird nicht grundsätzlich infrage gestellt (18.XXVI, 18.34, 595). Die Prüfung sei durch das standardisierte Prüfungsformat, zudem auch die Materialien gehörten, „kalkulierbar“ (19.XXXIV, 19.16, 40). Aufgrund der Materialien sei die Prüfung „fair“, da so mehr Anwendung und Transfer gefordert seien (1.VI, 1.13, 64–66). Eine Kompetenzorientierung sei – im Gegensatz zur Wissensabfrage – nur auf der Basis von Materialien möglich: „Also wir müssen dem Schüler schon was vorlegen, mit dem er arbeiten muss. Nur dann sehe ich ja die Kompetenz. Ansonsten wäre es ja reines Auswendiglernen und das halte ich für schwierig.“ (3.VII, 3.37, 156–157). Dazu gehöre es auch, als alternative Antwortformate von den Schüler_innen selbst erstellte Materialien in Folgeaufgaben verwenden zu lassen (8.XIII, 8.33, 302). Quellenauswertung sei ein „elementarer Bestandteil“, eine „Kernkompetenz“ der Geographie (19.XXV, 19.39, 134). Ein Interviewter berichtet, er habe sich aufgrund seiner Seminarleitertätigkeit mit Kompetenzen und Bildungsstandards beschäftigt und habe daraufhin die Materialorientierung verstärkt (9.I, 9.48, 30).

Neben „Faktenwissen“ würden in Klausuren vor allem „Kartelesekompetenzen, Materialauswertungskompetenzen“ abgeprüft (9.XIII, 9.26, 101). Zur Kompetenzorientierung von Prüfungsaufgaben gehöre es zukünftig auch, mehr Materialien im Materialapparat zur Verfügung zu stellen als zur Bearbeitung der Aufgaben dringend erforderlich: „dass dann der Schüler, um die Nadel auf den Kopf zu treffen, auch die richtigen Materialien nimmt für seine Argumentationen“ (8.V, 8.35, 347). Geographie sei zwar ein „materiallastiges Fach“, dies werde aber befürwortet (3.VII, 3.37, 157).

Außerdem geböte es die Lebenslauforientierung, dass Schüler_innen den Umgang mit unterschiedlichen Materialien beherrschten (3.II, 3.36, 149; 9.X, 9.13, 133; 14.XIII, 14.21, 129). Früher hätten Schüler_innen im Zentralabitur (in Bayern) auch die Aussagekraft von Materialien bewerten müssen, dies gebe es nun nicht mehr:

„B: […] Das war ja vorher, früher so, dass in G9, auch im Leistungskurs auch mal Fragen gestellt wurden, dass Schüler ein Material bekommen haben und die Aussagekraft des Materials bewerten mussten. Das ist auch weg, gibt es nicht mehr.

I: Kritischer Materialumgang.

B: Ja. Gibt es nicht mehr in G8. Und was ja wieder diesen Kompetenzen widerspricht. Weil das, Materialkompetenz man ja sagt, taugt es was, kann ich später mal, wenn ich den Stern in die Hand nehme oder den Spiegel und da ist die Grafik drin, ist die überhaupt aussagekräftig, taugt die was. Wo ist denn die Basis, ja, fängt das bei 200 an und geht bis 220 und dann ist es so überhöht. Und das ist aufgrund der Stofffülle, aufgrund der Zweistündigkeit jetzt nicht mehr leistbar. Und früher konnte man das noch machen. Dann habe ich immer (unverständlich) gesagt, taugt das was. Ihr könnt das auslesen, ist das objektiv, ist es... Und dann sagen die, nö, weil, weil, aber das war in G9. Das ist schade.“ (9.XVIII, 9.53, 139–141).

Neben der Bedeutung von Materialien für schriftliche Prüfungen wird auch die Bedeutung für mündliche Prüfungen hervorgehoben: anhand von Materialien könne man die Schüler_innen „provoziere[n]“, sodass sich überprüfen lasse, wie „tief“ sie „in die Materie“ „eingedrungen“ seien (8.I, 8.37, 385–394; ähnlich; 9.X, 9.15, 74).

Der Materialumfang wird als zu umfangreich angesehen („Unmengen von Material“ 18.XXV, 18.32, 635; „finde ich auch diskussionswürdig […]. Das kann man […] kritisch hinterfragen.“ 19.XXX, 19.29, 94; „riesen Materialfundus“ 19.XXXV, 19.38, 126). Es sei nicht nur die Anzahl an durchnummerierten Materialien zu hoch, sondern auch die Anzahl der unter einer Ziffer angeordneten Teilmaterialien: „Es ist ja häufig so, dass dann eine Quelle ‚M 6 Ökonomische Eckdaten‘ heißt und dann ist es eine Seite mit ökonomischen Daten und das ist dann ‚M 6‘.“ (19.XXX, 19.29, 94). Andererseits wird mit Blick auf die Kompetenzorientierung vorgeschlagen, Materialien in den Materialienapparat aufzunehmen, die nicht (unbedingt) zur Aufgabenbearbeitung gebraucht werden (8.XIX, 8.59, 347–349).

Schüler_innen könnten auf Grund der Materialbasiertheit der Abiturklausuren selbst mit „Wissenslücken“ noch sehr gute Noten erzielen (1.VI, 1.13, 64–66). Vieles könne „einfach nur mit gesundem Menschverstand“ beantwortet werden (11.XII, 11.65, 184; ähnlich: 9.V, 9.24, 105; 18.XXV, 18.19, 130–139 und 212; 19.XXXV, 19.38, 130). Dies komme den Schülern zugute, die im Gegensatz zu den Schülerinnen nicht so viel auswendiglernten (9.V, 9.24, 105). Daraus resultiert die Frage des Eigenanteils der Schüler_innen an der Leistung (5.III, 5.24, 122). Wer „logisch kombinieren kann“ werde wegen der Materialgrundlage zum Zentralabitur ermutigt (11.XII, 11.65, 54). Außerdem könne der Atlas als „Spickzettel“ hinzugezogen werden (11.XXXIV, 11.10, 54).

Andererseits wird angegeben, dass viele Schüler_innen Probleme mit der Materialauswertung hätten, insbesondere damit, die relevanten Informationen aus der Fülle an Informationen im Material herauszulesen (16.XXVIII, 16.60, 64; 19.XXXV, 19.38, 122–132). Dies gelte zum Beispiel für komplexe thematische Karten, Diagramme oder Modelle (9.XIII, 9.20, 85–93; 19.XXXV, 19.38, 122–132). Zweitens hätten die Schüler_innen Probleme damit, die Materialien in der Argumentation zu verknüpfen (9.XX, 9.20, 85–93; 14.XV, 14.16, 111; 16.XIX, 16.8, 28; 16.XXVIII, 16.60, 64; 18.XV, 18.18, 212–226). Dies wirke dies auf die Noten aus:

„Aber so in der Oberstufe in Geo bekommt man selten eine Eins, durch dieses Verknüpfen. Und im Abi ist es auch so, es gibt ganz wenig Einser. Im Mündlichen schon, aber im Schriftlichen fast gar nicht, weil es einfach ein Wust an Material ist.“ (11.XXXVI, 11.28, 132; ähnlich: 7.II, 7.2, 29; 16.XXVIII, 16.60, 61–66)

Deshalb werde nur stärkeren Schüler_innen zum schriftlichen Abitur geraten (9.XXIII, 9.3, 16–17). Schüler_innen werden zudem dazu angehalten, die Klausuraufgabe nicht nur nach Thema, sondern nach Durchsicht aller Materialien als Prüfungsaufgabe auszuwählen (18.XV, 18.18, 223).

Texte werden als Materialien hinterfragt:

„Die Arbeiten, die zentralen Arbeiten, haben ja sehr hohe Textanteile. […] Eben weil was Neues kommen muss und weil die Schüler garantiert nix dazu wissen. Das kann man nicht voraussetzen. Aber diese Textlastigkeit, die verschenkt sehr viel, die verschenkt sehr viel echt geografische Methoden. Textanalyse ist für mich kein geografischer Schwerpunkt und intentionale Texte und so was. Ich würde lieber mit Karten, Diagrammen, abstrakten Darstellungen arbeiten. Wir müssen aber immer mehr auf diese Textarbeit hingehen.“ (15.IV, 15.7, 42–44)

Kritisiert werden insbesondere Autorentexte als Material, die sprachlich zu einfach verfasst sind, Fakten auflisten und auf vielen Quellen basieren (15.IV, 15.7, 45–50). Auch in unterrichtlichen Klausuren wird „typisch geographisches Material“ Texten vorgezogen (16.XXII. 16.22, 103). Erläuternde Texte würden die Schüler_innen sogar verwirren (16.XXII, 16.22, 104), außerdem sei es vorgekommen, dass ein Text im Materialapparat von den Schüler_innen nicht verwendet worden sei, da diese andere Materialarten Texten vorzögen (16.XXII, 16.22, 112).

Stichpunktartige Auflistungen von Entwicklungen entlang von Jahreszahlen seien „als Quelle sehr schwer greifbar […] für Schüler, weil die dann natürlich einen sehr umfassenden Überblick haben, aber gar nicht so genau wissen, was sie damit anfangen sollen“, diese verlangten von den Schüler_innen Materialauswertekompetenz (19.XXIII, 19.53, 104):

„Na ja, aber häufig besteht ja eigentlich auch mehr oder weniger die Kunst darin, was viele nicht wissen, zum Beispiel M 7 Beschäftigte Audi. Da habe ich jetzt Daten von 94 bis 2007, das ist interessant, aber mich interessiert ja eigentlich nur die Kernentwicklung. Und das fällt auch vielen schwer, da die Prozesse daraus abzulesen.“ (19.XXXV, 19.38, 126)

Problematisch sei es, wenn es im Zentralabitur nur schwarz-weiß Kopien gebe und dadurch die Möglichkeiten der Materialart (z. B. Satellitenbilder) oder der Qualität (z. B. komplexe Karten) eingeschränkt werde (5.III, 5.24, 118–122).

Die Materiallastigkeit des Faches Geographie im Zentralabitur wird insgesamt ambivalent beurteilt: Positiv wird gesehen, dass der Umgang mit Material elementares Element der Geographie sei, was sich im Abitur widerspiegele. Problematisch sei dabei jedoch die geringe notwendige Eigenleistung aber andererseits auch die Überforderung der Schüler_innen.

4.2.1.2 Unterricht angesichts des Zentralabiturs aus Sicht von Geographielehrer_innen

Von den im Abschnitt 2.2.4.2 angeführten negativen Folgen zentraler Prüfungen auf Unterricht lassen sich zahlreiche auch in der durchgeführten Interviewstudie nachweisen. Darunter unter anderem, dass der Fokus auf der Wissensvermittlung liegt und dass es zu einer Engführung des Unterrichts kommt. In allen Interviews werden Teaching-to-the-Test-Strategien genannt. Erhoffte Vorteile wie das Schaffen neuer Zeitressourcen und die Förderung überfachlicher Kompetenzen werden in den Interviews hingegen nicht oder nur eingeschränkt thematisiert. Eines der Hauptthemen in den Interviews ist die zu große Stofffülle. Ein Kanon an Prüfungsthemen hat nur dann einen entlastenden Effekt, wenn dieser nicht ständig wechselt. Eine Handlungsstrategie, die auf den Zeitdruck reagiert, ist der lehrer_inzentrierte Unterricht. Die Umsetzung der Kompetenzorientierung als Innovation (vgl. Abschnitt 2.2.3.2 und Abschnitt 2.2.3.3) scheint durch das Zentralabitur nur bei den (Teil-)Kompetenzen zu gelingen, die von den Lehrer_innen als prüfungsrelevant erachtet werden. Bestätigt werden kann die Tendenz, dass sich Lehrer_innen bei der Auswahl der Unterrichtsthemen in der Oberstufe stark an den Vorgaben orientieren.

Im Folgenden werden die den Unterricht angesichts des Zentralabiturs betreffenden Aussagen aus den Interviews gegliedert nach der Frage nach der pädagogischen Autonomie und der Steuerungswirkung des Zentralabiturs auf den Unterricht wiedergegeben.

(Un-)Freiheit durch das und angesichts des Zentralabitur(s)

Das in Abschnitt 2.2.2 vorgestellte Spannungsverhältnis zwischen dem pädagogischen Autonomiepostulat und der durch die Verfassung geforderten Schulaufsicht des Staates findet sich auch in den Interviews wieder.

Das Zentralabitur habe zwar den Druck genommen, der beim dezentralen Abitur hinsichtlich der Konzeption der Prüfungsaufgaben bestanden habe, damals habe man aber „dann trotzdem mehr Freiheiten“ gehabt, wohingegen man sich nun „fast nur an dem neuen Zentralabitur“ orientiere (18.XII, 18.29, 506): „also weil ich natürlich relativ wenig Einflussmöglichkeiten auf die Prüfungsformate habe, bestimmen meiner Meinung nach natürlich die Prüfungsformate eher meinen Unterricht“ (19.XXXI, 19.40, 139).

Da das Zentralabitur „sehr viel starr“ vorgebe, stehe es im Widerspruch zu einem individualisierten Unterricht, der „auf verschiedenen Wegen“ ermögliche, dass Schüler_innen eine „allgemeine Reife“ erreichten (15.XXIII, 15.46, 254).

Es sei aber eine Frage der Erfahrung, wie man mit der Situation umgehe (2.II, 2.27, 160–161). Man könne es lernen, mit dem „Umstand“ der geringeren Freiheiten an Regelschulen im Vergleich zu freien Schulen „umzugehen“ (2.II, 2.27, 160). „Möglicherweise“ gebe es dort „einen schöneren Unterricht oder einen anderen, vielleicht auch spannenderen“, man könne aber auch als Regelschullehrer_in lernen, „freizügig“ zu sein (2.II, 2.27, 160–161).

Im Unterricht der Unter- und Mittelstufe, in Vorkursen für ehemalige Realschüler_innen oder in Wahlpflichtkursen gebe es Freiheiten, die man sich auch für die Oberstufe wünsche (8.XX, 8.41, 403–406; 13.XIII, 13.5, 37; 19.XXXVIII, 19.45, 154). Es sei wichtig, „dass es im Bildungsraum Freiräume gibt, ein bisschen Freiräume gibt, ja, dass ich wirklich nicht jetzt nur auf das Zentralabitur hin lernen muss“ (5.VI, 5.37, 192).

Der Lehrplan wird als strikt („Da steht ja fest, was man unterreichten soll.“, 14.VII, 14.31, 66) bezeichnet. Dies gilt sowohl für die Inhalte („dass ich die Obligatorik, die von mir inhaltlich verlangt wird, irgendwie schaffe“, 18.IV, 18.46, 182) als auch für die formulierten Kompetenzerwartungen („am Anfang habe ich auch dazu geneigt, dass man sozusagen von dieser Kompetenzglocke ein bisschen erschlagen oder erdrückt ist, weil man denkt, man müsste alle Kompetenzen irgendwie abdecken“, 19.XXXII, 19.10, 28). Gleiches gelte für Schulbücher (12.IV, 12.15, 64), weil diese sich „in Abstimmung mit den Lehrplänen, in Abstimmung mit den Kultusministerien natürlich darauf [Anm.: auf das Zentralabitur] beziehen“ und es deshalb nicht möglich sei „ignorant“ zu unterrichten und seinen „Stiefel durch[zu]ziehen“ (19.XXXI, 19.40, 140). Andererseits werden die Lehrwerke aber auch als arbeitsentlastend (18.VI, 18.15, 161–162 und 18.24, 331–345, 368–389, 406–444) angesehen. Die Materialfülle im Zentralabitur habe sich auch auf Lehrwerke ausgewirkt, die nunmehr unstrukturiert als „Materialpool“ gestaltet seien und Schüler_innen „komplett […] alleine“ ließen und so die Schüler_innen gut auf das Prüfungsformat vorbereiteten (19.XXV, 19.39, 134).

In den Interviews wird die Stofffülle im Lehrplan kritisiert (7.XI, 7.32, 52–53; 15.IV, 15.6, 42). In einem Doppelinterview vergleichen die beiden Interviewten ihr erreichtes Pensum stundengenau – auch mit der eigenen Performanz ein Jahr zuvor:

„I: Trotzdem sind es ja sozusagen besondere Situationen sicher im Schuljahr, wenn man mal raus geht und einen Unterrichtsgang macht. Im normalen Unterricht was ist Ihnen da vielleicht wichtig oder was macht Ihnen da selber Freude? Es gibt ja so viele Möglichkeiten, wenn man die ganzen didaktischen Zeitschriften durchsieht. Ständig gibt es irgendwas Neues, aber man findet ja oft was, ja so seinen eigenen Stil vielleicht im Fach.

B1: Also in der Oberstufe hat man da leider nicht so viel Spielraum. So erlebe ich das. Also man ist sehr unter Zeitdruck und man muss sich genau überlegen. Also ich bin jetzt zum Beispiel in der Q12 bei Bevölkerung, bei Migration.

B2: Seit wann? Diese Woche.

B1: Diese Woche.

B2: Ich fange morgen an. Ich habe nämlich meine Aufzeichnungen letztes Jahr gesehen und da war ich schon eine Woche weiter.

B1: Ja, genau. Und ich hätte jetzt/ Man könnte da ja ganz viele Diskussionen auch haben oder so eine Bevölkerungskonferenz machen. Das kann man eigentlich nicht.

B2: Nein, das geht nicht.

B1: Also so eine ganze Stunde für so etwas opfern und man bräuchte das, wenn die sich einlesen sollen und sollen da eine Meinung vertreten. Ich weiß gar nicht, ja man schaut vielleicht mal kleinen Film¬ausschnitt. Das ist schon das Höchste.“ (1.I, 1.12, 37–44)

In einem Interview wird der Zeitdruck bundesländervergleichend dargelegt, im Land Brandenburg habe man mehr Unterrichtszeit zur Verfügung gehabt, nun – in Hessen – seien die Inhalte zu gedrängt: „Da ausführlich zu Gange zu kommen, geht schon mal nicht“ (14.XI, 14.12, 79). Dabei gebe es auch „unnötigen Stoff“ (14.V, 14.24, 140).

Der Zeitdruck behindere die Gestaltung des Unterrichts, kritisiert eine Interviewte:

„B: […] Ich glaube, ja, das Problem ist eher, dass man die Zeit nicht hat. Wenn man mehr Zeit hätte, gerade auch zum Unterrichten, weniger Stoff im Lehrplan drinstehen würde, dann könnte man ganz andere Sachen machen. Da könnte man Projekte machen, mehr Freiarbeit machen, auch wirklich differenzieren nach Leistungsniveau. Aber leider geht das nicht. Das funktioniert einfach nicht. Es ist leider immer noch eine Art Frontalunterricht mit Elementen, die halt dann mal schöner sind. Aber es ist immer lehrerzentriert und man gibt wirklich wenig in Schülerhand raus. Also es ist kein richtig entdeckendes Lernen. Es ist immer sehr geleitet. Das finde ich schade, weil da ganz viel Potential verloren geht, aber es ist einfach im System nicht anders machbar.“ (7.XI, 7.32, 51)

Mit weniger Stoff bei gleicher Unterrichtszeit könnte man „ganz andere Sachen“ wie Projektunterricht, Freiarbeit, differenzierenden Unterricht oder Exkursionen machen (7.XI, 7.32, 51 und 75), deshalb müsse man „den Stoff reduzieren im Lehrplan. Einfach rausschmeißen, radikal raus kürzen […] oder einfach Sachen auf optional setzen“ (7.XI, 7.9, 75). Da der „Stoff“ so „geballt“ sei, führt ein Interviewter eine im Lehrplan obligatorisch vorgesehene Exkursion nicht durch (9.XIV, 9.29, 37) und verzichtet auf die im Lehrplan geforderten Referate der Schüler_innen (9.XIV, 9.10, 125), obwohl er selbst Fachbetreuer an seiner Schule ist und als Seminarleiter Referendar_innen ausbildet. In einem anderen Interview wird moniert, der Zeitdruck würde sich kumulieren, wenn ein Thema mehr Zeit im eigenen Unterricht beanspruchen würde als vorgesehen und auch noch Unterricht von Kolleg_innen ausfiele. Deshalb sei man eingeschränkt:

„B: Also so frei ist man in dem Unterricht leider nicht. Also wir machen auch am Anfang des Schuljahres immer einen Plan, was wir in jeder Stunde dann auch machen, und der steht relativ fix. Man sollte dann schon alles abdecken und, ja, dann ist es wieder die Zeit da. Wenn man eine Stunde, oder mit einer Stunde reicht es ja gar nicht, eine Doppelstunde, eine kleine Erkundung in der Umgebung macht, dann fällt einem Kollegen eine Stunde aus, die er dringend braucht und man kommt mit dem Stoff nicht weiter, zweifelsfrei, weil man sich ja vorbereiten muss, durchführen muss, nachbereiten muss. Wenn man es ordentlich macht, dann dauert es schon seine Zeit.“ (7.I, 7.14, 73)

Werden für das Zentralabitur relevante Schwerpunktthemen festgelegt, ergäben sich Freiräume, da nicht der gesamte Lehrplan durchgenommen werden müsse (5.VI, 5.37, 192). Es wird ein reduzierter (z. B. 18.XXVII, 18.33, 556) nicht ständig wechselnder Themenkanon gefordert, der mehr Freiheiten bietet, auf Aktuelles einzugehen und damit „die sich verändernde Erde in den Blick“ zu nehmen (15.XXXIX, 15.45, 254).

Der ständige Wechsel der Themen und Räume des Abiturkanons wird nämlich auch als Belastung empfunden (z. B.: „Zentralabi-Themen-Hip-Hop“, 15.IX, 15.54, 224; 15.III, 15.52, 180–190), da man sich ständig neu vorbereiten müsse und auch oft an seine fachlichen Grenzen komme:

„Und ich habe jetzt versucht, diesen einen Kurs zu kriegen, wo ich eben die Räume gerne mag, gut kann. Ich war selber zumindest in Japan. Nee, den Kurs hat leider organisatorisch ein Kollege gekriegt. Okay, in fünf Jahren gibt es das Thema wieder. Na super! Und das ist einfach ärgerlich. Man wird so Spezialist für eine Sache und es gibt ganz wenig Kollegen, die in der Breite alle Themen wirklich unterrichten und können und dann sitzt man am Protokoll beim Abitur, bei mündlichen Prüfungen, und sagt sich: Das ist aber schön, was habt ihr denn da für Themen gemacht. Ja, wie soll ich das Wort schreiben, kenne ich nicht. Das finde ich nicht nötig. Aber das ist ja nun kein erdkundespezifisches Problem, das ist ein Niedersachsen-Problem für alle Fächer, wo zentrale Vorgaben jährlich wechseln. Der Rhythmus ist zu schnell. Ich weiß, dass Baden-Württemberg das, glaube ich, drei Jahre stehen lässt, ein Thema.“ (15.VIII, 15.40, 226).

Die Wechsel im Abiturkanon führten dazu, dass sich Unterricht seltener wiederhole, aber nur dann bestehe „die Chance“ sich „zu verbessern und es das nächste Mal anders zu machen“ (15.IX, 15.54, 224). Dies führe dazu, dass man den Arbeitsaufwand bei der Unterrichtsvorbereitung begrenzen müsse (15.IX, 15.45, 224), dies betreffe auch Exkursionen (15.IX, 15.62, 102–129). Hinzu komme, dass sich „die Entwicklungen in der Welt […] ja auch alle sehr beschleunigt“ hätten (15.VIII, 15.34, 212).

Steuerungswirkung auf den Unterricht

Ganz allgemein wird angeführt, dass das Zentralabitur nicht den einzelnen Unterricht berücksichtige und es somit Brüche zwischen Unterricht und Abschlussprüfung gebe: „B: […] also klar ist der Unterricht Grundlage des Abiturs. Aber er weicht, also das, was im Abitur erforderlich ist, weicht zum Teil davon ab, was im Unterricht geschieht.“ (13.IX, 13.24, 156).

Das Zentralabitur kann nur das abprüfen „was alle verlässlich gemacht haben und im Bildungsplan steht“, somit werde das, was im Unterricht über den Lehrplan hinausgehend unterrichtet werde, nicht Prüfungsgegenstand (Beispiel Experimente im Geographieunterricht 3.XVII, 3.58, 192). „Echter Transfer“ sei unmöglich, da das „Unterrichtswissen“ der geprüften Schüler_innen divergiere (15.XXI, 15.10, 62). Auch seien Individualisierung im Unterricht und Zentralabitur nicht miteinander vereinbar (z. B. 15.XXIII, 15.46, 254). Es wird auch der Vergleich zum früheren dezentralen Abitur gezogen, bei dem die Prüfung „präziser zu dem, was die Schüler hatten“, gepasst habe, „Transfer sehr viel konkreter“ (15.V, 15.38, 224) und Vorwissen „spezieller“ hätte eingefordert werden können, sodass man sich „so eine einfache ‚Fassen-Sie-Text-zusammen-Aufgabe‘ sparen“ konnte (15.V, 15.9, 56).

Neben diesem Problem der einen Prüfung für alle Schüler_innen wird kritisiert, dass das Zentralabitur es nicht leisten könne, den sich wandelnden, kompetenzorientierten Geographieunterricht proportional abzubilden:

„Also ich glaube, wenn wir bei dem Thema Prüfungen jetzt sind, vor allem schriftliche, das ist natürlich nach wie vor ein Problem, dass wir das, was wir im Unterricht machen sollten und auch aus meiner Sicht machen, viele Kollegen in Geographie, nämlich beispielsweise Öffnung nach außen, Anbindung von multimedialen Möglichkeiten in unserem Fach, auch didaktische Öffnung des Unterrichts in neue Formen, auch diese Variante Thinking-Through-Geography, moderater Konstruktivismus, dass es eben beispielsweise keine eindeutigen Lösungen mehr gibt, sondern dass der Schüler nachher begründen muss, warum er jetzt diese Sache gewählt hat. Das jetzt in ein sehr starres Prüfungskorsett zu bringen, das ist eigentlich die große Kunst. […] Und ich kann natürlich nach wie vor, und das wird auch immer so sein, ganz viele wichtige Dinge in der Geographie in der Klausur eigentlich nicht prüfen. Also eine Landschaft zu lesen, was ich auf einer Exkursion mache, oder Hypothesen zu stellen und zu prüfen, oder auch die ganzen praktischen Dinge, eine Bodenprobe zu ziehen und zu analysieren, das ist in einer Klausur natürlich unglaublich schwierig.“ (3.I, 3.16, 73–75)

„ […]eine Exkursion können Sie nicht im Abitur abfragen und damit hat sie natürlich einen Status, man weiß nicht genau, wie es geht. […] Ich weiß auch ganz genau, warum, also im Allgemeinen vielleicht nicht so gemacht, weil es ein wahnsinniger Aufwand ist. […] das Neuerfinden verhindert natürlich auch die, wenn sie es neu erfinden müssen und es ist nicht prüfungsrelevant, dann sind sie ganz schnell dabei und sagen, dann mache ich es halt auch nicht. […] Deswegen dürfen wir auch nicht jetzt denken, dass alles gut ist, wenn es im Bildungsplan steht.“ (2.XI, 2.15, 42–46)

Es wird moniert, dass vormals übliche Prüfungsbestandteile wie das Bewerten von Materialien nicht mehr in den zentralen Klausuraufgaben vorkämen und es wegen der Zeitknappheit aufgrund der Stofffülle im Unterricht auch nicht mehr gemacht werde, obwohl es aufgrund der Zukunftsbedeutung für die Schüler_innen relevant sei (9.II, 9.49, 139–141).

Neben der Problematik, dass Kompetenzen kaum abzuprüfen seien (z. B. Orientierung im Raum), verderbe Leistungserfassung den Spaß am Unterricht: „[…] alles, was ich abprüfe, ist […] für Schüler eben eine Prüfungssituation und stresst sie. Und wenn es immer Spaß macht vorher, ja, ich könnte natürlich sagen, hier ist ein GPS-Gerät, jetzt laufen wir mal den Weg ab. Dann mache ich eine Note. Aber dann hat der keinen Spaß mehr dran, sondern ist verkrampft“ (9.VII, 9.23, 98–101).

Sollten Kompetenzen verstärkt abgeprüft werden, wird zudem angezweifelt, dass das inhaltliche Pensum aufrechterhalten werden könne (9.II, 9.49, 125); es sei bereits jetzt so, dass man das Kartieren im Gelände wegen der Stofffülle nicht umsetzen könne (9.II, 9.49, 38–40). In einem Interview wird deshalb gefordert, dass das Zentralabitur stärker kompetenzorientiert ausgerichtet wird, damit dies die Kompetenzorientierung des Unterrichts fördere:

„I: Das heißt, da denken Sie schon, dass das Zentralabitur eine Steuerungsfunktion hat?

B: Auf jeden Fall.

I: Am Anfang haben Sie ja auch gesagt, dass sich das Format wandelt.

B: Das ist eine ganz traurige Geschichte, die wir in allen Bereichen haben, aber so tickt der Mensch. So ticken wir auch alle. Wenn ich das Ziel nicht verändere, werde ich den Weg auch nicht ändern.

Also wie soll ich einem Lehrer… Das kann ich dann schon verstehen, dass ein Lehrer sagt: ‚Warum soll ich kompetenzorientiert unterrichten, wenn es nachher reine Instruktionen sind im Abitur?‘ Ganz klar.

Also da müssen wir überlegen: ‚Wie ändern wir das Ziel?‘ Und dann werden wir die Kollegen natürlich auch dazu kriegen, entweder intrinsisch oder extrinsisch, das ist ja mal egal wenn man überzeugt ist. Wollen wir, dass es sich ändert? Dann müssen wir natürlich dann, und so ändert man dann auch den Weg.“ 3.IV, 3.7, 227–232)

Da das Zentralabitur sich nicht über den Lehrplan hinausgehend auf einzelnen Unterricht beziehen kann, hat es dahingehend eine Steuerungswirkung, dass versucht wird, die Beziehung dadurch zu harmonisieren, dass der Unterricht am Zentralabitur ausgerichtet wird. Diese Steuerungswirkung, die sich bezogen auf die Ausrichtung des Unterrichts, die konkreten Unterrichtsgegenstände und die Kompetenzorientierung nachweisen lässt, wird im Folgenden vorgestellt.

Angesichts des Zentralabiturs werde der Schwerpunkt des Unterrichts auf Inhalte – nicht Kompetenzen – gelegt:

„Es ist klar. Der Fokus liegt ganz klar auf den Inhalten […]. […] wir sind also auf diese Themen hinaus fixiert. Wir wissen in der Zwischenzeit was die so schwerpunktmäßig haben wollen, wo die Hauptthemen liegen und da konzentrieren wir uns dann auch darauf.“ (18.III, 18.38, 509–521)

In den Interviews fallen außerdem Begriffe wie „Fachwissen“, „Grundwissen“ oder „Fachbegriffe“ (7.V, 7.35, 59–61; 10.IV, 10.41, 22–27 und 10.11, 39–43). Ein Interviewpartner berichtet davon, dass er immer versuche seinen „Stoff durchzukriegen“ (9.VI, 9.59, 121). Entspannung stelle sich nur dann ein, wenn sich keiner der Schüler_innen eines Kurses für das schriftliche zentrale Abitur im Fach Geographie entscheide: „weil, dann kann ich zum Schluss auch was weglassen“ (9.VI, 9.59, 121).

Kompetenzen würden bei der Fokussierung auf Inhalte nebenbei mit erworben (16.IX, 16.48, 16; 18.IV, 18.46, 178–198), sie werden sogar nicht als Neuerung empfunden: „Also Kompetenzen haben wir schon immer vermittelt und gestärkt. Punkt. Das ist nichts Neues. Wirklich, es ist nichts Neues.“ (8.VI, 8.12, 142). Es fehle auch das Wissen darüber, führt ein Fachbetreuer und Seminarleiter an:

„B: Also von Kompetenzorientierung halte ich viel. Ich habe versucht, das auch mit meinen Referendaren ja immer zu machen. […] Und das mache ich auch mit meinen Schülern jetzt ausführlicher als vorher. Nachdem ich mich damit beschäftigt habe. Aber ich habe mich nur damit beschäftigt, weil ich dies Seminar habe. Ja, also der normale Lehrer beschäftigt sich mit dem Zeug in der Regel eigentlich nicht. Der macht seinen Unterricht und fertig. Aber ich halte das schon für sehr wichtig.“ (9.XV, 9.6, 30–31)

Es werden in den Interviews auch kaum Kompetenzen genannt, die für Oberstufe und Abitur als relevant erachtet werden. Die Orientierungskompetenz sei etwa nicht in der Oberstufe, sondern in der Sekundarstufe I relevant (16.IX, 16.51, 22). Als ein übergeordnetes Ziel im Sinne der Lebenslauforientierung wird die Handlungskompetenz benannt (5.VII, 5.40, 194–196; 16.IX, 16.52, 24–33; 19.XXVIII, 19.11, 30–32). Als für das Zentralabitur relevante (Teil-)Kompetenzen werden das Auswerten und Beurteilen von Materialien (16.IX, 16.49, 21–23) sowie die Atlasarbeit angesehen:

„Das ist auch so ein Fachschaftsbeschluss, hat man seit zwei Jahren überlegt, weil wir gesagt haben, im Abitur kennen viele den Atlas gar nicht. Die wissen nicht, wie gesagt, wo ist eine gute Karte drin. Und deswegen versuchen wir seit der fünften jetzt, eigentlich mindestens einmal alle zwei Wochen im Atlas zu arbeiten.“ (11.XII, 11.65, 156; ähnlich: 1.XII, 1.14, 67)

Der Umgang mit Materialien („Materiallesekompetenz“, 9.XIII, 9.26, 99) wird aufgrund der Aufgabenkultur im Zentralabitur verstärkt im Unterricht geübt. Außerdem werden den Schüler_innen ab der Mittelstufe und verstärkt in der Oberstufe schriftliche Ausarbeitungen als Arbeitsaufträge im Unterricht erteilt, damit sie den Umgang mit Materialien lernen (16.XVIII, 16.61, 66; 18.XV, 18.42, 256). Zusätzlich wird ein planvolles Vorgehen als Bewältigungsstrategie eingeführt („Methodenblatt“) und eingeübt (16.XVIII, 16.31, 152–157, 167; ähnlich: 18.XV, 18.18, 212 und 223).

Es werden dabei zwei Herausforderungen thematisiert. Zum einen müssten die Schüler_innen lernen, mit „fachspezifische[m] Material“ im Allgemeinen (16.XXII, 16.22, 103) und spezifischem abiturrelevanten Materialarten im Besonderen umzugehen: „Und neu ist ja auch in G8 dieses Farbbild, dass das dabei ist. Ein Foto, ein Satellitenbild, ein Luftbild oder Sonstiges, das jetzt auch interpretiert werden muss. Das heißt, das muss man auch immer irgendwann mal üben“ (9.XIII, 9.25, 105). Zum anderen müssten die Schüler_innen das Auswerten von einer großen Anzahl an Materialien lernen (9.XIII, 9.21, 93). Eine Strategie sei es deshalb, im Unterricht „viel mit Materialien“ zu arbeiten, zum Beispiel Karten zu interpretieren oder den Atlas zu verwenden (1.XII, 1.14, 67; ebenso: 11.XXVI, 11.28, 132 und 208).

Diese Handlungsstrategien haben zwei Ziele. Zum einen gelte es, den Schüler_innen aufzuzeigen, „dass sie eigentlich alles sich logisch erschließen können, anhand von Material und dann halt vom Atlas. Also die müssen gar nicht so viel auswendig lernen.“ (11.XXIV, 11.10, 54). Zum anderen versuche man, die Schüler_innen dazu anzuhalten, sich kritisch mit Materialien auseinanderzusetzen und Schlüsse daraus zu ziehen, anstatt diese nachzuerzählen:

„B: […] Oder die sind ja auch wirklich materialkritisch. (unverst. 00:04:29) dann denke ich auch mal: Mein Gott, darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Und darum ist das für die ja dann auch/

I: Ja, was wäre materialkritisch?

B: Ja, die nehmen die Zahlen nicht einfach so dahin, wie sie kommen, sondern sagen: Nein, kann doch gar nicht sein, also und was soll das und was sagt das überhaupt aus? Das ist schon schön dann auch. Ja aber, das üben wir auch. Wir haben jetzt auch wieder Sahelzone, von Mali Strukturdaten bekommen, habe ich dann einfach die Strukturdaten auf der linken Seite notiert und dann rechts sollten die sich einfach mal zehn Minuten Gedanken machen, was sagt das überhaupt aus, wenn der Anteil der unter 15-jährigen bei 50 % liegt?. Und da war ich – ging das Erdkundeherz auch wieder auf – weil die das wirklich schön gemacht haben. Die haben das mit diesem demographischen Thema so vernetzt, warum haben die viele Kinder und so weiter. Und da habe ich gesagt: Genau da will ich hin, Leute. Dass ihr nicht einfach nur Zahlen nehmt, die aufschreibt, sondern überlegt, was steckt dahinter. Ja und darum, weil so was würden die da nämlich auch fragen: Hä, was soll denn das jetzt hier, was ist denn das für ein Quatsch oder das finden wir gut.“ (16.VI, 16.46, 10–12)

Die vornehmliche Ausrichtung auf Inhalte und die Stofffülle im Lehrplan führen dazu, dass in der Oberstufe verstärkt frontal unterrichtet wird: lehrer_inzentriert etwa als Unterrichtsgespräch (12.XIV, 13.8, 66) oder zentrale Ergebnissicherung (19.XVII, 19.61, 88), die mitunter auch von Schüler_innen frontal moderiert werde (19.XVII, 19.61, 90).

Als Gründe werden genannt: erstens müssten Inhalte fehlerfrei vermittelt werden:

„Ich gebe zu, dass ich in der Oberstufe sehr viel lehrerzentrierter auch unterrichte und sehr viel frontal. Zumindest bei den Sachen, wo ich sage, die sind für das Abitur wichtig und da lege ich auch Wert drauf, dass die vom Inhaltlichen her hundert Prozent stimmen müssen“ (10.IV, 10.41, 25).

Zweitens führt eine Lehrerin den Zeitdruck bei gleichzeitiger Inhaltsfülle als Grund an:

„[…] Weil sonst, man hat wirklich nicht viel Zeit. Also in der Oberstufe, da muss ich regelmäßig ein Kapitel komplett als Lehrervortrag machen mit Skript. Das mache ich ja immer so bei Themen, die eigentlich relativ leicht sind, wo es nur darum geht, denen mal so bestimmte Begriffe noch beizubringen. Genau. […] Ja, man schafft es einfach schneller.“ (11.XXIII, 11.55, 204–206).

Es wird aber auch dem Image, am Gymnasium werde nur Frontalunterricht erteilt, widersprochen (3.V, 3.24, 93). In einem Interview wird bekräftigt, dass man bei „Diskussionsthemen“ auch auf „offene Arbeitsformen und Gruppenarbeitsformen“ zurückgreife (10.IV, 10.41, 25). Ein anderer Geographielehrer betont die Leistungsfähigkeit von Anschauungsunterricht an außerschulischen Lernorten zur Abiturvorbereitung:

„Ich bin ganz stark davon überzeugt, je mehr Exkursionen wir machen, natürlich zu den Schwerpunktthemen, umso besser werden die im Abitur abschneiden.[…] Ja, weil sie das gesehen haben, weil sie die Sachen angefasst haben, weil sie das durchdrungen haben und nicht einfach nur auswendig gelernt haben.

Wenn ich mit denen einmal ein Bodenprofil, wirklich den Pürckhauer reinschlage und das rausziehe und von mir aus die Korngrößen siebe und mal Salzsäure drauf kippe und den pH-Wert messe, dann haben die das parat. Dann können die mir nachher viel mehr über Bodenfruchtbarkeit sagen, wie wenn ich achtzehn Texte mit denen lese.

Oder wir waren in Berchtesgaden und sind in St. Bartholomä auf dem Schwemmfächer rumgelaufen, hochgelaufen. Die haben gemerkt, dass das gar nicht so steil hoch geht. Wir haben die Karte verglichen, wir haben geologisch, wir haben Steine verglichen. Also ich glaube, dass die da viel, viel mehr lernen wie im Unterricht und dass es denen auch für das Abitur auf jeden Fall was bringt.“ (3.III, 3.55, 218–222)

Da der Druck, das Pensum an Inhalten zu schaffen, auf allen Fächern lastet, wird berichtet, dass die Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten, wegen Bedenken aus dem Kollegium eingeschränkt würden: „Bei uns ist es halt, von Kollegenseite ist es so, dass wir Exkursionen möglichst nicht machen sollen. Weil eben so viel Stoff nachzuholen ist und jede Stunde, die dann ausfällt, ist, tut dann weh.“ (13.XV, 13.6, 39; ähnlich: 16.XVII, 16.45, 6). In der Folge würden Genehmigungen seitens der Schulleitung „nicht gern“ erteilt (15.XVI, 15.70, 121–123). Vor dem Hintergrund des großen Lernpensums wird in den Interviews die Funktion der unterrichtlichen Leistungserfassung als Druck- und Disziplinierungsmittel betont: Ja, ich gebe sogar folgendes zu. Ist ja anonym. Und zwar, dass ich manchmal Klausuren benutze oder […] den Druck einer Klausur dazu nutze, dass sie durch die Klausur in diesem Thema weiterkommen“ (18.XX, 18.21, 277; ähnlich: 9.X, 9.13, 62 und 133; 10.X, 10.15, 54–57; 10.X, 10.36, 188–189; 11.XXX, 11.23, 116). Diese Funktion sei auch wichtig, weil die Schüler_innen im Nebenfach Geographie ansonsten nicht bereit wären, an anspruchsvollerem Unterricht aktiv teilzunehmen (4.II, 4.24, 60).

Das Zentralabitur bewirkt nicht nur, dass Geographielehrer_innen die obligatorischen Unterrichtsinhalte möglichst vollständig umsetzen, es gibt auch selbst Themen und Schwerpunkte für den Unterricht vor: „Aber das Wichtigste, was wir uns eigentlich immer nehmen, ist: Okay, Zentralabitur 2016, was sind die Themen?“ (16.IX, 16.48, 16).

Die in den meisten Bundesländern gebräuchliche Festsetzung von Schwerpunktthemen für die Abiturprüfung ermöglicht dabei Freiräume, sodass man „wirklich jetzt nicht nur auf das Zentralabitur hin lernen muss“ (5.VI, 5.37, 192). Allerdings müsse der Unterricht ständig entsprechend angepasst werden. Dies gelte zum Beispiel für Exkursionen: „dieses Jahr ist bei uns ja wieder Glazialmorphologien Abi-Schwerpunktthema. Hier [Anm.: vor Ort] ist nichts, logischerweise. Wir haben das jetzt als Studienfahrt angeboten“ (6.III, 6.27, 123). Auch müsste die thematische Ausrichtung von Angeboten, die Geographielehrer_innen für Kolleg_innen und fremde Geographiekurse anbieten, stetig an die Schwerpunktthemen angepasst werden: „Verwitterung, Boden, […] Karst, […] Wetter. Schichtstufen gab es mal, als [das] Schwerpunktthema war […]“, (6.VII, 6.33, 20–30). Dies müsse jedoch keine hemmende Wirkung haben (6.VIII, 6.28, 124–125).

Gibt es im Bundesland keine festgesetzten Schwerpunktthemen, entfallen die inhaltlichen Neuausrichtungen des Unterrichts oder von Angeboten für andere. Allerdings gebe es dann wegen der Inhaltsfülle keine zeitlichen Spielräume, wird in einem Interview einschränkend angemerkt (7.I, 7.14, 73).

Zusätzlich zu einer Fokussierung auf Inhalte des Lehrplans und der Abiturschwerpunktthemen haben die alten Zentralabiturklausuraufgaben eine Steuerungswirkung auf die Unterrichtsgegenstände: „Es gibt ja so das offene Geheimnis, dass die Abituraufgaben der letzten Jahre der heimliche Bildungsplan sind. […] sprich der Fundus der letzten Jahre dient ganz klar steuernd in dieser Hinsicht“ (8.XVII, 8.19, 160–167), das Format „prägt sich im Unterricht ganz klar auch durch“ und diene auch als Orientierungspunkt bei der Entwicklung von Lernmitteln (8.XVI, 8.49, 454–462).

Die Erfolgsaussichten des Orientierens an Zentralabiturklausuren vergangener Jahre wird in einem Interview als „im Wesentlichen zielbringend und erfolgversprechend“ bezeichnet, da sie „eine gewisse Verlässlichkeit auch transportieren“ (8.XVII, 8.42, 409). In einem anderen Interview formuliert es ein Lehrer vorsichtiger: „Das heißt also, man geht halt natürlich am besten die alten Abituraufgaben durch. Auch wenn man natürlich nicht sagen kann, ob das irgendwie weiterhilft“ (13.VIII, 13.32, 162).

Als konkrete Handlungsstrategie wird erstens das Schreibenlassen von Aufgaben aus Abiturklausur im Unterricht (12.XX, 12.28, 192–194), zweitens das Schreibenlassen als Hausaufgabe samt anschließender Besprechung im Unterricht genannt (1.XII, 1.24, 117). Drittens wird das gemeinsame Durcharbeiten alter Abiturklausuren in zusätzlichen Vorbereitungsstunden angeführt, bei dem man gemeinsam mit den Schüler_innen überlege was (11.XXVI, 11.45, 204) oder was und wie viel man in den Fällen hätte schreiben sollen (13.VIII, 13.32, 159–164). Viertens wird die Einbindung von Materialien aus alten Abiturklausuren in den Unterricht beschrieben (16.XIV, 16.14, 54). Eine fünfte Strategie ist das systematische Auswerten hinsichtlich der Frage, wie oft welches Thema in der Vergangenheit Gegenstand des Zentralabiturs war (18.III, 18.38, 509–531). Es sei dabei aufgefallen und es sei bedauerlich, wenn „gewisse naturgeographische Dinge immer mehr wegfallen“, „überhaupt nicht mehr gefragt“ seien (18.XIII, 18.6, 88–102).

Eine zentrale Rolle bei der Ausrichtung des Unterrichts an alten Abiturklausuren spielen Verlagsangebote (1.XII, 1.24, 117; 8.XVII, 8.19, 160–167; 12.XX, 12.28, 192; 16.XIV, 16.14, 53–54).

Ein Interviewter kritisiert, dass es vorkomme, dass Lehrer_innen die Steuerungswirkung als zu stark empfänden und ihren Unterricht allein am Zentralabitur ausrichteten (5.VII, 5.36, 185–192). Die Verantwortung als Geograph_in verbiete aber alleiniges Teaching-to-the-Test.

4.2.1.3 Unterrichtliche Klausuren angesichts des Zentralabiturs aus Sicht von Geographielehrer_innen

Die in den vorangegangenen Kapiteln bereits dargestellte beschränkende Wirkung der Vorgaben wird von den interviewten Lehrer_innen auch bei den unterrichtlichen Klausuren thematisiert. Insgesamt wird deutlich, dass das Zentralabitur eine starke Steuerungswirkung hat. Es führt zu einer Kanonisierung des Aufgabenformats (vgl. Abschnitt 2.2.4.2). Gleichzeitig müssen die Lehrer_innen dieses für die unterrichtlichen Klausuren aufgrund der kürzeren Prüfungszeit anpassen, was als Herausforderung angesehen wird. In diesem Kapitel werden die Aussagen der Interviewten ebenso wie im vorangegangenen Kapitel gegliedert nach der Frage nach der pädagogischen Autonomie und der Steuerungswirkung des Zentralabiturs wiedergegeben.

(Un-)Freiheit durch Vorgaben

Die Klausuren als Bestandteil des Unterrichts unterliegen Regularien, die es einzuhalten gilt. Ob diese das Handeln der Lehrer_innen lediglich organisatorisch rahmen oder ob es zu einer weitreichenden Einschränkung der pädagogischen Autonomie kommt, soll im Folgenden anhand der Interviews beleuchtet werden.

Zunächst gibt es Interviewpassagen, die Beschränkungen thematisieren. Ebenso wie beim Zentralabitur sei auch bei den unterrichtlichen Klausuren alles „standardisiert oder vorgeschrieben“ (15.I, 15.27, 159; ähnlich: 15.XXXVI, 15.2, 30; 19.XII, 19.43, 152). Man sei als Lehrer_in „natürlich schon in einem ganz klaren Korsett“ (19.XXXII, 19.41, 152). Die Vorgaben werden in einem Fall als so bindend und strikt wahrgenommen, dass sich Gedanken zu Alternativen erübrigten:

„I: Und denken Sie, dass die Klausuren die man dann eben noch in der E-Phase hat, dass die (...) auch nötig sind? Oder?

B: Wie ‚nötig‘? Das muss man sowieso ja machen. Ich muss ja eine machen.

I: Genau, Sie müssen eine machen. Aber wenn Sie die Wahl hätten, ob Sie eine schreiben oder nicht und wie die aussieht, würde das dann ähnlich enden, oder?

B: Wenn ich die Wahl hätte? Wie soll denn das sein? (lacht)“ (14.VII, 14.18, 119–122)

Es gebe aber bei unterrichtlichen Klausuren dennoch mehr Freiheiten als im Zentralabitur. Zwar müsse man bestimmte Aufgabenformate obligatorisch einsetzen, darüber hinaus sei man aber frei (2.XXII, 2.34, 134–138), berichtet ein Interviewter. Auf Fortbildungen würde er nicht vermitteln, wie Klausuren gestellt werden müssten, sondern wie sie gestellt werden könnten (2.XXII, 2.34, 134).

Ein Interviewter meint sogar, dass weder überhaupt Klausuren geschrieben werden müssten, noch das Format vorgegeben sei: zwar müsse man die Schüler_innen mit dem Prüfungsformat vertraut machen, man sei aber sonst „vollkommen frei“, könne prinzipiell sogar Multiple-Choice-Aufgaben einsetzen (4.V, 4.37, 100–102). Als Beispiel berichtet er, dass er in Klausuren schon mal stumme Karten eingesetzt habe („Oberstufe, Kontinente“ 4.V, 4.37, 108–110). In einem anderen Interview wird von Freiheit berichtet, die dann bestehe, wenn sich niemand im Grundkurs für das schriftliche (Zentral-)Abitur im Fach Geographie entscheide (9.XXIII, 9.52, 121).

Die oben genannten Freiheiten bei der Korrektur von Zentralabiturklausuren, würden auch für die unterrichtlichen Klausuren gelten (19.XXX, 19.20, 70). Es gebe durchaus die Möglichkeit auch alternative Antworten von Schüler_innen zuzulassen, man müsse um die bestehenden Freiheiten wissen, sonst korrigiere man „zu strikt“ (19.XXX, 19.20, 74):

„Und da wurde mir auch nochmal bewusst, wenn ich selbst Erwartungshorizonte stricke, dass ich ja durchaus noch ein bisschen die Möglichkeit habe, Dinge zu steuern, oder auch Schülern einen Freiraum zu geben. Weil im Vorfeld habe ich häufig dadurch zu strikt korrigiert. Ja.

I: Das heißt, es kamen Schülerantworten, mit denen du nicht gerechnet hast und dann ist die Frage, wie man damit umgeht.

B: Ja, richtig. Genau. Weil das ist wieder Thema ‚starres Aufgabenkonzept‘, also eine alternative Herangehensweise von Schülern macht es eben schwer. Natürlich sind die Aufgaben auch so formuliert und so gewollt, dass gar nicht so viele alternative Möglichkeiten da sind. Also es ist ja ein recht starres Konstrukt.“ (19.XXX, 19.20, 74–76)

Auch bei der Bewertung der sonstigen Mitarbeit in mündlichen Noten gebe es Freiheiten (13.V, 13.30, 234; 19.XXXVIII, 19.45, 154). Es sei aber „ein Graus“, diese zu geben, man habe „ein schlechtes Gewissen“, sie mit den Schüler_innen besprechen zu müssen sei „das Schlimmste“ (16.X, 16.34, 201–204).

Werden im Bundesland im Zentralabitur Durchschnittsnoten als Qualitätskriterium angewendet, erzeugt dies allerdings auch Druck auf die unterrichtliche (schriftliche wie mündliche) Leistungserfassung:

„B1: Das heißt es werden die […] Halbjahresschnitte der ersten drei Halbjahre für den Kurs im Prinzip berechnet und dann geht es zum Beispiel um so einen Geographiekurs. Es schreiben ja nicht alle in Geo Abi, aber dann geht es um einen Geographiekurs meinetwegen mit, ich sage jetzt einmal, mit einem Schnitt von neun Komma fünf Punkten von 15 in die Prüfung und da wird im Prinzip das Ergebnis der schriftlichen Abiturprüfung daran gemessen und sprich der Abiturschnitt in der Erstkorrektur kommt zurück, den ich selbst korrigiert habe. Der mag jetzt dann meinetwegen, wenn ich für meinen Geschmack gut vorbereitet habe, dann ganz ähnlich sein. Neun Komma Null bis zehn Komma null irgendwo im gleichen Bezugssystem. Dann kommt der Zweitkorrektor, der eben auch korrigiert mit der Blindenbrille. Der kennt die Schüler natürlich nicht.

I: Aber der sieht Ihre Korrekturen?

B1: Der sieht meine Korrektur, aber nicht das Ergebnis der Korrektur. Also es sind nur die Korrekturzeichen und dann geht es eben noch einmal in die Drittkorrektur und die vermittelt dann entsprechend dazwischen oder korrigiert selbst noch einmal wenn es eklatante Abweichungen gibt und das Ergebnis dieses Prozesses ist dann im Prinzip der erreichte Schnitt letztlich und an dem muss man sich dann auch wieder messen, wobei in den drei Einreichungshalbjahren natürlich auch mündliche Noten drinnen sind, die in der Abiturprüfung keine Rolle spielen und ja das setzt einen selbst natürlich schon so ein bisschen auch unter Druck. Werde ich diesen /

I: Weil Abweichungen nicht gerne gesehen sind oder was ist das Problem?

B1: Ja, das führt natürlich schon zu einem gewissen Unwohlsein und auch zu einer gewissen Erwartungshaltung, dass man so unterrichten sollte, dass das ungefähr dazu passt.

I: Okay, aber wenn Sie besser sind, dann/

B1: Wenn es besser ist, dann muss man sich natürlich fragen: Okay, war ich vorher zu hart?

I: Zu streng oder so, ja.

B1: Zu streng oder habe ich den Schülerinnen und Schülern im Prinzip im Vorfeld Chancen genommen punktemäßig auf ihren Abitur /

[…]

B1: Genau. Also das ist in der Vorbereitung und in der Erstellung der Klausuren auf jeden Fall ein Aspekt, dass man sich als Kollege da auch keine Blöße geben will.

B2: Aber es ist ein sauberes Verfahren finde ich trotzdem.“ (8.XII, 8.44, 411–437)

Steuerungswirkung des Zentralabiturs auf die Klausuren im Unterricht

Das Zentralabitur mache Klausuren in der Oberstufe nötig: „Nicht desto trotz bin ich ein Verfechter der klassischen Leistungsmessung. Solche Projekte, ja, gerne, aber trotzdem noch eine Klausur. Weil, im Abitur, schriftliches Abitur ist das so. Ist das einfach so“ (4.III, 4.60, 137). Teaching-to-the-Test-Strategien betreffen damit nicht nur den Unterricht, sondern auch die unterrichtlichen Klausuren: „Also sprich, das wäre im Prinzip ein Punkt schon zu sagen: Okay, wie sehen die Prüfungen aus? Möglichst nahe an dem, was sie später erwartet. […] Und das ist eine ganz starke Steuerungsfunktion“ (8.XVII, 8.19, 158; ähnlich: 15.XXXI, 15.23 und 15.25; 16.XVIII, 16.61 sowie 26.28, 16.26, 16.22, 16.21, 16.20, 16.19 und 16.15). Selbst wenn sich keine Schüler_innen im Kurs für das schriftliche Abitur entschieden und er „frei“ entscheiden könne, was er in der unterrichtlichen Klausur prüfen wolle, weiche er dennoch nicht vom Format der Zentralabiturklausuraufgaben ab, da die Schüler_innen ja in anderen Fächern dann die zentrale Prüfung ablegen würden, berichtet ein Interviewter (9.XIII, 9.28, 118–121). Das Format der Zentralabituraufgaben setzt also Standards: „ich habe das ganz normal gemacht“ (9.XIII, 9.28, 121).

Es gibt dabei zwei Handlungsstrategien. Einmal gibt es das Nachbilden des Formats:

„Ne, dass sie da die üblichen Aufgaben, wie sie eben immer sind, vier Stück: ‚Beschreiben Sie eine Sache‘[…]. ‚Stellen Sie die Probleme dar‘, […] „Erläutern Sie die Ursachen der Probleme“. […] Und das Letzte: ‚Nehmen Sie Stellung zu einer Aussage‘ – ich habe es mal so konstruiert, wie es im Abi immer ist, das sind fiktive Aussagen und da sollen sie Stellung nehmen, dass sie das einfach mal trainieren.“ (15.XXX, 15.19, 135–137)

„Und (...) Naja dann ist es das Übliche. Dann ‚Beschreiben Sie‘, ‚Begründen Sie‘, ‚Erläutern Sie‘. Einfach bei eins, zwei und drei. Wobei drei natürlich kurz kommen muss. Weil es nur so 17 Prozent ausmachen soll und dann macht der Hauptteil 55 Prozent ungefähr/ist Anforderungsbereich zwei. Wie das eigentlich deutschlandweit üblich ist.“ (14.XV, 14.13, 86)

Zum anderen gibt es die Weiterverwendung von Klausuraufgaben aus den Zentralabituren vergangener Jahre. Alte Abiturklausuren würden – als Alternative zu von Verlagen konzipierten Klausuraufgaben – modifiziert oder unverändert als unterrichtliche Klausur eingesetzt: „Entweder nehme ich eine Klausur, die im Abitur gelaufen ist, die freigegeben sind, ändere sie ab, modifiziere sie, füge aktuellere Daten hinzu, oder wenn es ideal ist, spricht auch nichts dagegen, oder ist es, soweit ich weiß, auch nicht verboten, diese Klausur zu verwenden“ (19.XXIII, 19.54, 96 und ähnlich: 19.34, 98–112). Die alten Zentralabiturklausuraufgaben dienen außerdem auch als Materialfundus für unterrichtliche Klausuren. Die Klausuren der Nachtermine hätten dabei den Vorteil, dass die Schüler_innen diese nicht kennen könnten, da sie „im Handel“ nicht erhältlich seien (8.XVII, 8.27, 239–244). Es gibt dabei aber auch Anpassungen: „Also ich habe Texte selten dazu muss ich gestehen. Im Abitur kommen häufiger Texte vor […]“ (8.XVII, 8.32, 271–274). In einem Interview wird allerdings eine konkrete Orientierung an alten Zentralabituraufgaben – wegen der geringen Stellung des Fachs im Bundesland und an der Schule – auch verneint:

„Aber zum Beispiel die Abiturklausuren und Abituraufgaben von Geographie, die kennt niemand. Die guckt niemand an. Das ignoriert/Das ignorieren alle. Selbst ich [Anm.: als Fachvorsitzender] habe mir das nicht angeguckt, weil ich kümmere mich nur um Mathe. Gibt es eh nicht. Und ich kann schon froh sein, wenn ich mal in der E-Phase das kriege. Die hatte ich jetzt zwei Mal in meinem Leben bis jetzt.“ (14.XII, 14.22, 138)

In einigen Punkten ist es unproblematisch in den unterrichtlichen Klausuren ebenso zu verfahren wie im Zentralabitur. Wenn Teilaufgaben im Zentralabitur nicht aufeinander aufbauen, dann wird dies bei unterrichtlichen Klausuren ebenso gehandhabt (10.XVII, 10.28, 126–130). Auch die Bewertungsrichtlinien – etwa keine Punkte zu vergeben, wenn die Antwort unter der falschen Teilaufgabe genannt wird (10.XVII, 10.27, 116–125) – werden aus dem Zentralabitur übernommen.

Die Prüfungsdauer von unterrichtlichen Klausuren – nur in manchen Bundesländern gibt es einzelne Ausnahmen – ist aber wesentlich kürzer ist als die Prüfungsdauer im Zentralabitur, sodass man das „nie eins zu eins vorher mal abbilden kann“ (3.IX, 3.35, 187). Es müssen in der Regel Anpassungen vorgenommen werden. Dies wird als Herausforderung angesehen (3.IX, 3.35, 183–187).

„B2: […] diese Zeitproblematik ist furchtbar, die schaffen es eigentlich nicht in 90 Minuten […]. Aber man hat ja immer das Problem, es muss eine Problemstellung drin sein, und das muss Material sein, was viel hergibt.

B1: Und wenig Textmaterial.

B2: Und das ist eine Katastrophe, das finden wir wirklich richtig schwer.“ (16.XIII, 16.9, 29–31)

„Das ist immer ein Problem. Wir müssen ja in einer korrekten Form arbeiten. Wir müssen eigentlich auf der Qualifikationsstufe, auch in der Elf jetzt, müssten wir eigentlich das volle Programm hineinschieben, aber das ist immer ein Problem. Die kommt mit den zwei Stunden dann nicht hin. Da muss man dann ein bisschen kürzen und irgendwie so ein bisschen herum lavieren da. Das ist immer ein Problem, ja.“ (18.XVI, 18.27, 455)

Es wird auch an anderer Stelle deutlich, dass die Sorge besteht, man gehe nicht regelkonform vor („wobei das eigentlich auch gemogelt ist“ 3.IX, 3.35, 131–132; „ist zwar nur eine mündliche Auskunft der Abiturkommission und auch immer wieder Streitpunkt bei mir in der Fachgruppe“ 15.I, 15.27, 159–162; „was ja eigentlich auch gar nicht so regulär ist“ 16.XIII, 16.9, 29;.“ „was für das Abitur und sonst ja nicht zulässig ist.“ 18.XVI, 18.27, 450, „Da tricksen wir so ein bisschen.“ 18.XVI, 18.27, 459).

Es könne auftreten, dass Lehrer_innen sich vor der Klausurkonzeption „ängstigen“ und sich sorgten „bekomme ich eine zusammen“, er selbst erstelle aber gerne Klausuren, berichtet ein erfahrener Lehrer (2.XXVII, 2.25, 78–79). In den Interviews werden angesichts der kürzeren Prüfungszeit bei unterrichtlichen Klausuren fünf Handlungsstrategien bezüglich der Klausurkonzeption benannt. Diese werden im Folgenden genauer vorgestellt.

  1. (1)

    Bei der Klausurkonzeption ist eine erste Herangehensweise, diese vom Format her dem Zentralabitur ähnlich, aber für die Prüflinge „irgendwo leichter“ (5.XX, 5.26, 128), zu gestalten. Ein Interviewter berichtet davon, die Erwartungen zu senken: „In nur zwei Stunden schreiben ist das reduziert und dann kriegt man nicht alle Teile der Aufgabenstellung da hinein.“ (18.XVI, 18.27, 445). Entsprechend müssten die Erwartungshorizonte angepasst und weniger Punkte insgesamt und für die Teilaufgaben vergeben werden. Während dies in einem Interview als unausweichlich aber problematisch angesehen wird, man komme „nicht drum herum mit halben Punkten zu arbeiten, was für das Abitur und sonst ja nicht zulässig ist“ (18.XVI, 18.27, 445), wird dies in einem anderen als „kein Problem“ und gute Lösung angesehen, die die Kolleg_innen auch unterschiedlich ausgestalten könnten, indem sie mit unterschiedlichen Prüfungsdauern und Bewertungseinheiten arbeiteten (9.XVI, 9.17, 83; ähnlich: 11.X, 11.38, 168).

    Wenn die Erwartungen reduziert werden, stellt sich die Frage danach, welcher Anspruch bleibt. Wird das Zentralabiturformat nicht genügend reduziert – damit die Schüler_innen mit ihm vertraut werden – und kann die erwartete Leistung gar nicht in der gegebenen Zeit erbracht werden, habe es negative Folgen: „Und eigentlich erzieht man sie zur Oberflächlichkeit, indem man sagt, so, 90 Minuten, ihr müsst aber jetzt sechs Materialien mal haben, und beeilt euch jetzt mal“ (16.XIII, 16.9, 29–33 und ähnlich: 16.27, 136). Man habe daraus lernen müssen, berichten die interviewten Lehrerinnen, „auch nochmal Sachen rauszunehmen“ 16.XIII, 16.9, 29). Die prüfenden Lehrer_innen müssen festlegen, was ihnen selbst wichtig erscheint: „Also wir müssen ganz, ganz stark reduzieren in den Klausuren im Vergleich zum Abitur. Ich versuche trotzdem aber dieses Systemische und Raumübergreifende einigermaßen reinzubringen“ (3.IX, 3.35, 131–132). Es gebe Kompromisslösungen, die man in Fortbildungen vermittele, erläutert ein Geographielehrer:

    „Und die Frage kommt in Fortbildungen auch immer wieder, wie wir denn jetzt diese Darstellungsformen in eine normale Klausur packen, weil die Schüler die Zeit ja gar nicht haben. Und das ist eine berechtigte Frage.

    Es gibt da Lösungen, dass man es eben atomisiert, dass man bei Wirkungsgefügen schon bestimmte Stränge vorgibt. Da sind wir wieder beim moderat konstruktivistischen, also nicht ein leeres Blatt hinlegen bei der Analysespinne, dass bestimmte Dinge schon vorgegeben sind.

    Also es gibt da Kompromisse, aber definitiv ist eine Diskrepanz da, dass die Schüler dieses Zeitfenster, dass sie im Abitur haben, vorher eigentlich nie haben oder nur in Ausnahmefällen.“ (3.IX, 3.35, 175–177)

  2. (2)

    Eine zweite Strategie ist es, im Vergleich zum Zentralabitur weniger Aufgaben in der unterrichtlichen Klausur zu stellen (18.XVI, 18.27, 448–449).

  3. (3)

    Als dritte Möglichkeit wird die Reduktion der Anzahl der Materialien im Materialienapparat benannt (5.XX, 5.26, 127–128). Die begrenze Prüfungszeit limitiere die Anzahl der Materialien, dennoch beschreibt ein Interviewter die Anzahl der Materialien in seiner zum Interview mitgebrachten Klausur als „grenzwertig für die 90 Minuten“ (8.XVII, 8.22, 345–346). In einem anderen Interview erläutert ein Lehrer, dass er eine alte Abiturklausur durch Reduktion der Materialien von „zehn oder elf“ auf „acht“ an die kürzere Prüfungszeit angepasst habe (19.XIX, 19.36, 104–109). Andererseits habe er den Erwartungshorizont erweitert, um ihn an den der Klausur vorangegangenen Unterricht anzupassen.

  4. (4)

    Als vierte Möglichkeit wird das Nichteinsetzen alternativer Antwortformate in unterrichtlichen Klausuren benannt. Es wird angesichts der im Vergleich zur zentralen Abschlussprüfung im Abitur kürzeren Prüfungszeit als schwierig angesehen, alternative Antwortformate in unterrichtlichen Klausuren zu fordern, dies sei besser im Unterricht umsetzbar (1.XI, 1.15, 69–73; 11.XXXI, 11.43, 196–198). Andererseits gebe es auch hier Zeitdruck, weswegen sich nicht der Unterricht, sondern Hausaufgaben besser eigneten (11.XXXI, 11.43, 198).

  5. (5)

    Als fünfte Herangehensweise wird das Aufteilen des Pensums im Umfang einer Zentralabiturklausur auf mehrere Klausuren angewendet:

    „Also wenn der Schüler jetzt nachher die Klausuren aus 11.2 und 12.1 zusammenbaut, die ich mit ihm geschrieben habe, dann hat er eigentlich auch eine Abiklausur. Aber er hat es natürlich mit einem Abstand von einem halben Jahr hat er die zwei Teile geschrieben. Das lässt sich natürlich nicht so ganz vergleichen.“ (3.IX, 3.35, 186)

Neben diesen Handlungsstrategien bezüglich der Klausurkonzeption werden in den Interviews angesichts der kürzeren Prüfungszeit bei unterrichtlichen Klausuren zwei Handlungsstrategien bezüglich der Klausurdurchführung benannt. Trotz der unterschiedlichen Bemühungen das Zentralabiturprüfungsformat für die unterrichtlichen Prüfungen anzupassen, gelingt dies nicht immer wie beabsichtigt. Ist die Klausur „zu umfangreich“, werden die Schüler_innen „nicht fertig“ (13.XIII, 13.21, 130). Dies sei ein Verschulden der Lehrkraft und mehr Routine bei der Klausurkonzeption sei erforderlich, heißt es in einem Interview (13.XIII, 13.21, 130). Für dieses Zeitproblem der Prüflinge werden zwei Handlungsstrategien angewendet.

  1. (1)

    Einmal wird auf die Schreiborganisation eingewirkt, damit diese effizienter wird, zum Beispiel durch die Vermittlung von Klausurbearbeitungsstrategien. In einem Fall schildern die interviewten Lehrerinnen, wie sie vorab zu vermitteln versuchen, nicht sofort mit dem Schreiben zu beginnen. Da die Schüler_innen aber „halt immer wieder diese Zeit im Nacken haben“, sei dies aber „echt schwierig“: „Die kriegen die Aufgaben, huschen schnell mal darüber und legen los“ (16.XIII, 16.27, 156–157). Es sei für die Schüler_innen nicht leistbar:

    „B2: Und dann geben wir denen vorher noch Material rein, wie die Vorbereitung aussehen muss, das üben wir wirklich mit denen, die Klausuren schreiben. Und es ist trotzdem nicht machbar. Ein Schüler hat bei der ersten Klausur jetzt in der Q1, hätte nur eine Vier geschrieben, war ziemlich unzufrieden, dann habe ich gesagt, jetzt setze dich nochmal da ran und berichtige das. Und er kam, Frau [Name der Lehrerin B2], ohne, dass ich jetzt an Ihnen rummeckern möchte, aber alleine um diesen Erwartungshorizont, mit den Materialien auszuformulieren, habe ich die 90 Minuten gebraucht. Wie soll ich das leisten?“ (16.XIII, 16.9, 34)

    Ein Lehrer in einem anderen Interview erläutert, dass er den Schüler_innen in der Klausursituation sogar verbietet, sofort mit dem Schreiben zu beginnen, um unstrukturierte Texte mit Einschüben und Tilgungen zu unterbinden: „Ich verbiete meinen Schülern die erste halbe Stunde irgendeinen Satz auf ihren Klausurbogen zu schreiben. Ich sage echt, dass: ‚Wer das macht, der… Nein, durchstreichen. Gibt es nicht‘“(18.XV, 18.18, 226).

  2. (2)

    Als zweites wird die Dauer der Prüfung verlängert, indem den Schüler_innen mehr Schreibzeit eingeräumt wird, etwa in dem die Klausur für eine kürzere Zeit als zur Verfügung steht konzipiert wird und dann gegebenenfalls noch Zeit dazugegeben wird (9.XVI, 9.17, 147; 10.XV, 10.20, 78) oder indem die Schreibzeit in die Pause ausgedehnt wird (8.XVII, 8.22, 198–200; 16.XIII, 16.9, 29).

Die genannten Strategien werden auch in Kombination eingesetzt:

„I: Und wo kürzt man dann? Beim Material oder beim?

B5: Ja, man muss auch Material ein bisschen kürzen und an der Aufgabenstellung.

B1: An der Erwartung musst du vor allem kürzen.

B5: Ja, ja. Also das ist dann immer ein bisschen schwierig. Ja. Also so, die Schüler_innen haben ja nicht, machen halt immer so, dass wir in der Klausur ein bisschen kürzen, mit Materialien oder auch von der Aufgabenstellung so Teile her und dann von der Bewertung her. Und dann aber auch von der Zeit geben wir dann dazu. Das heißt wir lassen in der Pause schreiben oder noch in der nächsten Stunde hinein und so weiter oder fangen ein bisschen früher an oder so. Da tricksen wir so ein bisschen.“ (18.XVI, 18.27, 445–459)

Bei einem näheren Blick darauf, wie die interviewten Geographielehrer_innen die Konzeption von unterrichtlichen Klausuren beschreiben, wird die Steuerungswirkung des Zentralabiturs auch im Detail sichtbar und lässt sich vornehmlich anhand dreier Phänomene nachweisen: (1) der Operatoren, (2) der Materialien und (3) der verstärkten Ausrichtung auf Inhalte. Diese werden in den folgenden Abschnitten beschrieben.

  1. (1)

    Operatoren und Anforderungsbereiche werden bereits ab der Unter- und Mittelstufe bei der schriftlichen Leistungserfassung eingesetzt (6.XIX, 6.25, 115; 9.XIII, 9.36, 143; 9.XIII, 9.36, 143–145). Einerseits wird berichtet, dass „erörtern“ als „einer von den Hauptoperatoren im Abi“ besondere Berücksichtigung im Unterricht finde (15.XXI, 15.10, 60), andererseits wird gleichzeitig die Strategie angewendet, jeden Operator einmal in einer unterrichtlichen Klausur zu verwenden (genannt wird als Ausnahme der Operator „Entwickeln Sie Lösungspläne“, 15.XXX, 15.28, 163).

    Bei der Verwendung von Operatoren in unterrichtlichen Klausuren trete – ebenso wie oben für das Zentralabitur ausgeführt – die Problematik des Verständnisses der Operatoren und ihrer Definition auf (14.XV, 14.20, 128). Hier werden als Handlungsstrategien das Fettdrucken der Operatoren (13.XXI, 13.18, 117; 4.V, 4.37, 100; 16.XVIII, 16.31, 168), das Angeben der zur erreichenden Punktzahl und das mündliche Erläutern dessen, was von den Schüler_innen erwartet wird (13.XXI, 13.18, 117), das Bekanntgeben der in der Klausur verwendeten Operatoren vorab (15.XXXI, 15.23, 147) sowie das Beifügen der Operatorenliste samt Definitionen zu den unterrichtlichen Klausuren (2.XIII, 2.32, 114; 4.V, 4.37, 100; 8.XVII, 8.22, 202–208; 16.XVIII, 16.31, 167) genannt. Zudem würden die Operatoren im Unterricht bei mündlichen Arbeitsaufträgen verwendet (4.V, 4.37, 101; 19.XVIII, 19.15, 92).

  2. (2)

    Es wird von Teaching-to-the-Test-Strategien mittels des Materialienapparats in unterrichtlichen Klausuren berichtet: „also bei mir gibt es immer Materialien, weil es im Abitur auch, also in Bayern ja auch ganz massiv mit Materialien bestückt ist“ (13.XXIII, 13.17, 110; ähnlich: 8.XVII, 8.22, 200–202; 14.XV, 14.13, 80–82; 15.XXX, 15.19, 135; 16.IX, 16.49, 23). Die oben geschilderte Notwendigkeit von Farbkopien gilt ebenso für die unterrichtlichen Klausuren. Hier wird als eine Strategie das Abdrucken in schwarz-weiß im Materialapparat, während gleichzeitig das Material in Farbe mit einem Beamer an die Wand projiziert wird, vorgestellt (8.XVIII, 8.25, 230–235).

Das Format der Materialienapparate im Zentralabitur wird in den unterrichtlichen Klausuren aber nicht eins zu eins kopiert. Während im Abitur (hier: in Bayern) Prüfungsteilaufgaben ohne Materialbasierung seltener vorkämen, komme dies in unterrichtlichen Klausuren öfter, „weil in der Klausur weiß man, das hat man abgehandelt“ (1.IX, 1.19, 97) oder auch nur in Ausnahmefällen (13.XX, 13.16, 110) vor. Aber auch sonst (hier: in Nordrhein-Westfalen) wird Unterrichtswissen vorausgesetzt und auch ohne entsprechende Materialien in unterrichtlichen Klausuren abgeprüft, zwar nicht als ausgewiesene Teilaufgaben, sondern als Teilaspekt (16.XIX, 16.24, 118). In einem anderen Fall wird berichtet, dies komme nur in der Unter- und Mittelstufe in Frage, da es die Kompetenzorientierung verbiete:

„Also ich würde auch nie eine Aufgabe stellen, wo ich ein Bodenprofil abfrage, also eine Horizontierung. Ich bringe vielleicht ein Bodenprofil, wo dann außen die Horizonte stehen, und dann soll der Schüler erklären, wie es denn dazu kommt. Oder was denn dieses Ae heißt, aber jetzt rein das auswendig zu lernen, ganz ehrlich gesagt, wenn Sie mich jetzt nach der Horizontfolge einer was weiß ich was, eines Pseudogleys fragen, komme ich ins Straucheln. Halte ich aber auch nicht für wichtig.

Also wir haben in der Unterstufe ja immer die typischen Schüler, die Hauptstädte und so weiter auswendig lernen. Das ist eine tolle gedankliche Leistung, aber geographisch ist das nicht. Ich meine ich kann mittlerweile auch viele Hauptstädte der Welt auswendig, aber ich würde gegen den einen oder anderen Unterstufenschüler verlieren.

Das sage ich denen aber auch immer. Also das hat nichts mit Kompetenz zu tun, wenn ich Dinge auswendig kann.“ (3.VII, 3.37, 163–166)

Aufgaben ohne Materialien seien auch Kritikpunkte bei Respizienzen – also bei der Überprüfung der Korrektur einer unterrichtlichen Klausur durch den/die Fachbetreuer_in: aufgrund der Prüfungsaufgaben mit Materialbezug im Zentralabitur müssten auch die Prüfungsaufgaben in unterrichtlichen Klausuren materialbasiert sein, woran sich aber nicht alle Kolleg_innen – insbesondere ältere – immer halten würden (9.II, 9.50, 24).

Außerdem sei es nicht möglich, alle Aufgaben auf Materialien basieren zu lassen, zum Beispiel bei Aufgaben mit dem Operator ‚nennen‘ und wenn man kein geeignetes Material finde (10.XV, 10.21, 80–83). Die Materialsuche gestalte sich nämlich oft schwierig (16.XIII, 16.9, 29–31; 16.XXII, 16.19, 73–77; 18.VI, 18.24, 382), als Geographielehrer_in sei man „immer Jäger und Sammler“ und halte einige Materialien für die Klausuren zurück (2.XXV, 2.29, 91; ähnlich: 9.XIII, 9.35, 143), weswegen sie nicht nur für Aufgaben herangezogen, sondern auch als Ausgangspunkt zur Aufgabenkonstruktion verwendet würden (8.XI, 8.30, 263–264; 10.XV, 10.22, 87; 13.XIII, 13.21, 134; 18.VI, 18.24, 439). Lehrbücher wären dabei oft nicht hilfreich (16.II, 16.40, 224) und Materialien darin zu veraltet (15.XIV, 15.15, 98). Es würden bei der Materialsuche auch Internetangebote zum Beispiel der Landesvermessungsämter genutzt (8.XVIII, 8.29, 262). Wichtig sei die Aktualität von Materialien (8.XI, 8.26, 265). Aufgaben ohne Bezug zum Materialapparat müssen aber keine Wissensabfragen sein, wenn man vorsehe, dass die Schüler_innen den Atlas heranziehen (4.XII, 4.32, 89).

Es werde darauf geachtet, unterschiedliche Materialtypen in den Materialapparat aufzunehmen, da dies im Zentralabitur auch so sei (3.II, 3.36, 144–151; 8.XI, 8.31, 276; 9.XV, 9.12, 83 und 93). Dazu gehörten auch längere Texte („zur Verstädterung habe ich auch schon eineinhalbseitige Texte mit drinnen gehabt“ 8.XI, 8.31, 276), ein anderer Interviewpartner gibt an, er verwende Texte selten, obschon diese im Zentralabitur vorkämen („ich habe Texte selten dazu muss ich gestehen“ 8.XVII, 8.32, 271). Über die Anzahl und die Komplexität der Materialien ließe sich das Anforderungsniveau von Klausuren steuern (5.XX, 5.26, 128; 9.XIII, 9.18, 83). Man könne auch einen Transfer mithilfe der Materialien einfordern, wenn man eine unbekannte Materialart in den Materialapparat aufnehme (8.XV, 8.23, 374–378). Außerdem hätten Materialien die Funktion, Folgefehler der Schüler_innen zu verhindern: wenn in einer vorangegangenen Aufgabe zum Beispiel ein alternatives Antwortformat gefordert sei, reiche man ein Material, mit dem die nächste Aufgabe auch gelöst werden könne (8.XI, 8.24, 226–227).

Materialien würden in unterrichtlichen Klausuren gerade dann eingesetzt, wenn der Unterricht weniger wissensorientiert gewesen sei und man ein Thema im Unterricht vor allem diskutiert habe (10.III, 10.12, 40). Es wird von Bemühungen berichtet, den Materialumfang in Klausuren zu reduzieren, da die Schüler_innen in der Prüfungssituation sonst den Atlas zu wenig nutzten (19.XXII, 19.63, 94).

  1. (3)

    Die oben für den Unterricht festgestellte Fokussierung auf Unterrichtsinhalte spiegelt sich auch in der Konzeption von unterrichtlichen Klausuren wieder. Unterrichtliche Klausuren dienten der „Stoffwiederholung“ und der „Hinführung auf das schriftliche Abitur“ (13.XXII, 13.12, 96). Die „Passung zum Unterricht“ werde dadurch hergestellt, dass der „behandelte[m] Stoff“ „vorabgebildet“ werde (8.XV, 8.23, 210). „[T]hematisch sollte es [Anm.: in der unterrichtlichen Klausur] halt schon irgendwas sein, was mit dem durchgenommenen Stoff irgendwie übereinstimmt“ (18.VIII, 18.17, 212; ähnlich: 4.VII, 4.24, 59).

So zählen die Interviewten, wenn sie die zum Interview mitgebrachte Klausur erläutern, stets die Themen als Prüfungsgegenstände auf. Im folgenden Beispiel werden darüber hinaus noch Medien („Methoden“) angeführt:

„Die erste Schulaufgabe, wir machen in der, in dem Halbjahr ist physische Geographie dominierend ganz stark. Es geht um Klima. Es geht um Klima und atmosphärische Zirkulation. Um Einfluss von Meeresströmungen, Klimadiagramme als Methode nochmal und halt komplexere Klimadiagramme auch. So, das ist so im Prinzip der Stoff, um den es geht.“ (13.XXII. 13.12, 98)

Die Ausrichtung auf Inhalte bedeute aber nicht, warnt ein interviewter Fachberater, dass Unterrichtsinhalte lediglich zu reproduzieren seien, dazu würden nur Berufsanfänger_innen aus Unsicherheit neigen, sondern es gelte Transferaufgaben zu stellen: „Also bin ich als Anfänger auch gerudert. Am Anfang. Die Versuchung ist groß, es nur über Reproduktion zu machen. Und das sollte man nicht tun“ (5.XX, 5.26, 128).

Das am Zentralabitur ausgerichtete Klausurformat beschränke die Möglichkeiten zu prüfen, sodass die proportionale Abbildung des vorangegangenen Unterrichts herausfordernd sei und nicht immer hergestellt werden könne, zeigen die folgenden beiden Interviewpassagen.

„Die Wechselwirkung zwischen Exkursion oder sagen wir mal geographischem Unterricht und der Klausur, die sind natürlich auch da, aber die haben gerade in den praktischen Teilen ihre Grenzen. Wobei ich habe auch schon in Klausuren dann Korngrößen in ein Dreiecksdiagramm einzeichnen lassen, was sie auf der Exkursion dann praktisch machen mussten mit einem Sieb und dann mussten sie es halt. Aber ich kann natürlich in einer Klausur kein Experiment durchführen lassen.“ (3.I, 3.16, 190–191).

„B1: Also wenn wir gerade die schriftliche Prüfung sehen, wir haben viele Methoden auch und methodische Zugänge, die sich schlichtweg nicht abprüfen lassen in der schriftlichen Prüfung. Die könnte man eher in der mündlichen Prüfung am Werkzeug zeugen.

I: Ein Beispiel.

B1: Also gerade wenn es jetzt, ich sage jetzt einmal, eine Analyse mit einem GIS zum Beispiel geht. Da könnte ich so etwas im Prinzip vorbereiten, dass der Schüler entsprechende Schritte in einer Präsentation dann händisch selbst noch machen soll. Einfach einmal zwei, drei Stück.

B2: Methodischer Ablauf.

B1: Genau.

B2: Standortfindung oder so.

B1: Das macht in der schriftlichen Prüfung wenig Sinn, dass ich ihn theoretisch abfragen oder sich äußern lassen soll zu so einer Entscheidung. Man könnte natürlich so auf Grundlage einer Karte was einzeichnen lassen. Wo könnte es denn hingehen? Also welches Ergebnis würde so eine GIS-Analyse liefern? Aber das ist dann schon also offenbar wieder begrenzt. Das wäre eher so ein ganz klassisches Element für eine mündliche Prüfung, wo man tatsächlich diese Kompetenz mit einbeziehen kann.“ (8.IX, 8.46, 44–45)

In schriftlichen Klausuren könne man hingegen nur den „Erkenntnisgewinn“, nicht „die Methode selbst oder den Unterrichtszugang selbst“ abbilden (8.IX, 8.47, 454; ähnlich: 1.XVII, 1.26, 134–152).

4.2.1.4 Die eigene Rolle und die Rolle anderer Akteur_innen aus Sicht von Geographielehrer_innen

Im folgenden Kapitel werden die Aussagen der Interviewten hinsichtlich der eigenen Rolle angesichts des Zentralabiturs sowie die Rolle anderer Akteure zusammengefasst und systematisiert. Auch wenn diese nicht explizit in den Interviews erfragt wurden, kommen einige der Beziehungen, die in den Abschnitten 2.1.3, 2.1.4 und 2.2.2 diskutiert wurden, zur Sprache. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte die eigene Rolle aus Sicht der Geographielehrer_innen, die Rolle der Schulorganisation sowie die Rolle anderer Gesellschaftssysteme.

Die eigene Rolle aus Sicht von Geographielehrer_innen

Man wisse „halt wirklich gar nicht, was auf einen zukommt“ (6.IX, 6.29, 129; ähnlich: 10.II, 10.31, 144–152; 15.IV, 15.6, 40–42; 18.IX, 18.47, 506), beschreiben Geographielehrer_innen die Situation angesichts des Zentralabiturs. Kolleg_innen träfen deshalb auch unterschiedliche Entscheidungen:

„Es bleibt bei mir die Verantwortung, die richtigen Schwerpunkte auszuwählen. Und da kann ich völlig anders entscheiden als der parallel unterrichtende Kollege und die Schüler fragen sich: Wieso machen die zwei Kollegen ganz was anderes? Die Verantwortung, das Richtige zu treffen, die ist ziemlich hart.“ (15.XXII, 15.37, 224)

Insbesondere am Berufsanfang sei es „der Horror“ gewesen, mit wenig Erfahrung einen Kurs zum Abitur zu führen (15.XXII, 15.37, 224; 16.XIV, 16.6, 23). Mit Erfahrung könne man aber auch gut vorhersehen, was Prüfungsthemen im Zentralabitur sind (18.III, 18.38, 509–531; 18.III, 18.10, 140–148) und gelassener sein, beziehungsweise dies vorgeben:

„B: Auch da kenne ich nie etwas anderes, man hat immer etwas Bauchkribbeln. Passt das? […]

I: Also Sie meinen Bauchschmerzen bei Ihren Prüfungen dann oder kurz vor dem Zentralabi?

B: Nein, also ich habe auch immer, ich denke immer, das ist für mich, aber das darf ich den Schülern nicht sagen oder nein, das sage ich ihnen echt nicht, ich muss auch Profi sein. Der Arzt fürchtet ja auch, dass er jetzt was Dummes macht und lässt es bei den Patienten aber nicht durch, sonst spielt der nicht mit, dann fehlt die Compliance und ich habe auch immer die Bedenken, schaffe ich es.

Nun, ich weiß, ich schaffe es, ich habe Erfahrung, beim ersten Mal wusste ich es aber gar nicht und diese Situation führt natürlich darauf, dazu, dass man im Unterricht sehr genau immer wieder auf das hinaus arbeitet, was man danach auch erwartet.“ (2.III, 2.37, 152–155)

Auf den Lehrer_innen lastet der Druck der Verantwortung für den Erfolg der Schüler_innen im Zentralabitur. Sie müssen es schaffen, „an dem Tag X […] diese olympische Disziplin, in diesem Fall das Abitur, meistern zu können“ (4.XVIII, 4.40, 129–130). Zwei Lehrerinnen sprechen sogar von Angst:

„B2: Das Zentralabitur ist sehr spannend, weil man nicht weiß, was kommt, und nicht weiß, wie bewertet wird.

B1: Ja, wir bibbern jedes Mal am Abend vorher. Haben wir alles gemacht? Haben wir die gut genug vorbereitet? Und wir sind schon Leute, sage ich mal, die sich an Vorgaben halten, und das versuchen einzuhalten, und das auch wirklich sorgfältig machen, uns immer wieder einlesen, und trotzdem hat man jedes Mal wieder Angst, haben wir es richtig gemacht. Haben wir die gut genug vorbereitet?“ (16.XXIX, 13.36, 214–215)

Ein Geographielehrer an einer Waldorfschule wünscht sich angesichts des Erfolgsdrucks, der angesichts des Zentralabiturs sowohl auf den Lehrer_innen als auch den Schüler_innen laste, die Anerkennung alternativer Abschlüsse, damit die Unfreiheit, die in der Jahrgangsstufe 13, in der man die Schüler_innen auf das Abitur vorbereite, entfalle (12.XI, 12.25, 148–150). Die Hochschulzugangsberechtigung könne man besser mittels Auswahltest an der Universität erteilen:

„Ich finde das nämlich eigentlich viel richtiger, was nützt mir ein Einser-Kandidat im Abi, ein Abi-Einser, das heißt noch lange nicht, dass er ein guter Arzt wird oder ein guter Lehrer, ja? Also, sondern das muss man doch anders herausfinden. Also, dass er eine Befähigung hat, klar, und dann die Unis hin kommt und die Zeit hat und nicht sagen die, irgendwann zu einem sagen, ja, dich nehmen wir, du bist der Künftige, du bist ein guter Arzt, weil das sind doch die Fachleute. Also ich würde mir das ganz anders, also wenn ich mir jetzt beschreibe, ein ganz anderes Bildungssystem.“ (12.XXIII, 12.34, 220)

Die zentralen Abiturprüfungen verändern durch den Erfolgsdruck, den sie ausüben, die Rolle der Lehrer_innen in zweierlei Hinsicht. Einerseits können sie sich mit den Schüler_innen solidarisieren: „Der Vorteil ist, ich habe es mir nicht ausgesucht, ich darf es wie die Schüler genauso blöd finden und kann ihnen auch sagen: Wir finden das jetzt alle blöd und machen es trotzdem“ (15.XXII, 15.37, 224; ähnlich: 18.XXIV, 18.30, 508). Andererseits wird die Frage, ob die Schüler_innen die Prüfung erfolgreich absolvieren, zur Frage, ob die Lehrer_innen selbst die Prüfung erfolgreich bestreiten.

„Nein, entschuldigen Sie, wenn ich jetzt aus einem Sport ein Beispiel mache, wenn Sie jetzt zur Rad-WM antreten, ja? Sie starten im Teilnehmerfeld der Frauen und die Rad-WM ist in Amsterdam, dann brauchen Sie nicht in Amsterdam zu trainieren, Sie können auch in Köln trainieren oder sonst wo. Sie müssen in Amsterdam halt Weltklasse sein, sonst gewinnen Sie nicht.

Und der Lehrer, wir haben hoffentlich genug Erfahrung, den Unterricht so zu gestalten, dass wir das Abi schaffen, das ist das, was wir beim Zentralabi brauchen. Und andere Bundesländer haben kein Zentralabi. Da läuft das anders und die Erfahrung habe ich, ich schaffe das Abi, das weiß ich jetzt schon. Woher weiß ich es? Ich habe Erfahrung. 100-prozentig statistisch weiß ich es nicht, aber ich nehme mal an, es geht.“ (2.III, 2.35, 132–133)

„Ich weiß, wer die Schüler sind, und ich gucke mir ihr Ergebnis an und sage: ‚Jawohl, die sind besser, als ich erwartet habe!‘ Und dann freue ich mich. Oder sie sind schlechter, als ich jetzt von Ihnen erwartet habe, dann sage ich: ‚Naja, dann habe ich wohl etwas falsch gemacht. Dann habe ich die nicht genug auf das Abitur noch einmal speziell vorbereitet.‘“ (10.XVIII, 10.13, 42–52)

Auch im Vorlauf des Abiturs wird die Einheit der Rolle als Lehrende_r und Prüfende_r aufgebrochen, nicht erst bei den Zentralabiturprüfungen („Mit den [klimatologischen] Betrachtungen habe ich zum Teil schlechte Ergebnisse erzielt in den Klausuren“ 1.XVIII, 1.22, 109).

Eine Strategie mit dem Erfolgsdruck umzugehen, ist es, Verantwortung auf die Schüler_innen zu übertragen, etwa indem diese Hinweise für die eigene Vorbereitung erhalten:

„Die Verantwortung kann ich wegschieben. […] Ich versuche dann einen Teil an die Schüler weiterzureichen und sage: Hier, ihr kriegt den Katalog der Sachthemen, die wir machen müssen, ihr kriegt die Räume. Schaut für euch selber, wo sagt ihr, ihr fühlt euch unsicher. Wo fehlt euch was? Dann machen wir da noch was im 4. Semester.“ (15.XXII, 15.37, 224; ähnlich: 18.III, 18.38, 515).

Wenn man den Schüler_innen „alle Möglichkeiten geboten“ habe, brauche man nicht nervös sein, da es an den Schüler_innen sei, das Angebot zu nutzen (oder nicht) (13.XXVII, 13.29, 216).

Die Schulorganisation aus Sicht von Geographielehrer_innen

In den Interviews taucht die Frage nach den Konsequenzen auf, die sich aus der organisatorischen Rahmung durch Vorgaben der Schulorganisation ergeben: „[…] wie viel Macht, oder wie viel Einflussnahme habe ich überhaupt noch als Lehrer oder führe ich strikt aus, was mir vorgegeben wird“ (19.XXXII, 19.41, 152) und „[…] wie viel Freiraum habe ich eigentlich noch als Lehrer, wie starr ist dieses System, wie wohlwollend kann ich überhaupt noch korrigieren“ (13.XIII, 13.5, 37; 19.XXII, 19.27, 80). Ein Interviewpartner, der an einer Freien Waldorfschule unterrichtet, kritisiert, dass man an staatlichen Schulen seine „Eigenständigkeit völlig abgibt“, es sei denn, man wende sich explizit dagegen: „ich weiß, viele Lehrer machen ja noch was draus, weil sie eben so sagen, ihr könnt mich mal, ja?“ (12.IV, 12.10, 38). Da der „Staat […] das Geld hat“ gelte das Sprichwort ‚Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing‘“, dies sei zu kritisieren (12.IV, 12.10, 40). An der Freien Waldorfschule hingegen bedinge die Freiheit, dass man als Lehrer_in selbst entscheiden könne was unterrichtet werde, sodass man eine große Verantwortung habe und an sich „die höchsten Ansprüche“ stelle (12.XIV, 12.48, 24). Lehrer_innen, die selbst an der Schulorganisation beteiligt waren oder sind, entwickeln ein Wir-Gefühl (8.XIX, 8.59, 347–349) und fühlen sich frei: nicht nur bezogen auf die organisatorischen Aufgaben, sondern auch darüber hinaus für weitere schulische Gestaltungen (8.XX, 8.41, 403–408).

Kritik wird neben den schulorganisatorischen Vorgaben auch an deren ständigen Veränderungen (4.XIX, 4.18, 40; 14.V, 14.4, 15–17; 15.VIII, 15.3, 30 und 15.34, 210–212) wie wechselnden Vorschriften bei Kursen (Geographie bilingual nicht mehr als mündliches Abiturprüfungsfach, 15.IX, 15.49, 20–22) oder der Leistungserfassung (z. B. Facharbeiten: 15.III, 15.18, 133–134) und „alle drei, vier Jahre neues Curriculum, neueres Buch“ (15.IX, 15.68, 84) geübt, die zu Unwägbarkeiten führten: „Es ist also viel mehr, dass ich, ja, auf Zufälle auch angewiesen [bin]. Auch werden Reformen als „Unruhe“ (15.VIII, 15.34, 212), zu kurzfristig und „total über das Knie gebrochen“ (6.X, 6.30, 141) oder als „Experiment“ (14.V, 14.2, 13) empfunden. In einem Interview wird berichtet, dass man sich nur für Fortbildungen zum Thema Reform des Zentralabiturs anmelden könne, wenn man schon einen Kurs habe und damit unmittelbar betroffen sei (6.X, 6.30, 131).

Weitere Veränderungen, die nicht konkret Oberstufe und Abitur betreffen, verschärften zusätzlich die Situation. So sei es neben den wechselnden Prüfungsgegenständen „in Zeiten von Internet und WhatsApp“ erschwerend, dass Schüler_innen Klausuren sehr einfach weitergeben könnten, sodass diese nicht zwei Mal in identischer Form gestellt werden könnten (15.VI, 15.67, 180–190). Außerdem führe die größere Verfügbarkeit von Informationen und Materialien im Internet (15.VI, 15.12, 77–84; 15.VII, 15.5, 38–39) und „ständig neue Bücher“ (15.VII, 15.5, 38–39) dazu, dass mehr gesucht werden könne und müsse.

Die organisatorischen und sonstigen Veränderungen führten zu einer Unplanbarkeit von Unterricht, berichtet eine Lehrerin:

„Es ist also viel mehr, dass ich, ja, auf Zufälle auch angewiesen bin. Was servieren die mir? Wie gehe ich damit um? Ich muss sehr viel wacher sein. Unterrichtsplanung ist bei mir dann auch weniger präzise. Also ich kann nicht sagen: 10 Minuten das, 5 Minuten das und das Stundenende wird heute unbedingt da sein. Nee, überhaupt nicht.“ (15.XIII, 15.14, 86).

Neben den allgemeinen schulorganisatorischen Rahmenbedingungen wird auch konkret das Zentralabitur als Steuerungsinstrument thematisiert. Die Steuerung über das Zentralabitur wird dabei als „Top-down-Prozess“ beschrieben: die Prüfungsformate bestimmten den Unterricht und nicht andersherum, da man „relativ wenig Einflussmöglichkeiten auf die Prüfungsformate“ habe (19.XXXI, 19.40, 140).

Bezogen auf das Prüfungswesen gebe es keine grundlegenden Reformansätze: „Aber soweit ich weiß, gibt es da, glaube ich, keine massiv großen Bestrebungen, das komplett zu hinterfragen, also ohne da die entscheidenden Leute zu kennen.“ (19.XXXIII, 19.18, 42).

Als Lehrer_in sei man selbst „ein Bindeglied zwischen Lehrwerk, den Vorstellungen des Kultusministeriums und den Klausuren“ (19.XXXI, 19.40, 140) und damit „ein Ausführer sozusagen. Aber so ist ja auch das Prinzip Schule gedacht. Kultusministerium gibt vor, Lehrer führt aus. Also es ist ja nicht so, dass ich das Rad neu erfinden soll“ (19.XXXII, 19.41, 152).

Man wisse auch nicht genau, „wer sozusagen die entscheidende Stellschraube dreht“, das Kultusministerium oder die Aufgabenkommission (19.XXXI, 19.40, 140). Es werden Zweifel an der fachlichen Kompetenz der Entscheidungsträger_innen geäußert, außerdem würden diese fernab der konkreten, unterrichtlichen Situation Entscheidungen treffen:

„B: […] ist es einfach so, das zählt nur irgendwas, wenn irgendwer im Kultusministerium sich ausdenkt und das sind ja gar nicht die Fachleute, dann denken die sich irgendwas aus und das müssen jetzt tausende von Lehrern umsetzen und das widerstrebt mir, ja. Und das widerstrebt mir so gnadenlos, weil ich stehe immer vor den Schülern und ich weiß doch, eigentlich müssten die im Moment was anderes machen und das weiß keiner außer mir, weil niemand steht vor denen […]“ (12.IV, 12.10, 38)

Es wird auch konkret über die Arbeit der Aufgabenkommission des Bundeslandes, die die Zentralabiturprüfungsaufgaben entwickelt, gesprochen (15.I, 15.21, 141; 18.III, 18.38, 509–531). Dabei wird im Rahmen der oben angesprochenen Solidarisierung mit den Schüler_innen eine Dichotomie – die versus wir – aufgemacht:

„B5: […] so wie die in Köln ticken. […] Dann wissen wir, wie die ticken, in welche Richtung das geht. Ich habe jetzt im Leistungskurs, im letzten Leistungskurs, den ich hatte, sind wir zum Schluss sogar so hingegangen und haben also so Themenschwerpunkte geschaut: Welche Themen greifen die am ehesten heraus? […] ‚Aber gibt es dann vielleicht irgendwelche Schwerpunkte, die die von Köln dann so haben‘ […]

B1: Was man den Kindern halt irgendwie nicht beibringen kann, ist, finde ich oder was man denen nicht natürlich sagen kann ist, wie derjenige, diejenige oder die Kommission, wer auch immer die Klausuren erstellt, tickt und was der in den Erwartungshorizont da hineinschreibt.“ (18.III, 18.38, 509–522; die Formulierung „von Köln“ s. auch bei 18.XVI, 18.27, 445)

Es gibt zum einen inhaltliche Kritik an der Arbeit der Aufgabenkommission, etwa dass die Thesen in Prüfungsaufgaben „oft so komisch handgestrickt“ seien „[…], dass die Schüler das nicht erfassen“ (15.I, 15.21, 141) oder dass diese qualitativ fragliche Autorentexte verfasse: „Das sieht man ja auch an den Quellen, wie viel Quellen verarbeitet wurden, um diesen Einführungstext in sehr schlichter, deutscher Sprache da zusammenzustoppeln.“ (15.IV, 15.7, 48). Zum anderen gibt es regelrechte Häme, wenn „oben“ Fehler gemacht werden:

„B: […] Die Nerven liegen blank. Weil, dadurch, dass es von oben kommt, hat es ja einen höheren Weisheitsgrad, ne. Die sind ja cleverer, die sind ja höher bezahlt. Und natürlich amüsieren wir uns köstlich und das kriegen sie auch postwendend zurück, wenn sie dann Fehler da drin machen, die sie uns ja früher auch um die Ohren gehauen haben, ne.

I: Klar, natürlich.

B: Wenn ich meine zwei Exemplare zu einer Frist, ich weiß nicht, im Januar oder wann, immer einliefern musste und dann hatte ich die Zeilenzählung vergessen. Das kam prompt zurück und grinsend kam der Schulleiter an: Da fehlt wohl was.

I: Ja.

B: Also sind wir jetzt genauso schadenfroh. He Leute, Ibbenbüren liegt gar nicht in Niedersachsen, habt ihr euch wohl vertan. Es ist diese Häme, die da rüberkommt.“ (15.I, 15.51, 248–252)

Sind Lehrer_innen selbst an der Aufgabenentwicklung beteiligt, wird der „geheimnisvolle Charakter“ betont und von divergierenden Ansichten – unter anderem zur Auslegung der Operatoren – der die Aufgaben testenden Lehrer_innen und der Aufgabenkommission, deren „Denken sehr starr“ sei, berichtet (19.XXVII, 19.19, 66). Ein Ärgernis stelle der Umstand dar, dass Lehrer_innen, die sich an der Konzeption der Zentralabiturklausuraufgaben beteiligen, die Rechte daran verlieren (8.V, 8.28, 240–261).

Angesichts der organisatorischen Rahmung stellt sich die Frage, wie Lehrer_innen darauf reagieren sollten. Die Sicht der Schüler_innen wird in einem Interview so wiedergegeben, dass diese das Zentralabitur als „notwendiges Übel“ ansähen und deshalb auch keine alleinige Ausrichtung des Unterrichts darauf erwarteten (3.XVII, 3.58, 190–196). Es liege in der Verantwortung der Lehrer_innen, mit der Situation verantwortungsvoll umzugehen und die Persönlichkeitsbildung ins Zentrum des Handelns zu stellen, fordert ein Schulleiter (5.VII, 5.40, 192–194). Er verweist auf die Lebenslauforientierung von Schule und die Verantwortung für die Gesellschaft (5.VII, 5.40, 194).

Kolleg_innen als Teil der Schulorganisation

Kolleg_innen als Teil der Schulorganisation auf der Ebene der Einzelschule werden als wichtige Kooperationspartner_innen benannt (2.XX, 2.13, 38; 11.IV, 11.3, 10 und 240), etwa als Verbündete in der Umbruchsarbeit (16.XIX, 16.5, 19–29), beim Austausch von Unterrichts- bzw. Prüfungsmaterialien (19.XXIII, 19.33, 98), im fächerübergreifenden Unterricht (7.XV, 7.11, 61). Außerdem wird von fruchtbaren schulübergreifenden Kooperationen berichtet (2.XXI, 2.40, 168; 6.XVII, 6.5, 22). Die Altersmischung im Kollegium wird als wichtig bezeichnet (11.IV, 11.5, 12). Allerdings werden auch Einschränkungen gemacht.

Es wird von Problemen berichtet, die durch Vergleiche entstehen. Kolleg_innen hätten sich gegen Ausbildungsunterricht „gesperrt“, da den Schüler_innen dann der Kontrast zwischen „revolutionären Methoden“ und „alte[m] Unterricht“ hätte auffallen können (16.I, 16.2, 16). Es entstehe Verantwortungsdruck, da die Schüler_innen den auf das Zentralabitur vorbereitenden Unterricht von Parallelkursen vergleichen würden (15.XXII, 15.37, 224). Man prüfe im mündlichen Abitur unterschiedlich, das Niveau habe sich „jetzt […] so langsam auf ein Niveau“ eingependelt (10.XVIII, 10.32, 171).

Ein Austausch mit Kolleg_innen kann schwierig sein. In einem Interview wird berichtet, dass unterschiedliche Unterrichtsstile einen Austausch sinnlos machten (13.XVI, 13.23, 136), in einem anderen Interview, dass die Sicht von verschiedenen Unterrichtsfächern auf Themen zu einer Beendigung einer fächerübergreifenden Kooperation geführt hätten (9.XIX, 9.9, 37). Die wechselnden Themen im Abiturkanon führten dazu, dass man niemanden an der Schule habe „mit dem man reden kann“, man könne sich nicht mehr austauschen, jeder sei „in eigenen Gefilden unterwegs“, es komme zu einer „Vereinzelung“ (15.XXXVI, 15.4, 31–36).

Es werden Vergleiche der Handlungsstrategien angestellt, etwa bei der Korrektur und der Handhabung des Erwartungshorizontes im Zentralabitur (18.XXV, 18.19, 227–235), der Aufgabenstellung in Klausuren (2.XXII, 2.34, 127–128), der Rückgabe von korrigierten Heften (12.XVIII, 12.18, 70), dem Zeitpunkt des Einsetzens von Teaching-to-the-Test-Maßnahmen (12.XIV, 11.55, 212). Es wird von Streit unter Kolleg_innen hinsichtlich der Regularien zur Klausurerstellung berichtet (15.I, 15.27, 159).

Außerdem werden Kolleg_innen in ihrer Funktion als Teil der Schulorganisation wahrgenommen, etwa als Zweitkorrektor_innen im Zentralabitur (19.VII, 19.22, 77–94), als Gegner_innen von Exkursionen wegen Unterrichtsausfall (1.VII, 1.11, 34–36; 3.VIII, 3.39, 204; 9.XIX, 9.11, 37; 13.XV, 13.6, 39; 16.XVII, 16.45, 6) oder auch als Duldende (6.V, 6.11, 36) sowie im Rahmen von Respizienzen beziehungsweise der Aufsicht der Schulleitung über Durchschnittsnoten von Klausuren (9.XI, 9.5, 26–28).

Andersherum berichten Interviewte, die selbst verstärkt Aufgaben der Schulorganisation übernehmen von Problemen, die durch die Überforderung von Kolleg_innen entstünden. So würden Angebote wie aufbereitete Geoinformationssysteme nicht genutzt (8.V, 8.7, 43–49), Exkursionen wegen (fachlicher) Unsicherheit nicht durchgeführt (2.XI, 2.15, 42; 3.VIII, 3.39, 215–216), es bestehe Skepsis bei neuen Zugängen wie Thinking-through-Geography (3.XVI, 3.10, 237), Kompetenzorientierung würde nicht beachtet (19.XXVI, 19.7, 28).

Es wird die Vermutung geäußert, Umbrüche auf Schulebene seien nur schwerlich umsetzbar:

„Aber ich denke, dass das Kollegium mitziehen muss. Und ich denke mal, hier sind sehr viele Kollegen, die schon lange den Job machen und aus diesem Stiefel gar nicht mehr raus könnten. Selbst wenn sie das jetzt wollten, oder die meisten wollen wahrscheinlich gar nicht, das ist halt schon eine große Umstellung, man muss im Team miteinander arbeiten und das sind ja doch alle Einzelkämpfer dann, wenn wir fertig sind.“ (7.VII, 7.27, 137)

Ein Innovieren des Unterrichts sei nur durch Innovationen im Zentralabitur erreichbar:

„Dann ist natürlich immer wieder ganz viel, ja Umbruchsarbeit. Das Abitur hat sich jetzt ganz stark verändert in Richtung Kompetenzorientierung, weil wir gesehen haben, dass Kompetenzorientierung an den Schulen letztlich wahrscheinlich nur ankommt, wenn wir auch das Ziel kompetenzorientierend machen. Wenn die Prüfung ganz weit weg von Kompetenzorientierung ist, dann sehen die Kollegen natürlich auch keine Notwendigkeit, warum sie ihren Unterricht ändern sollten.“ (3.IV, 3.7, 28)

Andere Gesellschaftssysteme aus Sicht von Geographielehrer_innen

Es werden Recht, Politik, Wirtschaft als andere Gesellschaftssysteme thematisiert.

Immer wieder wird die Frage der Rechtssicherheit von unterrichtlichen Prüfungen thematisiert und das Bestreben formuliert, sich abzusichern (9.VI, 9.57, 69–70; 10.I, 10.29, 131–137; 12.II,12.31, 202; 19.XII, 19.43, 151). Eine Schnittstellenfunktion übernehmen in Bayern Fachbereichsleiter, wie im folgenden Beispiel ersichtlich:

„B1: […] wie rechtssicher ist die ganze Geschichte? Ich muss ja dann irgendwann mal, wenn es hart auf hart geht, irgendwie rechtfertigen, dass das jetzt nach objektiven Kriterien genauso zu bewerten gewesen wäre und nicht anders und dem irgendwie kein Nachteil dadurch erstanden ist, dass er die eine Aufgabe nicht konnte. Die der andere vielleicht durch Zufall abgeschrieben hat und die lösen konnte. Und das, ist man schon sehr damit beschäftigt, sich auch damit abzusichern irgendwo, dass das wenig angreifbar ist. Weil der Trend ja auch immer dazu geht, dass die Eltern doch wesentlich deutlicher dahinter sind, auch mal zu kritisieren, ob diese Aufgabenstellung jetzt so angemessen wäre. Kenne ich aus meiner Schulzeit nicht, dass meine Eltern mal gesagt haben: ‚Oh das lag am Lehrer und die Aufgabenstellung (unv. 00:28:27).‘ […] Hatte ich bittere Erfahrungen gemacht, wie ich dieses halbe Jahr an der Realschule unterrichtet habe.

I: Weil?

B1: Sich mein Fachbereichsleiter teilweise aufgeregt hat, dass ich zu anspruchsvolle Prüfungen stellen würde. […].“ (10.I, 10.29, 131–137)

Die Politik wird als Akteur benannt („Aber dann müsste man an die Landesregierung dran sozusagen. Bildungsministerium.“, 14.V, 14.24, 140). Zum einen ist auf die weiter oben bereits ausführlicher besprochenen, durch die Politik initiierten organisatorischen Rahmenbedingungen und deren Reformen, die Unsicherheit bedingen würden, zu verweisen. An dieser Stelle soll deshalb nur ein Beispiel aus einem Interview angeführt werden:

„B: […] das neue G8-Abitur in Bayern ist noch nicht besonders alt. Und der Eindruck von mir und auch von vielen Kollegen ist, dass es da noch keine richtige Linie gibt vonseiten des Kultusministeriums, wie das Abitur letztendlich aussehen soll. Und deswegen mache ich das so, dass eigentlich mein Unterricht natürlich jetzt, also klar ist der Unterricht Grundlage des Abiturs. Aber er weicht, also das, was im Abitur erforderlich ist, weicht zum Teil davon ab, was im Unterricht geschieht. […]

I: Und was heißt, noch keine richtige Linie (unverständlich)

B: Ja, das ist einfach so, meiner Meinung nach, nicht so ist, dass ganz klar ist, was so abgeprüft wird.“ (13.VIII, 13.32, 156–158)

Als zweites wird das politische Bestreben nach einer guten Leistungsperformanz in den Interviews aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, das an dieser Stelle ausführlicher dargestellt werden soll. So wird das Verhältnis der mündlichen und schriftlichen Leistungserfassung im Unterricht angesprochen, das sich zugunsten der mündlichen Leistungserfassung verschoben habe, da dies die „Durchfallerzahlen“ senke, „weil es ja vom Ministerium gewünscht ist“ (9.X, 9.33, 133). In anderen Interviews wird die Praxis des Vergleichs von Durchschnittsnoten kritisiert (mündlicher versus schriftlicher Notendurchschnitt, Notendurschnitt einer Klausur versus schriftlicher Notendurchschnitt anderer Kurse, Notendurchschnitt im Zentralabitur versus Notendurschnitt des vorangegangenen Unterrichts, Notendurchschnitt im Zentralabitur versus landesweiter Durchschnitt im Zentralabitur) (10.XVIII, 10.13, 44; 12.II, 12.31, 200).

Diese politisch motivierte Leistungsoptimierung und die damit verbundene „Erwartungshaltung“ führe „zu einem gewissen Unwohlsein“ und es entstehe ein Leistungs- und Handlungsdruck (8.XII, 8.44, 413–415). Dies kann dazu führen, dass dies die Art zu unterrichten beeinflusst:

„Aber ja, ich denke, wenn ich das Abitur nicht hätte, würde ich mehr offen arbeiten, offene Arbeitsformen, ja. Weil ich mich selber nicht unter den Druck setzte, dass ich sage, mein Abiturergebnis muss stimmen, das ist ja das, was bei uns, also mit dieser Qualitätsoptimierung, es wird schon auf die Abiturschnitte geguckt.“ (10.XVIII, 10.13, 42)

Dabei sei der Vergleich von Durchschnittswerten bei den wenigen Schüler_innen in einem Kurs oder erst recht bei den wenigen Schüler_innen im Kurs, die Geographie als schriftliches Prüfungsfach wählten, methodisch zweifelhaft (10.XVIII, 10.13, 47–52; 12.II, 12.31, 198–208). Außerdem bewerte jede Lehrkraft anders und variiere gegebenenfalls je nach Leistungsdruck:

„Ist klar, wenn ich jetzt einen Chef habe, der mir Druck macht, und sagt, die Schnitte müssen besser werden, korrigieren wir halt das nächste Mal das Abitur so, dass wir halt gnädiger sind einfach irgendwo, wenn wir sagen, ja, wir wollen das ja irgendwie da hinkriegen. Und dann führt das Zentralabitur dazu, dass es überhaupt keinen Sinn macht, Zentralabitur zu machen, wenn eh jeder so korrigiert, dass der Schnitt hinkommt.“ (10.XVIII, 10.32, 176)

Man müsse sich entscheiden, ob es im Zentralabitur um „Selbstbeweihräucherung“ gehe oder das Abprüfen von „Mindeststandards“ (10.XVIII, 10.33, 177–178). Und andersherum berichtet ein Interviewter, man habe ihn angehalten, den Notendurchschnitt seines Kurses in unterrichtlichen Klausuren zu senken, da dieser im innerschulischen Vergleich zu gut sei (12.II, 12.31, 200). In der Konsequenz wird das Abschaffen des Vergleichs von Durchschnittsnoten oder das Abschaffen der Noten selbst (stattdessen Bestehen versus Nichtbestehen) gefordert (10.XVIII, 10.33, 177–179 und 10.13, 52).

Das Anforderungsniveau von Zentralbituraufgaben wird in einem Interview vor dem Hintergrund politischer Zielsetzungen hinterfragt:

„Also im letzten Jahr zum Beispiel waren viele Aufgaben drin, die hatten mit dem normalen Lehrplan überhaupt nichts zu tun. Und es war sehr weit weg. Das waren Sachen, die konnten Leute auf der Straße beantworten. Also nicht im Geographieunterricht sein müssen. Also Vor- und Nachteile einer Pkw-Maut. Also das steht in keinster Stelle im Lehrplan, solche Sachen. Ja, also ich denke mal, gut, ist ja anonym. Wie es in Bayern halt, das G8 muss halt ein politischer Erfolg sein. Das heißt, die Noten müssen gut sein und das Niveau halt dann dementsprechend langsam, aber stetig sinken.“ (13.VIII, 13.32, 158)

In einem anderen Interview berichtet eine Geographielehrerin, wie Leistungsdruck bei gleichzeitiger schwieriger Aufgabenstellung zu Widersprüchen geführt hätte:

„B: Und 11 war Doppelabi, das war ein Ausnahmejahr. Wir hatten die ganz klare Ansage, es darf keiner durchfallen. Die Aufgaben waren anders als sonst, einfacher. Und da war in dem einen Thema, das eine war USA, das andere weiß ich nicht mehr – Niedersachsen glaube ich. In einem Thema war die These, zu der man Stellung nehmen sollte, so verdreht und kompliziert, meine Kollegin, die den Parallelkurs hatte, hat die These nicht kapiert. Ihr ganzer Kurs hat die These nicht kapiert.

I: Ich muss da nochmal reingucken.

B: Ja, gucken Sie nochmal rein. Das ist lustig, aber auch bitter, weil manche Schüler, die 12/13 Punkte haben, da auf einmal mit 5 Punkten rausgehen. Da habe ich gesagt: Was soll das? Die Aussage in sich ist nicht klar.“ (15.I, 15.21, 143–145)

Es wird Kritik am Einfluss der Wirtschaft auf schulorganisatorische Entscheidungen geübt. Die Wirtschaft habe durch „Lobbyismus“ Einfluss auf den Fächerkanon genommen und bewirkt, dass das Neigungsfach Wirtschaft eingeführt worden sei (4.VI, 4.22, 50). Der Lehrplan im Fach Geographie enthalte immer mehr Wirtschaftsthemen, auch weil man sich als Fach angeboten habe (4.VI, 4.22, 51). Das Thema Globalisierung begegne den Schüler_innen außerdem in vielen weiteren Fächern (Englisch, Gemeinschaftskunde, Geschichte), sodass sie „es nicht mehr hören“ könnten (4.VI, 4.22, 51).

Ebenso wenig wie der Staat vorgeben solle „ich brauche jetzt gute Staatsdiener“, sollte die Wirtschaft vorgeben „wir brauchen die und die Fähigkeiten“, sondern Lehrer_innen sollten sich überlegen, welche Fähigkeiten für bestimmte Berufe von Nöten seien (12.VII, 12.40, 232).

Die PISA-Studie(n) der OECD werden als Referenzpunkt („was PISA von uns fordert“, 5.III, 5.24, 122) und als Auslöser für zu kritisierende Reformen angesehen, da die verglichenen Länder nicht vergleichbar seien:

„B: Das ist ja klar, wenn ein neuer pädagogischer Zug durch das Dorf fährt, dass man immer drauf aufspringen muss. Und wenn in zwei Jahren irgendwie was anderes modern ist, dann muss man das auch umsetzen. Und wenn man irgendwann mal feststellt, dass in Burkina Faso die pädagogische Kompetenz der Lehrer und die Unterrichtsausrichtung dort gerade auf dem neusten Stand ist und die was Neues erfunden [haben], dann muss man das in Deutschland auch ganz schnell umsetzen.

Natürlich. Aber die Voraussetzungen sind natürlich immer grundlegend verschieden. Wenn Sie die PISA-Studie angucken und die skandinavischen Länder angucken und gucken sich den Klassenteiler in Finnland an und das dort teilweise Team-Teaching stattfindet und gucken sich den herkömmlichen Klassenteiler sagen wir mal bei uns oder an staatlichen Schulen an, dann ist das schon ein gravierender Unterschied.“ (4.XIX, 4.18 und 4.20, 40–41)

4.2.2 Eine Typologie der aktualen Gestaltung im Fach Geographie durch Geographielehrer_innen angesichts des Zentralabiturs

Angesichts der in Abschnitt 4.2.1 dargestellten Ergebnisse stellt sich die Frage, wie die von den interviewten Geographielehrer_innen beschriebenen Ursachen, Kontexte, Phänomene, Bedingungen, Strategien und Konsequenzen zusammenhängen. Zwar konnte ein Überblick über die vielgestaltigen, weitreichenden Steuerungswirkungen des Zentralabiturs gewonnen werden, jedoch mangelt es an einer Überblick verschaffenden Systematisierung und einem Runterbrechen auf die Ebene der einzelnen Interviews. Diese Leerstellen sollen im Folgenden behoben werden: zum einen durch eine Typologie der Gestaltung von Geographieunterricht und zum zweiten durch einen Abgleich der in der Typologie identifizierten, idealen Merkmale und Bedingungsfaktoren mit den einzelnen, realen, komplexen Phänomenen im Sample.

4.2.2.1 Dimensionen, Merkmale und Bedingungsfaktoren der aktualen Gestaltung

Alle Interviewten unterrichten Geographie, in unterschiedlichem Umfang und auf ihre eigene Art und Weise. In Abschnitt 4.2.1 wurde aber deutlich, dass die Interviewten ihr unterrichtliches Handeln nicht als frei von Einflüssen beschreiben. Alle Lehrer_innen berichten davon, dass sie ihre Schüler_innen gezielt auf das Zentralabitur vorbereiten.

An dieser Stelle ist es nicht beabsichtigt, der Frage nachzugehen, inwiefern die Interviewten faktisch Freiräume haben und potentiell gestalten könnten. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sie Freiräume wahrnehmen und inwiefern sie in ihren eigenen Augen tatsächlich gestalten. Deshalb wird im Folgenden eine Typologie der aktualen Gestaltung entwickelt.

Der Begriff der Gestaltung richtet sich dabei nicht aus einer Beobachterperspektive auf den Unterricht. Vielmehr greift er die Innensicht der Handelnden auf die Frage auf, inwiefern diese von der organisatorischen Rahmung offen gelassene Freiräume sehen und ausfüllen. Ausschlaggebend ist es also, wenn in den Interviews Aktivitäten besonders hervorgehoben werden („[d]a machen wir GIS, da machen wir GPS“ (6.XVI, 6.18, 56), „Fortbildungen anbieten“ (6.XIII, 6.3, 22), „über den normalen Unterricht hinaus, dass ich mich mit Geo beschäftigt habe“ (6.III, 6.2, 16), „ausprobiert“ (8.8.XXIII, 8.14, 147; 11.I, 11.12, 78), „optimiert, […] noch einmal anders stricken“ (16.XIX, 16.62, 79), „koordiniere“ (2.X, 2.45, 25)) und wenn damit positive Gefühle verbunden sind („was Tolles […] es war wirklich spannend“ (1.XIV, 1.8, 29), „das sind halt echt die Sachen, die am meisten Spaß machen“ (11.X, 11.61, 36)). Es ist hingegen für die Beantwortung der forschungsleitenden Frage nicht relevant und aufgrund der gewählten Forschungsmethode auch nicht nachprüfbar, ob die Handlungen wirklich einen abwechslungsreichen oder spannenden Unterricht bedingen.

Die von den Interviewpartner_innen empfundene Intensität der Gestaltung kann variieren. Sie kann gering ausfallen, wenn es aus Sicht der Interviewten an Möglichkeiten, anders zu handeln, mangelt („man schaut vielleicht mal [einen] kleinen Filmausschnitt. Das ist schon das Höchste.“ 1.I, 1.12, 44; „Den Aufwand, da Arbeitsblätter zu machen, betreibe ich sowieso nicht.“ 15.XXVII, 15.60, 131). Sie kann stark ausfallen, wenn mehr Handlungsspielräume gesehen werden („Abwechslung“, „nicht nur dieser normale Schulalltag“, „interessanter gestaltet“ 6.III, 6.2, 16). Darüber hinaus kann die Frequenz, in der gestalterisches Handeln stattfindet, variieren. Gibt es im einen Fall nur seltene Gelegenheiten („ab und an“ 13.XIV, 13.8, 64; „nicht so oft“ 15.XXVIII, 15.16, 121) sind es im anderen häufige: („das ist viel zu häufig“ 2.XIX, 2.47, 57; „ganz oft, klar, das ist für mich ganz normal“ 6.XVI, 6.18, 70). Hinzu kommen Fälle, in denen die miteinander verknüpften Handlungssequenzen durch einen einmaligen Wechsel unterbrochen werden oder ständig zwischen mehreren Handlungsstrategien oszillieren, die Gestaltung also gewechselt hat („also ich habe vorher nicht […]“ 19.XVIII, 19.15, 92) oder laufend wechselt („unterschiedlich“ 10.XX, 10.42, 25).

Die beiden Dimensionen der Gestaltung, die Intensität und die Frequenz spannen einen Merkmalsraum auf, in dem sich typische Eigenschaften und Bedingungsfaktoren anordnen lassen. So unterscheiden sich die Interviews darin, ob eigene Ideen zu gestalten geäußert werden, wie die eigene Art zu unterrichten beschrieben wird, inwiefern das Gestalten organisiert ist, in welchem Umfang persönliche Ressourcen investiert werden, wie die Gefühle zum eigenen Handeln beschrieben werden, was als Ziel des Geographieunterrichts formuliert wird, wem die Verantwortung für das Erreichen des Ziels zugeschrieben wird und ob verstärkt Wissen und/oder Kompetenzen für das Erreichen des Ziels gefördert werden. Als zweites werden in den Interviews als Faktoren, die die Gestaltung beeinflussen, die Resonanz auf das eigene Handeln, die Stellung des Fachs Geographie, die eigene Haltung zur organisatorischen Rahmung, die Verfügbarkeit zusätzlicher Ressourcen und hier insbesondere die kollegiale Unterstützung, die Definition der eigenen Rolle und der Grad der Erfahrung herausgestellt. Diese acht Eigenschaften und sieben Bedingungsfaktoren werden im Folgenden herangezogen, um die identifizierten Typen der Gestaltung näher zu charakterisieren. Dabei werden aber die Relevanzstrukturen aus dem Datenmaterial übernommen, sodass zwar alle Merkmale von typenübergreifender, nicht aber von ausnahmsloser Relevanz sind.

4.2.2.2 Typen der aktualen Gestaltung auf Basis der Dimensionen Gestaltungsintensität und Gestaltungsfrequenz

Durch die Kombination der Dimensionen Intensität und Frequenz lassen sich theoretisch sechs Typen bilden. Da der Handlungstypus 5 sich vornehmlich durch seinen Prozesscharakter auszeichnet und die Intensität wechselt, sind aber letztendlich nur fünf Typen empirisch begründbar (vgl. Tabelle 4.17). Im Folgenden sollen die identifizierten Typen und die Spezifika ihrer Eigenschaften und Bedingungsfaktoren vorgestellt werden. Zur Illustration werden hierbei jeweils Belege aus dem Datenmaterial herangezogen.

Tabelle 4.17 Dimensionalisierung einer Typologie der aktualen Gestaltung. (Quelle: Eigene Abbildung)

Typus 1: Gestaltungsarme Routine

Der erste Typus zeichnet sich dadurch aus, dass den eigenen Angaben der Interviewten nach weder mit einer größeren Intensität noch häufig Unterricht besonders gestaltet wird. Hauptursachen sind eine Handlungssicherheit und hemmende Rahmenbedingungen. Versuche zu gestalten werden immer wieder durch ungünstige Bedingungsfaktoren konterkariert.

Der Fokus des Unterrichts liegt auf der Vermittlung von Wissen (14.XIII, 14.11, 65–78) bzw. der „inhaltlichen Obligatorik“ (18.IV, 18.46, 182; ähnlich: 18.IX, 18.47, 509). Kompetenzen werden als Beiwerk verstanden: „Die Kompetenzen sind dann hoffentlich zum Schluss da, wenn wir das inhaltlich orientiert unterrichten“ (18.IV, 18.46, 183). Zwar sei der schüler_innenzentrierte Unterricht aus dem Referendariat bekannt, der Unterricht sei dennoch vornehmlich lehrer_inzentriert (18.VII, 18.16, 466–468). Schüler_innenzentrierter Unterricht gehe „ganz gut“, er sei „interessant für die Schüler“, sie machten das „relativ gerne“, nur sei dies zu zeitraubend (18.V, 18.45, 481–503). Außerdem bräuchten Schüler_innen mehr Anleitung. Ein Geographielehrer berichtet etwa, dass es auch in der Oberstufe erforderlich sei, die Schüler_innen Texte laut vorlesen zu lassen, sonst markierten sie zu viele Textstellen und erfassten die Kernaussagen nicht (18.V, 18.45, 468–476).

Die organisatorische Rahmung wird als handlungsbeschränkend empfunden („Das steht ja fest, was man unterreichten soll.“ 14.VII, 14.31, 66; „Das muss man sowieso ja machen.“ 14.VII, 14.18, 120; „Wenn ich die Wahl hätte? Wie soll denn das sein?“ 14.VII, 14.27, 122). Die Ausstattung an der Schule wird als durchaus gut bezeichnet (Erdkundefachraum 18.II, 18.44, 67; Landkarten, Bücher, Lehrwerke, Zeitschriften, Atlanten 18.II, 18.44, 67–69), auch wenn Hemmnisse bestehen (Unterrichtsmaterialien veraltet 18.II, 18.44, 67–69). Weitere Ressourcen werden nicht genannt.

Dazu kann eine schlechte Stellung des Fachs kommen. Dies kann für die Situation im Bundesland gelten: „Und Geographie ist sowieso in Hessen das Allerletzte (lacht).“ (14.II, 14.7, 29–34; weniger drastisch: 14.II, 14.28, 136–139; 14.XIII, 14.11, 93).

„[…] wobei die in Hessen das total altmodisch Erdkunde nennen – ich bringe meinen das immer bei, dass ich Geographie studiert habe, dass das Fach Geographie heißt, in Klammern Erdkunde, steht nachher auf dem Zeugnis. Aber da sind wir so dermaßen rückständig, dass wir schon fast die letzten sind im ganzen, im ganzen Deutschland von den 16 Bundesländern, die das immer noch Erdkunde nennen wie vor hundert Jahren.“ (14.III, 14.8, 38)

Außerdem kann dies für die Situation an der Schule (Fächerkonkurrenz bezüglich Stundentafel 14.III, 14.8, 35–47; aus Tradition keine Leistungskurse im Fach Geographie 14.III, 14.10, 50–61; unterrichtet kaum Geographie 14.I, 14.1, 10 und 14.9, 47; Schule wird geschlossen 18.X, 18.1, 10–16) gelten. Hinzu kann ein Gefühl der Geringschätzung kommen (schlechte Bezahlung im Vergleich der Bundesländer 14.VI, 14.29, 122–127). Kategorien wie „Anpassung und Resignation“ (14.VII), „Tragischer Umbruch: […] Schule schließt“ (18.X) zeugen von persönlichen Belastungen.

Sicherheit im Handeln tritt auf, wenn eine große Erfahrung besteht und deswegen langjährig gleichförmig unterrichtet wird (18.VI, 18.15. 161–162) oder wenn auf bestehende Materialien wie Lehrwerke zurückgegriffen wird:

„Es gibt einen neuen Lehrplan, aber dann ist es ja nicht so, dass wir Lehrer uns da daran halten. Ich glaube die meisten Kollegen, ich schließe mich da ein, unterrichten so wie die Bücher es vorgeben. Wenn wir neue Bücher kriegen, dann unterrichten wir nach diesen Büchern […].“ (18.VI, 18.15, 161)

Ebenso wie für den Unterricht gilt dies für Klausuren:

„B5: Es ist ja auch heute meistens so, wenn man Klausuren entwickelt, dann oder selber entwickeln.

B1: Ja.

B5: Tun sie ja seltenst.

B1: Stimmt.

B5: Sondern man nimmt irgendwelche fertigen Klausuren.

B2: Genau.

B1: Ja.

B5: Wo auch schon ein Erwartungshorizont dabei ist.

B1: Ja, stimmt.

B5: Insofern ist das relativ einfach auch.

B1: Ja.“ (18.VI, 18.24, 331–341)

Eine weitere Handlungsstrategie ist der Versuch, persönliche Ressourcen zu sparen (s. o. Rückgriff auf Verlagsmaterialien). Diesem Typus wurde außerdem das Abgeben von Verantwortung zugeordnet (18.IX, 18.47, 515).

Da diesem Typus zwar kaum gestaltenden Handlungen zugeordnet werden können, dies aber nicht aus einer destruktiven Haltung heraus geschieht, sondern aus einem Sicherheitsgefühl und einer Fülle hemmender Bedingungen, soll dieser Typus als „Gestaltungsarme Routine“ bezeichnet werden.

Typus 2: Sich arrangieren

Der zweite Typus ähnelt dem ersten, zeichnet sich aber dadurch aus, dass ungünstigen Bedingungsfaktoren zum Trotz häufig in kleinerem Umfang gestaltet wird.

Die organisatorische Rahmung wird als beschränkend wahrgenommen (s. Kategorie 4.VI: „Mängel der Vorgaben“ incl. u. a. den Konzepten 4.21: „Zeitknappheit/Stofffülle – Kompetenzen eher hinten an“ und 4.22: „Einfluss Unternehmerlobby“; 7.I: „Vorgaben und Kontrolle; fehlende Freiheit“ incl. u. a. den Konzepten 7.14: „so frei ist man im Unterricht leider nicht“, 7.18: „in Bayern ist alles bestimmt“ und 7.21: „Schnitte von Klausuren: dann gibt es Ärger mit der Schulleitung“ und 7.II: „Geringer Status und hoher Leistungsdruck im Referendariat“ incl. u. a. den Konzepten 7.5: „Hierarchie an Schule: man steht als Referendar_in ganz unten“ und 7.6: „Recht und Freiheiten abgeben“; 15.I, 15.21: „Wir hatten die ganz klare Ansage, es darf keiner durchfallen“, 15.51: „Die sind ja cleverer, die sind ja höher bezahlt: Häme“ und 15.27: „Das ist alles standardisiert oder vorgeschrieben“). Die organisatorische Rahmung wird als ungünstig angesehen. Dies zeigt beispielhaft die folgende Interviewpassage, die sich auf den verbindlichen Themenkanon für das Zentralabitur bezieht:

„Und ich habe jetzt versucht, diesen einen Kurs zu kriegen, wo ich eben die Räume gerne mag, gut kann. Ich war selber zumindest in Japan. Nee, den Kurs hat leider organisatorisch ein Kollege gekriegt. Okay, in fünf Jahren gibt es das Thema wieder. Na super! Und das ist einfach ärgerlich. Man wird so Spezialist für eine Sache und es gibt ganz wenig Kollegen, die in der Breite alle Themen wirklich unterrichten und können und dann sitzt man am Protokoll beim Abitur, bei mündlichen Prüfungen, und sagt sich: ‚Das ist aber schön, was habt ihr denn da für Themen gemacht. Ja, wie soll ich das Wort schreiben, kenne ich nicht.‘ Das finde ich nicht nötig. Aber das ist ja nun kein erdkundespezifisches Problem, das ist ein Niedersachsen-Problem für alle Fächer, wo zentrale Vorgaben jährlich wechseln. Der Rhythmus ist zu schnell. Ich weiß, dass Baden-Württemberg das, glaube ich, drei Jahre stehen lässt, ein Thema.“ (15.VIII, 15.40, 226)

Die organisatorische Rahmung biete nur geringe Spielräume: „Das finde ich schade, weil da ganz viel Potential verloren geht, aber es ist einfach im System nicht anders machbar“ (7.IV, 7.36, 51).

Interviewte, deren Handeln diesem Typus zugeordnet werden kann, monieren eine fehlende (7.I, 7.38, 47) oder eine negative oder ausbleibende Resonanz auf ihr Handeln (15.XIII), etwa durch die fehlende Nachhaltigkeit von Unterricht (4.VII) oder durch ein negatives Feedback durch fragwürdige Notenvergabe im Referendariat (7.II, 7.2, 16–31). Die Stellung des Fachs sei wegen des Status als Nebenfach schlecht. Die Lernenden seien deshalb wenig motiviert (4.X), obwohl zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen eine gute Beziehung bestehe (4.IX) und die Schülerschaft als angenehm empfunden wird (7.IX).

Geographielehrende, deren Handlungen diesem Typus zugeordnet werden, äußern dennoch stärker als der erste Typus eigene Ideen und Umsetzungswillen, davon zeugen Kategorien wie „Kritik und Gedankenspiele“ (7.VI), „Kennt Handlungsalternativen“ (7.VIII) oder „Motivierter Blick in die Zukunft“ (7.VII). Als persönliches Gefühl dominiert Bedauern („Aber leider geht das nicht. Das funktioniert einfach nicht. Es ist leider […]“ 7.V, 7.34, 51; „Was hier an der Schule leider nicht so gesehen wird und hier in der Ausbildung auch nicht.“ 7.V, 7.35, 59; „Das rentiert sich nicht.“ 15.XXXVI, 15.41, 131).

Im Rahmen der gesehenen Möglichkeiten werden immer wieder besondere Unterrichtsgestaltungen initiiert, die in den Kategorien „unter anderem aktuelle Themen, GIS, fächerübergreifendes forschendes Lernen“ (4.IV), „Versuch der Schülerorientierung“ (7.XIII) oder „Schüler_innen recherchieren Videos zu Abiturthemen“ (15.XXV) zusammengefasst werden konnten. Dabei werden diese aber nicht systematisch beziehungsweise mittels einer festen Organisationsstruktur durchgeführt: „Es ist leider immer noch eine Art Unterricht mit Elementen, die halt dann mal schöner sind. Aber es ist immer lehrer_inzentriert und man gibt wirklich wenig in Schülerhand raus. Also es ist kein richtig entdeckendes Lernen. Es ist immer sehr geleitet“ (7.XII, 7.7, 51). Der Fokus des Unterrichtens liege auf der Vermittlung von Wissen (7.XII, 7.10, 59–61), dass von den Schüler_innen wiedergegeben, angewendet und transferiert werden müsse (4.XVII, 4.44, 95).

Das Abitur wird als Bewährungsprobe angesehen, die es hinter sich zu lassen gilt:

„Natürlich ist es so, ich vergleich das immer, wenn wir das Abitur ran ziehen, mit den Olympischen Spielen. Es gab mal einen Zehnkämpfer, Jürgen Hingsen, der hat sich vier Jahre lang auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Und hat trainiert ohne Ende. Und dann kam die erste Disziplin, das war der 110 m Hürdenlauf, ja, das war 1988 in Seoul, und der hat drei Mal einen Fehlstart gemacht. Dann waren vier Jahre für die Katz, ja. Das heißt, an dem Tag X müssen die Schüler eigentlich so weit sein, um diese Olympische Disziplin, in diesem Fall das Abitur, meistern zu können.“ (4.XVIII, 4.40, 129)

„Und der Spaß ist komplett raus, die sind alle froh, glaube ich, wenn sie ihr Abi haben und aus der Schule raus sind und dass der Stress endlich mal ein Ende hat. Und das ist halt schade, weil es für Lehrer Stress ist, für Schüler Stress bedeutet und da hat keiner so richtig was von und es könnte viel schöner sein, denke ich, könnte viel einfacher sein. Ich bin noch jung, ich habe noch Ambitionen (lacht).“ (7.XX, 7.43 bzw. 7.XXI, 7.30 jeweils 141)

Es werden sowohl die eigene (4.XVIII, 4.40, 130) als auch die Verantwortung der Schüler_innen für den Lernerfolg festgestellt: sie müssten das Angebot auch nutzen (4.X, 4.51, 131–137). Damit verbunden ist die Handlungsstrategie der Übertragung von Verantwortung (15.XXXV).

Eine Handlungsstrategie ist es, sich Unterstützungs- und Kooperationsmöglichkeiten (7.XV) –auch außerhalb der eigenen Schule (4.XIII) – zu suchen. Allerdings müsse es stets ein Geben und Nehmen sein (15.XXXIII). Außerdem wird vom Einsatz persönlicher Ressourcen berichtet. So habe sie zu Hause „kisten- und bergeweise Material inzwischen“ (7.XIV, 7.53, 63) und müsse „wirklich gucken, dass man sich zuhause von der Freizeit die Zeit eben abknappst, um das [Anm.: Lernzirkel] dann zu machen“ (7.XIV, 7.12, 67), berichtet eine Lehrende.

Dieser Typus zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass die als hemmend wahrgenommenen Bedingungen auch kritisch hinterfragt werden, ohne dass daraus unmittelbare Konsequenzen gezogen werden. Er zeichnet sich durch häufige gestaltende Aktivitäten aus, die angesichts der Rahmenbedingungen aber eine geringe Intensität aufweisen. So kann dieser Typus unter der Überschrift „Sich arrangieren“ zusammengefasst werden.

Typus 3: Festtage gestalten

Bei der organisatorischen Rahmung werden bei Typus 3 vor allem die Fülle an Inhalten im Lehrplan, die bis zum Zentralabitur behandelt worden sein müssen, und die darauf abgestimmte Organisation auf Schulebene, die Unterrichtsausfall vermeidet, als beschränkend empfunden (zur Inhaltsfülle: 1.I, 1.12, 38–44; zur Organisation: „von Kollegenseite ist es so, dass wir Exkursionen möglichst nicht machen sollen. Weil eben so viel Stoff nachzuholen ist und jede Stunde, die dann ausfällt, tut dann weh.“ 13.XV, 13.6, 39). Hemmend wirkt zusätzlich die Stellung des Fachs, Schüler_innen müssten erst mal für das Nebenfach Geographie begeistert werden (13.III, 13.39, 34–37 sowie 13.40, 212, 13.41, 241–244 und 13.42, 68).

Geographielehrer_innen, die entsprechend dieses Typus handeln, weisen eigene Ideen auf, greifen aber dennoch vornehmlich auf „klassischen“ Unterricht zurück. So stellt der Interviewte im Interview 13 heraus, dass er Unterricht und Klausuren selbst konzipiert und kaum auf das Lehrwerk zurückgreift („es gibt auch so viele Filmausschnitte, so viel Arbeitsmaterial und das Buch schränkt einen so ein“, „Tätigkeit [Anm.: Klausurerstellen], die mir Spaß macht“, „da [Anm.: Klausurerstellen] kann man auch kreativ [sein]“, 13.XIII, 13.22, 144, 142). Das „Unterrichtsgespräch“ wird aber als Methode der Wahl bezeichnet, mit offenen Unterrichtsformen sei man in der Ausbildung „getriezt worden“, in der Realität seien beispielsweise Gruppenarbeiten bei den Schüler_innen nicht beliebt (13.XIV, 13.8, 64–66).

Gestaltung findet vornehmlich in Nischen statt, sie ist deshalb selten, fällt dafür aber umso intensiver aus. So wird im Interview 13 eine „Radtour an der Isar entlang von der Quelle bis zur Mündung“ in einem Projektseminar erwähnt und Exkursionen in der Projektwoche vor den Ferien nach „Hamburg, […] Berlin. London“ (13.XV, 13.6, 39). Die Gestaltung dieses Typus ist dauerhaft implementiert und regelmäßig wiederkehrend („immer wieder“, „pflege ich den Fortbestand“ 13.XV, 13.6, 39; außerdem: 1.IV, 1.31, 11–14; 1.VII, 1.9, 23). Als Motor wirkt hier die eigene Begeisterung für das Fach Geographie (1.III, 1.20, 34–37). Fördernd wirken tragfähige externe Ressourcen (1.IV, 1.31, 18–20).

Die Funktion des Geographieunterrichts, der auf das Aneignen von Wissen und Methoden ausgerichtet ist (13.XXII, 13.12, 74 und 98), wird im Abitur gesehen: „wir bilden junge Erwachsene vornehmlich aus, das Abitur zu machen. Das ist das Ziel“ (13.II, 13.1, 4). Die Verantwortung für den Erfolg wird dabei zwar auf der Seite der Lehrenden gesehen, die ein Lernangebot machen, letztendlich hätten die Schüler_innen die Verantwortung, dies auch zu nutzen (1.I, 1.12, 62–64; 1.XV, 1.30, 16–18; 1.XVIII, 1.22, 109; 13.XXVII, 13.29, 215–216). Hinzu kämen auch persönliche Stärken und Schwächen der Schüler_innen (1.XVII, 1.26, 134–152) und äußere Umstände (wie psychische Probleme, schwierige Lebensläufe, Elternschaft, Zeitmangel) (13.VII, 13.2, 8; 13.XXII, 13.12, 74). Es wird deshalb als in der eigenen Verantwortung liegend gesehen, die Schüler_innen hinsichtlich der Frage, ob sie Geographie als schriftliches Fach im Zentralabitur wählen, zu beraten (1.XVII, 1.26, 134–152; 13.XXIV, 13.26, 186). Das Gefühl, erfahren zu sein, mag dazu führen, dass keine Handlungsunsicherheiten geäußert werden (1.II, 1.4, 11–12).

Aufgrund des Bemühens, die wahrgenommenen Freiräume – gleichsam Nischen – bestmöglich auszugestalten, dies aber nur in einzelnen, besonderen Situationen gelingt, kann man von „Festtagen“ sprechen, die gestaltet werden.

Typus 4: Das Gestalten gestalten

Gestaltung vom Typus 4 zeichnet sich sowohl durch eine starke Intensität als auch eine häufige Frequenz aus. Vornehmlich förderliche Bedingungsfaktoren führen hier zu einer umfassenden Gestaltung, die weit über die Gestaltung des eigenen Unterrichts hinausgeht.

Als besonders gestaltete Elemente des eigenen Unterrichts werden in den Interviews unter anderem eine App zu einem lokalen Dolinen-Pfad in Kooperation mit der Stadt (6.XI, 6.23, 97), die Arbeit mit GIS und GPS (6.XVI, 6.12, 56–58), „Experimente […] auch ganz oft, klar, das ist […] ganz normal“ (6.XVI, 6.18, 70), eine im fächerübergreifenden Unterricht mit dem Fach Kunst gestaltete „Leiste durch die Erdgeschichte mit verschiedenen Tafeln“ in einer Höhle und in einem Flur der Schule (6.XVI, 6.18, 66), „die Simpsons gezeigt und irgendwelche Filme auf Englisch gezeigt und Experimente auf Englisch gemacht“ in einem Wahlpflichtkurs (11.XVI, 11.8, 26), eine mehrtägige „Übersichtsexkursion“ im Nahraum (5.XVII, 5.15, 88), Thinking-through-Geography (11.XX, 11.11, 54–77), Gestalten von Postern (11.XXII, 11.22, 113), kooperatives Lernen (16.VIII, 16.13, 52), student teacher (16.X, 16.43, 179). Eine wichtige Funktion neben dem normalen Geographieunterricht haben dabei Wahlpflichtkurse und Arbeitsgemeinschaften. Kennzeichnend für diesen Typus sind auch international ausgerichtete Aktivitäten wie ein EU-Austauschprojekt (6.XV) oder „Model United Nations“ (11.XIX, 11.61, 30).

Es geht nicht nur um die Gestaltung des eigenen Unterrichts, sondern auch um die Gestaltung des Geographieunterrichts für andere Schulen beziehungsweise von Fortbildungen (2.X, 2.45; 3.X; 5.XVII; 6.XIII) sowie die Ausbildung von Referendar_innen (2.X, 2.45). Dabei geht es um das Fortführen und Weiterentwickeln bestehender, aber auch das Neukonzipieren von Angeboten (2.XVIII; 16.XIX).

Man könnte etwas salopp formulieren, dass Gestaltungen dieses Typus zu einer besonderen Mission gehören, die entweder selbst entwickelt oder mit entworfen und institutionalisiert ist. So bezeichnen zwei junge Lehrer_innen, die „den alten Unterricht“ (16.I, 16.2, 16) der ehemaligen Kollegen mit „relativ veralteten Vorstellungen […], halt nur Frontalunterricht“ (16.I, 16.3, 17) an ihrer Schule radikal verändert haben, ihr Handeln als „Revolution“ (16.V, 16.72, 46) mit „revolutionären“, „neuen“ Methoden (16.V, 16.71, 15–19) und sich selbst als „Revoluzzer“ (16.V, 16.73, 240). Ihre Mission habe Erfolg, die Zahl der Geographieschüler_innen in der Jahrgangsstufe 10 habe sich verdreifacht (16.XXXI, 16.10, 43). Außerdem betrieben sie Werbung für ihren Unterricht: „Wir gehen auch wirklich in die neunten Klassen rein und stellen das vor.“ (16.XXXI, 16.10, 45) und versuchten Geographie-Leistungskurse an der Schule zu etablieren (Unterschriftenlisten, Gespräche mit Oberstufenkoordinator und Schulleitung 16.XXXI, 16.10, 46–48).

An einer anderen Schule wurde Geographie als Schwerpunkt etabliert (2.XXIII; 2.VII; 2.VIII; 2.IX; 2.X; 6.II, 3.I; 3.XVII; 6.XIII, 6.XVI, 6.XVII, 6.XVIII): Zunächst sei die Stadt auf die Geographielehrer_innen der Schule zugekommen, um diese als Geograph_innen für ein Engagement für die Initiierung eines UNESCO-Geoparks zu gewinnen. Aus dieser Kooperation ergab sich dann nicht nur die Idee, den Geopark auch für die eigene Schule fruchtbar zu machen, sondern durch ein Engagement für Auswärtige auch Geographie als Schulfach zu stärken und die Expertise am Standort in die Fläche zu tragen.

Lehrende, die dem vierten Gestaltungstypus zugeordnet werden können, sehen eine über das Abitur weit hinausgehende Funktion des Geographieunterrichts für die Lebenswelt und den weiteren Lebenslauf der Schüler_innen (11.XXI; 16.VII), die Stellung des Fachs Geographie in der Gesellschaft (5.X) und die Gesellschaft (5.VII). Ein Lehrer erläutert, wie Schüler_innen zu Multiplikator_innen werden:

„Genau, wir bilden quasi im Rahmen dieser Zusammenarbeit Geopark, und quasi auch der Stadt [Ort der Schule], die ja Teil dieses Geoparks ist, Höhlenführer an der Schule aus, haben wir schon über 40 Kinder zu Höhlenführern ausgebildet.“ (5.X, 5.10, 64)

„[…] dann haben wir ein Geoparkprojekt, einmal Klasse fünf, da haben wir auch den außerschulischen Lernort, wo es um zwei Tage geht, wir zwei Tage in der fünf im Gelände sind, und da spüren sie auch die Kraft dahinter. Alle Fünftklässler sind zwei Tage draußen. Und das seit zehn Jahren, also das sind jetzt 100 Kinder pro Jahr, 140 dieses Jahr, manchmal haben wir drei Klassen, manchmal fünf, momentan haben wir fünf Klassen pro Jahrgang. Also fünf, 140 Kinder, das sind 280 Eltern, sind praktisch 500 Großeltern, bei denen zu Hause über Geographie im Geopark gesprochen, und das machen wir zehn Jahre, das sind 5.000 Großeltern, ja. Und so kommt allmählich diese Geo-Idee in die Köpfe hier rein, es wird tatsächlich doch zum Schwerpunkt. Wir haben da schon Eltern, die kommen auf uns zu, und bringen uns Steine vom Urlaub als Anschauungsmaterial, oder sind selbst geologisch interessiert, und so, also es wächst dann so eine Community heran.“ (5.X, 5.16, 88)

Der Geographieunterricht ist als Konsequenz dieses Gestaltungstypus grundsätzlich kompetenzorientiert ausgerichtet (3.XIV; 11.XX), auch wenn er in der Oberstufe angesichts des Zentralabiturs zunehmend inhalts-, themen- und wissensorientiert ausgerichtet wird (11.XXIII; 16.IX).

Die organisatorische Rahmung wird als prinzipiell geeignet (2.XVII; 2.XXVI; 5.IV; 5.VI), mit einigen Limitationen (2.XIII; 3.I; 3.IV; 3.VII, 3.IX; 16.XVI; 16.XVII) oder als notwendiges Übel mit Ausgestaltungsmöglichkeiten angesehen (8.III; 11.XIX). Charakteristisch für Interviewte, deren Handeln diesem Typus zugeordnet werden kann, ist, dass sie zur organisatorischen Rahmung in der Oberstufe differenziert Stellung nehmen, sodass von einer vertieften gedanklichen Auseinandersetzung und einer Problematisierung auszugehen ist (3.I; 3.IV; 3.IX; 3.XIII; 5.XII; 5.XX; 5.XXIV; 8.XII; 8.XXII; 11.XII, 11.XIII, 11.XVII; 11.XXXV; 16.XV; 16.XIII; 16.XVI; 16.XVII; 16.XXVII; 16.XXVIII). Dies führt nicht nur zu Ideen, wie die organisatorische Rahmung weiterentwickelt werden kann (3.XIII; 5.XXIV; 8.I; 11.XXXVI), sondern überdies dazu, dass man sich an der Weiterentwicklung auch selbst beteiligt (5.II; 8.V). Dies führt zu einem Zugehörigkeitsgefühl zur Schulorganisation (3.XV; 8.XIX) und zu einem Gefühl von Freiheit (8.XX). Dazu gehört auch, dass durchaus einzelne Vorschriften missachtet werden, allerdings nehme dies mit dem nahenden Abitur in der Oberstufe ab (11.XXXI; 16.XXI). Die Unterstützung durch Schulleitung, Fachgruppe, Kollegium und Eltern (6.V; 2.XX, 2.13; 5.XV; 11.III; 11.IV; 11.V; 16.III) sowie engagierte (und leistungsstarke) Schüler_innen als „Wahnsinnsansporn“ (2.IV, 2.30, 86; ähnlich: 5.XIV; 8.X; 11.V; 16.XII) führen zusammen mit einer guten Ausstattung (2.XII; 2.XVI; 11.VI) zu insgesamt sehr guten Arbeitsbedingungen. Dabei muss besonders viel Verständnis aufgebracht werden, wenn das Engagement fremde Schulen betrifft (6.V, 6.11, 36). Außerdem werden auch Schüler_innen vom Unterricht freigestellt, um selbst zu Lehrenden zu werden und auswärtige Kurse als Höhlenführer zu betreuen: „Das ist dann durchaus ein Gewinn, wenn ein Schüler anderen Schülern etwas sagt. Das ist gut“ (2.IX, 2.11, 37–38).

Die Kooperation mit Kolleg_innen wird als selbstverständlich und sehr fruchtbar angesehen:

„B1: […] Ja, und ich will echt mal sagen, richtig Erdkunde unterrichten habe ich gelernt, als ich jetzt fertig war. Vor allem finde ich, als du kamst, wo wir uns zusammen tun konnten, wo wir das zusammen aufbauen konnten. […]

B2: […] Und dann/also ich war auch total froh, dass wir das parallel machen konnten. […] Ja, und dann haben wir uns wirklich getroffen, und wirklich jede einzelne Reihe zusammengestrickt. Haben jetzt/also wir haben jetzt unseren dritten Q1-Durchgang, und haben im letzten Jahr uns auch nochmal getroffen, das überarbeitet, nachdem wir gesehen haben, okay, hier hakt es, das schaffen die nicht, […].“ (16.XIX, 16.5, 19–28)

„Und dann kam irgendwann, ja, jetzt kommt was Neues zum Thema Boden, was ja so doch für ganz viele dann immer so ein rotes Tuch ist, weil Boden ganz viele nicht so mögen und dann haben wir halt gesagt, ok, dann machen wir eben nicht nur Aktionstage für Schüler, auch für Schüler, aber auch für die Lehrer. […] Es war zwar wirklich viel Arbeit, gerade mit Exkursionen, […] aber das haben wir dann noch mit einer dritten Kollegin aus [Name eines Ortes] gemacht, die hat Diplomarbeit damals zum Thema Boden geschrieben und ist dann in den Schuldienst, von daher hat es sich angeboten. Die hat da mitgemacht und die kommt jetzt noch zu den Schüleraktionen bei mir zu mir dazu, also das ist so eine Kooperation, ihre Kollegin und Chefin ist auch damit einverstanden und beurlaubt sie dann, dass sie zu mir kommen kann an den Tagen, wenn Schulen kommen und dass wir dann so Bodenaktionen und sowas machen.“ (6.XVII, 6.5, 22)

Hinzu kommt die Verfügbarkeit umfassender externer Ressourcen wie Kooperationen mit außerschulischen Partner_innen (zum Beispiel: UNESCO 6.XVIII, 6.19; Stadt 6.XVIII, 6.24 und 2.XX, 2.14, 6–7; Landwirt 6.XVIII, 6.9; Geologe 2.XX, 2.14, 29; Landesmedienzentrum 2.XX, 2.14, 38) oder privaten Kontakten (Ehefrau 2.XX, 2.22).

Die diesem Gestaltungstypus zugeordneten Lehrer_innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich selbst nicht nur als Geographielehrer_innen, sondern auch (oder vor allem) als begeisterte Geograph_innen sehen (2.I; 5.VIII; 6.III; 11.X; 11.VII). Sie bezeichnen sich als neugierig, offen für Neuerungen und stets Lernende (3.III; 6.I; 6.III; 11.IX; 16.V), die sich ständig verbessern möchten:

„[…] und da habe ich auch wirklich den Anspruch an mich selbst, dass man da auch einen guten Unterricht macht. Wenn ich da gerade aus dem Kurs rausgehe und denke: Nicht gelaufen, das ärgert mich so sehr, dass ich mich direkt am Nachmittag da dran setze und dann die nächsten Stunden bis aufs kleinste Detail wirklich plane.“ (16.XXXI, 16.63, 79)

Es besteht die Bereitschaft, auch massiv persönliche Ressourcen, vor allem eigene Freizeit einzusetzen (2.XIX; 5.XVIII; 6.IV; 8.XVIII; 11.XVIII; 16.XXX). Im folgenden Beispiel wird dies deutlich:

„I: Und wie oft ist das so?

B: Ja, das ist viel zu häufig. Ja, also ich habe jetzt, in diesem Schuljahr haben wir eine Bodenaktion laufen gehabt, morgen ist die Karst-Aktion, dann hatte ich zwei Fortbildungen in der Exkursionsdidaktik, alles dieses Schuljahr, also ich, das ist bis jetzt gelaufen, ja, aber das Schuljahr ist noch nicht lang und da kann ja auch noch kommen.

I: Und das mit der Geo-Park-AG, da sind Sie...?

B: Ja, das sind immer die Samstage, das habe ich ganz vergessen zu sagen, die sind am Samstag. Selbstverständlich, denn wir haben nur am Samstag Zeit, die war auch schon zweimal jetzt, ja, ja. Und ich habe dann jetzt noch Ende November noch, nochmal und Anfang Dezember, das sind dann allerdings dann Höhlenführungen, die mache ich oder jemand von uns für die Stadt. Da meldet jemand bei der Stadt an, er möchte das endlich mal richtig geologisch erklärt haben, das kann man über die Homepage der Tropfsteinhöhle und das können halt wir Lehrer nur.“ (2.XXIII, 2.7, 56–59)

Die Lehrer_innen stehen an der Grenze zur Verausgabung (5.XXII; 11.XXXII), empfinden den Stress aber als überwiegend positiv und berichten von einer großen Arbeitszufriedenheit (6.XXI; 11.X; 16.XXV). Dies rührt auch von der positiven Resonanz her (2.V; 5.XXIII; 16.XXXI), welche die Handelnden stolz macht (2.XXIII; 2.XXIV; 16.XXX). Dies zeigt das folgende Beispiel:

„I: Wie kann ich mir das [Anm.: sogenannte „Aktionstage“] vorstellen?

B: Ja, also das ist jetzt am kommenden Donnerstag, das ist dann so, da kommen, da kommt das [Name einer Schule] Gymnasium von [Ort der Schule], man kann uns fragen, ob wir das machen, das kostet auch nichts. Ich schaue dann, ich koordiniere das Ganze. Ich schaue dann, dass da nicht so viel ausfällt. Mit anderen Worten, Sie ahnen es schon, das machen wir halt, weil es uns gefällt. Wir machen es praktisch in unserer unterrichtsfreien Zeit. Auf der anderen Seite ist es aber auch ein Gewinn, denn die Arbeitszufriedenheit steigt dadurch, ich war am Samstag, den letzten Samstag den ganzen Tag, den Vormittag war ich mit unserer Begabten-AG, wir haben auch eine Begabten-AG-Geo-Park laufen.

I: Ah ja, das habe ich auf der Homepage gesehen.

B: Sehr nachgefragt, sehr nachgefragt, da habe ich den ganzen Samstagvormittag im Steinbruch gestanden mit einem Geologen aus dem Geo-Park, da kommen die freiwillig, das gefällt denen. […] Das gefällt denen und Nachmittag war ich auch mit den Geologen in der Höhle und der Samstag war futsch, aber ich habe halt etwas gelernt. Und die Schüler bei uns, die wissen das schon. Ich habe jetzt auch, am Donnerstag gehen wir natürlich in die Tropfsteinhöhle. Die ist 600 Meter lang, also das ist schon was Imposantes. Neun meiner Schüler im Kurs von Elf sind Höhlenführer. Wir bilden auch Höhlenführer aus, das machen Herr [Name des Schulleiters] und ich. Wir bilden auch Erwachsene zum Höhenführer aus, wir haben genug Resonanz, also das wird nachgefragt […] Wir machen auch noch Lehrerfortbildungen.“ (2.I, 2.6, 25–32)

Negativer Stress entsteht dann, wenn ein Ressourceneinsatz keine positive Resonanz nach sich zieht (6.XXIII; 8.XIV).

Die große persönliche Erfahrung (2.II), die unabhängig vom Dienstalter ist, sowie die längere Tradition am Standort (2.II, 2.27, 20 und 43–44; 3.V; 6.II) und der hohe Organisationsgrad der Gestaltung (6.II) führen zu sowohl einer hohen Gestaltungsintensität als auch -frequenz. Trotz der Erfahrung werden von jüngeren Lehrenden beziehungsweise älteren (bezogen auf die Vergangenheit) Unsicherheiten geäußert, zum Beispiel bezüglich des Umfangs des eigenen Fachwissens (11.XIV), der Konzeption von unterrichtlichen Klausuren oder des Zentralabiturs (2.III, 2.37; 16.XXIX).

Da die Gestaltung dieses Typus weit über den eigenen Unterricht hinausgeht, soll er als „Das Gestalten gestalten“ bezeichnet werden.

Typus 5: Sich reiben

Grundsätzlich mangelt es bei diesem Typus nicht an Gestaltungsideen, als Anregung wird neben Fachliteratur zum Beispiel der Unterricht von Referendar_innen herangezogen (in Interview 9 u. a.: „zwei Hausarbeiten zu Mystery vergeben“, „Das [Anm.: Lernzirkel] habe ich jetzt auch bestellt als Hausarbeit.“, „Da gibt es, haben Referendare von mir auch schöne Sachen mir zusammengestellt.“ 9.XVII, 9.54). Es wird aber als unmöglich angesehen, dauerhaft und mit größerer Intensität zu gestalten:

„Also ich teste alles gerne mal aus. Also ich lasse mir, hole mir auch mal eine Anregung aus der Praxis Geographie viel. Wenn was Vernünftiges angeboten wird. Aber vieles von dem lässt sich ja auch nicht unbedingt umsetzen. Gerade die Zeitvorgaben sind illusorisch, fünf bis sechs Stunden für ein Thema. Keine Chance.“ (9.II, 9.49, 56)

Es wird eine über das Abitur hinausgehende Funktion des Geographieunterrichts für den Lebenslauf der Schüler_innen gesehen (mündlicher und schriftlicher Ausdruck 9.X, 19.13, 133; Referate 10.XI, 10.9; Tilgungsplan 12.XVII, 12.24, 132; Erörterung 12.XIX, 12.32, 214; raumbezogene Handlungskompetenz 19.II, 19.4, 26 und 30–35) und die Fokussierung auf Noten und deren zweifelhaftes Zustandekommen moniert (zum Beispiel 10.XI, 10.14; 12.XXII, 12.36; 12.II, 12.31). Andererseits hätten diese eine Disziplinierungsfunktion und gehörten zum System (10.IX, 10.16, 57–62), sodass sie als „notwenige[s] Übel“ angesehen werden (9.VI, 9.55, 64).

„Ich denke mal, wir werden um Prüfungen grundsätzlich nicht rumkommen. Weil Prüfungen einfach, wie gesagt, was ich vorhin gesagt habe, a) eine Rückmeldung sind und b) auch ein Mittel, die Schüler zum Lernen zu zwingen. […] Und man muss die Schüler irgendwie auch zu ihrem Glück zwingen, manchmal. Das kann ich über Noten machen.“ (9.X, 9.13, 133)

Kommt es zu besonderen gestalterischen Aktivitäten, sind diese nicht fest etabliert und verstetigt, sondern kommen in wechselnder Intensität und Frequenz vor. So wird beispielsweise im Interview 9 davon berichtet, Exkursionen spielten „am Rande, also an Wandertagen“ eine Rolle und seien auch nicht klausururrelevant, während man Experimente „jederzeit machen“ könne. In der Regel würden die Schüler_innen in der Oberstufe Inhalte anhand von Materialien erarbeiten und dann vorstellen (9.I, 9.48, 97). Es gebe keine „Showeffekte“ (9.I, 9.48, 97).

Typisch ist der Prozesscharakter der Handlungsstrategien. Auch wenn die Gestaltungsintensität und -frequenz variieren, haben die Handlungen dieses Typus eine Gemeinsamkeit: Charakteristisch ist ein Wechsel der Gestaltung, der wiederholt oder einmalig auftreten kann. Hier konnten in den Daten vier Varianten identifiziert werden.

  1. (1)

    Die erste Variante ist der Wechsel im Unterricht eines Kurses je nach Unterrichtenden sowie eine Unterscheidung zwischen normalem und besonderem Unterricht. So wird im Interview 9 davon berichtet, dass Referendar_innen im eigenen, sonst vor allem inhaltsorientiert, frontal ausgerichteten Unterricht unter der eigenen Anleitung kompetenzorientiert und mit wechselnden Methoden und Sozialformen unterrichten (9.I). Im Interview 19 wird von Externen gesprochen (Vertreter_innen einer Fairtrade-Organisation), die einen handlungsorientierten Unterricht mit außerschulischem Lernen durchgeführt hätten (19.II).

  2. (2)

    Eine zweite Möglichkeit ist die unterschiedliche Vorgehensweise im Unterricht der Oberstufe angesichts des Zentralabiturs. Im Interview 10 wird die eigene Rolle in der Oberstufe – im Gegensatz zur Unter- und Mittelstufe – als Wissensvermittler charakterisiert:

    „[…] Also ich muss zugeben, dass ich das von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe unterschiedlich angehe, was jetzt so die Sozialformen anbelangt. Ich gebe zu, dass ich in der Oberstufe sehr viel lehrerzentrierter auch unterrichte und sehr viel frontal. Zumindest bei den Sachen, wo ich sage, die sind für das Abitur wichtig und da lege ich auch Wert drauf, dass die vom Inhaltlichen her hundert Prozent stimmen müssen. Ich meine, wenn das jetzt so Themen sind, die jetzt nicht als Grundwissen definiert sind oder so Diskussionsthemen, dann schon sehr offene Arbeitsformen und Gruppenarbeitsformen.

    In der 10. Klasse, die ich jetzt auch wieder habe, ist es halt so, dass ich mir suche, was brauche ich für die Oberstufe als Grundwissen, was kommt da wieder definitiv dran für das Abitur, da muss ich zugeben, bin ich doch derjenige, der das dann gerne sehr lehrerzentriert macht.“ (10.XII, 10.5, 25–26)

  3. (3)

    Ähnlich ist eine dritte Variante, bei der an einer freien Schule nach dem Erreichen des alternativen Abschlusses in einem Vorbereitungsjahr auf das Zentralabitur hingearbeitet wird, der Wechsel also schulorganisatorisch vorgesehen ist. Zuvor sei man als Lehrer_in völlig frei: es gebe keinen verbindlichen Lehrplan, keine Noten, keine Pflicht zur Leistungserfassung, keine Respizienz, kein Geographieschulbuch (12.IV). Folge sei eine große Verantwortung, diese Freiheiten auszugestalten (12.I; 12.IV; 12.XIV), insbesondere da es das Ziel von Schule sei, dass die Schüler_innen sich als Individuen entfalten könnten (12.V, 12.37, 234) und sich später als Einzelne „in Höhe [ihrer] Fähigkeiten“ in die Gesellschaft einbrächten (12.III, 12.42, 51–56). In der Jahrgangsstufe 13 ändere sich dann alles: Es sei „extrem“, die Schüler_innen hätten „über 40 h pro Woche“ und „da fragt man sich auch, wie halten die das dann aus“ (12.XXI, 12.27, 161–165). Es gebe einen „völlig andere[n] Unterricht“ (12.XX, 12.26, 152): „vom rein Pädagogischen her ist es eigentlich quasi das Gegenbild von dem, was wir [Anm.: vorher] machen, weil das ist ja nur 40 h Intellektualität sozusagen und die Schüler können ja einem fast leid tun“ (12.III, 12.33, 220).

  4. (4)

    Zuletzt gibt es als eine Variante den kompletten Bruch mit den eigenen Handlungsstrategien und einen zunächst auf Dauer angelegten Wechsel der Gestaltung hin zu einer starken Ausrichtung auf Leistungserfassung nach einem Misserfolgserlebnis im Zentralabitur (19.VII).

Gestaltung dieses Typus üben solche Geographielehrer_innen aus, die sich intensiv mit organisatorischen Rahmung auseinandersetzen (9.II; 9.VII; 10.II; 10.X; 10.IX; 10.XVIII; 10.XIX; 12.II; 12.IV; 12.VII; 12.XXI; 12.XXII; 12.XXIII; 19.XXI bis 19.XXXVIII). Neben dieser Reflexion („ich frage mich halt, oft stellt man sich halt auch Fragen, also man stellt sich eigentlich viel mehr Fragen und gibt sich nicht mit Antworten zufrieden“ 12.I, 12.9, 36) ist für diesen Typus auch eine (Selbst-)Reflexion charakteristisch: er sei derzeit „im Prozess der Reflexion“ und es sei möglich, dass er in einigen Jahren eine andere Sicht auf die Dinge und das eigene Handeln habe, berichtet Fall 19 (19.VIII, 19.48, 80). Diese Unstetigkeit der Gestaltung beschäftigt die betroffenen Lehrenden:

„[…] Ja, also ich mische auch in der Oberstufe, so ist es jetzt nicht, dass ich jetzt da rein lehrerzentrierten Unterricht mache. […] Aber ja, ich denke, wenn ich das Abitur nicht hätte, würde ich mehr offen arbeiten, offene Arbeitsformen, ja. Weil ich mich selber nicht unter den Druck setzte, dass ich sage, mein Abiturergebnis muss stimmen, das ist ja das, was bei uns, also mit dieser Qualitätsoptimierung, es wird schon auf die Abiturschnitte geguckt.“ (10.XXXI, 10.43, 40–43)

Im konkreten Umgang mit der organisatorischen Rahmung schwankt dieser Typus zwischen Einhalten und sogar Durchsetzen sowie Anzweifeln und womöglich Widersetzen. Besonders deutlich wird dies im Fall 9, wo die organisatorische Rahmung zugleich erstens beachtet wird (9.X) und zweitens das eigene Handeln daran ausgerichtet wird (9.XIII), drittens kontrolliert wird, ob andere sich konform verhalten (9.XI), viertens die Rahmung im Rahmen des eigenen Einflusses auch mitgestaltet wird (9.XII) und fünftens auch einzelne Richtlinien aus Zeitnot missachtet werden (9.XIV). Letzteres ist das Ergebnis von Dilemmasituationen, die sich aus der (zu) großen Stofffülle im Lehrplan und deren Bewältigung sowie anderen, obligatorischen, ebenfalls zeitintensiven Maßgaben ergeben. Dieser Geographielehrer, der Fachschaftsleiter an der eigenen Schule und darüber hinaus Seminarleiter ist, berichtet, dass man eine im Lehrplan verbindlich für die Oberstufe vorgesehene Exkursion nicht durchführe, weil man dies in der Zwölf nicht „schafft […], keine Chance“ (9.XIV, 9.10, 37–40). Die „Stofffülle“ sei zu groß, es falle ohnehin zu viel Geographieunterricht wegen Klausuren in anderen Fächern aus (9.XIV, 9.10, 37–40). Auch verzichte man auf obligatorische Referate:

„Auch in der zwölf, elf, da steht eigentlich drin, dass man, dass Schülerreferate gehalten werden sollen. Kann ich nicht, ich habe das einmal gesehen bei jemanden, bei meinem Kollegen. Die Schüler stellen sich dahin, wochenlang, halten Referate. Die sind von der Qualität her mittelmäßig bis schlecht, der Lehrer müsste eigentlich alles nochmal aufbereiten, kann das aber nicht. Das heißt, dass, was die Leute schriftlich machen, bleibt stehen, dass ein Quatsch da gesagt wurde. Und dann im Abitur schreiben sie dann diesen Quatsch hin. Und, nee. Also wir haben einfach die Zeit nicht.“ (9.XIV, 9.31, 125)

Dem Gestaltungstyp fünf wurden die Handlungen solcher Lehrenden zugeordnet, die (intrinsisch oder extrinsisch) motiviert, aber unsicher sind. Motivierend ist das eigene Verantwortungsgefühl (9.IV; 9.V; 12.I), aber auch Druck von außen. Dieser kann beispielsweise im Rahmen von Verpflichtungen bei der Ausbildung von Referendar_innen (9.XV, 9.6, 30; 9.II, 9.50, 37), durch Fragen der Rechtssicherheit des eigenen Handelns (10.I), durch Erfolgsdruck durch Vergleich von Notendurchschnitten (10.XVIII) oder durch die Zweitkorrektur im Zentralabitur (19.V) entstehen.

Bei der Gestaltung des fünften Typus wird neben dem Zurückgreifen auf Frontalunterricht (10.IV, 10.41; 12.XIV, 12.49; 19.XVII, 19.61) der Ergebnissicherung als Maßnahme der Absicherung anhand einer durch die Lehrkraft vorbereiteten Musterlösung eine große Bedeutung beigemessen. Die Ergebnisse müssten „schon irgendwie fixiert worden sein im Heft“ und es müsse „klar sein, was sie zu lernen haben“ (9.I, 9.48, 97). Dies sei insbesondere dann wichtig, wenn die Schüler_innen selbst etwas erarbeiteten, da die Ergebnisse dann „nicht einheitlich und nicht standardisiert“ seien; dies müsste dann die Lehrkraft gewährleisten: „Was ich ins Heft schreibe und ins Heft diktiere oder anschreibe, das kann ich auch dann abfragen.“ (10.III, 10.7, 28; außerdem: 9.I, 9.48, 95; 19.XVI, 19.60, 88–90). Damit verbunden ist das Verständnis der/des Lehrenden als Expert_in und Wissensvermittler_in: „Also ich selber bin doch hoffentlich Fachmann genug, dass das, was ich darstelle, richtig ist, sonst kann ich es gleich bleiben lassen. Und dann tragen die das in ihr Epochenheft“ (12.XVIII, 12.16, 64; außerdem: 10.XII).

Da sich dieser Typus durch seinen Prozesscharakter und seine Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten auszeichnet, soll er als Typus „Sich reiben“ bezeichnet werden.

Die charakterisierten Typen finden sich in der Typologie wie in Tabelle 4.18 dargestellt wieder.

Tabelle 4.18 Identifizierte Typen der aktualen Gestaltung. (Quelle: Eigene Abbildung)

4.2.2.3 Einordnung der analysierten Phänomene in die Idealtypologie

Die in Abschnitt 4.2.1 vorgestellte Analyse nach Themen konnte weitreichende und vielfältige Steuerungseffekte des Zentralabiturs nachweisen. Teaching-to-the-Test-Strategien werden dabei in allen untersuchten Fällen genannt. Die im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Typologie basiert auf Mustern, die im Datensatz aufgedeckt werden konnten. Unterschiede der Dimensionen von Gestaltung und die zugrunde liegenden Zusammenhänge konnten abgegrenzt werden. Dieser Typologie liegen paradigmatische Modelle – im Folgenden Phänomenanalysen genannt – zugrunde. Sie wurden auf der Basis der einzelnen Fälle erstellt und zeigen die Beziehungen der induktiv gebildeten Kategorien auf. So treten eine jeweils einzigartige Zusammenhangsstruktur zwischen ursächlichen Bedingungen, dem identifizierten Phänomen und dessen Kontext, daraus abgeleitete Handlungs- und interaktionale Strategien und darauf wirkende hemmende oder fördernde intervenierende Bedingungen sowie sich aus dem Handeln ergebende Konsequenzen zu Tage. Die Phänomenanalysen zeigen die gesamte Komplexität jedes einzelnen Falls auf, können aber dennoch eindeutig den gebildeten Typen zugeordnet werden (Tabelle 4.19). Um zum Schluss der Ergebnisdarstellung bis auf die individuelle Ebene herunter zu gelangen, werden im Folgenden fünf Phänomenanalysen vorgestellt, die einerseits als prototypische Fälle die zuvor vorgestellten Typen weiter charakterisieren, andererseits aber deutlich machen, dass die Komplexität auf Einzelfallebene über die Verallgemeinerungen einer Typologie weit hinaus reicht. Alle weiteren Phänomenanalysen sind im Anhang im elektronischen Zusatzmaterial zu finden.

Tabelle 4.19 Einordnung der Phänomenanalysen in die Typologie der aktualen Gestaltung. (Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 14 „Anpassung und Resignation“ als Beispiel für Typus 1 „Gestaltungsarme Routine“

Der Geographielehrer im 14. Interview (s. Abbildung 4.4) unterrichtet nach fünf Jahren Tätigkeit im Land Brandenburg seit 2000 an einer Gesamtschule in Hessen. Das Fach heiße hier „total altmodisch“, „wie vor hundert Jahren“ Erdkunde (14.VIII, 14.31, 38). Es habe einen sehr schlechten Stand (14.II), es sei „das Allerletzte“ (14.II, 14.7, 29). Außerdem habe es an seiner Schule eine „unglaublich geringe Bedeutung“ (14.III, 14.10, 139). Bei der Stundentafel würden alle Gesellschaftswissenschaften bevorzugt (14.III, 14.8, 35–47) und es liege nicht am Interesse der Schüler_innen und deren Wahlverhalten, welche Leistungskurse eingerichtet würden, sondern dies stehe in „langer Tradition seit 20, 25, 30 Jahren“ fest (14.III, 14.10, 50–61). Geographie sei nicht dabei. Er selbst sei sogar Fachbereichsleiter, unterrichte jedoch kaum Geographie, in der Oberstufe nahezu nie (14.I). Die durch die Politik veranlassten organisatorischen Rahmenbedingungen verursachten Probleme (14.V). Die schlechtere Bezahlung der Lehrkräfte im Vergleich zu anderen Bundesländern wird als negative Resonanz wahrgenommen (14.V). In Folge dieser ursächlichen Bedingungen kommt es im Fall 14 zum Phänomen der Anpassung und Resignation: „Und dann wurde mir das klar, dass man hier ganz gemächlich auch ruhige Kugel schieben kann und muss, im Endeffekt muss man sich anpassen“ (14.VII, 14.27, 119–122).

Der Kontext ist hier von Vergleichen geprägt, die immer wieder zwischen der vormaligen Situation im Land Brandenburg und der jetzigen Situation in Hessen gezogen werden (14.IX). Darüber hinaus werden Vergleiche zu anderen Bundesländern gezogen (14.VIII). Hessen kommt jeweils schlecht weg, ein Beispiel: „Und ich hatte mal Mathematik und Geographie studiert und wollte da auch gerne Lehrer werden für Sekundarstufe I und II. Und in meiner ehemaligen Schule im Land Brandenburg gab es das wie gesagt Grundkurs, Leistungskurs – massig. Hier nicht.“ (14.IX, 14.30, 10).

Als intervenierende Bedingungen, die sich unmittelbar auf das eigene Handeln auswirken, wird eine zu große Stofffülle im Lehrplan (14.XI) sowie einen auf der geringen Stundenzahl basierenden Mangel an Gelegenheiten, den Schüler_innen etwas beizubringen (14.X), angeführt. Konkret gibt es dann neben den fallübergreifend bedeutsamen Teaching-to-the-Test-Effekten (hier: 14.XV) das Vermitteln wichtigen Basiswissens für das Leben als Haupthandlungsstrategie (14.XIII). Dennoch sei es letztendlich so, dass die Schüler_innen in dem wenigen Geographieunterricht zu wenig lernten:

„Das hat hier unglaublich geringe Bedeutung. Und Auswirkung wird es schon haben. Die Leute kennen sich nicht gut aus mit Sachen, die eigentlich wichtig sind, ja. Weil die in Geschichte oder so, die können ja nicht so komplexe Sachen/Wenn man so eine Raumanalyse macht, muss man ja viele Sachen gleichzeitig verarbeiten. Das fehlt dann irgendwie. Das ist schade.

Aber dann müsste man an die Landesregierung dran sozusagen. Bildungsministerium. Die müssten das anders basteln.“ (14.XVI, 14.23, 139–140)

Abbildung 4.4
figure 4

(Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 14: Anpassung und Resignation.

Phänomenanalyse 15 „Der Rhythmus der Veränderungen ist zu schnell“ als Beispiel für Typus 2 „Sich arrangieren“

Im Fall 15 werden die organisatorischen Rahmenbedingungen (hier: in Niedersachsen) als Ergebnisse von Top-down-Prozessen wahrgenommen (15.I). Besonders an diesem Fall ist, dass vor allem auf die Änderungen in den Vorschriften (Lehrplan, Schulbücher, Leistungserfassung, Abitur 15.II bis 15.V) und zusätzlich der Wandel durch die Digitalisierung (15.VI) sowie die wachsende Zahl an Verlagsangeboten (15.VII) abgestellt wird. Häufige Neuerungen werden thematisiert („Eine Zeit lang war es mal so […]. Das ist jetzt auch schon wieder abgeschafft.“ 15.VIII, 15.3, 30; „Der Rhythmus ist zu schnell.“ 15.VIII, 15.40 226; „Das ist, glaube ich, das vierte oder fünfte Curriculum, das ich habe, bestimmt das fünfte Buch […].“ 15.VIII, 15.35. 220). Dadurch entstehe ein Anpassungsdruck:

„Also das Zentralabi ist die Orientierung. Da wollen wir hin oder müssen wir hin in der gerade gültigen Reform, Reformnummer weiß ich nicht wie viel. Da müssen wir hin. […] Durch diese mehreren Neujustierungen des Zentralabis muss ich dann immer wieder meinen Stil anpassen […]. […] Und da gibt es schon wieder Unruhe. Wir kriegen schon wieder ein neues Curriculum. Da frag ich mich, warum muss das sein? Was nützt denn das? Also insofern sind diese zentralen Vorgaben, die ja von außen kommen, haben die schon durchschlagende Wirkung für den Unterricht.“ (15.VIII, 15.35, 210–112)

Dieses Phänomen der Wahrnehmung von zu schnellem Wandel des organisatorischen Rahmens entsteht im Kontext des ständigen Vergleichens verschiedener Zeitpunkte sowie die negative Beurteilung von Veränderungen (15.IX).

Eine Fülle an ungünstigen Bedingungen von einer fehlenden Unterstützung durch die Schulleitung (15.XVI) bis zu einer variierenden Resonanz seitens der Schüler_innen und der Unplanbarkeit von Unterricht (15.XIII) hemmen die gestalterischen Aktivitäten (s. Abbildung 4.5). Demgemäß haben gestalterische Aktivitäten eine geringe Intensität. Die Planung des Schuljahres geschieht mithilfe von Themenplanung entlang des Klausurenterminplans (15.XXIV). Unterrichtsvorschläge werden nicht aus Schulbüchern übernommen, sondern ergänzt und modifiziert (15.XXVI). Als „sehr elegante Methode“ wird das Recherchieren von Video-Kurzbeiträgen im Internet zu obligatorischen Abiturthemen, die dann im Unterricht diskutiert werden, vorgestellt (15.XXV, 15.71, 113). Exkursionen würden nur gelegentlich durchgeführt (15.XXVIII).

Neben den fallübergreifend vorherrschenden Teaching-to-the-Test-Strategien (15.XXX, 15.XXXI) wird auf den durch das Zentralabitur ausgeübten Druck mit zwei Handlungsstrategien reagiert: zum einen erfolgt zusammen mit einer Solidarisierung mit den Schüler_innen eine Übertragung der Verantwortung für den Erfolg im Zentralabitur auf die Schüler_innen (15.XXXV) und es wird den Schüler_innen vom schriftlichen Abitur im Fach Geographie abgeraten (15.XXXIV).

Konsequenzen, die sich aus den Handlungsstrategien ergeben, sind Gefühle von Belastung, Hektik, Unruhe und Stress (15.XXXVI), der Häme (15.XXXVII) und der Unsicherheit (15.XXXVIII). Darüber hinaus erwächst der Wunsch nach mehr inhaltlichen Freiheiten durch eine Verstetigung und Reduktion des Abiturpflichtstoffs (15.XXXIX).

Abbildung 4.5
figure 5

(Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 15: „Der Rhythmus der Veränderungen ist zu schnell“.

Phänomenanalyse 1 „Nischen besetzen“ als Beispiel für Typus 3 „Festtage gestalten“

Im Doppelinterview 1 (s. Abbildung 4.6) mit einer Geographielehrerin und einem Geographielehrer an einem Gymnasium in Bayern werden als ursächliche Bedingungen Zeitdruck im Unterricht der Oberstufe angesichts des Zentralabiturs (1.I), der nicht viel Spielraum biete, und schulorganisatorische Bedingungen (1.VII) auf der einen und Erfahrung und Kontinuität (1.II) sowie eine große Begeisterung für das Fach Geographie (1.III), die sich in zahlreichen, ausführlichen fachlichen Einlassungen im Rahmen des Interviews zeigen, auf der anderen Seite angeführt. Diese bedingen, dass die Gestaltung selten, aber dafür umso intensiver ausfällt. Konkret werden Exkursionen in den fünften und achten Klassen sowie in der Oberstufe durchgeführt (1.IV). Dabei wird eine Nische, die die organisatorische Rahmung lässt, genutzt: Exkursionen lassen sich mit alltäglichem, wissensorientiertem Unterricht mit Teaching-to-the-Test-Elementen, der versucht, mit dem durch die Stofffülle bedingten Zeitdruck umzugehen, vereinbaren (1.IX; 1.XIII; 1.XI, 1.XII). Außerdem werden Subnischen genutzt: zwei Projektwochen vor den Sommerferien in der Jahrgangsstufe 8, ein W-Seminar in der Oberstufe, Mehrtagesexkursion „Mittwoch bis Freitag […], weil dann Freitagnachmittag eh kein Unterricht ist und dann können wir auch Freitag auch später zurückkommen“ (1.IV, 1.31, 11–29). Es wird das Potential von Anschauungsunterricht im Gelände betont (1.IV, 1.34). Die Exkursionen sind strukturell eingebunden (1.V), die Gestaltung ist vielfältig (sowohl zu Fuß als auch mit dem Fahrrad; Bauernhof-, Stadt-, Wald-, Weinbau-, Moränen-, Wasserstraßen-, Gletscherexkursion) und persistent („immer“, „eigentlich immer“, „Das machen wir immer so.“ 1.IV, 1.31, 23). Am Beispiel der Gletscherexkursion:

„B2: […]was haben wir Besonderes, was so beständig ist? […] Und da pflege ich den Fortbestand unserer Gletscherexkursion. […] Also, ich bin bei der ersten Gletscherexkursion reingerutscht. […] Und seitdem habe ich keine verpasst, egal ob ich jetzt einen Kurs hatte in Q11 oder nicht. […] ich weiß jetzt gar nicht, ob wir sechs- oder sieben- oder achtmal schon da waren, […].“ (1.IV, 1.31, 12–14)

Als förderlich wird die angenehme Schülerschaft sowie die angenehme, sich entwickelnde Situation an der Schule (1.VIII) angesehen („Vorreiter […] auf bestimmten Gebieten. Und auch einen deutschen Schulpreis bekommen hat“ 1.VIII, 1.3, 8). Außerdem sei das Zentralabitur wegen der Materialbasis fair (1.VI).

Als Konsequenzen aus dem eigenen Handeln werden einerseits die Exkursionen als Bereicherung für sowohl Lehrkräfte als auch Lernende gesehen (1.XIV). Die wahrgenommene Resonanz als gemeinsames Erleben und Begeistern spiegelt sich im folgenden Zitat wieder:

„B2: […] Und von vor zwei Jahren, bei mir hängt noch drüben das Bild an der Pinnwand da, wo wir am Gletscher, am Gipfelkreuz ein Foto gemacht haben. Das ragt da drei, vier Meter hoch raus. Also das sind schon Erlebnisse, wo die auch was wissen wollen. Nicht im Unterricht so auf Aufnahme nur sind, sondern da wirklich auch geben, was senden, ne, Signale.“ (1.XIV, 1.28, 170)

Andererseits gilt das Zentralabitur als unbeliebt (1.XVI), die Lehrenden werden angesichts des Abiturs zu strategischen Beratern, welche Prüfungsform für wen geeignet ist (1.XVII). Schließlich bleiben Probleme, die sich im Rahmen von Selektion ergeben, die nicht gänzlich zu lösen sind (1.XVIII).

Abbildung 4.6
figure 6

(Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 1: Nischen besetzen.

Phänomenanalyse 11: „Geography is everywhere“ als Beispiel für Typus 4 „Das Gestalten gestalten“

Die Geographielehrerin im Interview elf hat eine kreative, experimentelle Grundhaltung (11.I). Zwei typische Aussagen sind: „Aber wenn ich irgendwas Neues sehe, wenn ich auf Fortbildung irgendwas Neues höre, probiere ich das eigentlich immer gleich aus.“ (11.I, 11.12, 78) und „Genauso wie man im Unterricht ja alle sieben Minuten eigentlich was anderes machen soll, schaue ich auch, dass ich in jeder Stunde so ein bisschen was anderes habe […]“ (11.I, 11.12, 190). Diese Grundhaltung trifft auf förderliche Rahmenbedingungen: sie arbeitet an ihrer Wunschschule, die Schulleitung gewährt Freiräume, das Kollegium ist jung und es herrscht eine gute Stimmung, man tauscht sich aus, die Eltern- und die Schülerschaft ist angenehm und die Ausstattung ist gut und außerdem wurden kürzlich neue Lehrmittel wie eine Wetterstation, ein Tellurium, ein Sandkasten angeschafft (11.II bis 11.VI). Diese Ursachen führen zum Phänomen, dass die eigene Begeisterung für das Fach (und den Geographieunterricht) geteilt wird:

„Ja, es ist an sich ein cooles Fach, also ich finde es total spannend und wenn ich Zeitung lese, den Spiegel lese, den habe ich abonniert, ich finde mindestens immer drei Artikel, ‚das muss ich der Klasse kopieren‘ und ‚das wollte ich der Klasse erzählen‘ und jetzt wieder das mit der Sonde, die auf dem Kometen landet. ‚Und das muss ich meiner Fünften zeigen.‘ Dann suche ich ein YouTube-Video. Was ich natürlich eigentlich nicht darf. Ich sehe ständig überall was, was mit dem Unterricht auch zu tun hat. Manchmal nervt das auch. Ich will einfach nur den Spiegel lesen und sofort denke ich: Wie kann ich das jetzt einbauen? Ich will einfach nur lesen, für mich, und nicht, um wieder zu sehen, wie, was hat das gerade mit meinem Unterricht zu tun. Das nervt manchmal tierisch. Aber andererseits ist es auch cool, weil es zeigt, wie wichtig das Fach eigentlich ist.“ (11.VII, 11.53, 230)

„Und dann sage ich immer, ich steige dann immer ein mit diesem Bild: Geography is everywhere. Oder: Everything has to do with Geography. Irgendwie gibt es da so einen Spruch von so einem US-Politiker. Und es ist ja tatsächlich so. Egal was wir uns anschauen, es hat alles damit zu tun.“ (11.VII, 11.14, 82)

„Und ich habe in Südamerika wirklich an vielen Stellen Fotos gemacht und habe dann in der allerersten Stunde nach den Ferien gesagt: Ja, ihr seid ja bestimmt auch noch in Ferienstimmung, so wie ich, ich zeige euch jetzt ein paar Fotos von meiner Südamerikareise und wir versuchen, daran nochmal das letzte Jahr zu rekonstruieren. Und dann zeige ich erst einmal die Flugstrecke. Ja, hier hatte ich Rückenwind. Warum? […]“ (11.VII, 11.13, 82)

Den Kontext bilden hier das Verständnis der eigenen Rolle als das einer Lernbegleiterin (11.VII), Reflektion des eigenen Handelns und Selbstreflexion (11.IX, 11.54), Spaß an Unterricht und Leistungserfassung (11.X) sowie die Inspiration aus vielfältigen Quellen wie Arbeit mit Referendar_innen, Fortbildungen, Medien (11.XI).

Auch wenn die konkret auf das eigene Handeln einwirkenden intervenierenden Bedingungen wie Vorschriften (11.XII), Organisationsprobleme auf Schulebene (11.XIII) und insbesondere die große Stofffülle in der Oberstufe (11.XV) einen hemmenden Charakter haben, wird deutlich, dass in einer großen Vielfalt, Intensität und Frequenz Unterricht gestaltet wird. Dafür wird viel Zeit (frühmorgens, freitagnachmittags, samstags, in den Ferien) und eigenes Geld eingesetzt (11.XVIII). Als Medien, die zum Einsatz kommen, werden unter anderem PowerPoint, Filme, GIS, Animationen, Satellitenfilme genannt (11.I, 11.12, 212 und 11.VII, 11.14, 84), als Methoden werden Mystery, Karten im Kopf, lebendige Diagramme und Experimente erläutert (11.XX, 11.11, 54–77). Hinzu kommen Exkursionen und außerschulische Projekte (11.III, 11.6, 14), zum Beispiel „Model United Nations“ mit Auslandsfahrten (11.X, 11.61, 30–36). Es wird Wert auf die Selbsttätigkeit der Lernenden gelegt (11.XX), offene, problemorientierte Lernaufgaben werden eingesetzt, das Interesse der Schüler_innen wird berücksichtigt (11.XXII). Dabei wird betont, dass als Lebenslauforientierung nur eine Kompetenzorientierung Sinn mache, da Wissen flüchtig sei:

„Aber es gibt viele so von der alten Schule, die sagen, ja, sie legen da Wert drauf, mögliches Wissen zu vermitteln, auch viel Wissen zu vermitteln und auch in die Tiefe zu gehen. Aber wenn ich mich selbst erinnere, ich weiß fast nichts mehr von der Schule. Ich weiß natürlich vieles unbewusst aus der Schule, aber ich kann mich an keine einzige Stunde erinnern, oder? Und deswegen glaube ich, geht es nicht um die Inhalte, sondern um das bringt mir das was für später? Wie komme ich später damit im Leben zurecht? Und dann denke ich an die Geographie. Wenn sie wissen, sie haben einen Atlas und bevor sie in Urlaub fahren, gucken sie mal nach, was es da für eine Vegetation, wer der Kolonialherr war, oder was auch immer, habe ich mein Ziel erreicht. Und das ist für mich so Kompetenzorientierung.“ (11.XXI, 11.57, 92)

Ergänzend wird – gleichsam als Strategie der Kompensation – der frontale Vortrag anhand eines Skripts eingesetzt (zuzüglich „ein paar Filme, ein paar nette Bilder, […] Atlas“ 11.XXIII, 11.55, 206), um den Pflichtstoff bewältigen zu können („Das muss man am Ende einfach oft machen, weil man zeitlich nicht hinkommt.“ 11.XXIII, 11.55, 206). Hinzu kommen neben den typübergreifend vorherrschenden Teaching-to-the-Test-Strategien (11.XXVI) zahlreiche weitere Handlungsstrategien (s. Abbildung 4.7). Die Lehrerin ist Fachbetreuerin an ihrer Schule, bildet Referendar_innen aus und betreut auch Student_innen, die sie zum „ausprobieren“ anhält (11.XXIX, 11.40, 176–180 und 11.XI, 11.60, 77–78). Dass die Lehrer_in in geringerem Umfang als andere Fälle vom Typus 4 über den eigenen Unterricht hinaus gestaltet, liegt vermutlich an ihrem jungen Dienstalter. Es wird im Interview deutlich, dass sie Zukunftspläne hat: „Ich lerne jetzt auch noch DaF nebenbei, weil ich ja vielleicht mal in das Ausland gehen will. […] Ach ja, stimmt, man sollte immer Ziele haben. Was ist eigentlich mein Ziel an dieser Schule“ (11.IX, 11.54, 238).

Konsequenzen aus den eigenen Handlungsstrategien seien Stress durch den Anspruch, ständig eine hohe Qualität zu liefern (11.XXXII), aber auch motivierte Schüler_innen (11.XXXIII). Schüler_innen bevorzugten Geographie als mündliches Prüfungsfach im Abitur (11.XXXIV), das Zentralabitur decke das Leistungsspektrum nicht gut ab (11.XXXV). Die Lehrerin wünscht sich, dass im Zentralabitur mehr Kausalzusammenhänge abgeprüft werden (11.XXXVI).

Abbildung 4.7
figure 7

(Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 11: „Geography is everywhere“.

Phänomenanalyse 19 „Umbruch im Handeln nach Ersterfahrung mit einem Leistungskurs im Zentralabitur“ als Beispiel für Typus 5 „Sich reiben“

Der Geographielehrer im Interview 19 (s. Abbildung 4.8) unterrichtet an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Er hat sein Referendariat an der Schule gemacht, an der er zum Zeitpunkt des Interviews seit vier Jahren arbeitet. Er unterrichtet schwerpunktmäßig Geographie, auch bilingual (19.I). Grundsätzlich sieht er eine über das Abitur hinausgehende Funktion des Geographieunterrichts:

„Ja, dass Geographie zum einen zentrale Probleme unserer Welt aufgreift […] und es schafft, Schüler zumindest dahingehend zu motivieren, diese Probleme zu erkennen, sich damit auseinanderzusetzen und im Idealfall, das geht bei den wenigsten Dingen ganz konkret zu handeln, oder zumindest Handlungsoptionen aufzuzeigen und dass, oder was ich an dem Fach mag, […] dass es aktuelle Probleme sind. Also ich finde es spannend einfach, dass man mit den verschiedenen Herangehensweisen der Geographie viele Probleme der Welt, also in jedem kann man, wenn man will, einen geographischen Aspekt entdecken, sei es im Tourismus oder wo auch immer. Und das finde ich eigentlich das Spannende an dem Fach, dass es in vielen Fällen schülermotivierend ist, […].“ (19.II, 19.4, 26)

Seine Handlungsstrategie war es, Freiräume im Lehrplan dahingehend zu nutzen, eigene thematische Schwerpunkte zu setzen und Kompetenzen zu fördern (19.IV, 19.58, 78). Dieses erste Bündel an ursächlichen Bedingungen bedingte den Unterricht seines ersten Leistungskurses. Als zweites Bündel an ursächlichen Bedingungen kam dann aber ein negatives Feedback bei der Korrektur der geschriebenen Zentralabiturklausuren durch den internen, mit ihm befreundeten Zweitkorrektor, der auch Fachleiter ist, gesehen werden: die Bewertungen lagen „schon sehr weit auseinander“ (19.VI, 19.59, 78).

Dieses Erlebnis führte zu einem Umdenken und einem Umbruch im Handeln (19.VII). Er hinterfragte die Unterscheidung von Grund- und Leistungskurs, sein Aufgabenverständnis, sein Vorgehen bei der Klausurkorrektur, sein Verhältnis zu den Schüler_innen, seinen Unterricht (19.VII, 19.22, 77–94).

„I: Aber du hast dir doch vorher sicher auch Mühe gegeben. Was, ja /

B: Natürlich habe ich mir /. Ja. Vielleicht bewerte ich das, was ich jetzt gerade sage, in fünf Jahren auch total anders, wenn ich vier neue Erfahrungen, oder zwei neue Erfahrungen gemacht habe, aber, ja, ich bin noch ein bisschen im Prozess der Reflektion, wie du vielleicht auch merkst. Vielleicht hätte ein anderer Kollege das Ganze ganz anders in der Zweitkorrektur extern bewertet und ich hätte mir nie diese Fragen gestellt und, ja. Aber das ist immer so ein bisschen die Frage, also wie viel Freiraum habe ich eigentlich noch als Lehrer, wie starr ist dieses System, wie wohlwollend kann ich überhaupt noch korrigieren.“ (19.VIII, 19.48, 79–80)

Das Phänomen des Umbruchs zeigt sich in geänderten Handlungsstrategien: nun mehr zentrale Ergebnissicherungen (19.XVI), nun mehr Frontalunterricht (19.XVII), nun mehr Teaching-to-the-Test (19.XVIII) auch mittels modifizierter alter Zentralabiturklausuren als unterrichtliche Klausuren (19.XIX), nun mehr Zeit für eine intensivere Klausurkorrektur (19.XX), nun soziale Bezugsnorm bei der Klausurkorrektur (19.XXI). Er achtet nun verstärkt darauf, sich an Vorgaben zu halten (19.XXVI). Außerdem hat er sich an einem Testlauf von Zentralabiturklausuren im Vorlauf der Prüfungen für die Aufgabenkommission beteiligt (19.XXVII).

Intervenierende Bedingungen, die auf die Handlungsstrategien einwirken, sind unter anderem Feedback von Schüler_innen (19.X), Fragen der Rechtssicherheit des eigenen Handelns (19.XII) und die neue Rolle als Fachvorsitzender für das Fach Geographie an der Schule (19.XIV).

Die meisten im Rahmen der Phänomenanalyse identifizierten Konsequenzen lassen sich unter der Überschrift des fünften Typus zusammenfassen: „sich reiben“. Der Lehrer übt Kritik an Top-down-Prozessen in der Schulorganisation (19.XXXI) und an der Einschränkung der Autonomie durch die organisatorische Rahmung (19.XXXII). Während er sich im Handeln unerfahren und unsicher fühlt (19.XXX), hat er den Eindruck, dass die Akteur_innen ihr Handeln nicht hinterfragen (19.XXXIII). Er betont die Vorzüge mündlicher Abiturprüfungen (19.XXXVI), übt Kritik an den schriftlichen (19.XXXIV; 19.XXXV) und äußert den Wunsch nach alternativen Aufgabenformaten (19.XXXVIII). Im Folgenden wird deutlich, wie er die Standardisierung des Zentralabiturs bewertet:

„Ja, das ist ein bisschen die Gretchenfrage: ‚Brauchen wir Prüfungen?‘ Also ich finde, wir brauchen schon Situationen im Unterricht, wo der Schüler agieren muss und Vermitteltes, vermittelte Inhalte in irgendeiner Form darstellen oder wiedergeben muss. Ob das eine schriftliche Form ist, also wenn man das ganze System komplett aufbrechen will, zum Beispiel in Englisch hat es sich ja massiv geändert, dass mündliche Prüfungen jetzt Pflicht sind. Das kann man ja durchaus auch in diese Croquis, wie immer sie heißen, könnte man genauso wie in Frankreich ein anderes Prüfungsformat überdenken. Also ich finde, in der Geographie ist es immer noch sehr stur und auch eintönig, streng genommen, was natürlich für die Schüler gewisse Vorteile hat, aber auch so ein bisschen gewisse Gefahren birgt.

I: Vorteile?

B: Vorteile des Prüfungsformats?

I: Nein, du meintest Vorteile für die Schüler.

B: Es ist kalkulierbar, finde ich. Ich weiß genau, ich habe das Prüfungsformat, ich werde auf keinen Fall irgendwas zeichnerisch umsetzen müssen, ich muss Materialauswertung beherrschen und ich muss die Operatoren und die Prüfungsformate beherrschen. Und wenn eine Tourismusklausur kommt, weiß ich ganz genau, Aufgabe eins ist so und so gestrickt und Aufgabe drei ist immer eine Bewertung der zukünftigen Entwicklung und ich bringe da das Butler-Modell mit rein. Das ist ja vielleicht auch noch so ein oberflächlicher Vorteil, weil es trotzdem immer noch schlechte Klausuren gibt. Aber prinzipiell finde ich es schon gut, wenn in Erdkunde, wie auch immer, dieses Format durchbrochen werden würde durch Alternativen, darstellende Alternativen. Ja, ich finde zum Beispiel mündliche Prüfungen auch immer spannend, weil wenn eine mündliche Prüfung im Endeffekt viel besser den Leistungsstand eines Schülers vermittelt, als eine schriftliche Klausur.

I: Warum?

B: Weil ich Gedankengänge des Schülers in dem Moment, also ich kann sehen, wie er sich einem Prozess nähert, ich kann seiner logischen Strukturierung folgen und Darstellung spielt für mich auch ein Stück weit da mit rein. Also natürlich kann man auch die schriftliche Darstellung bewerten. Ja, genau, und ich finde es auch ein Stück weit einfach authentischer auf das, was ihn oder sie danach erwartet. Ja. Aber soweit ich weiß, gibt es da, glaube ich, keine massiv großen Bestrebungen, das komplett zu hinterfragen, also ohne da die entscheidenden Leute zu kennen.“ (19.XXXVI, 19.49, 36–42).

Darüber hinaus bedauert er den geringen Stellenwert des Fachs Geographie angesichts seiner gesellschaftlichen Bedeutung (19.XXIX) und wünscht sich mehr Exkursionen (19.XXXVII).

Abbildung 4.8
figure 8

(Quelle: Eigene Abbildung)

Phänomenanalyse 19: Umbruch im Handeln.

4.2.3 Grenzen der Studie

Als erste Studie zu diesem Thema hatte die Studie das Ziel, das Untersuchungsfeld zu explorieren und die Relevanz und Reichweite des Forschungsgegenstandes aufzuzeigen, sodass weitere Forschungsarbeiten darauf aufbauen können.

Zwar wurden in das Untersuchungsdesign fünf Bundesländer einbezogen, um eine große Bandbreite der Ergebnisse zu ermöglichen, dennoch können bei der Interviewstudie nur in Einzelfällen bundeslandspezifische Aussagen getroffen werden (zum Beispiel zum Sonderfall der Respizienzen in Bayern oder der immer neuen Prüfungsthemen in Niedersachsen). Inwiefern die offen gelegten Situationen und Prozesse in allen diesen fünf sowie in den nicht berücksichtigten Bundesländern zutreffen und wie bedeutend beziehungsweise häufig welches Phänomen beziehungsweise welcher Typus ist, kann aufgrund des qualitativen Designs aber nicht beantwortet werden. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass der Facettenreichtum durch ein größeres Sample unter Einbezug weiterer Bundesländer noch besser hätte herausgearbeitet werden können.

Die gewählte Forschungsmethodologie bedingt, dass durch die Konzeptualisierung noch an den Daten gearbeitet wurde, allerdings musste bei den weiteren Zusammenfassungen der großen Anzahl an Konzepten dennoch unweigerlich ein Informationsverlust eintreten. Während die Konzepte und Kategorien noch nah „am Material“ entwickelt sind, kann schon das axiale Kodieren als Interpretation angesehen werden. Zwar wurden die Bezüge zwischen den Kategorien aus der fallspezifischen Argumentation entwickelt, dennoch ist hier von einzelnen Fehlinterpretationen auszugehen, wenn etwa nicht alle Elemente einer Kette an Beziehungen im Interview überhaupt genannt wurden. Außerdem war es nicht anders umsetzbar, als die Phänomenanalysen auf Interviewebene (und nicht auf Personenebene) durchzuführen. Zwar wurde versucht, auch bei Gruppeninterviews hierin Unterschiede aufzunehmen, dennoch waren bei diesen der Interpretationsbedarf und die Verallgemeinerungsnotwendigkeit größer als bei den Einzelinterviews. Noch stärker fasst dann die Idealtypologie zusammen, eine stärkere Interpretation der Daten ist die Folge.

Die strikt induktive Vorgehensweise bei der Datenauswertung bedingt Ergebnisse, deren Diskussion etwas herausfordernder ist als bei einer Auswertung, die den Forschungsstand als Ausgangspunkt genommen hätte, da die Bezüge im Nachhinein hergestellt werden mussten. Da die metatheoretischen Vorüberlegungen aus systemtheoretischer Perspektive empirisch noch zu füllende theoretische Annahmen bedingt haben, konnte dies aber grundsätzlich gelingen. Dadurch, dass der metatheoretische Rahmen erst nach der Datenerhebung gewählt wurde, bleiben allerdings einige Leerstellen zurück, die bei einer frühzeitigen Ausrichtung darauf hätten vermieden werden können. So wurden die Interviewten etwa nicht nach ihrer Einschätzung zu der Rolle der organisatorischen Rahmung von Akteur_innen anderer Funktionssysteme oder auch zur Frage der Komplexität unterrichtlicher Kommunikation gefragt, sondern Äußerungen zu diesen Themen ergaben sich vielmehr nebenbei. Immerhin bestand somit nicht die Gefahr, den Interviewpartner_innen etwas in den Mund zu legen.