Zusammenfassung
Teilhabechancen spielen im Kontext von Gesundheit eine wichtige Rolle. Diesen Zusammenhang betont das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung , das auch Grundlage des Bundesteilhabe- und des Teilhabestärkungsgesetz es ist. Gleichzeitig machen die dort zum Tragen kommenden Definitionen von Behinderung deutlich, dass diese nicht naturwüchsig ist, sondern erst im Zusammenspiel von individuellen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren entsteht. Im Zuge der Veränderung der Sozialgesetzgebung rückt auch das Thema „Behinderung und Gesundheit“ mehr in den Fokus. Das Kapitel klärt zunächst die zentralen Begriffe, stellt dann statistische Daten rund um das „Leben mit Beeinträchtigungen und Behinderung in Deutschland“ vor und verbindet diese mit dem Thema Gesundheit. Mit Hilfe der Teilhabeberichterstattung der Bundesregierung wird auf die noch unbefriedigende Datenlage zum Zusammenhang von Beeinträchtigungen, Behinderung und Gesundheit verwiesen. Das Kapitel betrachtet im Licht der ICF der WHO, welche Rolle das BTHG in diesem Kontext spielt und welche Bedeutung dabei Prävention haben muss. Ein Exkurs zur Prävention in besonderen Wohnformen zeigt mit einer Feldstudie exemplarisch auf, welche Perspektiven das Fachpersonal und auch die dort lebenden Menschen mit Beeinträchtigungen auf Prävention haben. Unter Bezug auf den Ansatz der Salutogenese wird die Bedeutung des demographischen Wandel s für das Thema Gesundheit und Behinderung behandelt sowie die Frage, was beeinträchtigte Menschen im Laufe ihres Lebens gesund hält. Schließlich wird ausgelotet, wie Gesundheitskompetenz en von Menschen mit Beeinträchtigungen durch den Abbau von Barrieren erweitert werden können. Eine Auswertung erster Ergebnisse der repräsentativen Teilhabebefragung rundet das Kapitel ab. Mit diesen Daten soll es möglich werden, die Sicht von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen auf den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung zu vergleichen. Damit werden zahlreiche Versorgungslücken bzw. Zugangsbarrieren deutlich. Für die Umsetzung von Art. 25 UN-BRK – die Inanspruchnahme von Gesundheitsangebote n gleichberechtigt mit der Mehrheitsgesellschaft – bedarf es demnach noch großer Anstrengungen.
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Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken müssen auch im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderung unter Einsatz von Theorien, Modellen und Konzepten betrachtet werden (Wacker 2019a ). Bestandteile entsprechender Gesundheitserkundungen sind Verrichtungen des täglichen Lebens und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sowie Selbstbestimmungs- und Teilhabechancen (u. a. Wacker 2016 ). Alle diese Komponenten lassen sich auch im Feld der Eingliederungshilfe nach dem bio-psycho-sozialen Modell beobachten und verstehen (s. Abb. 2.1 ) (WHO 2001 | DIMDI 2005 ).
Dieses Denken tragen auch das Neunte Sozialgesetzbuch ( Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – SGB IX) in seiner Neufassung (vom 23. Dezember 2016) als „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“ ( Bundesteilhabegesetz – BTHG) sowie das Teilhabestärkungsgesetz (Bundesgesetzblatt 2021 ) in sich (näher Abschn. 2.2 ). In der dortigen Definition von Behinderung gelten weiterhin das längere Bestehen von Beeinträchtigungen („länger als sechs Monate“) sowie für das jeweilige Lebensalter typische Zustände als wesentlich. Zugleich wird aber in der neuen Definition – wie auch in der UN-BRK – darauf verwiesen, dass Behinderung nicht zwangsläufig aus Beeinträchtigung folgt, sondern nur, wenn behindernde Barrieren Teilhabe und Selbstbestimmung einschränken beziehungsweise verhindern. Die Veränderungsprozesse durch die Umsetzung des BTHG treten zwischen 2017 bis 2023 stufenweise in Kraft. Chancengerechtigkeit , Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sollen sich verbessern, auch, weil seit dem Jahr 2020 das Eingliederungshilferecht aus dem Sozialhilfesystem herausgelöst ist und als zweiter Teil ins SGB IX integriert wurde. Seit dem Jahr 2018 sollen Teilhabeleistungen im Rahmen eines Teilhabeplanverfahren s aus „einer Hand“ koordiniert werden, wenn mehr als ein Träger der Rehabilitation leistungsverpflichtet ist. Hierbei werden vom Grundsatz her auch Gesundheitsziele verfolgt. Im dritten Teil des BTHG wird schließlich das Schwerbehindertenrecht weiterentwickelt.
Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes flankiert den Wandel der gewachsenen Systeme der Rehabilitation und Kuration (RKI 2015 , 321 ff.), auch bezogen auf die Entwicklungsziele von Gesundheitsförderung und Prävention (RKI 2015 , 239 ff.). Vielfach werden die genannten Veränderungsprozesse durch Forschung begleitet. Auch die verwendeten Begrifflichkeiten ändern sich, sodass eine „facettenreiche“ Übergangssituation entsteht: Im Sozialrecht laufen entsprechende Bezeichnungen teilweise parallel beziehungsweise gehen ineinander über (s. Abb. 2.2 ). Die amtlichen Anerkennungsverfahren , wann Menschen als behindert oder anerkannt schwerbehindert eingestuft gelten, stehen ebenso in der Diskussion (s. auch die Lesehilfe BMAS 2021 , 25–27).
Die aktuell genutzten Begrifflichkeiten haben verschiedene Reichweiten, Bedeutungsgehalte und auch formale Hintergründe:
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Beeinträchtigung|en
im Sinne der ICF und des SGB IX verweisen im Zusammenhang mit Gesundheit auf dauerhafte Schädigungen von Körperstrukturen und -funktionen , die zu Einschränkungen bei Aktivitäten führen. Im Klassifikationsmodell der ICF (s. Abb. 2.1 ) wird sichtbar, ob aus den erfassten Merkmalen auch Einschränkungen der Verwirklichungschancen (activity & participation) hervorgehen und welche Auswirkungen in konkreten Lebens- und Handlungssituationen erkennbar und bewertbar sind. Behinderung kann hierbei im Bezug zu den genannten Aspekten erkennbar werden, drohen oder eintreten, es besteht aber keine zwingende Abfolge.
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Behinderung|en
weisen als Begriffe auch unter Rücksicht auf Lebensalters- oder Alltagsbezug auf wirksame (Teilhabe-)Hindernisse im Lebensweg eines Menschen hin. Andauernd gegebene körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen führen erst in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft einschränken, zur Behinderung (SGB IX § 2 (1)). Gemäß der UN-BRK besteht ein Recht darauf, dass solche Barrieren gemindert oder möglichst beseitigt werden, auch in Kontexte n (Rahmenbedingungen). Prüfgröße ist die Chancengerechtigkeit bei der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
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(amtlich anerkannte) Schwerbehinderung
findet sich bei einem Personenkreis, der ein bestimmtes amtliches Anerkennungsverfahren nach SGB IX § 2 durchlaufen hat. Geprüft werden dabei funktionale Einschränkungen und zugleich Berechtigungen (über ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 im Geltungsbereich des SGB IX) sowie ordnungsgemäße Antrags- und Anerkennungswege. So können Ausprägungen der Schwerbehinderung zuerkannt und in Form eines Schweregrad es ( Grad der Behinderung : GdB) näher bezeichnet werden. Über die Häufigkeit solcher Anerkennungen geben Statistiken Auskunft.
Im Teilhabebericht (BMAS 2021 ) wird eine Definition von Beeinträchtigungen orientiert an der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) zugrunde gelegt:
„Entsprechend werden alle Personen zur Gruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen gezählt, die im Zusammenhang mit Schädigungen ihrer Körperstrukturen und -funktionen in ihrer Leistungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigt sind“ (BMAS 2021 , 35).
Dabei erfolgt eine Abschätzung anhand einer Kombination aus Daten der amtlichen Schwerbehindertenstatistik (Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50) und von Daten aus dem Mikrozensus. Der Mikrozensus erfasst Menschen mit anerkannter (Schwer-)Behinderung und einem Grad der Behinderung unter 50 sowie chronisch kranke Menschen ohne anerkannte (Schwer-)Behinderung (BMAS 2021 , 35). Daraus ergibt sich insgesamt eine Zahl von über 13 Mio. Menschen mit Beeinträchtigungen im Jahr 2017 (s. Tab. 2.1 ).
Mit zunehmendem Alter steigt naturgemäß der Anteil von Menschen mit Beeinträchtigungen, wie die Abb. 2.3 zeigt. In den letzten Jahren macht sich
„der demografische Wandel besonders stark bemerkbar“ (BMAS 2021 , 40).
Bei den über 80-jährigen Menschen erhöhte sich zwischen 2009 und 2017 der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen um 0,47 Mio. beziehungsweise um 27 % auf 2,2 Mio. Personen.
Dass Beeinträchtigungen und Behinderung insbesondere im Lebensverlauf, und zwar mehrheitlich als Folge von Erkrankungen, auftreten wird besonders deutlich, wenn man die Schwerbehindertenstatistik des Statistischen Bundesamtes heranzieht (s. Abb. 2.4 ):
So wurden im Jahr 2019
„mit nahezu 89 % (…) der überwiegende Teil der Behinderungen durch eine Krankheit verursacht, rund 3 % der Behinderungen waren angeboren beziehungsweise traten im ersten Lebensjahr auf. Nur knapp 1 % der Behinderungen war auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen. Die übrigen Ursachen summieren sich auf 6 %“ (Rehadat-Statistik 2020 ).
Die bisherige Teilhabeberichterstattung nimmt die Unterschiedlichkeit der Behinderungszusammenhänge wahr und befasst sich mit vielen verschiedenen Gruppierungen. Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung werden mit Blick auf die Vielfalt der Lebenslage n beschrieben; so geht es auch um Ältere und um Personen mit psychischen Beeinträchtigungen (BMAS 2013 ), um Menschen mit Migrationshintergrund und Wohnungslosigkeit (BMAS 2016 ). Gesundheitsaspekte werden jeweils vertieft beleuchtet.
Auch besondere Gesundheitsrisiken wie beispielsweise Fremdbestimmung und Exklusion beim Zugang zu Gesundheitsleistungen werden angesprochen. Erhebliche Bedarfe zeigen sich im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung (BMAS 2013 , 363), aber auch bei der Begleitung bei Krankenhausaufenthalte n. Mögliche Spätfolgen von Beeinträchtigungen sind zu erwarten, beispielsweise als Wirkungen unzureichender Versorgungsbedingungen im Lebensverlauf. Auch Einsamkeit kann eine solche Spätfolge sein. Menschen fühlen sich einsam aus Mangel an erfüllenden sozialen Kontakten oder sozialer Unterstützung . Sie ziehen sich womöglich immer weiter zurück, beispielsweise aufgrund enttäuschter Erwartungen. Außerdem ist zu beobachten, dass zunehmend mehr Menschen kein Kind oder nur wenige Kinder haben, die häufig auch weiter entfernt wohnen und bei Einschränkungen nicht beziehungsweise nur bedingt unterstützen können (Deindl und Brandt 2017 ). Entsprechende Folgen in Form der wachsenden Vereinzelung und Vereinsamung werden heute immer erkennbarer (s. Abschn. 3.1 ). Aus Teilhabesicht wird über die Berichterstattung eingefordert, aufmerksamer zu sein im Hinblick auf Möglichkeiten, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Ältere in die Gemeinschaft einzubinden. Für die nahe Zukunft werden zunehmende Pflegebedarfe und veränderte individuelle Pflegebedürfnisse erwartet, die sich je nach Wohnform en unterschiedlich im Alltag auswirken können.
Menschen mit Migrationshintergrund scheinen zunächst im Durchschnitt betrachtet gesünder zu sein als Menschen ohne Migrationshintergrund. Dies liegt unter anderem daran, dass sowohl Menschen, die wegen einer Arbeit zugewandert sind, als auch Menschen, die flüchten mussten und bleiben, eher jünger und gesünder sind („ healthy migrant-effect “; BMAS 2016 ; Razum et al. 2000 ). Jedoch zeigt sich mit längerem Verweilen im Aufnahmeland beziehungsweise mit zeitlichem Abstand zur tatsächlichen Migrationserfahrung (zweite beziehungsweise dritte Generation) ein Anstieg gesundheitlicher Einschränkungen wie chronischen Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus Typ 2 und psychische Erkrankungen) häufiger als in der Gesamtbevölkerung (BMAS 2016 , 354). Als Gründe schwindender Gesundheit werden höhere Armutsrisiken , aber auch besonders (über-)fordernde und belastende Arbeits- und Lebensbedingungen mit vermehrten Arbeitsunfälle n und Berufskrankheiten angenommen. Menschen mit Migrationshintergrund nutzen auch die Angebote der Gesundheitsversorgung und Prävention weniger (BMAS 2016 , 345), sei es wegen sprachlicher Schwierigkeiten, erfahrener Diskriminierungen oder sonstiger Zugangsbarrieren (BMAS 2016 , 354). Mit steigendem Alter wächst der Anteil der Personen, die sich gesundheitlich nicht gut fühlen; im Zugang zum Rehabilitationssystem zeigen sich Barrieren wie Schwierigkeiten bei Information und Kommunikation, verbunden mit geringer Kenntnis kulturspezifischer Bewältigungsstrategien und einer fehlenden entsprechenden Ansprache.
Wohnungslosigkeit ist eine extreme Form sozialer Ausgrenzung und bringt besondere Gesundheitsherausforderungen mit sich. Wohnungslose Menschen sind häufig psychisch und/oder körperlich erkrankt, verletzt, leben mit schlechter Gesundheit und/oder Beeinträchtigungen unter insgesamt prekären Lebensbedingungen (BMAS 2016 , 362). Im Bereich der Gesundheit sind sie unterversorgt und ihre Lebenserwartung ist geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt (BMAS 2016 , 372 f.). Insgesamt werden die Lebensverläufe von wohnungslosen Menschen, ebenso wie ihre gesundheitlichen Belange und ihre Versorgung, nur unzureichend berücksichtigt (BMAS 2016 , 380).
Die bisherige Teilhabeberichterstattung hat in den skizzierten Vertiefungsbereichen bereits ausdrücklich auf vielfältige Fragen von Wohlbefinden und Aufgaben der Gesundheitsversorgung ausgewählter Bevölkerungsgruppen mit Beeinträchtigungen hingewiesen. Dennoch greifen auch die im dritten Teilhabebericht (BMAS 2021 , 410 ff.) vorgestellten Gesundheitsdaten zunächst auf ein Gesundheitsverständnis mit eher individualisierender Betrachtungsweise zurück ( Verhaltensmodell ). Dies ist in erster Linie den verfügbaren Daten geschuldet, die die gesamte Berichterstattung bestimmen und einschränken (BMAS 2021 , 35–37 und 61–65): Für die gesundheitliche Verfassung werden beispielsweise Krankheitstage gezählt (BMAS 2021 , 421–423), obwohl dies lediglich ein kleiner, interpretationsbedürftiger Ausschnitt aus dem Gesundheitsspektrum ist. So lassen sich aber zumindest hier Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen mit oder ohne Beeinträchtigungen verdeutlichen und Entwicklungen betrachten. Wenn der Zugang zu ärztlicher Versorgung und anderen Gesundheitsleistungen für Menschen mit Beeinträchtigungen als verbesserungswürdig dargestellt wird (BMAS 2021 , 428 ff.), so ist dies ein wichtiger Merkposten für vielfache Teilhabehürden , etwa in der alltäglichen Lebensführung (BMAS 2021 , 324 ff.). Im Abschnitt „Prävention und Rehabilitation“ des Gesundheitskapitels wird angemahnt, über aktuelle Leistungssysteme und deren erforderliche weitere Entwicklung ernsthaft nachzudenken (BMAS 2021 , 442 ff.).
Es ist somit dringend notwendig, für die Entwicklung der Teilhabe im Bereich der Gesundheit erhebliche weitere Aufbauarbeit zu leisten, um von einem defizitorientierten und auf Verhaltenserfordernisse eingeschränkten Leitkonzept abzurücken (BMAS 2021 , 436–442). Denn die frühere biomedizinische (pathogenetische) „Entzauberung des menschlichen Körpers“ ist - wie eingangs erläutert - überholt, die „Krankheit als Defekt und ihre Therapie als Reparatur“ sieht, beziehungsweise unterstellt, dass biomedizinische „Fehlerhaftigkeit“ ein „›suboptimales Leben‹“ zur Folge hat (Greb 2012 , 273). Stattdessen wird dieses traditionelle Verständnis (eigentlich) durch eine Leitidee von Gesundheit in und durch Teilhabe abgelöst, wie sie hier nun beleuchtet wird. Beeinträchtigungen, einschließlich psychischer Störungen, chronischer Krankheiten und Zivilisationskrankheiten bleiben dennoch weiter begriffliche Bruchstellen im Feld von Gesundheit und Krankheit (Greb 2012 , 274). Erste Auswege zeigen sich, wenn sozialepidemiologische, sozioökonomische und psychosomatische Aspekte bedacht werden können, die aus Datenmangel aktuell noch weitgehend fehlen, in der Zukunft aber genauer betrachtet werden sollen (Williams und Moore 2011 ). Untersuchungen zur Bedeutung möglicher und abrufbarer Ressourcen, die in der materiellen Ausstattung, dem Zugang zu Leistungen und vor allem auch in der Qualität sozialer Beziehungen zu finden sind, sind dringend erforderlich. Auf dieser Basis lässt sich der Bogen schlagen von der Benennung von Belastungen und Krankheiten zur Suche nach Ressourcen, wie sie ein salutogenetisches Modell vorgibt (s. Abschn. 2.4.1 ) und bevorzugt. Dass es ungleiche Wahrnehmungen zwischen den Gesundheitsangeboten und der erfahrenen Gesundheitsleistung gibt, belegt die Zusammenschau der Abschn. 2.6 und 2.7 . Wenn Wissenschaft und Sozialpolitik nun fragen, was Menschen gesund hält oder gesünder machen kann, dann treten – anders als in der individualisierenden Sichtweise – Zuordnungen zu Risikogruppen, Bewertungen von Risikoverhalten oder von Verhaltensabweichungen eher in den Hintergrund. Gleichzeitig kann Gesundheit in ihrer mit Chancen und Risiken verbundenen Dynamik und Komplexität besser verstanden und unterstützt werden.
Eine entsprechend breite Sichtweise auf Gesundheitsfragen („Mainstreaming Ansatz“) findet sich in den bisherigen Teilhabeberichten bereits an vielen Stellen. Zukünftigen Berichten wird es vorbehalten bleiben, über Daten aus der aktuellen repräsentativen Teilhabebefragung mehr und genauere Informationen zu subjektiven Gesundheitsvorstellungen von Menschen mit Beeinträchtigungen einzubetten. Aktuell muss eine „Kostprobe“ im Abschn. 2.7 genügen, in dem eine von der Prognos AG durchgeführte Sonderauswertung ausgewählter Gesundheitsdaten vorgestellt wird.
Neben dem neuen Gesundheitsverständnis und dem selbstberichteten Gesundheitserleben der befragten Personen bieten auch globale konzeptionelle Weiterentwicklungen Anhaltspunkte für generelle Erwartungen an gute Gesundheit, Wohlergehen und Wohlbefinden (s. Abschn. 1.4 ). All dies sind Vorboten einer sich weiter entwickelnden nachhaltigen und wirksamen gesundheits- und teilhabepolitisch neuen Zielsetzung. In eine gesundheitsbewusste Lebensverlaufsperspektive fügt sich, im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen, auch eine gewisse Skepsis gegenüber einer noch immer verbreiteten Haltung des „ Healthismus “ (Kühn 1993 ). Möglicherweise bestehende gesellschaftliche Erwartungen und auch Selbstwahrnehmungen einer „Verpflichtung“ aller Bürgerinnen und Bürger auf eine ideale, makellose Gesundheit (und damit auch ein entsprechendes Gesundheitsverhalten), sind kritisch einzuordnen, auch im Zusammenhang mit Diskriminierungsrisiken.
2.1 Behinderungsklassifikation als Gesundheitsmaß
Die aktuell weltweit maßgebliche Behinderungsklassifikation ICF (WHO 2001 | DIMDI 2005 ) stellt ausdrücklich einen Gesundheitsbezug her (s. Abb. 2.1 ). Sie folgte im Jahr 2001 der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) (WHO 1980 ) aus dem Jahr 1980 (handicap related: Krankheitsfolgenmodell ), die in der Fachwelt und besonders von Menschen mit Behinderung, ihren Organisationen und Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies für ihre Defizitorientierung kritisiert wurde (Waldschmidt 2005 , 16).
Glossar 4: Disability Studies
Die Disability Studies verstehen sich als normalitätskritische, interdisziplinäre Wissenschaftsrichtung, die in den 1970er Jahren – zeitgleich, aber unabhängig voneinander – in den USA und Großbritannien aus den politischen Behindertenbewegungen hervorging. Grundlage ist ein Verständnis von Nicht-/Behinderung als soziale Konstruktion. Entsprechend geht es in den Disability Studies um die Analyse von Normalitätskonstruktionen sowie um die Untersuchung der jeweiligen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gewordenheit des Differenzierungsmerkmals Behinderung. Zugleich verstehen sich die Disability Studies als Kritik an den „klassischen“ Behinderungswissenschaften.
Inzwischen sind die Disability Studies in zahlreichen Ländern vertreten. In Deutschland werden entsprechende Untersuchungen und Veröffentlichungen, die es auch im deutschsprachigen Raum seit den 1970er Jahren gibt, seit 2001 als Disability Studies diskutiert. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen es eigene Studiengänge und Abschlüsse in den Disability Studies gibt, ist die akademische Verankerung jedoch noch wenig fortgeschritten.
Das in der ICIDH zugrunde gelegte Verständnis von Behinderung setzte diese mit Beeinträchtigung gleich. Dies wird in der ICF zum bio-psycho-sozialen Modell erweitert, um ein differenzierteres Verständnis von Behinderung zu beschreiben. Gemäß der ICF wird diese von den Komponenten Schädigungen, Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen beeinflusst.
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Aktivität (activity) meint die Durchführung einer Handlung beziehungsweise Erledigung einer Aufgabe;
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Partizipation (participation, soziale Teilhabe) meint die Art und Weise, in der jemand in eine Lebenssituation einbezogen ist.
Dieses Modell der Gesundheitskomponenten erhebt nicht, wie das erste häufig als utopisch kritisierte Gesundheitsmodell der Weltgesundheitsorganisation (Huber et al. 2011 ), den Anspruch einer perfekten allumfassenden Gesundheit (s. Abschn. 1.1 ).
Hauptkritikpunkte sind,
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der Absolutheitsanspruch („complete physical, mental and social well-being“), der dazu beiträgt, die Mehrheitsgesellschaft als „unvollständig“ gesund (anormal) wahrzunehmen und dabei eine niedere Schwelle zur Medikalisierung, zugeschriebener Defizienz (Abweichung) und Interventionserfordernis zu fördern;
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die fehlende demografische Adaptation, die übersieht, dass sich Krankheitsmuster (Schwinden akuter Zustände, Aufwachsen chronischer Erkrankungen) und Bevölkerungsstruktur (alternde Bevölkerung weltweit) erheblich verändert haben. Altern mit chronischen Krankheiten wird üblich und erfordert einen Wandel der Gesundheitssysteme, die sich daran ausrichten müssen, dass menschliche Fähigkeiten zum selbstbestimmten Leben auch bei chronischen Beeinträchtigungen bedacht werden müssen;
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schließlich die mühsamen Versuche, die Ur-Definition der WHO zu operationalisieren, da Klassifikationen die „Vollständigkeit“ von Krankheit ( diseases ) und Aspekte von Gesundheit ( health ), Behinderung ( disability ), Funktionsfähigkeit ( functioning ) und Lebensqualität (QoL) messbar machen müssten.
Entsprechende Debatten für geeignete, zukunftsfähige Definitionen ziehen sich inzwischen über Dekaden. Wie oben beschrieben etabliert sich vor allem die Perspektive der Ottawa Charter (WHO 1986 ), die neben körperlichen Kapazitäten soziale und personale Ressourcen ins Auge fasst. Eine Rückkehr zu rein statistischen Wahrnehmungen ist hingegen eher problematisch, weil Belastbarkeit und Bewältigungsfähigkeit auf personaler und Umgebungsebene von erheblicher Relevanz sind. Daher finden sich letztlich nachvollziehbare Tendenzen, auf starre Definitionen zugunsten von Konzeptionen zu verzichten, die die körperlichen ( physical health ), geistigen ( mental health ) und sozialen ( social health ) Aspekte von Gesundheit umfassen.
Analog folgt einer vorrangigen Aufmerksamkeit für das Anliegen mit normativen Parametern Gesundheit und Krankheit vermeintlich präzise über quantifizierbare Tatbestände messbar zu machen, in der empirischen Sozialforschung eine Neigung, auf (zu) starre Definitionen von Fachbegriffen zu verzichten, zugunsten der Alltagsnähe der Untersuchungen von sozialen Phänomenen, die andere empirische Zugänge erfordern (Heuristik/ Ethnomethodologie ). Hierzu werden qualitative Forschungsmethoden als fachlich geeignet erkannt ( Symbolischer Interaktionismus : Blumer 1969 ; Grounded Theory : Glaser und Strauss 2017 | 1967), verbunden mit den Anliegen des Fremdverstehen s.
Wenn nun Gesundheit auch ohne vollkommenes Wohlbefinden, absolute Beschwerdefreiheit und höchste körperliche Leistungsfähigkeit möglich ist, können Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen – auch wenn sie medizinische Diagnosen aufweisen – als gesund gelten (Lippke und Renneberg 2006 ), solange ihnen bedeutsame Aktivitäten und gewünschte Partizipation möglich sind.
Dem Konzept folgen neue Standards in der Gesundheitspolitik , die auf Selbstbestimmung und Teilhabe (Kraftentfaltung in der und durch die Gemeinschaft ) abheben und darauf, nicht behindernde Umgebungsfaktoren auszugestalten, beziehungsweise Teilhabebarrieren abzubauen. Damit wird die ICF selbst zur Plattform einer teilhabeorientierten Gesundheitsförderung, verbunden mit einem Perspektivenwechsel von der Ursachen- zur Wirkungsorientierung . Wie bereits in Kap. 1 dargestellt, wird Gesundheit dann nicht an spezifischen Kriterien gemessen. Stattdessen soll Gesundheit in ihrer Prozesshaftigkeit und Einbettung in Gesundheitsbedingungen verstanden werden:
„ICF puts the notion of ‚health‘ and ‚disability‘ in a new light … by shifting the focus from cause to impact it places all health conditions on an equal footing allowing them to be compared.“ (Kostanjsek 2011 , 5 f.) | Die ICF rückt die Begriffe ‚Gesundheit‘ und ‚Behinderung‘ in ein neues Licht … indem sie den Schwerpunkt von der Ursache auf die Wirkung verlagert, stellt sie alle Gesundheitszustände auf eine Stufe und macht sie vergleichbar. (Übersetzung der Verfasserinnen) |
Rechte von Menschen mit Behinderung werden durch die Orientierung an der ICF gestärkt (Ewert 2012 , 130), weil Gesundheit als Zustand in Zusammenhängen gesehen wird, verbunden mit der individuellen Wahrnehmung (Wohlbefinden). Die Frage heißt nun, was getan werden kann und muss, damit eine Person mit Beeinträchtigungen gleichberechtigt tun und sich dabei wohlfühlen kann, was allen Menschen in ihrem sozialen und kulturellen Umfeld möglich ist. Das erfordert passgenaue Unterstützungen anzubieten sowie Barrieren und Vorurteile gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen in der Gesellschaft – und vor allem auch im Gesundheitswesen – abzubauen.
Mit der ICF liegen auch Kriterien vor, mittels derer ein Gesundheitszustand bei langfristigen Krankheitsfolgen beschrieben werden kann.
„Eine Person gilt nach der ICF als funktional gesund, wenn […] 1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen, 2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (im Sinn der ICD) erwartet wird, und 3. sie zu allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, Zugang hat und sich in diesen Lebensbereichen in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung […] erwartet wird.“ (Schuntermann 2009 , 19)
Schuntermann betont aber selbst, dass solche Kriterien für Gesundheit kritisch und reflektiert zu verwenden sind ( 2011 , 251). Entsprechende Überlegungen und konkrete Hinweise zum Normalismus problem (der Setzung dessen, was als „normal“ angesehen wird) greift Abschn. 1.5 auf. Zu Lebensqualität und Wohlbefinden von Menschen mit Behinderung, verbunden mit Teilhabewirkungen, stehen systematische breit angelegte Studien noch weitgehend aus, wobei sich die Teilhabeforschung auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr zu entwickeln beginnt (exemplarisch mit Bezug zu Renteneintritt und gesundheitlicher Beeinträchtigung: Lippke et al. 2020a ; Lippke et al. 2020b ; zu den Potenzialen der Teilhabeforschung in den Sozialwissenschaften: unter anderem Beck 2022 ; Wacker 2019a , b , 2020 ; Wansing et al. 2022 ).
Als Messlatte für ein gutes Leben wäre „stete Zufriedenheit“ ungeeignet. Denn wenn nur positive Emotionen Anerkennung finden, gelten alle Zeiten des Zweifelns, der Unzufriedenheit oder Einsamkeit als Abweichung und der Druck steigt, die eigene Gesundheit beziehungsweise sich selbst ständig zu perfektionieren. Auch von grenzenlos verfügbarer Gesundheit auszugehen gilt als Irrweg (unter anderem Ehrenreich 2018 ; Zirden et al. 2003 ). Stattdessen können Stimmungsschwankungen gute Tage spürbar machen und das Vermissen anderer Menschen oder des erfüllenden zwischenmenschlichen Austauschs Energie zur Veränderung freisetzen.
Aktuell werden mit der ICF Lösungen für ein gezieltes Veränderungsprogramm zur Teilhabegestaltung durch eine individuelle Bedarfsfeststellung im Rahmen des BTHG entwickelt. Belastungsfaktoren, Benachteiligungen und Ressourcen sollen damit auf neue Weise so identifiziert werden, dass Gesundheitschancen steigen. Dafür dient das umfassende Verständnis der aktuellen Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung in Zusammenhängen als eine wichtige Voraussetzung.
2.2 Das Bundesteilhabegesetz und die Gesundheitssorge
Das BTHG ging, auch ausgelöst von den menschenrechtlichen Anforderungen der UN-BRK, aus den Reformbestrebungen bzgl. des SGB IX Rehabilitation und Teilhabe und des SGB XII Sozialhilfe (insbes. Eingliederungshilfe ) hervor. Durch die Reformen soll für Menschen mit Behinderung mehr Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht werden. Die Leistungen, die sie erhalten, sollen sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können (§ 90 SGB IX). Theoretisch werden die Hilfearten getrennt nach
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persönlicher Unterstützung , die eine bestimmte Person wegen einer Beeinträchtigung benötigt (also eine Fachleistung wie die persönliche Assistenz); und
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Unterstützung zum Lebensunterhalt, beispielsweise für Nahrungsmittel und Wohnen.
Menschen mit Beeinträchtigungen sollen mit diesen Hilfen ihr Leben so gestalten können, wie sie es wollen, also z. B. die für sie passende Wohnform wählen, ohne dass nach ambulanten oder stationären Wohnangebote n unterschieden wird. Die Entscheidungsräume sollen wachsen und über ein Teilhabeplanverfahren sollen alle Leistungsträger sowie Nutzerinnen und Nutzer ihre Unterstützung abstimmen können (sog. „ Gesamtplan “; s. Tempelmann et al. 2019 , 300).
2.2.1 Leistungen aus einer Hand und Diskriminierungsrisiken
Das BTHG hält an den bisherigen, umfassend formulierten Teilhabeziel en des SGB IX fest. Dazu gehören folgende Elemente:
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Behinderung soll abgewendet, beseitigt, ihre Verschlimmerung verhütet oder ihre Folgen gemindert werden;
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Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder die Pflegebedürftigkeit sollen überwunden, gemindert oder eine Verschlimmerung verhütet werden;
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Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung sollen ermöglicht oder erleichtert werden (§ 4 SGB IX).
Die hierzu erforderlichen Leistungen werden nach einem verfahrensrechtlichen Ansatz auf den Weg gebracht. Schritte hierbei sind
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eine „individuelle und funktionsbezogene Bedarfsfeststellung “ (§ 13 SGB IX),
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gegebenenfalls eine sozialmedizinische Begutachtung (§ 17 SGB IX).
Teil dieses Vorgehens ist, alle Informationen zu den Ausprägungen und Auswirkungen aller Gesundheitsprobleme einer Person auf die Körperfunktionen und -strukturen sowie die Aktivitäten und Teilhabe zu erfassen. Hierfür sollen die Rehabilitationsträger systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel entwickeln und verwenden (§ 13 SGB IX). Auch wechselseitige Beziehungen zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihrem Lebenshintergrund ( Kontextfaktoren ) sind systematisch einzubeziehen. Footnote 1 Nach dem im Jahr 2001 mit dem SGB IX eingeführten Prinzip der Leistungen aus einer Hand soll im Interesse von Menschen mit Behinderung möglichen Nachteilen des sogenannten gegliederten Rehabilitationssystems mit seinen vielen Behörden und Zuständigkeiten entgegengewirkt werden. Dazu zählt, Zuständigkeiten rasch zu klären, weil sich in der Praxis immer wieder „Kompetenzgerangel“ in diesem „komplizierten System von unterschiedlichen Trägerschaften und Zuständigkeiten“ zeigt (BMAS 2013 , 80). Künftig ist im Rahmen des Teilhabe- beziehungsweise Gesamtplanverfahrens dafür Sorge zu tragen, dass,
„sofern Leistungen mehrerer Rehabilitationsträger erforderlich sind […], die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich erforderlichen Leistungen hinsichtlich Ziel, Art und Umfang funktionsbezogen festzustellen und schriftlich so zusammenzustellen (sind), dass sie nahtlos ineinander greifen“ (Engel und Beck 2018 , 2).
Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Leistungsträger – und zwar nach gemeinsamen Maßstäben, die sich aus dem BTHG ableiten – ist also zwingend erforderlich. Das betrifft mit Blick auf Gesundheitsleistungen besonders die Schnittstelle zwischen Teilhabe- und Pflegeleistungen . Außerdem ist festgeschrieben,
„dass die Leistungsberechtigte n in allen Verfahrensschritten beteiligt und die Wünsche der leistungsberechtigten Person zu Zielen und der Art der Leistungen dokumentiert werden müssen“ (Engel und Beck 2018 , 2).
Gegenwärtig wird dieser Grundsatz der Leistungserbringung aus einer Hand zugunsten verschiedener Möglichkeiten, Leistungen getrennt zu bewilligen und zu erbringen, neu diskutiert, weil die Regelungen nicht eindeutig seien und womöglich Konfliktpotenzial bergen (Waßer 2020 , 182 ff.).
Die UN-BRK schreibt den effektiven Zugang zur Justiz (Art. 13 UN-BRK), zu Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung (Art. 25 UN-BRK) sowie zu effektiven Rehabilitationsmaßnahmen und -diensten (Art. 26 UN-BRK) vor. Dass eine getrennte Leistungserbringung nach dem neuen Recht dies umsetzt, könnte bei echten Konsensfällen zwar möglich sein, im Konfliktfall müsste allerdings die betroffene Person verschiedene Rechtsstreitigkeiten gegen unterschiedliche Träger führen. Hier sind Fragen offen, obwohl seit langem gewünscht wird, das deutsche Rehabilitationsrecht zu vereinfachen. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat schon in einer Stellungnahme vom 04.04.2010 (CRPD 2010 ) die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, die Komplexität des deutschen Rehabilitationsrechts kritisch zu hinterfragen und einen klaren Maßstab vorzugeben, der nicht durch unnötig komplizierte Verwaltungs- und Gerichtsverfahren Menschen mit Beeinträchtigungen selbst mittelbar diskriminiert, indem der Zugang zu berechtigten Ansprüchen erschwert wird:
„the administrative complexities put applicants in a disadvantageous position and may in turn result in indirect discrimination.“ (CRPD 2010 ) | Die verwaltungstechnische Komplexität benachteiligt die Antragstellenden und kann wiederum zu einer indirekten Diskriminierung führen. (Übersetzung der Verfasserinnen) |
2.2.2 Gesundheitssorge in Kuration, Rehabilitation und Prävention
Dies gilt auch im Bereich der Gesundheitssorge, denn auch sie steht im Rahmen der sozialen Teilhabe (§ 78 SGB IX). Ebenso werden vorbeugende Aktivitäten unterstützt (Prävention), die eine tragfähige Brücke in die Kommunen und Sozialräume erfordern. Hierzu stehen geeignete Konzepte und begleitende Forschungen noch weitgehend aus.
Die ICF beschreibt die Gesundheitssorge vor allem als Selbstsorge (z. B. auf die eigene Gesundheit zu achten und diese zu erhalten sowie Ernährung und Fitness sicherzustellen), verbunden mit der Gesundheitssorge im Alltag über die Förderung der Gesundheitskompetenz (s. Abschn. 2.4 ). Beschrieben werden auch Lotsenfunktionen und eine Begleitung im Gesundheitssystem, sowie Therapien und medizinnahe Leistungen. Dafür sind eine enge strukturelle und konzeptionelle Verbindung zum Gesundheitswesen sowie zur kommunalen Gesundheitssorge und Gesundheitskommunikation von zentraler Bedeutung.
In der UN-BRK werden im Art. 25 (Gesundheit) (s. Abschn. 4.1 ), Buchstaben a bis f, beispielhaft für Menschen mit Beeinträchtigungen erforderliche Maßnahmen zur Erlangung des „Höchstmaß(es) an Gesundheit ohne Diskriminierung“ aufgezählt: Dazu gehören eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung wie sie anderen Menschen auch zur Verfügung steht, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen sowie alle der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehenden Programme des öffentlichen Gesundheitswesen s. Weiterhin sollen Gesundheitsleistungen angeboten werden, die von Menschen mit Beeinträchtigungen speziell benötigt werden, einschließlich Früherkennung , Prävention und Rehabilitation. Auch bei Kindern und älteren Menschen sollen dadurch (weitere) Beeinträchtigungen möglichst geringgehalten oder vermieden werden. Alle Gesundheitsleistungen sollen so gemeindenah wie möglich angeboten werden, auch im ländlichen Raum. Entsprechend sollen Angebote der Rehabilitation für die Bevölkerung insgesamt, sowohl auf kommunaler Ebene, als auch in einer gesonderten Angebotsstruktur, vorgehalten werden. Derzeit sind jedoch Zuständigkeiten, Berechtigungen und Umsetzungschancen zum Teil unklar, nicht nachvollziehbar oder so miteinander verschlungen, dass die Nutzung oftmals erschwert beziehungsweise sehr voraussetzungvoll ist.
Bereits der Begriff der medizinischen Rehabilitation wird im SGB IX nicht exakt definiert. Im Sinne eines Verfahrens meint Rehabilitation den gleichzeitigen und koordinierten Einsatz von medizinischen und sozialen Maßnahmen mit dem Ziel, die aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkten Betätigungsmöglichkeiten und damit die funktionelle Leistungsfähigkeit der jeweiligen Person möglichst weitgehend wiederherzustellen. Teilhabe als Leistungsziel bedeutet die aktive und selbstbestimmte Gestaltung des gesellschaftlichen und beruflichen Lebens durch Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohte Menschen (s. § 2 SGB IX). Hiervon ausgehend erschließt sich das Verständnis des Begriffs medizinische Rehabilitation anhand der im SGB IX (§§ 4, 42) genannten Ziele. Als Komplexleistung verlangt medizinische Rehabilitation eine Vernetzung von ärztlicher, pflegerischer, physiotherapeutischer, psychosozialer, logopädischer sowie ergotherapeutischer Versorgung (Bieritz-Harder 2009 , 218; Luthe 2007 , 460) und umfasst alle oben genannten Maßnahmen, die auf die Erhaltung oder Besserung des Gesundheitszustandes gerichtet sind (s. Abschn. 2.2 ). Rehabilitation soll dabei auch den vorzeitigen Bezug von Sozialleistungen verhüten oder laufende Sozialleistungen mindern. Da immer ein gesundheitsbezogener Ausgangspunkt besteht, werden die jeweils individuellen Rehabilitations- und Therapieziele diagnostiziert (Oppermann 2018 ). Die Vorgaben im SGB IX gehen von einem ganzheitlichen Therapieansatz aus. Sie enthalten ein komplexes Angebot, nicht nur hinsichtlich der Minderung oder Ausgleichung der Beeinträchtigungen, sondern auch zur psychischen Bewältigung der Krankheit beziehungsweise Beeinträchtigung sowie der sozialen Krankheitsfolgenbewältigung . Dazu dient ein individuelles Behandlungskonzept, das – wie oben dargelegt – im Teilhabeplan festgehalten werden soll. All dies soll auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells von Krankheit und Behinderung erfolgen (Oppermann 2018 ).
Mit dem BTHG wird für alle Rehabilitationsträger auch die wichtige Querschnittsaufgabe der Prävention noch deutlicher (Deutscher Bundestag 2016 , 227 f.). Die Rehabilitationsträger wirken bei der Entwicklung und Umsetzung der Nationalen Präventionsstrategie mit. Footnote 2 Durch Prävention soll der Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung, einzelner Bevölkerungsgruppen oder Personen erhalten beziehungsweise verbessert werden (BMAS 2021 , 442–454). Hiervon abzugrenzen ist der (relativ) neue Begriff der Gesundheitsförderung (WHO 1986 , 1). Während es bei der Prävention um die Verringerung und Vermeidung von Risikofaktoren geht, will die Gesundheitsförderung im Rahmen eines bestimmten „ Setting s“ (sogenannte „ Lebenswelten “ oder Kontexte, wie Kita, Schule, Arbeitsplatz, Pflegeheim) vor allem die Schutzfaktoren erhöhen und die gesundheitsförderlichen Lebensbedingungen stärken. Diese verhältnisbezogenen Präventionsansätze ermöglichen letztlich allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit. Auch sollen alle Menschen befähigt werden, ihre gesundheitlichen Interessen zu vertreten sowie ihre gesundheitlichen Ressourcen und damit die Gesundheit zu stärken.
Begründung zum Präventionsgesetz 2015
„Ziel dieses Gesetzes ist es, unter Einbeziehung aller Sozialversicherungsträger sowie der privaten Krankenversicherung und der privaten Pflege-Pflichtversicherung die Gesundheitsförderung und Prävention insbesondere in den Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger auch unter Nutzung bewährter Strukturen und Angeboten zu stärken, die Leistungen der Krankenkassen zur Früherkennung von Krankheiten weiterzuentwickeln und das Zusammenwirken von betrieblicher Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz zu verbessern“ (Bundesrat 2014 , 1).
Da die Krankenkassen im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung frühzeitig Informationen über häufige oder längerfristige Erkrankungen erhalten, kommt ihnen bei der Identifizierung von Handlungsfeldern eine Schlüsselrolle zu. In Deutschland soll die auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene gewachsene breite Infrastruktur mit einer Vielzahl von Einrichtungen und Organisationen in staatlicher, halbstaatlicher (öffentlich-rechtlicher) und nichtstaatlicher Trägerschaft dazu beitragen, dass präventive Maßnahmen von den verschiedenen Akteuren geplant, umgesetzt und analysiert werden.
Nach einer zunächst untergeordneten Politik der Prävention mit einem Fokus auf Verhaltens prävention im deutschen Gesundheitswesen der 1970er Jahre (Gesundheitserziehung) stieg die Aufmerksamkeit für Verhältnis prävention sziele in der folgenden Dekade: Die gesellschaftliche Bedingtheit von Krankheitsrisiken und Gesundheitsverhalten wurde erfasst und reflektiert, vor allem auch im Zusammenhang mit betrieblicher Gesundheitsförderung . Diese wurde 1989 im SGB V § 20 verankert. Zu einem allgemeinen Präventionsauftrag rang man sich jedoch erst nach langen Diskussionen durch (die auch von der Deutschen Vereinigung irritiert wurden, da nun zwei verschieden aufgestellte Aufgabenphilosophien zusammentrafen: gemeindenahe Gesundheitssorge und ein subsidiäres Wohlfahrtssystem ) (RKI 2006 , 125–128). Im neuen Jahrtausend folgte ein Auf- und Ausbau der Gesundheitssorge, Hand in Hand mit anderen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Städtebau, Verkehrspolitik). So soll eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik gelingen (Blümel 2011 ). Darin sollen neben staatlichen Einrichtungen ebenso Universitäten, Vereine, Stiftungen und Einzelpersonen (Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie andere Heilberufe) eingeschlossen sein.
Drei Handlungsfelder sind hierbei im Blick:
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Die Primärprävention setzt vor Eintreten der Krankheit ein und zielt darauf ab, eine Erkrankung von vornherein zu verhindern. Sie richtet sich an Risikogruppen, Gesunde und Personen ohne Krankheitssymptome. Beispiele für Primärprävention sind schulische (Setting-)Maßnahmen zur Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung oder Suchtprävention, Sicherheit am Arbeitsplatz, Verringerung des Tabakkonsums, Impfungen, Sonnenschutz oder Kariesprophylaxe. Alle primärpräventiven Leistungen können sich auf die Veränderung des individuellen Verhaltens und auf die Veränderung der Verhältnisse in den Lebenswelten der Betroffenen beziehen. Mit diesen Maßnahmen sollen auch Menschen mit Beeinträchtigungen erreicht werden, beispielsweise mit Leistungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
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Die Sekundärprävention setzt im Frühstadium einer Krankheit an. Sie dient der Früherkennung von Krankheiten und der Eindämmung ihres Fortschreitens oder ihrer Verstetigung. Gesundheitsgefahren können von allen Lebensbedingungen – privat wie beruflich – sowie von den individuellen Verhaltensweisen jedes Einzelnen ausgehen. Dabei können je nach Lebensphase (Kindheit und Jugend, Erwachsenenalter, Alter) unterschiedliche Lebensrisiken im Vordergrund stehen.
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Die Tertiärprävention kann im weiteren Sinne verstanden werden als die wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkrankung mit dem Ziel, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder zu verzögern.
(s. z. B. Deutscher Bundestag 2001 , 71; Hurrelmann et al. 2014 ).
Besondere Bedeutung kommt auch in diesem Zusammenhang den sog. Kontextfaktoren zu. Gemeint ist der gesamte Lebenshintergrund einer Person, also alle Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren, die für die Gesundheit von Bedeutung sind und in Wechselwirkung mit allen Komponenten der ICF stehen.
Das im Jahr 2015 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ (Präventionsgesetz – PrävG) (Bundesgesetzblatt 2015 ) trägt dem mittlerweile weitgehend akzeptierten Ansatz der Vorbeugung in allen gesundheitsrelevanten Bereichen Rechnung (Abläufe der Gesetzesentwicklung s. Abb. 2.5 ). Die Zusammenarbeit von Sozialversicherungsträgern, Ländern und Kommunen in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung soll verbessert werden und alle Altersgruppen und Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger sind nach dem umfassenden und grundlegenden Ansatz der Einbettung entsprechender Anliegen in allen Bereichen einbezogen ( Mainstreaming ).
Dies trifft für in der Pflege oder in der Eingliederungshilfe tätige Personen zu, deren besondere gesundheitliche Versorgung sicher verankert werden soll. In allen Altersstufen gilt es, Belastungen und Risikofaktoren bezogen auf eine erreichbare gerechte Gesundheitsversorgung zu erkennen und zu reduzieren. Auch in Gemeinschaftseinrichtungen mit sogenannter teilstationärer oder stationärer Versorgung sollen entsprechende Verfahren entwickelt und umgesetzt werden. Hierzu stehen gesonderte Mittel bereit, die auch mögliche Selbsthilfe aktivitäten einbeziehen. Ein Zusammenspiel mit den Anliegen des BTHG und den neuen Pflegekonzepten muss sich noch festigen. Für die Ausformungen haben Akteure in der Prävention und Gesundheitsförderung (wie gesetzliche Krankenversicherung , gesetzliche Rentenversicherung , gesetzliche Unfallversicherung , soziale Pflegeversicherung , private Krankenversicherung ) in einer Nationalen Präventionskonferenz unter Beteiligung von Bund, Ländern, Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit, der Interessenvertretungen der Personen in Haushalten und Heimversorgung sowie der Sozialpartner ihre Teilhabeziele festgelegt und sich auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt.
Die nachhaltige Gesundheitssorge entwickelt sich somit auf allen Ebenen und in viele Richtungen. Sie muss dabei auch die Vielfalt und Verschiedenheit der Zielgruppen und ständige Wechselwirkungen im Gesundheitsgeschehen einbeziehen.
Exkurs: Prävention in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe: „Gesundheit als Grundstock für alles“ oder als „Kartenhaus“
Bislang liegen kaum aktuelle Studien zur Präventionslage bezogen auf Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung vor. Eine wissenschaftliche Studie (Tempelmann et al. 2019 , 2020 ) zur Evaluation in den besonderen Wohnformen der Pflege und der Eingliederungshilfe wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) durchgeführt. Sie richtet das Augenmerk ebenso auf Bewohnerinnen und Bewohner wie auf das Personal. Aus den Felderkundungen soll ein Qualitätssicherung skonzept (Qualitätsorientierte Prävention und Gesundheitsförderung, kurz: QualiPEP) entstehen, unter Federführung der Bundes-AOK gemeinsam erarbeitet (zum „Gesamtplan“ Tempelmann et al. 2019 , 300). In einer qualitativen Teilstudie wurden dazu Vorkommen und Bewertung präventiver Maßnahmen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe erkundet (Bootz und Wacker 2021a , b ; Wacker und Bootz 2019 ); dies erfolgte mittels etwa 100 persönlicher Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern aus Einrichtungen der Eingliederungshilfe und etwa 50 Personen aus dem Fachpersonal im Betreuungsdienst in Fokusgruppen (Bootz und Wacker 2021a , b ). Beide Gruppierungen konnten – vor der Corona-Pandemie – persönlich befragt werden, die Studie bietet also eine qualitative Momentaufnahme für die Wahrnehmung von Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken. Die folgenden direkten Zitate (O-Töne) stammen aus dieser Befragung. Bewohnerinnen, Bewohner und Fachpersonal begrüßen Prävention und Gesundheitsförderung grundsätzlich, weisen aber auf Besonderheiten in ihrem Setting hin. Diese Besonderheiten müssen beachtet werden, wenn die Umsetzung der Präventionsanliegen gelingen soll.
Perspektive des Fachpersonals
Im Hinblick auf die Gesundheitssorge fühlen sich aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilweise eher vernachlässigt:
„Also ich bin der Meinung, dass was Gesundheit, Prävention und Vorsorge angeht, sind meine Bewohner besser versorgt als ich selbst“ (F okusgruppe 9 | P ersonal ).
Aus Sicht des Personals wird die Gesundheitsdefinition wie folgt auf den Punkt gebracht:
„Gesundheit … das ist eigentlich so der Grundstock für alles“ (F okusgruppe 7 | P ersonal ).
Bei den Mitarbeitenden der Eingliederungshilfe finden sich überdurchschnittlich viele Krankheitstage , auch durch besondere psychische Herausforderungen sowie Nebeneffekte wie besondere Ansteckungsgefahren:
„Wir haben teilweise einen hohen Krankenstand. Sei es durch psychische Belastung, sei es durch gesundheitliche (…). Wir achten dann auf uns gesundheitlich, so gut es geht, dann kommt aber ein erkrankter Bewohner, der Schneeball ist da, das geht dann durch die Einrichtung durch, dann erkrankt der Kollege von der Schicht, wo sich ansteckt bei einem Kunden“ (F okusgruppe 12 | P ersonal ).
Es wird davon gesprochen, dass ohne eine intakte Psychohygiene „das ganze Kartenhaus“ zusammenstürze. Die Beschäftigten sehen sich in einem „Teufelskreis“. So tangieren beispielsweise psychische Herausforderungen die Ernährung, Bewegung und auch das (Aus-)Ruhen, gepaart mit Stressoren wie Wochenenddienste n und Schichtarbeit . Um Abstand zum Beruf wird (oft vergeblich) gerungen, also abschalten zu können, Pausen einzurichten. Auch der Mangel an Anerkennung kommt zur Sprache, ebenso wie die – im Berufsbild eingewobene – Schwierigkeit von Nähe und Distanz. Denn das Verantwortungsbewusstsein ist groß:
„Wir sind halt einfach am Leben dran …“ (F okusgruppe 4 | P ersonal ).
Auf andere und sich achten zu können, ist daher eine schwierige Balanceaufgabe. Regelmäßige Sportgruppen scheitern an unregelmäßigen Arbeitszeiten, ein geregelter Essensablauf gelingt nicht ohne organisierte Pausenkultur. Ausgeprägter Personalmangel wird als eine Ursachenquelle angeführt, aber auch das eigene Bemühen um Stressabbau mit ungesunden Mitteln:
„Ich habe heute bestimmt drei Minuten Pause gemacht. (lacht) Also zu einer Zigarette komme ich eigentlich immer.“ … „Ich esse während der Arbeitszeit gar nicht. Bin dafür aber so dieser typische rauchende und Kaffee trinkende Pfleger. Haben wir das Klischee bedient? (lacht)“ (F okusgruppe 9 | P ersonal ).
Die hohe Krankenquote schlägt sich auf den Dienstplan nieder, die Kolleginnen und Kollegen im Dienst müssen noch mehr Aufgaben übernehmen. Es fehlt an einem Ausfallmanagement .
Als Präventionsstrategien wünschen sich diese Expertinnen und Experten in eigener Sache eine Art Teamkultur (für Pausen) und gesunde Ernährung (Obstkörbe und ausreichendes Wasser). Gewünscht werden ebenso Budgets, etwa für Salatbuffets, gesunde und regenerative Bewegungsangebote (denn stressige Bewegung gibt es genug) oder Dienstfahrräder. Aber es mangelt ebenso an Struktur, sowohl räumlich (Ruheräume) und in der Organisation, als aber auch im Zusammenwirken in der jeweiligen Einrichtung ( Kultur des Miteinander ) wie Teambuilding, Beratung, Supervision und Kommunikation.
Auf jeden Fall – wünschen die Befragten – solle die Individualität der Beschäftigten beachtet werden. Das Personal sieht sich nicht verstanden:
„Die [Geschäftsleiter] wissen nicht, was auf den Gruppen läuft, wie verdammt anstrengend es ist, abends zu zweit den Dienst zu schieben“ (F okusgruppe 9 | P ersonal ).
Hier müssen dringend unterstützende Strukturen für das Personal aufgebaut werden.
Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner
Auch die Auskünfte der Bewohnerinnen und Bewohner unterstreichen insgesamt die vielfachen Präventionsbedarfe für einen heterogenen Personenkreis. Dem müssen Präventionskonzepte gerecht werden. Es finden sich Neuangekommene ebenso wie seit Jahrzehnten dort lebende Personen. Ein Drittel würde andere Wohnformen bevorzugen, beispielsweise mit einer Partnerin oder einem Partner oder auch das Leben in einer eigenen Wohnung. Mehr Privatsphäre , selbstbestimmte Tagesplanung und auch Freizeitgestaltung stehen auf der Wunschliste. Drei Viertel der Befragten sind ledig und weitgehend allein – beispielsweise auch nicht in einen Verein oder eine andere soziale Organisation eingebunden, leben also mit besonderen Risiken, sozial ausgeschlossen oder unverstanden zu sein.
Drei Viertel geben an, eine barrierefreie Wohnsituation zu haben, zwei Drittel können auch eine barrierefreie Wohnumgebung nutzen. Digitale Medien hingegen sind nur etwa für die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner verlässlich verfügbar und nutzbar. Dies lässt Rückschlüsse auf Bedarfe zu, wie bessere Chancen auf gewünschte soziale Kontakte und auf selbstbestimmte Eigenständigkeit, mit denen sich auch Gesundheitsrisiken wie Einsamkeit und Abschottung mindern oder verhindern ließen. Aktuell werden die jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unterstützungsdienst von den Bewohnerinnen und Bewohnern als vorrangige soziale Kontakte gewertet.
Mit der bestehenden Unterstützung äußern sich die meisten befragten Bewohnerinnen und Bewohner dennoch generell eher zufrieden. Der Gesundheitsversorgung attestieren sie gut funktionierende ärztliche Leistungen, die ihnen durchgehend ausreichend erscheinen. Eine nähere Prüfung fördert hingegen zutage: Es gebe kaum gesunde Bewegungsangebote und mangele an gesunder Ernährung. Nahrungsaufnahme wird eher wegen der dabei erlebten Gemeinschaft geschätzt. Verbesserungen sind schwer zu erreichen: Weil nur in geringem Umfang Zugriffe auf eigene finanzielle Mittel möglich sind, lässt sich nur schwer aus eigener Kraft Abhilfe schaffen, etwa über eine (ergänzende) Selbstversorgung. Die Bewohnerinnen und Bewohner leben unter den Regeln der Rundum- Sachleistungen . Eigeninitiativen für individuell gewünschte Sportgeräte oder -aktivitäten sowie ergänzende gesunde Nahrung sind kaum erschwinglich. Fördermittel aus der „Präventionskasse“ könnten also sowohl in sportliche Aktivitäten, Bewegung und Entspannung, gesunde Ernährung, aber auch in die Unterstützung mit Hilfsmitteln fließen. Sehhilfen werden beispielsweise schmerzlich vermisst.
Zusammenfassend zeigen sich in der exemplarischen Feldstudie aus dem Jahr 2019 nennenswerte ungedeckte Bedarfe der Prävention und Gesundheitsversorgung, auf die die Befragten aufmerksam machen. Denn die einen haben
„immer irgendwie das Gefühl (…) auf Reserve zu laufen“ (F okusgruppe 14 | P ersonal ),
und die anderen fühlen sich weitgehend fremdbestimmt (Bootz und Wacker 2019b , 48). Beide befragten Gruppierungen aber wünschen sich Gemeinschaft und Individualität zugunsten ihrer Gesundheit.
Insgesamt mangelt es an einschlägigen Feldstudien, die Möglichkeiten und Grenzen der Prävention bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung aufdecken und die gewünschte Gesundheitsförderungspolitik flankieren, insbesondere, wenn diese Menschen nicht nur als Objekte von Prävention gesehen werden, sondern selbst aktiv daran mitwirken sollen.
Die seit über zwei Jahrzehnten in der Pflegewissenschaft geführte Debatte hierzu steht in der Eingliederungshilfe noch weitgehend aus (Bartholomeyczik 2006 ; Hurrelmann und Horn 2011 ; Roling et al. 2012 ; Schaeffer und Büscher 2009 ), und auch in angrenzenden Disziplinen ist dazu nur wenig zu finden.
2.3 Demografischer Wandel und Gesundheitsbegriff in Zusammenhängen
Gesundheit und Wohlbefinden im höheren Lebensalter sind wichtige Aufgabenfelder der Gegenwart und Zukunft, denn nicht nur jeder einzelne Mensch wird älter, sondern auch die Bevölkerung altert (Brandt et al. 2016 ). Etliche teils überlappende, teils widersprüchliche, teils komplementäre wissenschaftliche Konzepte wie „healthy“, „productive“, „active“, oder „ successful ageing “ verweisen nicht nur auf die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung und die entsprechend rasant steigende Beschäftigung mit diesem Forschungsfeld, sondern auch auf den sozialpolitischen Druck, den die Bevölkerungsalterung auf Sozial- und Gesundheitssysteme ausübt (Foster und Walker 2014 ), auch in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung (z. B. Llewellyn et al. 2004 ). Im gleichen Zuge wird vielerorts auf die Variabilität und Gestaltbarkeit des Alter(n)s verwiesen (BIB 2022 ; Lang et al. 2022 ). Wissenschaftliche Konzepte eines „ erfolgreichen Alterns “ (Baltes und Baltes 1990 ; Rowe und Kahn 1997 ) haben damit maßgeblich dazu beigetragen, dass neben der Tatsache, dass sie als Teilhabechancen maß verwendet werden, auch Personengruppen mit erheblichen Beeinträchtigungen als Personen mit verfügbarer Plastizität , also immer positiven Entwicklungsmöglichkeiten, wahrgenommen werden.
Direkten Einfluss auf die Gesundheit dieser Personengruppen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sieht die Forschung bei den Versorgungsangeboten selbst sowie zugänglicher und nutzbarer gesundheitlicher Versorgung. Hier können sehr unterschiedliche Ressourcen vorliegen, auch verbunden mit im Lebenslauf gewonnenen Resilienz en und genutzten Erfahrungen, etwa im Erwerbsleben oder bei medizinischer Rehabilitation (Ziegelmann und Lippke 2007 ). Möglichkeiten medizinisch-technischer Innovation en sowie gesünderer Lebensführung und bestehende Lebenslagen greifen ineinander, ohne Gebrechlichkeit außer Acht zu lassen (Fuchs et al. 2016 ). Gelegenheiten soziale Netze zu knüpfen und Gemeinschaft zu wählen beziehungsweise mit Mitmenschen verbunden zu sein, bauen Ressourcen auf für Gesundheit (Deindl et al. 2016 ; Lippke et al. 2020a ).
Subjektive Gesundheitsbewertungen von Menschen mit Beeinträchtigungen im höheren Lebensalter zu erhalten, ist besonders aufwendig. Außer den bekannten grundsätzlichen Schwierigkeiten von (Mehrfach-)Befragungen werden zu Interviews auch unterschiedliche Kommunikations-, Informations- oder Mobilitätsherausforderungen berichtet (Gerolimatos et al. 2014 ). Verzerrungen von Forschungsergebnissen zur Gesundheit dieser Personengruppen werden so wahrscheinlich. Zusätzlich werden Bevölkerungsgruppen in organisierten Wohnformen (wie der Alten- oder Behindertenhilfe beziehungsweise in Pflegeeinrichtungen) häufig in Befragungen nicht repräsentativ erfasst oder von „ Gatekeeper n“ abgeschirmt (beispielsweise Angehörigen, Pflegepersonal oder Einrichtungsleitungen), die ihre Befragbarkeit oder Belastbarkeit stellvertretend beurteilen (s. auch Brandt et al. 2016 , 2018 ). Auch das Gesundheitswissen und die eigenen Erwartungen an ein gutes Leben sind Einflussfaktoren (George 2010 ). Daher können beispielsweise Personen mit gleicher Funktionalität sehr unterschiedliche Gesundheitsbewertungen geben, beziehungsweise erhalten. Zudem können auftretende Pflegebedarf e in der Eingliederungshilfe systembedingt anders bewertet und mit Diensten unterstützt werden, als die als altersbedingt eingeschätzten Bedarfe. Zur gesundheitlichen Lage in Pflegeheimen mangelt es insgesamt an Informationen, deswegen fallen Prognosen zur gesundheitlichen Entwicklung der alternden Bevölkerung nicht leicht. Dies gilt umso mehr, wenn nicht allein die Abwesenheit von Krankheiten betrachtet werden soll, sondern Wohlbefinden und „gutes Altern“ im Licht des gesamten Lebensverlaufs (Brandt et al. 2012 ).
Ebenso sind auf der Meso- und Mikroebene weiter klärende Studien zu wünschen. Insbesondere mit Blick auf die (unter Umständen ungleich verteilte oder mangelnde) Verfügbarkeit und Qualität der Pflege für die Gepflegten (unmet care needs, care poverty: Kröger et al. 2019 ; no care zone: Wallace 1990 ), die Pflegebelastungen pflegender Angehöriger und sozialpolitische Einflüsse auf Pflege und Wohlbefinden (Brandt et al. 2021 ; Wagner und Brandt 2018 ) steckt die vergleichende Forschung noch in den Kinderschuhen – obschon der gesellschaftliche Druck mit Blick auf wachsende Ungleichheit en, steigende Pflegebedarfe und sinkende Pflegepotenziale im Zuge sozio-demografischer Veränderungen rapide wächst (Brandt et al. 2023 ).
Blickt man auf ein mögliches Zusammenwirken unterschiedlicher Personenmerkmale beziehungsweise Kontexte, finden sich vielfache Kombinationen von Beeinträchtigungen und Krankheitsbildern (Schulz-Nieswandt 2006 ) beziehungsweise Beeinträchtigungen und Pflege. Ebenso zeigen Daten Zusammenhänge zwischen Diversitätsaspekten wie Geschlecht, Bildung oder Einkommen und Gesundheitseinbußen (Kuhlmey und Schaeffer 2008 ) oder Versorgungserfordernissen im Alter sowie Qualifikationsanforderungen an das Fachpersonal. Diese Intersektionen sind aber nicht spezifisch auf Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderung gerichtet. Stattdessen werden Alter, Gesundheit und Krankheit thematisiert, gekoppelt mit Rüstigkeit (Lebenskraft) oder Gebrechlichkeit ( Altersschwäche ) (von Kondratowitz 2008 ). Ressourcen aufgrund von beziehungsweise trotz eingeschränkter Gesundheit im Dreieck mit Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken werden in Studien zu Beeinträchtigungen kaum mit diesen Blickwinkeln berücksichtigt. Dies ist insbesondere deswegen erstaunlich, weil seit langem darauf aufmerksam gemacht wird, dass Gesundheit ein zentraler Bestandteil für Teilhabe auch bei Beeinträchtigungen und Behinderung ist, auch und gerade im Alter (Wacker 2005 ) und für Wohlbefinden (Diener et al. 1985 ).
Exkurs: Gesundheitssicherung und -förderung mit KompAs für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe: Kompetentes Altern sichern
Mit dem Programm Kompetentes Altern sichern (KompAs) liegt ein Modellversuch zur Gesundheitssicherung und -förderung vor, in dem auch eine Wirkungsmessung mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen erfolgte. Ein Jahr lang erprobten und bewerteten Rehabilitations- und Sportwissenschaftlerinnen ein Bewegungsprogramm, das für und mit Bewohnerinnen und Bewohnern in Einrichtungen der Eingliederungshilfe entwickelt wurde. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren in der dritten und vierten Lebensphase. Alltagstaugliche Gesundheitsprogramme wurden abschließend kommuniziert und zur Verfügung gestellt (Michna et al. 2007 ). In einem Beteiligungsverfahren wurde herausgearbeitet, wie sich ein aktiver Lebensstil unter Einrichtungsbedingungen wirksam entfalten und somit Gesundheitspotenziale fördern kann. Elemente sind Gleichgewichts- und Gangschulungen, Körperwahrnehmungs- und Entspannungsfähigkeit, Kraftfähigkeit und auch Auge-Hand-Koordination sowie die Fähigkeit zur Ausdauer. Die konkreten Praktiken wurden nach gemeinsamer Diskussion und Bewertung in den Alltag übernommen. Das Fazit einer Teilnehmerin lautet:
„Also Spaß macht es uns, sonst tät ma da nicht mitmache“ (Michna et al. 2007 , 212).
Teilhabechancen können als Kernbestandteil von Gesundheitsförderung somit auch hier aufgezeigt werden, und das gilt auch in besonderen Wohnformen.
2.4 Was Menschen gesund hält – im Lebens(ver)lauf
Forschung zur Gesundheit kann Risiken aufdecken, also Umstände finden, die wahrscheinlich zu bestimmten Erkrankungen führen. Es lassen sich aber auch Zusammenhänge erforschen, die Resilienz ( Widerstandskraft ; auch bei problematischen Lebensumständen) abbilden. Resilienz kann man wie in den Materialwissenschaften verstehen, als Fähigkeit von „Material“, unter Belastungen in Form zu bleiben beziehungsweise sich wieder in seine Form zurückzuverwandeln und dabei dauerhaft funktional zu sein.
2.4.1 Entstehung von Gesundheit und Widerstandskräften
Mit dem Modell der Salutogenese (Gesundheitsentstehung) folgte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky ( 1979 , 1997 ) der Frage, was Menschen gesundmacht und -hält, also was Resilienz fördert. Er suchte nach entsprechenden Kraftquellen . Seine Aufmerksamkeit richtete sich weniger auf Krankheiten, sondern mehr auf Ressourcen , wie eine förderliche Grundhaltung gegenüber der Welt und dem eigenen Leben, die Menschen stark machen (s. Abb. 2.6 ). Solche Widerstandskräfte ( Resilienzressourcen ) – so lautete sein Forschungsergebnis – entstehen dann, wenn
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man die Welt in Zusammenhängen sehen und verstehen kann ( Verstehbarkeit : comprehensibility),
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man in ihr selbstbestimmt handeln kann ( Kontrollierbarkeit , Handhabbarkeit: manageability) und
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dies in Zusammenhängen von Bedeutung und Sinn (Bedeutsamkeit, Sinnhaftigkeit : meaningfulness) steht.
Dies fördert Gesundheit, verbunden mit externen Faktoren (Gelingensumständen). Ein entsprechend zusammengesetztes Kohärenzgefühl (sense of coherence) wirkt also als generelle Lebenseinstellung, eingebettet in die gesellschaftlichen Bedingungen von Zeit und Settings, in denen Menschen ihre sozialen Rollen wahrnehmen und darstellen.
„Ich gehe davon aus, dass Heterostase, Ungleichgewicht und Leid, inhärente Bestandteile menschlicher Existenz sind, ebenso wie der Tod“ (Antonovsky 1993 , 6).
Die Stärke dient also dazu, die Ungleichgewichte und auch die Leiderfahrungen, die im Leben vorkommen, zu handhaben und so gesund zu sein beziehungsweise zu bleiben. Dabei sind Beeinträchtigungen keine grundlegende Hürde, sondern ein möglicher Aspekt des andauernden Ungleichgewichts, mit dem sich alle Menschen auseinandersetzen müssen. Zugleich bedeutet dies, dass Stressoren nicht unbedingt krankmachen,
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wenn man einem inneren Kompass folgen kann,
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wenn man seine eigenen Ressourcen kennt, und
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wenn man Verantwortung übernimmt.
Dabei ist von großer Bedeutung, die wichtigen Bedingungen zu kennen und auch eigenes Verhalten ändern zu können.
Nun ist die Frage, wer über diese Ressourcen verfügt und sich dessen bewusst ist. Denn wem es gelingt, besser mit herausfordernden Situationen zielführend und angemessen umzugehen, der bleibt beziehungsweise wird eher (wieder) gesund im weiteren Sinne: Solche Kraftquellen umfassen nicht allein individuelle körperliche Fähigkeiten, sondern auch ein soziales Netzwerk , soziale Unterstützungen und förderliche Umweltbedingungen , die Wohlbefinden erhöhen.
Ressourcen und auch ihre Beurteilung sind kulturgebunden. Dies kommt dem Konzept eines „ internalised sense “, einer verinnerlichten Gewissheit, nahe, die Amarthya Sen ( 1993 ) als capability (Fähigkeit) charakterisiert und mit Lebensqualität und Wohlbefinden verbindet (s. Abschn. 1.3 ). Dies schafft Widerstandskraft in Menschen, vor allem unter förderlichen Bedingungen, die mit Lebensqualität oder „guter Gesundheit“ und „guter Gesundheitsversorgung“ umschrieben werden (Warren und Manderson 2013 , 11). Diese Lebensbedingungen lassen sich für Menschen mit Beeinträchtigungen auf den Prüfstand stellen. Dafür bieten sich das oben genannte Salutogenesekonzept und der „capability approach“ als Rahmung an, um entsprechend Gesundheitslagen und Gesundheitsförderung zu beschreiben und zu bewerten. Im Grunde geht es um zwei Stränge, nämlich die konkrete Lebenssituation einer Person (achieved functionings) und deren verfügbare Möglichkeiten (availabe options). Diese bilden das „capability set“. In diesem situativen und kulturell eingebetteten Zusammenhang leben die einzelnen Personen und bahnen sich ihren Lebensweg, entwickeln ihre Lebenspläne in den jeweiligen Möglichkeitsräumen (close to ability and capacity). Inwiefern ihnen die Umsetzung gelingt, beeinflusst ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden (Bertmann 2018 , 68 ff.).
2.4.2 Gesundheitskompetenz und Fähigkeitsfokus
Lebensfreude und Lebenszufriedenheit können zur Gesundheit beitragen, sind aber allein nicht mit Gesundheit gleichzusetzen. Förderlich sind ebenso die Fähigkeiten von Personen, Gesundheit zu beurteilen und mit ihr umzugehen ( health literacy /Gesundheitskompetenz: Quenzel und Schaeffer 2016 ). Es geht darum, Informationen zu verstehen, das Gesundheitssystem angemessen zu nutzen, auch unter Zugriff auf geeignete Dienstleister (Diviani und Camerini 2014 ). Da sich Menschen mit Beeinträchtigungen überdurchschnittlich häufig mit gesundheitsbezogenen Fragen und Informationen auseinandersetzen müssen und nur eine Minderheit von ihnen es leicht findet, mit diesen Anforderungen umzugehen, besteht hier erheblicher Handlungsbedarf – sei es bezogen auf die Umstände der eigenen Gesundheitsbemühungen, sei es beim Umgang mit dem oder Zugang zum Gesundheitssystem (Schaeffer et al. 2016 ). Einzelne Modellversuche erproben Wege, für die dringend benötigte Kommunikation s- und Information sverbesserung passende Formen zu entwickeln (etwa im Berufsleben angesichts der Wünsche verstanden zu werden und der Befürchtung möglicher Diskriminierung) (s. Abschn. 2.5.2 ) ( https://sag-ichs.de/selbst-test ; Bauer et al. 2017 ; Greifenberg et al. 2022 ). Teilweise werden auch in die berufliche Eingliederung bereits entsprechende Gesundheitsangebote einbezogen (Häb et al. 2016 ).
Gesundheitsförderung gelingt also mit individueller Gesundheitskompetenz und passend zu den beschriebenen externen Fähigkeitsfeldern. Das bedeutet, in einem das ganze Leben umspannenden Aufgabenfeld einen andauernden Prozess voranzutreiben, der Gesundheit stützt und erhält. Bestandteile sind das individuelle Handeln von Personen (Verhalten) sowie die Lebenslagen und Lebensumstände (Verhältnisse). Da Gesundheit kein statischer Zustand ist, muss sie immer aufs Neue angestrebt, beachtet und offensiv verteidigt werden. Diese Aufgabe gelingt in verschiedenen Gruppen der Bevölkerung unterschiedlich gut. Oft gründen Ungleichheiten und Verletzlichkeiten in einem niedrigen sozioökonomischen Status, in (drohender) Diskriminierung, in Benachteiligung bei Bildung und Arbeit, in Sprachbarrieren oder auch sozialräumlicher Benachteiligung (Bolte et al. 2012 ). Diese sogenannten verletzlicheren Gruppen bestehen jedoch aus handlungsfähigen Menschen im Sinne der Ottawa-Charta (WHO 1986 ), weshalb sie von klein auf und umfassend in Gesundheitsfragen einzubinden sind. Für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen wurde beispielsweise bereits im Jahr 2009 im Rahmen des 13. Kinder- und Jugendberichts (BMFSFJ 2009 , 4) durch die Bundesregierung nachdrücklich gefordert und geprüft, wie es – mit passender Prävention und Gesundheitsförderung – gelingen kann, mit Beeinträchtigungen gesund heranzuwachsen.
Es muss im Blick sein, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen haben und nutzen, ihre Kräfte effektiv einzubringen und diese weiter zu entfalten. Eventuell gegebene geringere Gesundheitschancen müssen durch Unterstützung bei Wunsch und Wahl gemildert oder beseitigt werden (Dragano et al. 2010 ). Dies erfordert mehr Anstrengungen, als soziale Ungleichheit nur zu messen und zu beschreiben (Wacker et al. 2010 ).
2.5 Gesundheitspolitik und (betriebliche) Gesundheitsförderung
Das Anliegen, über das Gesundheitswesen die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung insgesamt zu verbessern, findet allgemeine Zustimmung. Zugleich lassen sich Sorgen aufgrund der laufend steigenden Gesundheitsausgaben nicht ausblenden. Eine gesundheitspolitische Herausforderung ist schließlich auch, dass Einkommen, Bildung, soziale Netze, Erholung, Verhaltensspielräume und ähnliche Kraftquellen für Gesundheit nicht allen Gruppierungen in der Bevölkerung gleich zugänglich sind. Ungleiche Chancen der Resilienz durch ungleiche Lebensverhältnisse bewirken ungleiche Gesundheitschancen (Marmot 2015 ). Diese Benachteiligung schadet der Gesundheit der beschriebenen Bevölkerungsgruppen und sollte beseitigt werden.
2.5.1 Gesundheitsausgaben in Deutschland
Die Gesundheitsausgaben in Deutschland sind hoch, auch im internationalen Vergleich. Sie lagen im Jahr 2018 bei 390,6 Mrd. €. Im Vergleich zum Jahr 2008 ergibt sich eine Steigerung von 46 %. Pro Kopf liegen die Ausgaben bei 4712 € und sind damit in den letzten zehn Jahren erheblich gestiegen. Zu den zentralen Faktoren, die den Kostenanstieg beeinflussen, zählen neben der alternden Bevölkerung und der damit im Zusammenhang stehenden Zunahme chronischer Erkrankungen auch der Einsatz leistungsfähiger, aber kostenintensiver Medizintechnik und -produkte (Williams et al. 2019 ).
Im Vergleich zu den Zahlen aus dem Jahr 2018 berichtet das Statistische Bundesamt (Destatis 2022 ) zum Weltgesundheitstag am 7. April 2021 weitere Steigerungen um 19,3 Mrd. € oder 4,9 %.
„Die Gesundheitsausgaben in Deutschland sind im Corona-Jahr 2020 auf einen neuen Höchststand von 440,6 Milliarden Euro gestiegen“ (Destatis 2022 ).
Sie verteilen sich auf die in der Abb. 2.7 wiedergegebenen Bereiche.
Zur Einordnung des gesamtdeutschen Ausgabenniveaus ist ein Blick in die Bundesländer hilfreich: Die Beträge pro Kopf im Jahr 2018 variieren von 5059 € in Brandenburg bis 4282 € in Bremen, und auch die Steigerungsraten streuen deutlich um den gesamtdeutschen Mittelwert (s. Tab. 2.2 ).
Im internationalen Vergleich weist die OECD für Deutschland ein überdurchschnittliches Ausgaben-, aber auch ein ebensolches Leistungsniveau aus. Sie belegt dies über Indikatoren wie Anzahl der Ärztinnen und Ärzte oder des Pflegepersonals, verfügbare Krankenhausbetten oder Krankenhauseinweisungen pro Kopf, die allesamt über dem Mittelwert der Vergleichsländer liegen. Andererseits zeigen andere Vergleichswerte wie Lebenserwartung und vermeidbare Sterblichkeit Mittelmaß (OECD 2019 ). Statistisch sichtbare Ursachen sind eine überdurchschnittliche Verbreitung gesundheitsschädlicher Lebensgewohnheiten und die Zunahme sogenannter Volkskrankheiten wie Krebs, Asthma, Adipositas oder Herzinsuffizienz – Krankheitsbilder, die wirksam durch präventionsmedizinische Versorgungsangebote eingegrenzt werden könnten. Der Blick auf Gesundheitsinvestitionen und Versorgungsstrukturen legt nahe, mehr Augenmerk auf Vergleichsfelder zu legen, in denen sich eine eher geringere Versorgung zeigt. Dies gilt dann wohl weniger für die ärztlich-personelle oder technische Ausstattung der stationären Sektoren. Schwach- und Bruchstellen lassen sich eher im Übergangsbereich zwischen Handlungs- und Zuständigkeitsfeldern der Gesundheitsversorgung vermuten, etwa bei der Prävention und bei Faktoren, die Wohlbefinden und Widerstandskräfte passgenau stärken. Allerdings lassen sich die Erfolge von Prävention auch nicht einfach nachweisen (s. Exkurs ROI).
Return-On-Investment (ROI)
Es gibt Schätzungen (sog. Return-On-Invest Analysen), inwiefern sich Maßnahmen finanziell auszahlen: Diversity Management zeigt einen ROI mit 1 $ Kosten für die Maßnahmen und anschließenden Gewinn beziehungsweise einer Einsparung von 19 $ (Anand und Winters 2008 ). Im Vergleich dazu ist betriebliche Gesundheitsförderung zwar weniger effektiv, aber sie zahlt sich doch deutlich aus (ROI 1 € → 4 €; van Dongen et al. 2011 ). Auch lokale Gesundheitsprogramme haben ein durchschnittliches Verhältnis von 1 € Kosten und 4,1 € Gewinn. In bundesweiten Gesundheitsprogrammen steht durchschnittlich einer Investition von 1 € ein 27,2 €-Gewinn gegenüber (Masters et al. 2017 ). Bei Maßnahmen gegen Einsamkeit „bringt“ – wie britische Studien zeigen – jedes investierte Pfund Sterling immerhin noch einen Gewinn beziehungsweise eine Einsparung von 1,26 Pfund Sterling (McDaid et al. 2017 ).
Wie erläutert bestehen enge Zusammenhänge zum gesamten Lebensverlauf und den darin enthaltenen Möglichkeiten, Gesundheitsressourcen aufzubauen. Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren deutlich seltener Chancen, auf Gesundheitsressourcen zuzugreifen, sei es etwa durch förderliche Bewegung, Ernährung, Entspannung und Teilhabe in gewünschter Gemeinschaft, sei es durch den Einsatz sozioökonomischer Ressourcen. Hieraus lässt sich Handlungsbedarf ableiten. Diese Erfordernisse werden inzwischen wahrgenommen, sodass die (Wieder-)Entdeckung der Gesundheitssorge auch im Hinblick auf Menschen mit Beeinträchtigungen Fahrt aufnimmt und womöglich eine neue Epoche gesundheitsorientierter Medizin beginnen könnte – auch mit Blick auf die langfristigen Einsparungspotenziale.
2.5.2 Programme der Gesundheitsförderung
Aktuell enthalten Programme der Gesundheitsförderung und Prävention Bestandteile mit unterschiedlicher Reichweite und Wirkungsweise (s. Abb. 2.8 ). Neben kurzzeitigen Aktionen in den Feldern der Lebensbedingungen, Rahmenbedingungen, Strukturbildung, Partizipation und des Kompetenzaufbaus treten indirekte oder intermediäre Ergebnisse mittlerer Reichweite über veränderte Lebensstile, Änderungen gesundheitsschädlichen Verhaltens, Gewinne an Funktionsfähigkeit und Physiologie, schließlich gefolgt von langfristig angestrebten Gesundheitswirkungen auf Lebensqualität , Krankheitsvermeidung und Gesundheitsgewinn e.
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Kurzfristige Veränderungsmöglichkeiten
Gesundheitsrisiken werden gesenkt durch den Abbau von Belastungen (wie Lärm oder Schadstoffe), aber auch über die Verbesserung des sozialen Umfeldes, der Arbeits- und Wohnbedingungen oder (Aus-)Bildung. Auch Entwicklungen im öffentlichen Bewusstsein oder von gesetzlichen Rahmenbedingungen können direkt förderlich sein; ebenso wie eine verbesserte Qualifikation der Fachkräfte oder Kommunikation zentraler Akteure. Wissen, Einstellungen, Selbstwert und Selbstwirksamkeit können ebenso gesundheitsförderlich wirken, wie auch beispielsweise Befähigungen ( empowerment ), höhere Aufmerksamkeit für bereichsüberschreitende gesundheitsförderliche Prozesse oder besser erreichbare Gesundheitsdienste.
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Veränderungen mit mittlerer Wirkungsweise
Werden Gesundheitsrisiken Einzelner gesenkt (z. B. bezogen auf Suchtverhalten wie Drogen, Alkohol, Medikamentenkonsum, Rauchen, aber auch im Hinblick auf Ernährung, Bewegung, Arbeitsweise, Vorsorgeuntersuchungen usw.) treten Wirkungen zunächst indirekt, also zeitverzögert und schwer wahrnehmbar, ein. Ähnliche Phänomene sind im konkreten Umgang mit Beeinträchtigungen zu erwarten, etwa durch therapeutische Maßnahmen oder Hilfsmittel.
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Lösungen mit nachhaltiger Wirkung
Als „große Lösungen“ lassen sich Erfolge zählen, die Überlebenszeit sowie die Erkrankungshäufigkeit und -intensität positiv beeinflussen, aber auch Gewinne an Lebensqualität hervorbringen (well-being: Wohlergehen und Wohlbefinden, s. Abschn. 1.4 ). Aus dem Gesundheitsblickwinkel werden Prüfgrößen genutzt wie Wohlbefinden ( well-being ), Lebensqualität (QoL) beziehungsweise qualitätskorrigierte Lebensjahre ( quality-adjusted life years | QALYs oder disability-adjusted life years | DALYs, damit sind mit Beeinträchtigung gelebte Jahre als Belastungsfaktoren im Blick) sowie Chancengerechtigkeit oder einfach Gesundheitsgewinne .
Hierzu nutzbare Theorien und Konzepte wurden oben vorgestellt (s. Abschn. 2.4 ). Dass dies nur Verfahrensmöglichkeiten sind und die Darstellung von Gesundheitserfolgen allein noch keine Gesundheitsqualität bewirkt und sichert, ist eine Binsenweisheit:
„In any system of monitoring, the measurement of outcome is only the first step… In order to take corrective action, one must dig back into the processes that led into unwanted outcomes“ (Donabedian 1980 , 121) | In jedem Monitoringsystem ist die Messung des Ergebnisses nur der erste Schritt… Um korrigierende Maßnahmen zu ergreifen, muss man die Prozesse untersuchen, die zu unerwünschten Ergebnissen geführt haben (Übersetzung der Verfasserinnen) |
Ein angemessenes Verständnis der beobachteten Zahlenentwicklungen, verbunden mit der Offenheit für mögliche und zielführende Interventionen, ist damit keineswegs hinfällig.
2.5.3 Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt
Auch in der gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeitswelt sind noch erhebliche gesundheitsförderliche Entwicklungen nötig (Badura et al. 2020 ). Damit bleibt die Gesundheitssorge generell eine Auf- und Ausbauaufgabe, soweit die wirtschaftlichen Verhältnisse dies zulassen. Im Zusammenspiel von Arbeitsschutz entsprechend des Arbeitsschutzgesetzes mit dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) und Betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) sowie dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM, SGB IX § 167) sind in einer Matrix aus Verhältnis- und Verhaltensprävention Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen einbezogen, insofern sie einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. Hervorzuheben ist insbesondere für den Personenkreis der gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten das betriebliche Eingliederungsmanagement. Entsprechend der gesetzlichen Norm zur Prävention regelt der § 167 im SGB IX, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber klären müssen, was zu tun ist für Beschäftigte, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sind. Es geht um die Möglichkeiten, wie die Betroffenen zurück ins Arbeitsleben kommen können, wie erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Der Prävention und Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben räumt der Gesetzgeber einen hohen Stellenwert ein. Die Umsetzung in den Unternehmen, Betriebsstätten und Dienststellen ist allerdings – trotz betriebs- und volkswirtschaftlichen Nutzens – nicht flächendeckend (Niehaus et al. 2008 ). Die Arbeitgeberseite entzieht sich teilweise der Verpflichtung. Die Auswertungen der ersten Studie zur Implementation des BEM und der rund zehn Jahre späteren repräsentativen Erwerbstätigenbefragung verweisen auf die Lücken und den Bedarf, für eine gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt weiterhin Anreize zu setzen (Niehaus et al. 2021b ).
Im Kontext demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen steigt die Zahl dauerhaft gesundheitlich eingeschränkter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Mehrheit der Unternehmen hat in ihren Belegschaften einen bedeutenden Anteil an gesundheitlich eingeschränkten und/oder Beschäftigten mit (Schwer-)Behinderung (Kugler et al. 2015 ; Kugler et al. 2016 ). Nach Studien von Adam und Niehaus ( 2017 ) kommt dem Alternsmanagement eine zentrale Rolle zu:
„Die alternsgerechte Arbeitsplatzgestaltung unter gesundheitlichen Gesichtspunkten, aber auch unter Berücksichtigung von Prognosen bezüglich möglicher altersbedingter Veränderungen und einsatzkritischer Einschränkungen ist eine große Herausforderung. Ferner sind Führungskräfte als Multiplikatoren und unmittelbare Gestalter der Arbeitsbedingungen miteinzubeziehen, ihre Sensibilisierung, Aktivierung und Einbindung in das Alternsmanagement ist ein zukünftig wichtiges Handlungsfeld. Herausfordernd ist zudem der Einbezug der Beschäftigten z. B. durch BGF zwecks Vermeidung von Fehl- und Überbelastungen, um zur Prävention vorzeitiger Alterungsprozesse beizutragen“ (Adam und Niehaus 2017 , 204).
Die Zahl chronisch erkrankter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und derjenigen, die aktuell nicht erwerbsfähig sind und entsprechend Erwerbsminderungsrente beziehen, steigt (Lippke et al. 2020b ). Insbesondere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind eine stark wachsende und zugleich besonders stigmatisierte Gruppe. Der Umgang mit ihnen überfordert zudem viele Akteure (Niehaus und Vater 2014a , b ).
Auch wenn in den Unternehmen das Bewusstsein für die Relevanz der Thematik wächst, ist ein offener und differenzierter Umgang mit Fragen von Gesundheit, Krankheit und Behinderung im Arbeitskontext noch lange keine Selbstverständlichkeit. Dies führt dazu, dass auch Beschäftigte mit Beeinträchtigungen oder mit häufigeren längeren Erkrankungen genau abwägen, wie offen sie in ihrer Arbeitssituation über ihre Beeinträchtigung oder Erkrankung sprechen. Mit der wichtigen Entscheidung, ob sie ihre Erkrankung beziehungsweise Beeinträchtigung kommunizieren sollen, fühlen sich Betroffene oft allein. Prinzipiell kann ein Offenlegen zahlreiche Vorteile haben, beziehungsweise Nachteilsausgleich e bringen: Betroffene setzen auf Unterstützung durch Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte, auf Arbeitsplatzanpassung en oder darauf, ihre Erkrankung beziehungsweise Beeinträchtigung nicht mehr verstecken zu müssen. Dem stehen jedoch Befürchtungen gegenüber, vor allem hinsichtlich möglicher Diskriminierung durch ihr Arbeitsumfeld, insbesondere wenn die eigenen Rechte nicht (ausreichend) gekannt werden. Noch vielschichtiger wird die Entscheidung dadurch, dass die individuelle Situation mitbestimmt, welche der Hoffnungen und Befürchtungen tatsächlich eintreten (Greifenberg et al. 2022 ). Die Ergebnisse einer quantitativen Befragung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen deuten darauf hin, dass Befürchtungen die Entscheidung deutlich mehr beeinflussen als potenzielle positive Konsequenzen (Niehaus et al. 2021a ). Dies kann dazu führen, dass Betroffene aus Angst vor Diskriminierung und negativen Folgen möglicherweise notwendige Unterstützung nicht in Anspruch nehmen und so auf lange Sicht auch die eigene Gesundheit und ihren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen.
Um die Kräfte der Betroffenen für eine individuell optimale Entscheidung zu steigern und freizusetzen, wurde ein wissenschaftlich fundiertes, barrierearmes Internetangebot entwickelt, das neben relevanten Informationen zur Entscheidung für oder gegen den offenen Umgang mit einer gesundheitlichen Einschränkung im Arbeitskontext einen interaktiven digitalen Selbst-Test anbietet. Footnote 3 Über Fragen zu entscheidungsrelevanten Themenfeldern werden im Selbst-Test Informationen zur individuellen Entscheidungssituation (z. B. berufliche Rahmenbedingungen, persönliche Werte etc.) der Nutzerinnen und Nutzer erhoben. Die Auswertung führt zu einem individualisierten Feedback, ob der jeweilige Teilaspekt in der jeweils spezifischen Situation eher für oder gegen einen offenen Umgang spricht. Außerdem wird auf weitere Ressourcen (wie Selbsthilfegruppen , Rechtsberatung en, therapeutische Angebote, betriebliche Unterstützungen durch Schwerbehindertenvertretung en, Betriebsärztinnen und -ärzte) verwiesen, die helfen, nächste Schritte zu planen, anzugehen und weiterführende (persönliche) Beratung in Anspruch zu nehmen.
Damit kann die Gesundheitskompetenz und langfristig auch die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit Betroffener unterstützt und gefördert werden. In allen Projektphasen der Implementierung des Selbst-Tests wurden Expertinnen und Experten in eigener Sache, Selbsthilfe und relevante Stakeholder einbezogen, um Nützlichkeit, Akzeptanz und Praktikabilität des Angebotes sicherzustellen (Niehaus et al. 2021a ).
2.6 Gesundheitsverhältnisse und Versorgungsqualität
Im System der gesundheitlichen Sicherung kommt in Deutschland der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine entscheidende Rolle zu. Es besteht eine Allgemeine Krankenversicherungspflicht für alle Personen mit deutschem Wohnsitz bei in Deutschland zugelassenen Krankenversicherern. Den (gesetzlich, freiwillig oder Familien-)Versicherten stellt die GKV ohne Gesundheitsprüfung umfassend Sachleistungen zur Krankheitsbehandlung zur Verfügung, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Ansprüche kann man als öffentlich-rechtliche Streitigkeiten gebührenfrei einklagen.
Für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung gilt dies gleichermaßen. Das Fünfte Sozialgesetzbuch enthält in § 2a SGB V eine eigenständige Regelung, die ausdrücklich deren Belange in den Mittelpunkt stellt. Hierzu gilt es, ihre Teilhabe zu berücksichtigen, ihre Selbstbestimmung zu ermöglichen und durch Beeinträchtigungen beziehungsweise chronische Krankheit bedingte Nachteile auszugleichen. Dies entspricht dem im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) bestimmten Benachteiligungsverbot. Die UN-BRK verbietet in Art. 25 (s. Abschn. 4.1 .) die Diskriminierung behinderter Menschen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung. Ebenso wird dort verboten, die Gesundheitsversorgung oder Gesundheitsleistungen sowie Nahrungsmittel und Flüssigkeiten aufgrund einer Beeinträchtigung vorzuenthalten.
Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung haben Anspruch auf die erforderlichen Leistungen, insbesondere zur medizinischen Rehabilitation, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung haben ebenso Anspruch auf die Früherkennung sangebote der gesetzlichen Krankenkassen. Eingeschlossen sind auch Kinder mit Beeinträchtigungen, Behinderung oder mit drohender Behinderung und deren Leistungsansprüche auf Früherkennung und Frühförderung. Neben der ärztlichen Behandlung sind sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische und psychosoziale Leistungen zur Frühdiagnose und Behandlungsplanung einbezogen. Diese Leistungen werden nicht von der Krankenkasse, sondern von den Trägern der Sozial- und Jugendhilfe erbracht und – bezogen auf individuell erforderliche Leistungen – gemeinsam mit den Eltern in einem interdisziplinär entwickelten Förder- und Behandlungsplan erarbeitet. Auf dieser Grundlage können die Träger der Krankenversicherung und der Sozial- beziehungsweise Jugendhilfe die Leistungen als Komplexleistung erbringen. Für Leistungen zur Früherkennung und -förderung stehen interdisziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren zur Verfügung. Leistungen können in ambulanter, einschließlich mobiler Form, erbracht werden. Eine gemeindenahe ambulante ärztliche und zahnärztliche Versorgung stellt nach den entsprechenden Bedarfsplanungen – auch im ländlichen Raum – die vertragsärztliche Versorgung sicher (§§ 99 ff. SGB V).
Viele Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung benötigen Pflege beziehungsweise Assistenz bei alltäglichen Verrichtungen. Nach dem im § 2 SGB XI verankerten Leitbild ist gute Pflege menschenwürdig und hat ein möglichst selbstständiges Leben sowie die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zum Ziel.
Mit der Pflegereform von 2017 sind verschiedene Personen und Personengruppen mit Beeinträchtigungen in neuer Weise eingebunden worden. Das sind vor allem Personen mit Demenz (als größter Anteil der Personen mit psychischen Beeinträchtigungen), die bedarfsorientiert Leistungen beanspruchen können. Gute Pflege soll in der Gemeinde beziehungsweise im Quartier erfolgen und bestehende Netzwerke, das Wohnen und Wohnumfeld, Gesundheitsdienste und Versorgungssysteme (niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser, andere Einrichtungen wie Beratungsstellen) einbeziehen. Dennoch sind viele Fragen offen, wie etwa der Umgang mit der Verschiedenheit der Bedarfe und Bedürfnisse der Leistungsberechtigten, beispielsweise im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Beeinträchtigung, Herkunft und andere Merkmale.
2.7 Gesundheit und Teilhabe – erste Ergebnisse aus der Teilhabebefragung
Die Sicht von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung auf Gesundheit und Versorgungsqualität ist als authentische Informations- und Planungsquelle von großer Bedeutung (Steinhart 2018 ). Ob und inwieweit der gleichberechtigte Zugang zu gesundheitlichen Versorgungsstrukturen für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen umgesetzt wird, ist bisher kaum detailliert untersucht. Die aktuelle bundesweite Teilhabebefragung – ein wichtiger Schritt in der quantitativ-vergleichenden Dokumentation der Lebenslagen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und Behinderung (BMAS 2021 , 61) – ermöglicht es, Hinweise auf wahrgenommene Teilhabechancen und Zugangsbeschränkungen in Deutschland zu identifizieren. Sie bietet eine quantitative, repräsentative und ICF-konforme empirische Basis für eine detailliertere Analyse, in welchen Bereichen Versorgungslücken bestehen und welche Teilgruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung davon betroffen sind. Darüber hinaus kann sie erste Antworten auf die Frage liefern, welche Hürden beim Zugang zu Strukturen und Einrichtungen des Gesundheitswesens bestehen, welche Unterstützung benötigt wird, um die Angebote in Anspruch zu nehmen und wie häufig diese Unterstützung fehlt.
Mit den ersten Ergebnissen dieser Teilhabebefragung Footnote 4 können die Ausführungen zu Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken angereichert werden. Weitere wertvolle Einschätzungen werden möglich und zugleich wird eine Brücke geschlagen zur zukünftigen Teilhabeberichterstattung der Bundesregierung.
Behinderung und Beeinträchtigung wurden in der Teilhabebefragung wie folgt erhoben:
„Der Begriff Beeinträchtigung bezieht sich in der Teilhabebefragung auf konkrete Beeinträchtigungen von Fähigkeiten, von denen Menschen betroffen sind. Abgefragt werden dauerhafte Beeinträchtigungen kognitiver, seelischer und körperlicher Art. Von einer Behinderung wird dann gesprochen, wenn Beeinträchtigungen mit Barrieren in der Umwelt so zusammenwirken, dass dies zu einer Einschränkung bei Aktivitäten im Alltag führt. Sowohl die Beeinträchtigung als auch die Behinderung im Sinne von Einschränkungen bei Aktivitäten im Alltag werden über Fragen zur Selbsteinschätzung der Befragten gemessen“ (BMAS 2021 , 53).
Selbsteinschätzung meint, dass die Befragten gebeten wurden anzugeben, inwieweit sie sich selbst als beeinträchtigt oder behindert erleben.
Erste Auswertungen bezogen auf Gesundheit beleuchten folgende Fragestellungen:
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Frage 1: An welchen Stellen gibt es keine Möglichkeit, die erforderliche Beratung und Behandlung zu bekommen?
Die Teilhabebefragung erhebt exemplarisch für acht zentrale gesundheitliche Versorgungsbereiche, wie Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen ihren Zugang bewerten. Dazu gehören z. B. Haus-, Zahn- oder Fachärztinnen und -ärzte, Krankenhäuser oder psychiatrische Einrichtungen (s. Abb. 2.9 ). Die Befragten können jeweils mit den Antwortoptionen „ja, immer“, „ja, meistens“, „nein“ beziehungsweise „das brauche ich nicht“ eine Einschätzung geben, ob sie im Krankheitsfall die Möglichkeit haben, hier eine notwendige Behandlung oder Beratung zu erhalten. Footnote 5
Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung berichten über alle Bereiche hinweg häufiger als Menschen ohne Beeinträchtigungen von Versorgungslücken , vor allem, dass sie keine Möglichkeit haben, eine erforderliche Beratung und Behandlung zu bekommen. In Bezug auf die abgefragten Versorgungsangebote zeigt sich wie in Abb. 2.9 dargestellt, dass fast neun % der Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung im Bedarfsfall den Zugang zu psychologischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Diensten als nicht möglich erachten. Bezüglich Reha-Kliniken waren es gut sieben %. Demgegenüber geben Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen deutlich seltener an, nicht die erforderliche Beratung und Behandlung bekommen zu können, und zwischen diesen beiden Gruppen gibt es nur geringe Unterschiede. Footnote 6
Abb. 2.10 differenziert die berichteten Behandlungslücken nach Einschränkungsarten. Ausgewiesen wird die Häufigkeit von Zugangsbeschränkungen in mindestens einem Versorgungsbereich für die jeweiligen Personengruppen. Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung und Einschränkungen beim Sehen berichten demnach zu rund 27 %, dass sie bei mindestens einer der abgefragten Stellen keine Möglichkeit haben, die erforderliche Beratung und Behandlung zu bekommen. Ähnlich häufig berichten Menschen mit Einschränkung en durch schwere psychische Probleme von erlebten Behandlungslücken. Von Menschen mit Einschränkungen beim Hören beziehungsweise beim Sprechen werden am seltensten Behandlungslücken wahrgenommen.
In der Gruppe der Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung, in der im Durchschnitt 21,4 % Behandlungslücken angeben (s. Abb. 2.10 ), berichten Frauen (24,5 %) und Menschen mit Migrationshintergrund (32,0 %) überdurchschnittlich häufig von Behandlungslücken (s. Tab. 2.3 ). Außerdem nimmt die Häufigkeit der Nennung mindestens eines fehlenden Zugangs mit dem Alter der Befragten und auch mit einem späteren Zeitpunkt des Eintretens einer Beeinträchtigung im Lebensverlauf ab. Nur geringe Unterschiede bestehen in Abhängigkeit vom GdB.
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Frage 2: Welche Probleme treten beim Zugang zur gesundheitlichen Versorgung auf, und welche Menschen stoßen vermehrt auf Probleme?
Bei der Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung können Menschen auf verschiedene Probleme stoßen. Die Teilhabebefragung prüft beispielhaft acht mögliche Problembereiche. Dazu gehören etwa die Terminvergabe, die Verfügbarkeit, Erreichbarkeit oder Nutzbarkeit von Versorgungsangeboten (s. Abb. 2.11 ). Die Befragten können angeben, wie häufig sie Probleme in diesen Bereichen schon selbst erlebt haben (Antwortoptionen: „immer“, „häufig“, „selten“, „nie“). Footnote 7
Die Daten zeigen, dass bei Vorliegen einer selbsteingeschätzten Behinderung Menschen zum Teil deutlich häufiger berichten, dass sie die abgefragten Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung „immer“ erleben, als Menschen ohne eine Beeinträchtigung. Absolut und im Gruppenvergleich am deutlichsten sind die Probleme im Bereich der Verfügbarkeit und Terminfindung ausgeprägt: Für 13 % der Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung sind die benötigten Versorgungsangebote an ihrem Wohnort nicht vorhanden. Elf % geben an, dass sie immer zu lange auf einen Termin warten müssen. Menschen ohne selbsteingeschätzte Behinderung berichten demgegenüber deutlich seltener, dass sie die genannten Probleme erleben. Dabei zeigen sich nur geringe Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass erfahrene Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung nicht mit dem Vorliegen einer Beeinträchtigung, sondern erst bei einer selbsteingeschätzten Behinderung auftreten.
Ob ein Mensch in einem der abgefragten Bereiche Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung erlebt, hängt auch von der Art der Beeinträchtigung ab. Menschen mit einer Einschränkung beim Sprechen berichten zu 34 %, dass eines der abgefragten Probleme „immer“ auftritt. Unter den Menschen mit Einschränkungen durch Schmerzen sind es 31 %. Diese Beeinträchtigungen gehen nach Selbstauskunft häufiger mit der Erfahrung grundsätzlicher Probleme bei der Inanspruchnahme der gesundheitlichen Angebote einher, als z. B. Einschränkungen durch schwere seelische oder psychische Probleme oder Einschränkungen beim Hören (s. Abb. 2.12 ).
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Frage 3: Wobei brauchen Menschen Unterstützung bei der Nutzung von Versorgungsangeboten?
Um Barrieren konkret beschreiben zu können, wird in der Teilhabebefragung für fünf Bereiche der Unterstützungsbedarf abgefragt, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinflussen. Dazu gehört das Erreichen und Betreten, z. B. die Terminvereinbarung mit und das Hinkommen zu medizinischen Einrichtungen. Die Befragten können angeben, ob sie bei diesen Aktivitäten Unterstützung brauchen:
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„das kann ich ganz alleine machen“,
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„dabei habe ich die Unterstützung, die ich brauche“ beziehungsweise
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„dabei fehlt mir die Unterstützung, die ich brauche“
sind die entsprechenden Antwortoptionen (s. Abb. 2.13 ).
Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung geben demnach deutlich häufiger an, auf Unterstützung bei der Inanspruchnahme von Angeboten der Gesundheitsversorgung angewiesen zu sein. Rund 23 % benötigen zum Beispiel Unterstützung, um zu ärztlichen oder therapeutischen Diensten oder zu Gesundheitseinrichtungen zu kommen. Ein Fünftel gibt an, Unterstützung zu brauchen, um Angelegenheiten mit der Krankenkasse zu regeln. Menschen ohne selbsteingeschätzte Behinderung benötigen im Gegensatz dazu deutlich seltener Unterstützung. Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen sind – wie bereits bei den oben gezeigten Auswertungen – gering.
Zwischen der gesetzlich vorgeschriebenen Versorgungslage und der erfahrenen Versorgungsqualität zeigen sich erhebliche Unterschiede. Dabei ist der erfolgreiche Zugang zur Gesundheitsversorgung inklusive Pflege- und Präventionsleistungen eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe im Sinne von Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken. Die Facetten möglicher Benachteiligungen sind in den vorangegangenen Abschn. 2.1 bis 2.4 beschrieben.
Exkurs: Gesundheitsversorgung – spezifische Herausforderungen für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen
Mit Blick auf die nach Art. 25 und Art. 9 der UN-BRK erforderliche gute, zugängliche, diskriminierungsfreie und umfassende Gesundheitsversorgung für Menschen mit Beeinträchtigungen stellen sich zunächst Fragen zur allgemeinen ambulanten oder stationären Behandlung von Krankheiten. Zugleich können Beeinträchtigungen gesundheitliche Probleme und damit auch spezielle Behandlungsnotwendigkeiten sowie spezifische Anforderungen an die Behandlung mit sich bringen. Die (fehlende) Barrierefreiheit von Praxen (BMAS 2021 , 348 ff.) ist dabei von entscheidender Bedeutung, wie auch die in Abschn. 2.7 vorgestellten Ergebnisse der Teilhabebefragung vor allem für Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung verdeutlicht haben. Das Kompetenznetz Public Health COVID 19 ( 2020 ) fordert daher,
„gesundheitliche Chancengleichheit als politikübergreifendes Ziel aufzugreifen und dafür im Bundesgesundheitsministerium eine eigenständige Monitoring- und Beratungseinheit einzurichten“ (2020, 5).
Diese müsse unbedingt neben Ungleichheiten aufgrund der sozioökonomischen Lage, des Geschlechts, der ethnischen beziehungsweise kulturellen Herkunft oder des Alters auch den Fokus auf Behinderung richten, damit entsprechende spezifische Bedarfslagen berücksichtigt werden.
Gerade für Personen mit ausgeprägten körperlichen, geistigen oder psychischen beziehungsweise komplexen Beeinträchtigungen finden sich Hinweise auf nochmals höhere und besondere Exklusionsgefährdungen bei der Behandlung und Beratung ihrer gesundheitlichen Probleme, und zwar sowohl in Praxen vor Ort als auch in Krankenhäusern (Steffen und Blum 2012 ; Stockmann 2020 ). Mit komplexen Beeinträchtigungen (früher Mehrfachbehinderung ) sind besonders tiefgreifende Beeinträchtigungen gemeint, die häufig auch mit gesundheitlichen Belastungen, Einschränkungen der Kommunikation und einem hohen Unterstützungsbedarf einhergehen. Diese Problematiken sollen exemplarisch beleuchtet werden, denn sofern ihre gesundheitlichen Einschränkungen oder ihr Unterstützungsbedarf besondere Anforderungen mit sich bringen, stoßen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen an die Grenzen eines auf Krankheitsbehandlung spezialisierten Medizinsystems, das im Hinblick auf passgenaue Gesundheitsversorgung und vielschichtige bio-psycho-soziale Aufgabenstellungen wenig gerüstet ist. Dass bei komplexer Beeinträchtigung besonders hohe Beschränkungen der Zugangsmöglichkeiten nicht nur zur vollen Breite der Angebote der Gesundheit und Therapie, sondern auch der Erziehung, Bildung und Beschäftigung bestehen, lässt sich empirisch deutlich zeigen (Beck und Franz 2019 ). Gleichzeitig lassen sich hier aber Modellvorhaben und auch gesetzliche Entwicklungen benennen, deren flächendeckende Umsetzung für diesen Personenkreis, aber auch für viele weitere Menschen mit Beeinträchtigungen, den Zugang zu und die Wirksamkeit von Gesundheitsleistungen verbessern können. Mit Blick auf einen spezifischen Bedarf von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen sind folgende Aspekte wesentlich:
Diagnostik und Intervention
Für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen können Diagnostik und therapeutische Eingriffe nicht nur durch u. U. beeinträchtigte Kommunikationsmöglichkeiten, sondern auch durch anatomische und physiologische Besonderheiten erheblich beeinflusst werden (z. B. Ihringer et al. 2013 ).
Höheres Erkrankungsrisiko, schwierige Diagnosen
Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen können generell ein höheres Erkrankungsrisiko haben und sind dann entsprechend häufiger auf Leistungen des Gesundheitssystems angewiesen (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 , 3).
Pflegemängel und individuelle Anforderungen
Seidel ( 2009 ) weist auf „erhebliche Pflegemängel während des Krankenhausaufenthaltes, personelle Unterstützungen von dritter Seite (Angehörige, Einrichtungen) als Bedingung für Krankenhausaufnahmen, vorfristige und schlecht vorbereitete Entlassungen“ als zentrale Probleme der ärztlichen Behandlung von Menschen mit geistigen und mehrfachen Beeinträchtigungen hin. Hintergrund ist, dass
„an die Grund- und an die Behandlungspflege sehr individuelle Anforderungen gerichtet werden, auf die das Personal einer bestimmten Fachabteilung im Krankenhaus nicht vorbereitet ist“ (Seidel 2009 , o. S.),
zum Beispiel aufgrund von Einschränkungen der Mobilität, des Sehens oder Hörens, der Kommunikation, der Nahrungsaufnahme usw.
Informations-, Kommunikations- und Wissensdefizit e bei komplexen Beeinträchtigungen
Nach Steffen und Blum ( 2012 ) kann mit Bezug auf Stellungnahmen und Befassungen des Deutschen Ärztetags 2009 und 2010 zur medizinischen Versorgung vor Ort und in Krankenhäusern festgehalten werden, dass es im Hinblick auf Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen
„einen Mangel an gut vorbereiteten Krankenhäusern, Ärzten, Therapeuten sowie Angehörigen anderer Gesundheitsberufe gibt“ (Steffen und Blum 2012 , 860).
Die Teilhabebefragung hat dies deutlich bestätigt. Als zentrale Themenfelder lassen sich hier neben der Barrierefreiheit die Symptomerkennung und Diagnosestellung, der Umgang mit den Menschen und die Kommunikation identifizieren (Steffen und Blum 2012 , 860). Bestätigt wird dieses Bild von Schülle ( 2016 ) anhand ihrer Analyse vorliegender nationaler und internationaler empirischer Untersuchungen; sie konstatiert zusätzlich ein
„Fehlen an benötigtem Fachwissen bei den allgemeinen Leistungserbringern“ (Schülle 2016 , 9).
Im Jahr 2012 wurde im Auftrag der Stiftung Alsterdorf eine explorative Studie zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen in Hamburg durchgeführt. Insbesondere Problemstellen wie Informationsdefizite, das Einbestellsystem (z. B. Wartezeiten auf Termin, wenig Zeit für Patientinnen und Patienten) und die Arztsuche, werden dabei deutlich (Steffen und Blum 2012 ).
Ein weiteres Aufgabenfeld ist die
Begleitung im Krankenhaus
Zwar besteht für Menschen mit Behinderung gemäß § 113 Abs. 2 Nr. 2 und § 78 SGB IX ein Anspruch auf Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe und
„man könnte aus diesen Vorschriften auch einen Anspruch auf eine Assistenz während des Krankenhausaufenthaltes herleiten. Es finden sich allerdings nur in wenigen Landesrahmenverträgen beziehungsweise in den Übergangsvereinbarungen, die die nach § 113 Absatz 2 Nr. 2 und § 78 SGB IX zu erbringende Leistung konkretisieren, Hinweise (Stand 29.09.2020), sodass auch ein – nach dem Recht theoretisch herleitbarer Anspruch – in der Praxis in der Regel leerläuft. Eine ausdrückliche, bundesweite Regelung fehlt somit bislang.“ (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 , 6)
Lediglich Menschen, die ihre Assistenz im Arbeitgebermodell organisieren, also selbst Arbeitgeberin beziehungsweise Arbeitgeber der Assistenzkraft sind, hatten bislang Anspruch auf Begleitung und Unterstützung durch diese Kräfte im Krankenhaus. Der Bundestag hat jedoch im Juni 2021 eine Neuregelung im SGB V § 44 beschlossen (Deutscher Bundestag 2021 ), wonach die gesetzliche Krankenversicherung Kosten einer Assistenz übernimmt, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen bei einer stationären Krankenhausbehandlung von nahen Angehörigen oder Bezugspersonen aus dem engsten persönlichen Umfeld begleitet werden. Auch die Begleitung durch Mitarbeitende eines Leistungserbringers der Eingliederungshilfe wird finanziert, allerdings dann durch den Eingliederungshilfeträger. Ältere Menschen mit Pflegebedarf oder Beeinträchtigungen sind jedoch von dieser Neuregelung ausgenommen, sofern sie, was häufig der Fall ist, keine Eingliederungshilfeleistungen erhalten.
Eine weitere spezifische und drängende Problematik, die aber im vorliegenden Zusammenhang nicht vertieft behandelt werden kann, stellt die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und psychischen Problematiken dar. Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung haben hierzu im Jahr 2019 Problemanzeigen und Forderungen zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung vorgelegt. Demnach sei trotz eines
„überdurchschnittlich hohen psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs“ (Die Fachverbände 2019 , 1)
die Versorgung mangelhaft. Gleichzeitig ergäben sich aus den besonderen Bedarfslagen, der teilweise erschwerten Kommunikation sowie
„der großen Bedeutung ihrer sozialen Unterstützungssysteme, der oft notwendigen Einbeziehung der gesetzlichen Betreuer usw. […] besondere fachliche, konzeptionelle, organisatorische und strukturelle Anforderungen an die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in allen Sektoren.“ (Die Fachverbände 2019 , 1)
Aktuell führt das Bundesministerium für Gesundheit hierzu einen Dialog zur Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch kranke Menschen durch, dessen Ziele eine Standortbestimmung, die Verständigung über Entwicklungsbedarfe und die Formulierung von Handlungsempfehlungen für eine personenzentrierte Versorgung sind. Hierzu finden – laut Fachverbänden – auch Foren zu zielgruppenspezifischen Versorgungsfragen und besonderen Behandlungsanforderungen, wie z. B. der psychiatrischen/psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen statt.
Neben diesen Aktivitäten haben sich in den letzten Jahren bereits mehrere Ansätze für den Bereich des Zugangs und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen entwickelt, deren flächendeckende Umsetzung aber noch ein Desiderat darstellt.
-
Erstens wurde eine ganze Reihe von Modellprojekten oder Initiativen in Städten, Landkreisen und Bundesländern durchgeführt, Beispiele dazu finden sich unter anderem in der Tagungsdokumentation vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung ( 2016 ). Die Bayerische Staatsregierung ( 2018 ) gab landesweite Empfehlungen „Menschen mit Behinderung im Krankenhaus“ heraus. Diese Projekte und Initiativen haben mittlerweile, neben einem verstärkten Bewusstsein für entsprechende spezifische Gesundheitsfragen, auch an vielen Stellen zu konkreten Verbesserungen der Zugänglichkeit, der Information, der Kooperation und der Behandlung geführt. Darüber hinaus gründete sich im Jahr 2015 die Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärzte für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, der auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte angehören. Das Projekt EIBeMeB (Einschätzungsinstrument für die systematische Erfassung der gesundheitlichen und pflegerischen Bedarfe von Menschen mit geistigen oder/und mehrfachen Behinderungen) der Fakultät Gesundheitswesen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Wolfsburg unter Beteiligung zahlreicher Praxispartner geht ebenfalls von unterschiedlich ausgeprägten Nachteilen für Menschen mit geistigen und/oder mehrfachen Beeinträchtigungen aus und hat die Entwicklung eines Einschätzungsinstruments für die systematische Erfassung ihrer gesundheitlichen und pflegerischen Bedarfe zum Ziel (Ostfalia Hochschule 2017 ).
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Zweitens wurden im Rahmen der Definition von Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX/BTHG „die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen“ aufgenommen, einschließlich der Verständigung mit relevanten Personenkreisen in der Umwelt. Die Sicherstellung der Wirksamkeit gemäß der UN-BRK ist vor dem Hintergrund eingeschränkter Selbstsorge in diesem Zusammenhang von hoher Bedeutung.
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Drittens wurden bundesweit Medizinische Zentren für Menschen mit Behinderung (MZEB) gegründet, deren Zielgruppe allerdings eingeschränkt ist auf Erwachsene mit geistigen und mehrfachen Beeinträchtigungen. MZEB stellen
„eine spezialisierte Versorgungsform in Ergänzung zum Regelsystem dar und setzen dort an, wo das Regelsystem bezüglich einer adäquaten Gesundheitsversorgung für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung an seine Grenzen stößt.“ (Kostka et al. 2019 , 2)
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Die gesetzlichen Voraussetzungen bilden der § 43b und der § 119c SGB V im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes. Die hier mögliche interdisziplinäre Behandlung und Beratung stellen aber keine Dauerversorgung bereit, sondern es soll immer die Eingliederung in das Regelversorgungssystem verfolgt werden, z. B. über Diagnose- und Behandlungspläne für weitere Behandlungen (Kostka et al. 2019 ; Winterholler 2019 ). Die medizinischen Behandlungszentren sollen ausdrücklich mit anderen behandelnden Ärztinnen und Ärzten, den Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe sowie mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst eng zusammenarbeiten (Winterholler 2019 ). Sie ersetzen diese keineswegs, schon aufgrund ihrer begrenzten Zahl. Außerdem knüpft sich der Zugang zu den MZEB an enge Kriterien: So sind ein GdB von mehr als 70, mindestens ein Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis sowie eine Diagnose, die im Feststellungsbescheid für die Schwerbehinderung definiert wurde, Zugangsvoraussetzungen. Dies wird von den Betroffenen und ihren Angehörigen als deutlich zu eng kritisiert (Kostka et al. 2019 ).
Aufgrund weiterbestehender Schwierigkeiten bei der Gesundheitsversorgung hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 erneut ein Positionspapier „Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung verbessern!“ vorgelegt (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 ), das die Mängel der ärztlichen Versorgung vor Ort und in Krankenhäusern thematisiert. Zu den Forderungen zählen,
„die zuständigen Gremien der Selbstverwaltung systematisch in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten und anderen Fachkräften im Gesundheitswesen zu integrieren“,
den erhöhten zeitlichen Aufwand bei der Behandlung dieses Personenkreises ausreichend zu vergüten und
„neue, integrierte und koordinierte Versorgungsformen gemäß § 140a Sozialgesetzbuch (SGB) V auszubauen, um einen interdisziplinäreren und ganzheitlicheren Ansatz bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung zu etablieren“ (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 , 4).
Eine wichtige Funktion könnten dafür kommunale Gesundheitskonferenz en übernehmen, in deren Rahmen sich
„Akteure aus der Gesundheitsförderung und Prävention, der gesundheitlichen Versorgung, der Selbsthilfe , des Patientenschutzes und aus dem Sozialbereich gesundheitsrelevante Fragestellungen“ (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020 , 4)
verständigen. Für die Krankenhausversorgung vor Ort schlägt die Bundesvereinigung vor, spezialisierte Stationen einzurichten.
Wie eine Verbesserung der wohnortnahen gesundheitlichen Versorgung von erwachsenen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen umgesetzt werden kann, wurde im Hamburger Projekt Gesundheit 25* (Zentrum für Inklusion, Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung e. V. 2019 ) über drei Jahre erprobt und evaluiert. Dabei wurden einerseits Angebote entwickelt, um die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung zu fördern und Prävention wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig sollen über eine Quartierskoordinatorin Einrichtungen und Akteure der Eingliederungshilfe, der medizinischen Versorgung sowie der Zivilgesellschaft vernetzt werden.
Eine weitere wichtige Möglichkeit, die Krankenhausversorgung generell für Menschen mit Beeinträchtigungen über den spezifischen Auftrag und die besondere Rolle der MZEB hinaus zu verbessern, ist die Möglichkeit, sogenannte Qualitätsverträge für Krankenhäuser abzuschließen, die im Rahmen des Krankenhausstrukturgesetz es (KHSG) neu geschaffen wurden.
„Damit soll erprobt werden, inwieweit sich weitere Verbesserungen in der stationären Versorgung, insbesondere durch die Vereinbarung von höherwertigen Qualitätsanforderungen und Anreizen, erreichen lassen.“ (GKV-Spitzenverband 2018 , o. S.)
Um das Themenspektrum für die Erprobung dieser neuen Möglichkeit einzugrenzen, hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Jahr 2017 vier Leistungsbereiche definiert; einer davon ist die Versorgung von Menschen mit geistigen oder schweren beziehungsweise mehrfachen Beeinträchtigungen im Krankenhaus (GKV-Spitzenverband 2018 ). Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband verwies diesbezüglich auf fünf Aspekte, die im Rahmen der Erprobung und vor allem mit Blick auf eine bessere künftige Regelversorgung in den Krankenhäusern im Mittelpunkt stehen sollten: ein strukturiertes Aufnahmemanagement, die Sicherstellung von Bezugspersonen oder einer Assistenz im Krankenhaus, die Kommunikation, ein strukturiertes Entlassungsmanagement und die Aus-, Fort- und Weiterbildung des medizinischen Personals (DEKV 2018 ). Allerdings besteht kein Anspruch auf den Abschluss eines solchen Vertrags und aktuell wird von der Möglichkeit nahezu kein Gebrauch gemacht: Tatsächlich wurde am 1. Oktober 2020 zum ersten Mal ein solcher Vertrag geschlossen (EU-Schwerbehinderung 2020 ), was auf die weiterbestehende Problematik verweist, gleichberechtigte Zugänge zu Gesundheitsangeboten herzustellen.
Notes
- 1.
§§ 35–46 der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der BAR, 2. Aufl. 2019, abrufbar unter www.bar-frankfurt.de .
- 2.
§ 3 SGB IX, Näheres in der unter www.bar-frankfurt.de abrufbaren Gemeinsame Empfehlung „Prävention nach § 3 SGB IX“.
- 3.
Dieser Abschnitt geht weitgehend auf die Recherche und Berechnungen von Prognos zurück.
- 4.
- 5.
Wir danken Prognos für die vorgezogene Auswertung der Teilhabebefragung. Es konnte dafür der Enddatensatz der Privathaushalte genutzt werden. Dieser wurde im Oktober 2020 durch infas an Prognos übermittelt und basiert auf 22.065 Interviews.
- 6.
Die folgenden Auswertungen beziehen sich einheitlich auf die Antwortoption „nein“. Die Ergebnisse werden als Indikator dafür genutzt, ob die abgefragte Stelle bei den Befragten grundsätzlich (also „nein“) keine Möglichkeit bietet, die erforderliche Beratung und Behandlung zu bekommen.
- 7.
Bei der Interpretation dieser Befunde ist zu berücksichtigen, dass die Fragestellung auf eine „erforderliche Beratung und Behandlung“ abstellt, ohne den Bedarf näher zu beschreiben. Die Einschätzung, was „erforderlich“ ist, bleibt daher subjektiv. Weiter fällt auf, dass Menschen ohne Beeinträchtigungen Angaben über Behandlungslücken gemacht haben, zu denen sie nach objektiver Betrachtung nicht hätten Auskunft geben können, wie beispielsweise zu psychiatrischen Einrichtungen. Dies lässt vermuten, dass das Item von den Befragten als hypothetisch verstanden werden kann.
- 8.
Die folgenden Auswertungen beziehen sich einheitlich auf die Antwortoption „immer“. Die Ergebnisse werden als Indikator dafür genutzt, ob das abgefragte Problem bei den Befragten grundsätzlich (also „immer“) besteht oder nicht.
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Wacker, E., Beck, I., Brandt, M., Köbsell, S., Lippke, S., Niehaus, M. (2023). Teilhabe als Gesundheitsfaktor. In: Gesundheit – Teilhabechancen – Diskriminierungsrisiken . Gesundheitsförderung - Rehabilitation - Teilhabe. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40760-5_2
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