Gesundheit soll – wie bereits in den Kap.  1 und 2 dargelegt – in einen Rahmen gestellt werden, der über persönliche Anlagen oder Verhaltensweisen hinausreicht. Diese sind dennoch gleichermaßen wichtig. Denn Wohlergehen beruht nicht allein auf dem, was von außen beobachtet werden kann (objektive Lebensumstände), sondern auch und gerade (wie auch die ersten Analysen der Teilhabebefragung in Abschn.  2.7 zeigen) auf der subjektiven Wahrnehmung, dem Wohlbefinden der jeweiligen Personen. Chancen auf soziale Teilhabe wachsen also mit äußeren Umständen wie weniger Barrieren in der räumlichen Umgebung, mit freier Wahl des Aufenthaltsortes und in einer sicheren Umgebung ohne Gewalt- oder Bevormundungserfahrungen, ohne physische und psychische Schädigungen und mit Pflege von Freundschaften. Entsprechend bietet ein selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung, in einer offenen Gemeinschaft mit Beteiligungsmöglichkeiten und passgenauer Unterstützung (personeller und technischer Art), gute Voraussetzungen für Teilhabe am Leben der Gemeinschaft. Denn unter solchen Bedingungen kann es besser gelingen, Kräfte zu sammeln beziehungsweise zu behalten oder wiederzugewinnen für ein gesundes Leben und auch für ein gut gelingendes Altern (Wahl 2017 ).

Zugänglichkeit und Achtsamkeit erhöhen Gesundheitschancen, unabhängig von den jeweiligen Formen und Ausprägungen von Beeinträchtigungen, wie es auch von Gesetzgebung und Menschenrechten gefordert und gefördert wird.

FormalPara Glossar 5: Achtsamkeit

Achtsamkeit als kulturelle Praxis (Schmidt 2020 ) meint weder Selbstoptimierung, noch „weltflüchtende Glückstechniken“. Vielmehr geht es um eine Selbst-Welt-Beziehung (Rosa 2016 ) mit kulturellen Praktiken, in denen Mikro- und Makroebene für ein gelingendes Leben ineinandergreifen (Reckwitz 2003 ). Diese Lebenswelt (Schütz 1975 ), also die Erfahrungswelt, steht für die spezifische Wirklichkeit (Berger und Luckmann 1969 ) vom Menschen her betrachtet, mit einer bestimmten Aufmerksamkeit ( attention ), Bewusstheit ( awareness ) sowie in einem bestimmten Bewusstsein ( consciousness ) und einer besonderen Präsenz (being present) oder Seinsweise (way of being) beziehungsweise für den Lebensentwurf in der Gegenwart. Sie ist somit Schnittmenge von Erfahrungsraum (dem Gewohnten) und Erwartungshorizont (dem Kommenden) (Koselleck 2015 ) – ein Spiegel der Gesellschaft.

Eingewoben in ihre Lebenslage/n und besonderen Lebensumstände erfahren Menschen mit Beeinträchtigungen besondere Belastungen. Beispielsweise erleben sie vielfache Ausgrenzung en und Diskriminierungen, die die alltägliche Lebensführung erheblich bestimmen. Dadurch sinken ihre Chancen auf Wohlbefinden und wächst die Wahrscheinlichkeit, im Lebensverlauf verletzende Erfahrungen zu machen,

  • im persönlichen Alltag (auf der Mikroebene ),

  • im Umgang mit Institutionen, Organisationen oder kommunalen Einrichtungen (auf der Mesoebene ), ebenso wie

  • im Zusammenhang mit Gesetzgebungen oder anderen (beispielsweise politische Teilhabe regulierenden) Steuerungsbereichen (auf der Makroebene ).

Ein besonderes Gesundheitsrisiko liegt dann für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung vor, wenn sie in der Gemeinschaft angenommen und dort aufgehoben sein wollen, aber tatsächlich Isolation und Exklusion (Diskriminierung) erleben. Deswegen wird im Folgenden auf dieses Ungleichgewicht näher eingegangen: Ursachen und Wirkungen werden diskutiert, auch verbunden mit Vulnerabilität (höherer Gefährdung, beispielsweise bezogen auf Gesundheitsrisiken) in den jeweiligen Bezugsräumen, Bezugsgruppen, bei Personen oder in sozio-ökologischen, technischen, ökonomischen oder politischen Systemen.

3.1 Vulnerabilität : Einsamkeit und Teilhabeeinschränkungen

Durch den gesamten dritten Teilhabebericht ziehen sich datenbasierte Hinweise darauf, dass Menschen mit Beeinträchtigungen häufiger eine Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher Teilhabe erleben (BMAS 2021 ). Menschen mit Beeinträchtigungen können im Nahbereich weniger Freundschaften pflegen, haben brüchigere soziale Netzwerke, sind seltener im Austausch mit anderen Menschen und können daher auch tendenziell weniger Selbstvertrauen aufbauen. Darüber hinaus leben sie mit den Risiken, bei politischen Maßnahmen nicht wahrgenommen oder bei Erneuerungen und Aufgabengestaltungen übersehen zu werden. So verstärkt sich ein allgemeines Risiko dieser Zeit, nämlich allein zu sein, ohne dies zu wünschen oder sich damit wohlzufühlen (Cacioppo und Hawkley 2009 ; Cihlar et al. 2022 ). Menschen sind einsam, weil Begegnungen mit anderen und die erfahrene Einbindung in Gemeinschaft nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Einsam zu sein steht in engem Zusammenhang mit vermindertem Wohlbefinden, dies gefährdet die Gesundheit (Lippke et al. 2020a ).

3.1.1 Einsamkeit und Isolation

Einsamkeit drückt nicht nur einen individuellen Leidensdruck aus, sondern auch verminderte soziale Teilhabe. Dies ist ein zentrales Thema des dritten Teilhabeberichtes (BMAS 2021 ), denn Menschen mit Beeinträchtigungen sind in vielen Lebensbereichen gegenüber Menschen ohne Beeinträchtigungen in der Teilhabe benachteiligt. Dies wird auch im Zusammenhang mit Einsamkeit und Faktoren, die der Vereinsamung entgegenwirken können, deutlich: So berichten beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen häufiger, dass sie alleine leben, dass sie sich weniger sozial unterstützt fühlen und dass sie häufiger Gesellschaft vermissen als Menschen ohne Beeinträchtigungen (BMAS 2021 , 75–83, 94–107). Sie haben nicht in gleicher Weise wie Menschen ohne Beeinträchtigungen das Gefühl, sozial unterstützt und in Gesellschaft zu sein.

Glossar 6: Einsamkeit

Einsamkeit entsteht aus der mangelnden Übereinstimmung von gewünschtem und gegebenem Ausmaß der sozialen Verbundenheit eines Menschen (Cacioppo und Hawkley 2009 ). Dabei wird die gefühlte Einsamkeit unterschieden von Alleinsein und mangelnder Netzwerkeinbindung (in der Wohn- und Lebenssituation) oder objektiver sozialer Isolation (Hawkley et al. 2009 ). So lässt sich Isolation objektiv beobachten, muss aber von Einzelnen nicht unbedingt negativ erlebt werden. Dagegen ist Einsamkeit ein subjektiver Zustand, der durch Unwohlsein bis zum Leidensdruck gekennzeichnet ist. Menschen können sich trotz vorhandener Kontakte einsam fühlen, weil ihnen eine enge, vertraute Beziehung fehlt. Luhmann und Bücker ( 2019 ) weisen auf den Unterschied von emotionaler Einsamkeit und sozialer (auch relational genannter) Form der Einsamkeit hin, die

„den Mangel von Freundschaften und weiteren persönlichen Beziehungen“ (Luhmann und Bücker 2019 , 4)

beschreibt. Kollektive Einsamkeit wiederum

„bezieht sich auf ein Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder zur Gesellschaft“ (Luhmann und Bücker 2019 , 5).

Analytisch betrachtet haben Einsamkeit und die damit verbundenen Empfindungen von erheblichem Unbehagen auch eine funktionale Bedeutung, nämlich zur Vernetzung und hilfefördernden Kommunikation zu motivieren (Cacioppo und Cacioppo 2018 ; Damsgaard et al. 2020 ). Im Sinne dieser „Evolutionary Theory of Loneliness“ (Cacioppo und Cacioppo 2018 ) sind jedoch eine für Vernetzung und Kommunikation förderliche Umwelt (Gelegenheit) und verfügbare Ressourcen (Kraftquellen) nötig.

Besondere Isolationsrisiken traten gerade in der Corona-Pandemie eindrücklich zutage (s. Abschn.  3.2 ). Soziale Unterstützung und die soziale Eingebundenheit, das Sich-Verstanden-Fühlen und die Sicherheit, sich im Zweifelsfall an Mitmenschen wenden zu können, wurden durch Schutzmaßnahmen wie die AHA-Regeln, Quarantäne und Homeoffice-Pflicht/Online-Beschulung erschwert. Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung waren davon in besonderem Maße betroffen. Soziale Teilhabe kann die Schwere einer Beeinträchtigung abfedern, aber auch der Manifestation von Krankheiten in Form von Beeinträchtigungen entgegenwirken und langfristige Teilhaberisiken senken (Lippke et al. 2020a ). Auf entsprechende Befunde weisen neben dem Bundesteilhabebericht auch andere Analysen, wie beispielsweise im Paritätischen Teilhabebericht 2020, hin (Lange et al. 2020 ).

Aus gesellschaftlicher Perspektive ist (wachsende) Einsamkeit ein Indikator dafür, dass nicht nur einzelne Menschen ausgeschlossen und diskriminiert werden, sondern, dass zugleich Verbindungen zwischen sozialen Gruppen und damit der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht oder nicht ausreichend gegeben sind, beziehungsweise schwinden. Zugleich kann man das Ausgeschlossen-Sein nicht den Personen anlasten, denen Gemeinschaft nicht oder weniger zugänglich ist. Nachteilsausgleich e wie finanzielle Unterstützung und spezifische Angebote (beispielsweise zur Teilnahme an Kulturveranstaltungen) können zwar der Einsamkeit entgegenwirken, sie lösen aber nicht die Fragen, ob sie sich auch zugehörig fühlen und willkommen sind (Lippke et al. 2020a ). Es bleibt also nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung, wenn sich etwa Bevölkerungsgruppen wie Rentnerinnen und Rentner mit geringen Bezügen nicht in der Lage fühlen, an der Gesellschaft zu partizipieren (Hajek und König 2020 ). Diesen Diskriminierungsrisiken sind Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung stärker ausgesetzt als andere Bevölkerungsgruppen, denn sie erfahren – wie oben dargelegt – in vielen gesellschaftlichen Bereichen Teilhabebenachteiligungen (BMAS 2021 ).

Zusammenhänge zwischen Beeinträchtigungen beziehungsweise Behinderung und Einsamkeit haben viele Facetten: Schwerhörigkeit etwa führt dazu, dass ein Mensch Geräusche nicht (gut) hören und nicht (optimal) verstehen kann, wenn keine geeignete (technische) Unterstützung erfolgt. In Gesprächen kann dies beispielsweise zu Irritationen und Missverständnissen führen. Das bedeutet mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch, dass sie oder er sich nicht (gut) verstanden fühlt und nicht im Einklang mit den hörenden Mitmenschen. Dies kann dazu führen, dass ein Mensch mit Hörbeeinträchtigung sich einsam fühlt. Um die Einsamkeitserfahrungen einzugrenzen und die soziale Einbettung zu verbessern, ist eine gute Hörtechnik versorgung und/oder Schriftmitteilung relevant. Zugleich bedarf es einer besseren akustischen Barrierefreiheit in der Öffentlichkeit, die zudem allen zugutekommt. Beispielsweise klagen viele Menschen über unverständliche Lautsprecherdurchsagen im öffentlichen Verkehr. Es käme nicht nur Menschen mit Hörbeeinträchtigungen sehr gelegen, wenn dort Zugänge und Anlagen so entwickelt und im Alltag installiert wären, dass sie alle für Information und Orientierung nutzen können. Mit entsprechenden akustisch-technischen Hilfen oder grafischen Symbolsystemen ließen sich viele Orientierungseinschränkungen für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen vermeiden (BMAS 2021 , 357 f.) und Kommunikationen und Begegnungen verbessern. Vergleichbares gilt für Menschen, die mit anderen Beeinträchtigungen leben, auch hier muss der Abbau ausschließender Barrieren vorangetrieben beziehungsweise vorausschauend vermieden werden, sie durch Barrieren von der Teilhabe auszuschließen.

Nicht nur technische Hilfsmittel oder passende Informationswege helfen dabei, Teilhabebarrieren zu überwinden – vor allem die Verbundenheit mit anderen Menschen ist hier von großer Bedeutung. Gleichberechtigte Teilhabechancen werden vor allem durch die Aufmerksamkeit für Bedarfe und Bedürfnisse gefördert, wie auch durch Umgebungen, die so gestaltet und nutzbar sind, dass sie nicht diskriminieren. Es ist mittlerweile bekannt, dass Exklusion nicht nur gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, sondern darüber hinaus auch ökonomische Kosten nach sich zieht (z. B. Mihalopoulos et al. 2020 ). Dies sollte dazu motivieren, Bedingungen so zu gestalten, dass Menschen mit Beeinträchtigungen weniger oft in Situationen kommen, die ihre soziale Teilhabe und damit auch die sozialen Kontakte einschränken (BMAS 2021 , 108).

3.1.2 Soziale Unterstützung und Netzwerke in Wechselwirkung en

Soziale Unterstützung gilt als wesentliche Gesundheitsressource (Borgmann et al. 2017 ). Sie entsteht aus sozialen Netzwerken, die beispielsweise emotional stützen, fürsorglich agieren, konkrete Aufgaben im Alltag übernehmen, beraten oder informieren. Als soziale Netzwerke werden vielfältige Verbindungen zwischen Menschen beschrieben, die der Pflege persönlicher Beziehungen dienen. Soziale Beziehungen in Netzwerken können zur Befriedigung wichtiger psychosozialer Bedürfnisse wie Anerkennung, Bindung, Wertschätzung und Orientierung beitragen (BMAS 2021 , 110). Soziale Kontakte können auch belasten; wenn sie aber positiv erlebt werden, können sie nachweislich unterstützen und die Auswirkungen von Krisen und Belastungen abfedern (BMAS 2021 , 110). Sie

„entfalten präventive Wirkung, indem sie generell im Alltag das Selbstwertgefühl und das psychische Wohlbefinden positiv beeinflussen“ (BMAS 2021 , 111).

Persönliche Begegnungen als Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen und nutzen zu können sind Elemente der sozialen Teilhabe (§ 76 SGB IX). Reduzierte Teilhabemöglichkeiten können zum Erleben von Einsamkeit führen. Teilhabeeinschränkungen hängen nicht nur mit Beeinträchtigungen zusammen, sondern sind mit verschiedenen weiteren Merkmalen verbunden. In intersektionaler Perspektive zeigen sich beispielsweise Wechselwirkungen mit Geschlecht (Frauen fühlen sich nach Datenlage einsamer als Männer: Hajek und König 2020 ; Pinquart und Sörensen 2001 ), sozioökonomischem Status (je niedriger der Status ist, umso höher das Einsamkeitsempfinden), Kompetenz (je weniger Bildung abrufbar und zugänglich ist, desto einsamer fühlen sich Menschen) und nicht zuletzt der Wohnsituation (im Pflegeheim fühlen sich viele Menschen einsam, obwohl es sich um Gemeinschaftsunterkünfte handelt: Barbosa Neves et al. 2019 ). Auch die Lebenssituation außerhalb einer besonderen Wohnform wie dem Pflegeheim birgt Einsamkeitsrisiken: So kann beispielsweise auch das Leben in einem Einpersonenhaushalt mit wenig Kontaktmöglichkeiten und psychischen Belastungen einhergehen (Gyasi et al. 2020 ).

Alle diese Faktoren können sich im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderung manifestieren, das Risiko für Einsamkeit verstärken oder in der Wirkung vervielfachen. So haben viele Frauen mit Beeinträchtigungen den Wunsch, in einer Ehe oder Partnerschaft zu leben und berichten gleichzeitig häufiger als Frauen ohne Beeinträchtigungen, allein oder alleinerziehend mit Kind(ern), aber ohne Partnerin oder Partner zu sein. Männer mit Beeinträchtigungen können sich hingegen den Wunsch nach Ehe oder Partnerschaft häufiger erfüllen (BMAS 2021 , 75 ff., 92 ff., 102 ff.).

Auch kritische Lebensereignisse, wie eine Trennung der Eltern oder der Verlust der Erwerbsfähigkeit (oder -tätigkeit) und damit gegebenenfalls verbundene Einkommenseinbußen, verstärken das Risiko der Einsamkeit (Hajek und König 2020 ). Dieser Zusammenhang wird allerdings durch Lebensstilfaktoren (Cihlar et al. 2022 ) signifikant abgeschwächt: Körperliche Aktivität mildert die Einsamkeitsrisiken bei Männern, Personen vom Land und im Alter von über 65 Jahren. Dagegen sind für Frauen, Stadtbewohnerinnen und -bewohner sowie Personen im Alter von 50 bis 64 Jahren soziale Aktivitäten bedeutsamer für den Umgang mit Stress (Gyasi et al. 2020 ).

Dies sind wichtige Erkenntnisse für den Bereich der Freizeitgestaltung , in dem sich vielfache Benachteiligungen von Menschen mit Beeinträchtigungen zeigen. So nutzen Menschen mit Beeinträchtigungen vorhandene Angebote zur Freizeitgestaltung häufiger nicht, beziehungsweise können sie nicht nutzen, als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Das kann daran liegen, dass Reisen, eigene Aktivitäten oder Besuche von Veranstaltungen nur erschwert möglich sind, z. B. wegen fehlender Barrierefreiheit der Veranstaltungsorte sowie Verkehrsmittel. Dies gilt gleichermaßen für musische, künstlerische und sportliche Aktivitäten sowie den Besuch von populär-kulturellen oder klassisch-kulturellen Veranstaltungen (BMAS 2021 , 607 ff.).

Diese Ungleichheit lässt sich schon in sehr jungen Jahren beobachten: Zwar sind viele Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen wie auch Gleichaltrige ohne Beeinträchtigungen neben dem Schulsport körperlich aktiv. Es gibt aber mehr Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen, die keinen Sport treiben, als Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigungen (BMAS 2021 , 628 f.). Damit werden Chancen verpasst, über körperliche Aktivität die Gesundheit direkt zu fördern und auch Stressoren abzufedern. Zudem bietet der organisierte Sport viele Möglichkeiten der sozialen Teilhabe, birgt allerdings ebenso Gefahren für Stigmatisierung und Diskriminierungs- beziehungsweise Exklusionsrisiken (Klenk et al. 2019 ; s. Abschn.  3.1.3 ).

Gesundheitliche Einschränkungen hängen aber – wie schon erwähnt – auch direkt mit Einsamkeit zusammen (Cihlar et al. 2022 ; Hajek und König 2020 ; Hodgson et al. 2020 ; Lara et al. 2019 ; Smith et al. 2020 ): Menschen, die sich als einsam wahrnehmen und beispielsweise aufgrund bestehender körperlich-motorischer Beeinträchtigungen ihre Wohnung nicht verlassen oder aufgrund von Sinnesbeeinträchtigungen auch nicht mit Familienangehörigen und Freunden telefonieren können, laufen Gefahr, dass ihre Einsamkeit bestehen bleibt, sich sogar noch verstärkt und wiederum gesundheitlich negativ auswirkt (Smith et al. 2020 ).

Oftmals wird argumentiert, ältere Menschen wären aufgrund von Lebensereignissen wie dem Tod der Partnerin oder des Partners oder dem Verlust von Kolleginnen und Freundinnen bzw. Kollegen und Freunden einsamer, aber auch das Gegenteil zeigt sich in empirischen Studien (Shovestul et al. 2020 ). Darüber hinaus verliert kalendarisches Alter an Bedeutung, wenn bestehende gesundheitliche Einschränkungen statistisch kontrolliert (herausgerechnet) werden (Luhmann und Hawkley 2016 ). Somit ist Einsamkeit im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderung über die gesamte Lebensspanne relevant.

Gesundheitliche Einschränkungen wirken in viele Richtungen: Sie bedingen beispielsweise, ob Menschen, die aufgrund von Beeinträchtigungen in die Erwerbsminderungsrente gewechselt sind, nach einiger Zeit wieder am Arbeitsmarkt partizipieren können, also ihre Erwerbsfähigkeit zurückgewinnen und in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Dies gelingt allerdings nur selten, da oft viele Gesundheitseinschränkungen bestehen bleiben und andere Barrieren wie mangelnder Zugang zu Versorgungsleistungen und Erwartungen des Umfeldes hinderlich wirken. Gleichzeitig können gesundheitliche Einschränkungen, wenn sie zu Einsamkeit führen, mit einer limitierten Lebensqualität zusammenhängen: So haben Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner, die sich einsam fühlen, eine schlechtere Lebensqualität als diejenigen, die trotz eingeschränkter funktionaler Gesundheit gut mit anderen Menschen vernetzt sind (Lippke et al. 2020a ).

Menschen mit Beeinträchtigungen, wie beispielsweise in Erwerbsminderungsrente gewechselte Personen, die aktuell nicht arbeiten, können ehrenamtlich tätig sein (Stancliffe et al. 2015 ). Ehrenamtliches Engagement ist somit nicht nur ein Indikator für soziale Einbindung, sondern hängt auch mit dem funktionalen Gesundheitsstatus zusammen. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen pflegen ihre Netzwerke und betätigen sich aktiv im Freiwilligendienst (BMAS 2021 , 736 ff.). Dies deutet möglicherweise auf wichtige Ressourcen gegen Einsamkeitserfahrungen hin, die zukünftig noch genauer zu betrachten, zu unterstützen und zu berücksichtigen wären.

3.1.3 Diskriminierungs- und Exklusionsprävention

Da der Anteil an Einpersonenhaushalten steigt (Wohn- und Lebenssituation: BiB 2020 ) und mehr Menschen mit Beeinträchtigungen allein leben als Menschen ohne Beeinträchtigungen, wächst auch die Wahrscheinlichkeit der Vereinsamung und damit die Gefahr für die psychische und körperliche Gesundheit gerade für diesen Personenkreis. Entsprechend gewinnt die Sorge um diese Vereinsamungsrisiken zunehmend an Bedeutung. Insbesondere sollten diejenigen, die sich einsam fühlen und darunter leiden, aber nichts ändern (können), frühzeitig Unterstützung bekommen. Denn Einsamkeit kann als Frühwarnsignal für nachfolgend auftretende Gesundheitsprobleme gesehen und genutzt werden (Cacioppo und Hawkley 2009 ; Carandang et al. 2020 ).

Mehr Menschen mit Beeinträchtigungen als Menschen ohne Beeinträchtigungen berichten, dass sie sich einsam fühlen (BMAS 2021 , 94 ff.). In der Gesamtbevölkerung steigt mit dem Älterwerden und auch mit voranschreitender Zeit die Einsamkeit generell bisher nicht – mit Ausnahme besonderer Ereignisse wie beispielsweise der Corona-Pandemie (z. B. Brandt et al. 2021 ). Zugleich verläuft Einsamkeit aber relativ stabil, das heißt Menschen, die sich über längere Zeit einsam fühlen, bleiben oft in diesem Zustand (Mund et al. 2020 ). Es ergibt sich ein „Teufelskreis“, Auswege müssen sich aus anderen Lebensbereichen eröffnen, beispielsweise über die Familie, über bürgerschaftliches Engagement und/oder Beteiligung in der Politik (Penninkilampi et al. 2018 ). Entsprechende Ziele steckt der Nationale Aktionsplan 2.0 (BMAS Aktionsplan 2016 ). Dort heißt es:

„Denn Inklusion im Sinne der UN-BRK bedeutet, gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen in allen Lebensbereichen auf der Basis gleicher Rechte zu ermöglichen. Für Menschen mit Beeinträchtigungen bedeutet Inklusion vor allem, Bedingungen vorzufinden… Inklusion gewinnt ihre Qualität dadurch, dass sie Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltung bietet“ (BMAS Aktionsplan 2016 , 4).

Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltung zu garantieren kann somit zugleich als präventive Gesundheitsmaßnahme aufgefasst werden. Die in der UN-BRK festgeschriebenen Selbstbestimmungsrechte schließen auch ein, wählen zu können, ob man alleine leben beziehungsweise auch alleine sein will. Wird jedoch Alleinsein nicht gewünscht oder ist das zugewiesene Zusammenleben mit anderen Menschen problembehaftet, etwa mehrheitlich durch Meinungsverschiedenheiten geprägt, dann stellt dies eine Benachteiligung dar (Cihlar et al. 2022 ), die zu gesundheitlichen Problemen und auch langfristig zu Beeinträchtigungen oder Behinderung führen kann. Dagegen wirken Maßnahmen zur Förderung sozialer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, die nicht nur Teilgruppen erreichen. Man sollte aber besser ergründen, welche Bestandteile von Programmen wirken und wie genau sie wirken (s. Abschn.  1.2 und 1.6 ). Die Bundesregierung hat sich entsprechend vorgenommen,

„die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen, ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung gemäß der Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 1 UN-BRK zu gewährleisten und zu fördern“ (BMAS 2016 , 13).

Verbundenheit mit Anderen und sich von anderen Menschen verstanden zu fühlen, zählen zu den urmenschlichen Bedürfnissen. Gemeinschaft und Solidarität stützen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Sie können eine wichtige Kraftquelle sein, die entsprechend beachtet, gepflegt und bei Personengruppen mit besonderen Isolations- und Einsamkeitsrisiken explizit gefördert werden sollte. Die sehr hohe gesundheitsrelevante Bedeutung sozialer Unterstützung und sozialer Teilhabe hat sich

„in der Stress-, Belastungs- und Bewältigungsforschung, aber auch in der Lebenslagen- und Ungleichheitsforschung als sehr einflussreiche Größe für die Lebenszufriedenheit im Allgemeinen erwiesen“ (BMAS 2021 , 111),

und sie zeigt Chancen der Bewältigung von Belastungen an.

Die Prävention von Einsamkeit verdient aus den genannten Gründen (mehr) Aufmerksamkeit. Von der besonderen Bedeutung dieser Aufmerksamkeit in Krisenzeiten berichtet der folgende Abschn.  3.2 .

3.2 Spezifische Teilhaberisiken: Corona als Ungleichmacher?

Die durch SARS-CoV-2 / COVID-19 verursachte Pandemie wurde in Deutschland zu Beginn des Jahres 2020 als relevant und gefährlich erkannt und hinterlässt bis heute tiefe Spuren. Footnote 1 Die Corona-Pandemie erwies sich schnell nicht allein als Problem für das Gesundheitswesen, sondern auch als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die gemeinsame Anstrengungen erforderte. Für die Erforschung von Ursachen, Gegenmaßnahmen und (Langzeit-)Auswirkungen sind dabei neben Medizin, Epidemiologie und Naturwissenschaften (inklusive Virologie), die Sozialwissenschaften, Gesundheitswissenschaft, Psychologie, Ethik und Ökonomie ebenso wie Rechts- und Politikwissenschaften im Einsatz. Lösungen für die durch die Epidemie ausgelösten gesellschaftlichen und individuellen Problemlagen sind nicht allein in Einzelmaßnahmen, sondern vor allem im Zusammenspiel aller Kräfte und Disziplinen zu suchen. Denn es geht nicht nur um Gesundheitsrisiken und Krankheitsbehandlungen, sondern auch um soziale Bedingungen und Konsequenzen. Soziale Ungleichheiten verstärkten sich in und mit der Pandemie, eine entsprechende Sozialpolitik ist noch im Aufbau. Zu erwarten sind sozioökonomische und strukturelle Entwicklungen (insbesondere bezogen auf wohlfahrtsstaatliche Versorgungsstrukturen und soziale Dienste) sowie Anpassungen im Bereich der Erwerbstätigkeit, aber auch in verschiedenen Rechtsbereichen.

Die skizzierten Problemlagen betreffen Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung in besonderem Maße. Ihre gesundheitliche und soziale Situation wird im Folgenden deswegen beleuchtet, weil Krisen wie diese Pandemie eher nicht chancengerecht gleichmachen, sondern bestehende strukturelle Ungleichheiten aufdecken und verstärken. Es zeigte sich, wie ungleich wichtige soziale und ökonomische Ressourcen zur Bewältigung von Belastungen, wirtschaftliche Risiken und das Verfügen über sozialstaatliche Unterstützung verteilt sind. Dies gilt regional, national und global. Conrad ( 2020 , 439) verweist auf Studien zu Infektionsgefahren und zu den Wirkungen der ergriffenen Maßnahmen und nennt, bezogen auf die menschliche Vielfalt , das Virus explizit einen Ungleichmacher. So zeigt sich beispielsweise eine „ Chrononormativität “, also die Organisation von Maßnahmen und gesellschaftlichen Prozessen nach kalendarischem Alter (Wanka 2020 ), die bestimmte Altersgruppen bevorzugt beziehungsweise benachteiligt.

Unterbringungen dienten dazu, Risikogruppen zu identifizieren und beschlossene Maßnahmen wie die räumliche Isolierung (Hausarreste, Besuchsverbote, Umzäunungen und andere Variationen der gruppenbezogenen Quarantäne) zu orchestrieren (Conrad 2020 , 440 f.). Ungleiche Teilhabechancen entstehen wie gezeigt über das Alter (Le Couteur et al. 2020 ; van Dyk et al. 2020 ), aber auch über Geschlechterunterschiede (Frey 2020 ), über die Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten (Kirby 2020 ) oder zu sozioökonomisch benachteiligten Gruppen (Mikolai et al. 2020 ; Welti 2020 ) und deren intersektionalem Zusammenwirken, wie die kritische Sozialepidemiologie belegt (Füller und Dzudzek 2020 ).

Glossar 7: Intersektionalität

Der Forschungsansatz Intersektionalität geht davon aus, dass eine Leitkategorie wie z. B. Behinderung zur Analyse der Lebenssituation bzw. der Identität einzelner, insbesondere marginalisierter Personen bzw. Gruppen, nicht ausreicht. Vielmehr entstehen Ausgrenzungen durch das Zusammenwirken komplexer, historisch gewachsener und sich verändernder Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Entsprechend addieren sich Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht, sondern die Überschneidungen ( Überkreuzungen ) und Wechselwirkungen verschiedener Ungleichheitsdimensionen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext müssen in Analysen einbezogen werden, um so ein umfassendes Verständnis der Gegenwart zu gewinnen. Kreuzen sich mehrere Ungleichheitsdimensionen, können daraus ganz neue Wirkungen, unter Umständen auch Privilegierung en, vor allem aber Ausgrenzungen und Diskriminierungen, resultieren. So könnte das Zusammentreffen von weiblichem Geschlecht und Beeinträchtigung zu einer bevorzugten Aufnahme in den Arbeitsmarkt führen (wie dies in Ausschreibungen gesetzlich vorgeschrieben deklariert wird), was jedoch in der Realität oft nicht der Fall ist. Zugleich führt das Zusammenwirken von weiblichem Geschlecht und Behinderung dazu, dass beispielsweise behinderte Mädchen und Frauen in deutlich höherem Maße von sexualisierter Gewalt betroffen sind, als Frauen ohne Behinderung beziehungsweise männliche behinderte Personen (Köbsell 2021 ).

Auch wenn (noch) wenige Informationen zu den Auswirkungen spezifisch für den Personenkreis der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung vorliegen, so deuten bisherige Forschungsergebnisse auf ihre besondere Benachteiligung in der Pandemie hin, wie weiter unten gezeigt wird. Diese drückt sich in Deutschland auch in einem Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit aus. Während die US-Medien frühzeitig und beharrlich die besonderen Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen im Kontext der Pandemie thematisierten, gab es in Deutschland lange Zurückhaltung. Gleichzeitig zeigten sich weltweit viele Gründe, aufmerksam zu sein für eine gleichwertige Gesundheitsversorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen während der Pandemie (Herzog 2020 ).

Die allgemeinen pandemischen Rahmenbedingungen werden im Folgenden skizziert, vor allem ausgerichtet an der offiziellen Darstellung der Bundesregierung. Vor dieser Kulisse erfolgt die spezifische und facettenreiche Lageeinschätzung für Menschen mit Beeinträchtigungen.

3.2.1 Pandemiebedingungen

Historisch betrachtet sind Pandemien keine Neuheit, ihr regelmäßiges Auftreten wird von der Epidemiologie generell vorhergesagt und auch in politischer Planung erwartet. Daher lag auch der Bundesregierung eine in dieser Dekade ressortübergreifend erstellte allgemeine Risikoanalyse vor (Deutscher Bundestag 2012 ). Dennoch mangelte es zu Beginn der Pandemie an konkreter Vorbereitung, gerade im Hinblick auf die Gesundheitsrisiken für bestimmte Gruppen der Bevölkerung. Das Virus wurde zwar als Eindringling bekämpft und Hygienemaßnahmen inklusive „physical distancing“ (Abstand halten) verordnet, aber dies erwies sich als nicht ausreichend und teilweise sogar als zusätzlich gesundheitsgefährdend. Ernste Erkrankungen konnten so nämlich übersehen werden, neue Erkrankungen – beispielsweise als Isolationsfolge – entstehen (Brandt et al. 2021 ).

Die förderale Bundesrepublik nutzte im Laufe der Jahre 2020 und 2021 unterschiedliche Ausformungen der möglichen Verhütungs- und Bekämpfungsstrategien zur Pandemie. In Entscheidungen zu Schutzmaßnahmen wurden dabei teilweise soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf Einzelne und die Allgemeinheit einbezogen. Eine gruppenspezifisch differenzierte Bewertung wurde häufig unter Schutzaspekten vorgenommen, soziale Folgen waren nicht primär im Blick.

Die zeitliche Entwicklung der Pandemie in Deutschland wird im Anhang kurz entsprechend der Chronologie des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) dargelegt. Im Jahr 2020 kristallisierte sich zunächst die Gewissheit heraus, dass man es mit einer Pandemie zu tun hatte und sich nun die Aufgabe stellte, damit umzugehen. Zuerst lag der Fokus auf der Organisation eines funktionierenden Alltags mit Grundversorgung en, Abstands- und Hygieneregulierungen, auf der Ausstattung mit den erforderlichen Materialien (Schutzkleidung, Masken) und der Organisation der Gesundheitsdienste, einschließlich der stationären Versorgungsstrukturen (Zugangsregelungen, Intensivbetten). Soziale Kontakte wurden phasenweise von den Behörden eingeschränkt (Großveranstaltungen wurden verboten, Reisen, Besuche und außerhäusliche Aktivitäten reguliert) und auch von den Bürgerinnen und Bürgern selbstgewählt massiv reduziert.

Gegen Mitte des Jahres 2020 verstärkte sich die Aufmerksamkeit für Bevölkerungsgruppen mit höheren Erkrankungsrisiken. Kostenfreie Tests sollten zunächst Menschen in spezifischen Gruppensituationen schützen (Kindergärten, Schulen, Wohn- und Pflegeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte n etc.). Schließlich wurden auch Ein- und Ausreisesituationen unter anderem durch Tests überwacht.

Die im Herbst 2020 wieder deutlich steigende Zahl der infizierten Personen führte zu weiteren Bemühungen, die Begegnungshäufigkeit zu reduzieren und zugleich Infektionsketten systematisch aufzudecken. Erste Impfstrategie n wurden entwickelt und bis zum Jahreswechsel 2020/21 konkretisiert. Insbesondere ging es auch – im Gleichtakt mit europäischen Anliegen – um Beschaffungs- und Verteilungsfragen. Der Aufbau von Impfzentren begann, ebenso wie von Ausstattungsreserven. Wirksame Schutzmasken wurden mehr und mehr verfügbar.

Seit am 11. März 2020 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch des Corona Erregers zur Pandemie erklärte, wurden in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft geeignete Maßnahmen zur Eindämmung debattiert. Risikoabwägungen zwischen Schäden und Nebenwirkungen fanden ebenso statt, wie mögliche Folgen von Handeln oder Unterlassen thematisiert wurden (s. Abb.  3.3 ).

In Einrichtungen der Eingliederungshilfe und ähnlichen Angeboten erfolgten Maßnahmen wie im Bereich der Pflege: Ab Ende März 2020 kam es zu Aufnahmestopp s, zu Besuchsbeschränkung en und -verboten. Diese wurden nach den schrittweisen Lockerungen ab Mitte April 2020 infolge einer groben Risikoabschätzung nicht selten beibehalten. Footnote 2 Zu dieser Zeit entfiel ungefähr die Hälfte aller Todesfälle durch das Virus in westlichen Ländern auf Personen in Pflegeeinrichtungen (Lau-Ng et al. 2020 ). Man wollte sich jedoch – anders als bei früheren Pandemien – nicht damit arrangieren, gesundheitlich besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen „zu verlieren“.

Da zwischen Pflegenden und Gepflegten häufig kein Körperabstand möglich ist, ist die Ansteckungsgefahr unter Pflegebedingungen erhöht. Personen mit Pflegebedarf haben zudem oft Vorerkrankungen, die auch schwere Verläufe einer Infektion begünstigen, und schließlich fordert an vielen Stellen womöglich auch eine mangelnde Anpassung von Routinen und Ausstattung an die Gefahren durch das Virus in Einrichtungen ihren Tribut, verstärkt durch verbesserungswürdige Arbeits- und Lebensbedingungen (z. B. AGS 2020 ; Kramer et al. 2020 ; Ouslander und Grabowski 2020 ; Wacker und Ferschl 2022 ). Debattiert werden unter anderem Personalknappheit, geringe Entlohnung, mangelnde Anerkennung durch Vorgesetzte und Leitungspersonal, zu wenig Fortbildung und Trainingsmaßnahmen (Schweitzer 2021 ). Auch das Ringen der Pflegekräfte um das rechte Maß zwischen Abschottung von „Schutzbefohlenen“ und Einbindung nahestehender Menschen erweist sich als eine schwierige, belastende und tendenziell riskante Entscheidungsaufgabe.

Bei allen Planungen bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Situation der Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeeinrichtungen, in Angeboten der Altenhilfe oder Altenpflege und der Eingliederungshilfe identisch zu betrachten und zu behandeln ist oder ob sich Gründe finden, Personenkreis und Aufgabenfokus der Eingliederungshilfe nennenswert anders zu behandeln. Dem soll im Folgenden differenziert nachgegangen werden.

3.2.2 Ungleiche Bedrohungslage n und geringe Differenzierungen

Folgt man der aktuellen Forschungslage und den Schlussfolgerungen des Paritätischen Teilhabeberichts, sind Menschen mit Behinderung verglichen mit der Gesamtbevölkerung in fast allen Lebensbereichen erheblich benachteiligt. Sie sind häufiger von Armut betroffen und wurden in der COVID-19-Pandemie verschärft ausgegrenzt. Zudem konstatieren manche einen Rückfall in alte Handlungs- und Rollenmuster: Selbstbestimmungsrechte seien eingeschränkt worden (Lange et al. 2020 ).

Diese Einschätzungen stützen sich insbesondere auf Erkenntnisse des Projekts „Teilhabeforschung: Inklusion wirksam gestalten“. Hier berichtet der Wohlfahrtsverband aus eigener Perspektive vor allem von vielfältigen Belastungen und Benachteiligungen, aber auch von Umsatzeinbrüchen, Arbeitsplatzverlust en und Einschränkungen der Freiheiten. Zugleich wird gemahnt, man dürfe sich nicht damit arrangieren, dass Menschen mit Behinderung schlechter durch die COVID-19-Pandemie kommen (Lange et al. 2020 , 7 ff.). Im Bericht werden ein deutlich steigendes Maß an sozialer Distanzierung, fehlende soziale Kontakte und Einsamkeit diagnostiziert.

Viele Teilhabeindikatoren gäben wenig Anlass zur Entspannung, auch wenn man sich mit SARS-CoV-2 arrangieren müsse (s. Lange et al. 2020 , 74). Die Rede ist dabei von Grundrechtseinschränkung en, einer mangelnden medialen Auseinandersetzung mit dem Personenkreis bis zur Rücksichtslosigkeit und Ignoranz (bezogen auf die spezifischen Bedingungen, unter denen Menschen mit Behinderung leben und arbeiten). Viele Beispiele für nicht umsetzbare Vorhaben untermauern die Bewertung, dass beispielsweise die

„Vielfalt an Wohnformen – von den eigenen vier Wänden über die Wohngruppe bis zur Komplexeinrichtung“

sich keinesfalls in den Vorgaben zur Eindämmung der Pandemie widerspiegelten (Lange et al. 2020 , 74). Zudem stünden – so der Bericht – (niedrigschwellige) Unterstützungsleistungen nicht mehr oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Daher mündet der Berichtsteil in viele Forderungen. Eine unbefriedigende Situation sei zu verbessern und keineswegs allein der Pandemie zuzuschreiben. Soweit das Fazit dieser Interessengruppen-Perspektive.

Eine differenzierende Sicht auf den Personenkreis mit Beeinträchtigungen und Behinderung weist auf unterschiedliche Auswirkungen und verschiedene Intersektionen , die im Folgenden dargestellt werden.

  • Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung im höheren Lebensalter

Bei der allgemeinen Besorgnis um die Gruppe der Älteren in Corona-Zeiten fehlten in der Regel Hinweise auf die (wachsende Anzahl) der in Einrichtungen lebenden älteren Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderung (BMAS 2021 , 341), obwohl sie womöglich in besonderem Maße gefährdet waren, sich anzustecken und schwere Krankheitsverläufe zu riskieren. Viele von ihnen haben Jahrzehnte ihres Lebens in den jeweiligen Einrichtung verbracht, haben dort ihren Lebensmittelpunkt und zugleich wenige soziale Kontakte außerhalb. Sie wurden zwar pauschal aus Altersgründen in Corona-Diskursen als Risikogruppe „mit behandelt“, aber in Kombination mit den Aufgaben und Zielen der Eingliederungshilfe kamen Menschen mit Behinderung als vulnerable Gruppe im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zunächst kaum vor. Footnote 3 Eine systematische und differenzierte Forschung, die Lebenslagen und Lebensläufe einbezieht, steht weiterhin aus, auch wenn inzwischen einzelne Studien auf mögliche Zusammenhänge von Beeinträchtigungen und Auswirkungen der Corona-Pandemie Bezug nehmen (Abdullahi et al. 2020 ; Gallagher et al. 2020 ; Zhou et al. 2020 ). Ebenso wenig erforscht sind die Zusammenhänge zwischen der Corona-Infektion und Auswirkungen der behördlichen Maßnahmen bei Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung im Speziellen (Patel 2020 ).

  • Krankheitsrisiken von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung

Die wenigen Befunde zeigen beispielsweise häufiger schwere Infektionsverläufe beim Vorliegen von Vorerkrankungen wie Übergewicht, Diabetes oder Unter- beziehungsweise Fehlernährung. Es ist bekannt, dass diese Krankheiten und Risikofaktoren wiederum mit Beeinträchtigungen zusammenhängen können (de Almeida-Pititto et al. 2020 ; Di Minno et al. 2020 ; Gerlach 2020 ; Gerlach et al. 2020 ; Pranata et al. 2020 ; Zhang et al. 2020 ). Übertragbare und nicht-übertragbare Erkrankungen verstärken sich gegenseitig. SARS-CoV-2 ist somit nicht nur ein womöglich tödlicher Erreger, sondern trifft auch auf geringere Gesundheitschancen und entsprechend erhöhte Krankheitsrisiken. Zusätzlich können sich Exklusionsrisiken als problematisch erweisen, wie etwa die fehlenden Zugänge zu Informationen oder Diensten. Auch was das individuelle Risikoverhalten angeht gibt es Benachteiligungsrisiken, wie beispielsweise Einschränkungen, Masken tragen zu können oder anzulegen oder Handhygiene selbstständig zu praktizieren.

  • Menschen mit komplexen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen und Behinderung

Zur Lage von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Pandemie finden sich widersprüchliche Annahmen und Ergebnisse. Das Deutsche Ärzteblatt nennt Mitte des Jahres 2020 für sie, verglichen mit Menschen ohne Beeinträchtigungen, zunächst kein erhöhtes Risiko, an einer Corona-Infektion zu erkranken (Deutsches Ärzteblatt 2020 ). Hingegen warnte eine breit angelegte Studie aus Großbritannien vor einem etwa vierfach erhöhten Risiko für Corona-bedingte Krankenhausaufenthalte für Personen mit Down-Syndrom und vor einem zehnfach erhöhten Risiko für einen durch Corona bedingten Tod dieser Personengruppe. Dies gelte auch, wenn man eine erhöhte Anfälligkeit für Herz- und Atemwegserkrankungen und vermehrte Einrichtungsaufenthalte dieser Personengruppe berücksichtige (Clift et al. 2021 ). Entsprechend wurde vorgeschlagen, über weitere Schutzerfordernisse oder mögliche Risikoquellen nachzudenken, wie beispielsweise den strategischen Schutz ( Abschirmung | shielding) für Gruppen mit erhöhtem Risiko. Dies sei weder auf der Liste des US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention noch auf der britischen Abschirmungsliste vorgesehen. Aus einer vergleichenden Analyse von Studien zur Situation von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in den USA (Turk et al. 2020 ) und Schweden (Cehajic et al. 2020 ) wurde wiederum abgeleitet, dass sich die Todesfälle unter den Erkrankten hinsichtlich der Verläufe kaum von der Gesamtbevölkerung unterschieden oder – wie im schwedischen Fall – sogar darunterlägen (Habermann-Horstmeier 2020a ).

  • Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung in besonderen Wohnformen

Eine breit angelegte französische Studie zu den Orten mit größten Infektionsrisiken erfasste zwar über 40.000 Personen mit COVID-19-Infektion, aber schloss Menschen in besonderen Wohnformen nur marginal ein Footnote 4 (ebenso wie Personen, die eine Online-Befragung nicht beantworten). Immerhin ergab sich folgendes Risikoszenario:

„Places and activities during which infection prevention and control measures may be difficult to fully enforce were those with increased risk of infection. Children attending day-care, kindergarten, middle and high schools, but not primary schools, were potential sources of infection for the households.“

(Galmiche et al. 2021 , 1)

Orte und Aktivitäten, bei denen Infektionspräventions- und -kontrollmaßnahmen möglicherweise nur schwer vollständig durchgesetzt werden können, hatten ein erhöhtes Infektionsrisiko. Kinder, die Kindertagesstätten, Vor- sowie Mittel- und Oberschulen besuchten, waren potenzielle Infektionsquellen für die Haushalte, mit Ausnahme der Grundschulen.

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Auch hier wurde an eine Strategie des „shielding“ (Abschirmung) für Menschen mit Beeinträchtigungen zunächst nicht gedacht.

Der Kenntnisstand der Wissenschaft zur Pandemie, ihren Risiken und der erforderlichen Achtsamkeit für spezifische Bevölkerungsgruppen wirkte und wirkt bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung eher diffus. Die Debatte wurde zugleich von drängenden und besorgten Mahnungen verschiedener Stellvertretungen (Selbstvertretungen, Vereinigungen und Verbände der Eingliederungshilfe) getragen.

  • Zur Lage der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung aus Sachwalterperspektive

Die aktuellste und umfassendste Studie aus Praxissicht mit spezifischem Anbieter- und Sachwalterfokus der Eingliederungshilfe kam von der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR). In der DVfR arbeiten in Deutschland Selbsthilfe- und Sozialverbände, Sozialleistungsträger, Reha-Einrichtungen und -Dienste, Reha-Expertinnen und Experten sowie Berufs- und Fachverbände gleichberechtigt zusammen. Unter dem Titel „Teilhabe und Inklusion in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie – Auswirkungen und Herausforderungen“ wurden Erfahrungen und Erwartungen im Zusammenhang mit der Sicherung der Teilhabe während und nach der Pandemie dargelegt sowie Problemlagen, Herausforderungen, Handlungsoptionen erfahrungsbasiert erfasst und eingeordnet (DVfR 2021a , b ). Die Daten stammen aus einer Online-Erhebung, die durch das Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Jahr 2020 durchgeführt wurde. Die Informationen wurden ergänzt um Rückmeldungen aus einem parallel umgesetzten Konsultationsprozess, in den zahlreiche Materialien, Stellungnahmen, Diskussionsergebnisse von Expertinnen- und Expertengruppen sowie aus einer Steuerungs- und Redaktionsgruppe eingegangen sind. Hieraus wurden Handlungsoptionen entwickelt, die zunächst allerdings nicht als Positionspapier der DVfR beschlossen wurden.

Die Erkundungen weisen insbesondere für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, im DVfR-Bericht Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen genannt, auf besonders gravierende Auswirkungen der Pandemie auf ihre gesundheitliche Lage und den Zugang zur Gesundheitsversorgung hin. Die in Abschn.  2.7 dargestellten Probleme traten demnach noch verschärft auf. Die Befragung, an der 3.684 Menschen, die sich im Fragebogen als chronisch krank, pflegebedürftig oder behindert einstuften, teilnahmen – neben Angehörigen, Leistungsträgern und -anbietern sowie Vertreterinnen der Zivilgesellschaft –, sensibilisiert zudem generell für deutliche Einschränkungen der Gesundheitsversorgung, wie den Zugang zur haus- und fachärztlichen Versorgung und zum Krankenhaus mit der Folge von Behandlungsverzögerungen oder -einschränkungen. Zusätzlich zeigt sie für bestimmte Gruppen betroffener Menschen nochmals gesteigerte Verschlechterungen. Dies trifft erstens zu für Menschen, die sich selbst als chronisch krank einstuften. Hier sind insbesondere chronisch psychisch kranke Menschen gemeint, die

„durch die Bedrohungen der Pandemie und die eingreifenden Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ganz besonders verunsichert und damit in besonderem Maße auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind“ (DVfR 2021a , 19).

Zum zweiten zeigen sich auch bei den Menschen, die eine Behinderung angaben, deutlich mehr Einschränkungen in der Gruppe, die äußert, eine seelische Behinderung zu haben und in der Gruppe der Menschen, die sich im Fragebogen der Kategorie ‚Schwerstmehrfachbehinderung‘ zuordneten (DVfR 2021a , 20). So waren diese 109 Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen nach den Befragungsergebnissen von allen Gruppen

„am häufigsten in ihrer Gesundheitsversorgung eingeschränkt“ (DVfR 2021a , 20),

darunter besonders häufig durch den im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

„erschwerten Zugang zur fachärztlichen Versorgung (56,9 % gegen 40,8 % Gesamtkollektiv), zum Krankenhaus (36,7 % gegen 16,8 %), Verschleppung von Untersuchungen (42,2 % gegen 23,2 %) und Behandlungsverzögerungen (46,8 % gegen 28,3 %). Auch die spezifisch ausgerichteten MZEB konnten zudem ihre Angebote in der Pandemie nicht uneingeschränkt aufrechterhalten, es besteht also auch diesbezüglich Anpassungsbedarf“ (DVfR 2021a , 62).

Diese Ergebnisse wiegen schwer für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen. Ihr oft instabiler Gesundheitsstatus macht häufig ärztliche und nicht-ärztliche Interventionen notwendig. Die Befragungsergebnisse untermauern dies, weil dieser Personenkreis angibt, nicht nur am häufigsten, sondern auch am stärksten mit Einschränkungen der Gesundheitsversorgung konfrontiert worden zu sein (DVfR 2021a , 20). Dazu kommen weitere Probleme, beispielsweise, wenn einer für diese Menschen oft notwendigen Begleitperson der Zutritt zu Praxen verwehrt wird (DVfR 2021a , 23), was für auf Assistenz angewiesene Menschen

„oft eine erhebliche Verunsicherung (bedeutet), mit der Konsequenz, dass sie sich unter Umständen nicht in der Lage sahen, medizinische und therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen“ (DVfR 2021a , 23).

Dies zeigt auch die Teilhabebefragung eindrücklich (s. Abb.  2.11 , Abschn.  2.7 ). Einschränkungen der Heilmittelversorgung (z. B. Logo- oder Ergotherapie) verschlechterten teilweise gravierend den Gesundheitszustand insgesamt oder in einzelnen Bereichen wie der Mobilität oder der Sprache. Hier kommt der Bericht zu dem Schluss, dass diese Verschlechterungen

„zwischen den verschiedenen Formen der Behinderungen nicht wesentlich unterschiedlich [waren], es sei denn eine seelische Behinderung oder eine Schwerstmehrfachbehinderung lag vor“ (DVfR 2021a , 37).

Letzteres unterstreiche, dass es

„sich bei diesen beiden Behinderungsgruppen um besonders vulnerable Menschen handelt, die auf eine regelmäßige und angemessene Gesundheitsversorgung in besonderem Maße angewiesen sind und die unter den Beeinträchtigungen der Pandemie große Nachteile erlitten hatten“ (DVfR 2021a , 38).

Die Pandemie deckte somit nicht nur eine beachtenswert ungleiche Schutzsituation für Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen auf, sondern zeigte auch die generell erheblichen Defizite der Gesundheitsversorgung für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen – wie auch die Daten der Teilhabebefragung nahelegen (Abschn.  2.7 ).

Die DVfR Studie ( 2021a , b ) weist zudem vor allem auch daten- und anliegenbasiert auf ein Spannungsverhältnis zwischen Infektionsbekämpfung und Teilhabesicherung hin, das sich für Menschen mit Beeinträchtigungen, chronischen Krankheiten oder Pflegebedürftigkeit in der gesamten Lebensführung auswirkt. Sie will zudem Impulse geben für eine Debatte, die zu

  • langfristigen Pandemie-Folgen für Menschen mit Beeinträchtigungen ebenso zu führen ist, wie zu

  • Teilhabechancen im Rehabilitations-, Gesundheits- und Bildungssystem unter Pandemiebedingungen

(DVfR 2021a , 6).

  • Perspektive der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ( 2021 ) riet zu einem konsequenten Disability Mainstreaming in der Pandemiebekämpfung, um die unterschiedlichen Lebenskontexte von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sowie ihre Bedarfe zu klären. Menschenrechtliche Standards dürften nicht aufgehoben werden. Im Einzelnen wurde gefordert:

  • Die Zugänglichkeit aller Dienste und Einrichtungen zu garantieren,

  • Sicherheit und Schutz zu gewährleisten,

  • Zugang zu Schutzmaterialien und Impfungen sicherzustellen, auch für unterstützende und pflegende Assistenzpersonen und Angehörige,

  • (Menschen-)Rechtsverletzungen wie Vernachlässigung, unrechtmäßige Isolierung, Zwang und Gewalt zu verhindern,

  • Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung diskriminierungsfrei zu garantieren, und

  • Partizipation bei entsprechenden politischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen.

Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei auch auf die Rolle, die Menschen mit Beeinträchtigungen in diesem Infektionsgeschehen zukommt beziehungsweise zugewiesen wird. Zugleich wurde gemahnt, generell bestehende Ungleichheiten, die nun besonders dramatische Auswirkungen haben können, zu beseitigen.

Eine systematische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem sehr breit gefächerten Personenkreis der Menschen mit Beeinträchtigungen im Lichte der Pandemie steht noch aus und ist dringend notwendig. So mahnten die Verbände des Kontaktgesprächs bereits in einem gemeinsamen Brief vom 27. April 2020 zu den Empfehlungen des Robert Koch-Institutes für Alten- und Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen vom April 2020 (RKI 2020 ) an, Prävention und Management von Ansteckungen mit SARS-CoV-2 in Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen differenziert zu betrachten. Dabei wurde auch verwiesen auf die neue Situation in Einrichtungen beziehungsweise besonderen Wohnformen, in denen durch die Umgestaltung mit dem BTHG fachliche Leistungen und Leistungen der Unterkunft rechtlich und finanziell getrennt werden. Es gehe auch um den privaten Charakter der Unterkunft, die nicht einfach Unterbringung, sondern persönlicher Lebensmittelpunkt (Rückzugs- und Schutzraum) sei, in den nicht einfach eingegriffen werden könne und dürfe. Verlegungen seien kritisch, wenn sie Selbstbestimmungsrechte außer Acht lassen. Vielerlei Anordnungen dürften nicht über die Einrichtungsleitung oder das Personal erfolgen, sondern müssten Infektionsschutzgesetzen entsprechen und durch berechtigte Behörden ergehen. Dies gelte ebenso für freiheitseinschränkende Maßnahmen. Dazu könne die Fachwelt Ratschläge und Empfehlungen geben, um Hygienepläne zu erstellen, die im angemessenen Verhältnis zu jeweiligen Gefährdungsanalysen stünden. Selbst präventive Maßnahmen wie Fiebermessen oder auf das Gesundheitsverhalten des Personals im Privatleben Einfluss zu nehmen, überschritten Selbstbestimmungsrechte . Hier kann sich der in Kap.  2 eingeführte Mainstreaming Ansatz als geeignete Strategie herausstellen, um auch grundlegende Fragen der Rollen, der Handlungsräume und Zuständigkeiten im Diskurs zu prüfen und infrage zu stellen.

  • Soziale Dienste für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung

Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege (BGW) hat als Rehabilitationsträgerin eine eigene Lageeinschätzung zur Corona-Pandemie in der Behindertenhilfe vorgenommen und in Berichtsform vorgelegt (BGW 2021 ). Es wurde verdeutlicht, wie die pandemiebedingte starke Reduktion des sozialen Lebens die Arbeit sozialer Dienste insgesamt tangierte oder phasenweise stoppte. Gegen den drohenden Ausfall sozialer Dienste habe das BMAS mit dem „Gesetz über den Einsatz der Einrichtungen und sozialen Dienste zur Bekämpfung der Coronavirus SARS-CoV-2 Krise in Verbindung mit einem Sicherstellungsauftrag“ (Sozialdienstleister-Einsatzgesetz – SodEG) vom 27. März 2020 einen finanziellen Auffangmechanismus installiert, der aber in der Behindertenhilfe nur teilweise zum Tragen kam (BGW 2021 , 12). Stattdessen konnte die Weiterfinanzierung vertraglich vereinbarter Leistungen auf jeweiliger Leistungsträgerebene geregelt werden, auch wenn Leistungen vorübergehend nicht erbracht wurden. Diese wirtschaftliche Stabilisierung konnte aber nicht den besonderen Konflikt lösen, der im Alltag bei personenbezogenen und häufig in Gruppen organisierten Diensten unabdingbar auftrat:

Die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurden teilweise geschlossen. Damit gingen Tagesstruktur, Interaktion und Kommunikation verloren, ebenso wie leistungsbezogene Steigerungsbeträge zum Entgelt (BGW 2021 , 12). Mit der Tagesbetreuung entfielen auch Entlastungszeiten für die versorgenden Familien, während für die in besonderen Wohnformen lebenden Werkstattbeschäftigten die Angehörigenkontakte gänzlich verloren gingen. Schülerinnen und Schüler mussten in Bildung und Weiterbildung beim Distanzlernen auf für sie qualitätsvollere personenzentrierte und mit Assistenzen erbrachte Lehrangebote verzichten, wobei sich das Distanzlernen für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf als besonders über- und herausfordernd gezeigt hat (Bertelsmannstiftung 2020 ; DBR 2021 ). Für Beratung, Gesundheitsversorgung, Interessenvertretungen und Fahrdienste wird entsprechendes berichtet.

Der BGW-Bericht stützt sich auf insgesamt zehn offen gestaltete Einzelinterviews (teilweise in Videokonferenzen) und drei leitfadenbasierte Gruppendiskussionen (teilweise in Präsenz, teilweise online) (BGW 2021 , 19). Im Fokus standen die Themenbereiche

  • Berufliche Rehabilitation,

  • Besondere Wohnformen,

  • Alltagsunterstützung in Privathaushalten,

  • Gesundheitsversorgung,

  • Beratung von Menschen mit Behinderung,

  • Rolle übergeordneter Organisationen sowie

  • übergreifende Auswirkungen der Corona-Pandemie

(BGW 2021 , 23).

Im Bereich der beruflichen Rehabilitation wurde das im Frühjahr 2020 erlassene Betretungsverbot für Beschäftigte und Personal in den WfbM als sehr einschneidend erlebt: Die Rede ist von großer Betroffenheit und einem „Schlag ins Gesicht“ (BGW 2021 , 24). Konflikte zwischen ökonomischen Zielen (oder drohenden Auftragsverlusten), Rehabilitationsauftrag und Gesundheitsschutz aller Beteiligten traten zutage und verunsicherten (BGW 2021 , 27).

Die Bewohnerinnen und Bewohner in besonderen Wohnformen mussten ihren Alltag ohne WfbM neu strukturieren und organisieren. In der neuen Gruppendichte, und weil Tagesstruktur, Freizeit, Feste und Besuche wegbrachen, kam es zu zahlreichen Konflikten (BGW 2021 , 30 f.). In Einzelfällen erlebten aber Bewohnerinnen und Bewohner die neue selbstbestimmte Tagesgestaltung auch als entlastend. Das Fachpersonal hingegen fühlte sich erheblich mehr belastet (durch Mehrarbeit und Überstunden). Vor allem, wenn es tatsächlich zu Infektionen kam (BGW 2021 , 31) und die Kommunikation der Erkrankungen und der damit verbundenen Konsequenzen an andere Bewohnerinnen und Bewohner sowie das Nennen guter Gründe für erforderliche Maßnahmen nicht so gut gelangen, fühlte man sich „wie in einem luftleeren Raum“ (BGW 2021 , 32). Finanzierungslücken wurden gefüllt, indem man beispielsweise vonseiten der Leitung die entfallenden Freizeitausgaben in Investitionen für Desinfektionsmittel und Masken oder Selbsttests umwandelte. In der ambulanten Versorgung schien vor allem die reguläre Gesundheitssorge (wie Arzttermine oder Gesundheitsverhalten) aus dem Blick geraten zu sein, Unsicherheiten und Ängste manifestierten sich hingegen (BGW 2021 , 35). Die psychosoziale Betreuung lag weitgehend brach (BGW 2021 , 38). Der Einsatz digitaler Angebote setzte sehr zögerlich und nicht flächendeckend ein (BGW 2021 , 39), unter anderem aufgrund fehlender technischer Ausstattung (BMAS 2021 , 559). Es wird auch beklagt, dass die Impfpriorisierung zunächst Personen, die Werkstätten besuchen und Personen, die ambulant leben, außer Acht gelassen habe (BGW 2021 , 36).

Insgesamt wird vermutet, dass die Logiken des BMG und dessen Blick auf Altenhilfe und Pflege die Planungen prägten. Die Personen und Kernanliegen der Eingliederungshilfe hingegen, für die das BMAS die Verantwortung trägt, blieben – wie auch die Inklusionsaufgaben – im Hintergrund (BGW 2021 , 41). Auch hier bedarf es, neben dem Mainstreaming-Gebot, zukünftig der höheren Aufmerksamkeit für Differenzen in Settings und Personenkreisen sowie für mögliche Wechselwirkungen und Risiken der Teilhabeeinschränkungen.

3.2.3 Corona zwischen Politik und Praxis

In der Pandemie verschränkten sich die Ansprüche auf Gesundheitssorge und Teilhabechancen von Personen mit Beeinträchtigungen und das Verbot ihrer Diskriminierung mit Erwartungen an die Politik und amtliche Umsetzungen. Lebenslagen und Lebensstile sind ebenso einbezogen wie umgebungsbasierte oder psychosoziale Faktoren mit Ermöglichungs- oder Verhinderungscharakter. Es kann somit nicht genügen, nur die Verbreitung von Infektionen oder Hospitalisierungsraten zu messen. Die Politik muss vielmehr unter außergewöhnlichen Umständen die Gesellschaft stabilisieren und alle Gesellschaftsmitglieder sowie deren Zusammenhalt schützen. Um zu planen und zu handeln werden Kenntnisse zu Versorgungslagen und erwartbaren Verhaltensformen benötigt. Medizinische, moralische, soziale, politische und auch wirtschaftliche Aspekte fließen ein, verbunden mit kurz-, mittel- und langfristig zu erwartenden Folgen. Dies sind komplexe Bedingungen, unter denen es gilt, Risiken und Chancen abzuwägen, auch im Hinblick auf bestehende Ungleichheiten in der Bevölkerung (Rangel et al. 2020 ).

Um im Rahmen der Pandemie über die föderalen Grenzen hinaus handeln zu können, wurde eine nationale Entscheidungsbasis generiert: Am 18. November 2020 beschloss der Deutsche Bundestag das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Mit dem neuen § 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) wurde die Rechtsgrundlage für grundrechtseinschränkende Maßnahmen der Länder zur Bekämpfung der Pandemie konkretisiert. Leitlinien für die notwendige Abwägung bei Eingriffen in Grundrechte im Hinblick auf Konflikte zwischen dem Schutz der Bevölkerung vor Neuinfizierungen, der Gewährleistung des Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit und Einschränkungen in Folge länger bestehender Pandemielagen wurden so vorgegeben. Nach § 28a IfSG lassen sich bei gegebenen Voraussetzungen Versammlungen absagen, Ausgangsbeschränkungen anordnen und Besuche von Einrichtungen untersagen (wie z. B. Alten- oder Pflegeheime, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Entbindungseinrichtungen oder Krankenhäuser, auch für enge Angehörige). Dabei wird aber zugleich darauf verwiesen, dass die vollständige Isolation einzelner Personen oder Gruppen auszuschließen und ein Mindestmaß an sozialer Interaktion zu gewährleisten sei. Die Umsetzung dieser Vorgaben wurde den jeweiligen Einrichtungen übertragen.

Als Maßstab für das Infektionsgeschehen wurden phasenweise Inzidenzwerte genutzt, die aber zugleich mit der von Gesundheitsämtern eingeschätzten Belastbarkeit des Gesundheitswesens in Wechselwirkung stehen (Priesemann et al. 2020 ). Es galten jeweils befristete Zeiträume für notwendige Schutzmaßnahmen, die aber nicht das Ausmaß einer Freiheitsentziehung annehmen durften (was bedeutet, dass die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung aufgehoben wurde). Es blieb somit beim Einsatz von Maßnahmen immer die Aufgabe, jeweils abzuwägen im Hinblick auf entstehende Gefahren, wobei sich das „ob“ einer Maßnahme aus dem Zweck des IfSG ergibt (§ 1 Abs. 1 IfSG) (s. Abb.  3.1 ).

Abb. 3.1
Die Abbildung visualisiert den Zweck des Infektionsschutzgesetzes einmal schriftlich in zwei grün umrandeten Boxen und als Icon für Gerechtigkeit in einem grün unterlegten Kreis. Links mittig befindet sich als Icon eine Waage mit schrägen Waagbalken. Rechts sind zwei Boxen untereinander angeordnet. Oben steht in der Box „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) und § 1 Zweck des Gesetzes. In der Box darunter steht im Wortlaut des ersten Satzes des Paragraphen 1: „Zweck des Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.“

(Quelle: Eigene Darstellung)

Zweck des Infektionsschutzgesetz es (IfSG)

Entsprechendes gilt auch für die Umsetzung präventiver Gesundheitsmaßnahmen, beispielsweise in Form von Impfungen. Auch sie sollten in erster Linie regional organisiert werden, also passend zur jeweiligen Ausstattungs- und Gefährdungslage in Landkreisen, Bezirken oder kommunalen Settings (z. B. kreisfreien Städten). Als Ausgangsbasis hierzu dienten unter anderem Schwellenwerte von Neuinfektionen. Stiegen die Risiken, waren aber auch bundesweite Regelungen angemessen. Stets sollte auch ein möglicher, beziehungsweise bestehender Impfschutz in Entscheidungen einbezogen werden.

  • Staatliche Vorsorge in der Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung durch Impfung

Für vulnerable Gruppen trägt der Staat besondere Sorge, in der Regel eingebettet in allgemeine Präventionsmaßnahmen. Lebhaft diskutiert und kommentiert, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob eine gesetzliche Regelung durch das Parlament notwendig sei (Deutscher Bundestag 2020 ), wurde auch die Coronavirus-Impfverordnung des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat (BMI) vom 18. Dezember 2020 (Bundesanzeiger 2020 ), die die Reihenfolge der Impfungen im Rahmen der nationalen Impfstrategie bundesweit festlegte. Bedacht wurden Alters- und Risikogruppen (aufgrund spezifischer gesundheitlicher Risiken oder beruflicher Tätigkeit). Dies folgte den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am RKI zu einem stufenweisen Vorgehen beim Impfprozess (Mitteilung der STIKO 2021 ). Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen sowie deren Pflegekräfte, ebenso wie Personen mit Vorerkrankungen gelangten somit unabhängig vom Alter in priorisierte Verteilungsstufen als besonders sensible und verletzliche Gruppen. Footnote 5 Viele Menschen mit Behinderung, die nicht in Einrichtungen leben, wurden jedoch dabei zunächst nicht berücksichtigt. Footnote 6 Das RKI schlug eine Priorisierung zugunsten der Menschen mit Beeinträchtigungen und ihres Unterstützungskreises vor. Zugleich wies es bereits im Mai 2020 auf die durch teils erforderliche räumliche Nähe bestehenden Risiken hin. Die Kontaktreduzierung (z. B. Isolation in Einzelzimmern, räumliche Trennung im Alltag, Zuweisung speziellen Personals) wurde weiter als wirksamste Strategie zur Verhinderung von Ansteckungen empfohlen. Bei einer konsequenten Anwendung könnten so Freiräume für Personen innerhalb abgeschlossener Bereiche gewonnen werden, wie zum Beispiel sich ohne Schutzwände, Schutzanzüge oder Mund-Nase-Masken aufhalten zu dürfen.

Gerichtsentscheidungen haben die Priorisierung besonders vulnerabler Gruppen mit hohem Schutzbedürfnis in der Verordnung als legitimes Ziel anerkannt Footnote 7 und zugleich darauf hingewiesen, dass die in der Verordnung vorgegebene Reihenfolge auch Abweichungen zugunsten jüngerer vulnerabler Personen, insbesondere Menschen mit Schwerstbehinderung, zulasse. Diese Einschätzungen hatten Bestand. Noch im Epidemiologischen Bulletin Anfang September 2021, nach dem sich Deutschland am Anfang einer vierten Welle befand, wurde gemahnt, Angebote in Schulen, Alters- und Pflegeheimen sowie für marginalisierte Gruppen zu fokussieren (Waize et al. 2021 ).

Die übrigen Personengruppen wurden altersmäßig gestuft – jeweils zu einem späteren Zeitpunkt – einbezogen. Die Teilnahme aller Personen war im Vorschlag der STIKO als freiwillig vorgesehen. Anspruch auf die Impfung hatten alle Menschen mit Wohnsitz oder längerfristigem oder regelmäßigem Aufenthalt in Deutschland.

  • Staatliche Vorsorge in der Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung durch Testungen

Die Verordnung, die am 09.06.2020 im Bundesanzeiger veröffentlich wurde, trat rückwirkend zum 14.05.2020 in Kraft. Ende Mai 2020 äußerten sich die Fachverbände für Menschen mit Behinderung in Deutschland zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zur „Verordnung zu Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei Testungen für den Nachweis des Vorliegens einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“. Es wurde dabei ausdrücklich begrüßt, dass auch Testungen für „betreute Menschen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe“ auf Kosten des Gesundheitsfonds ermöglicht würden. Zugleich sollte aber die Häufigkeit der Testung von Personal und Menschen mit Behinderung noch weiter geklärt werden, ebenso wie das Risiko durch und für besuchende Angehörige. Entsprechende Testungen sollten auch im ambulanten Bereich erfolgen.

  • Staatliche Vorsorge in der Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung durch Schutzkleidung und Masken

Es gab vielfache Hinweise, Beschwerden und Klagen – auch im Zusammenhang mit der Maskenpflicht für Menschen mit Beeinträchtigungen – beispielsweise vom Deutschen Berufsverband der Pflegeberufe. Das pflegende Personal sah sich einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt (Scherer et al. 2020 ), während Schutzmöglichkeiten kaum verfügbar und belastbare Zahlen zu Infektionsrisiken zu wenig veröffentlicht waren. Der Mangel an verfügbaren Schutzausrüstungen betraf in besonderem Maße diejenigen Menschen mit Behinderung, die nicht in Einrichtungen leben und von Angehörigen gepflegt werden oder ihre persönliche Assistenz selbst organisieren. Dieser – ebenso vulnerable – Personenkreis wurde in der politischen Diskussion zunächst außer Acht gelassen (DBR 2020 ) und dadurch nicht angemessen vor dem Infektionsrisiko geschützt. Über Petitionen und Proteste wurde gefordert, die nicht in Einrichtungen lebenden Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen und zugleich vor den Folgen und Gefahren ihrer faktischen Ausgrenzung gewarnt.

Interessenverbände und einzelne Parteien forderten zudem, Ausgangssperre n in Wohneinrichtungen aufzuheben und Besuche zu ermöglichen.

  • Staatliche Vorsorge in der Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sowie Triage

Im Zuge zunehmender Hospitalisierung en intensivierte sich eine Debatte um die sogenannte Triage, ein Verfahren zur Priorisierung von zu behandelnden Patientinnen und Patienten nach Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit, wenn die klinischen Anforderungen vorhandene medizinische Kapazitäten übersteigen. Es ging vor allem um die problematische Heterogenität der zu vergleichenden Personengruppen (z. B. Taupitz 2020 ; Walter 2020 ; Zimmermann 2020 ).

Exkurs: Verfassungsbeschwerde zur Schutzpflicht des Staates gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen unter Triage-Bedingungen.

Neun Menschen mit Beeinträchtigungen erhoben anlässlich der Veröffentlichung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen bei der Corona-Pandemie (2. Fassung vom 17. April 2020) im Juli 2020 Verfassungsbeschwerde . Unterstützung gab die Organisation Ability-Watch (abilitywatch.de). Zwar lehnte das Bundesverfassungsgericht am 16. Juli 2020 einen Eilantrag ab, auch weil die erforderliche eingehende Prüfung nicht im vorläufigen Rechtsschutz möglich sei, unter der Annahme

„erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass hier die gefürchtete Situation der Triage eintritt“ (BVerfG 2020a ).

Das Gericht erkannte aber zugleich an, dass die gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers bezüglich einer Triage bei beschränkten Behandlungskapazitäten gerichtete, noch anhängige Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig oder unbegründet sei. Sie werfe die Frage auf,

„ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht“ (BVerfG 2020b ).

Die DIVI hatte im April 2020 Entscheidungshilfen veröffentlicht für den Fall, dass die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht mehr ausreichen, um alle Patientinnen und Patienten zu versorgen (DIVI 2020 ). Objektive Kriterien sollten die Grundlage für die Entscheidungen bilden. Hierzu gehörte auch die Erhebung einer bestehenden Gebrechlichkeit , z. B. mittels der neunstufigen Clinical Frailty Scale (CFS o. J. ). Personen, die dauerhaft und umfassend auf Unterstützung angewiesen sind, werden dort in die Stufe 7 eingruppiert. Damit hätten sie, unabhängig von Alter und allgemeinem Gesundheitszustand, deutlich schlechtere Chancen als nichtbeeinträchtigte an Corona erkrankte Personen, bei der Zuteilung knapper Gesundheitsleistungen berücksichtigt zu werden. Dies wurde über Organisationen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung massiv kritisiert. Footnote 8 Rebecca Maskos brachte die Situation so auf den Punkt:

„Verzerrte und schematische Vorstellungen vom Leben mit Behinderung sowie fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten für behinderte Menschen – diese Kombination wirkt insbesondere zu Pandemiezeiten nicht nur ausschließend, sondern unter Umständen auch tödlich. Wer beim Impfen durchs Raster fällt, muss fürchten, durch Triage sein Leben zu verlieren“ (Maskos 2021 , 20).

Die DIVI betonte in einer Presseerklärung vom 30. Juli 2020, dass es keine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung geben werde. Die Frage einer grundsätzlichen gesetzlichen Regelung blieb jedoch offen (Deutscher Bundestag 2020 ).

Eine Skizzierung der Ausgangslage (Deutsches Institut für Menschenrechte 2020 ) ergab:

  • Die Entscheidung über die gesundheitliche Versorgung bei knapper Ausstattung treffen Ärztinnen und Ärzte nach Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften zur Zuteilung von Ressourcen.

  • Als Kriterien gelten Patientenwille, Erfolgsaussicht und Dringlichkeit, verbunden mit aktueller Erkrankung, Komorbiditäten und allgemeinem Gesundheitszustand (nach der Gebrechlichkeitsskala, die die Benutzung von Assistenz und Hilfsmitteln als Malus misst, entsprechend einem medizinischen Modell von Behinderung).

  • Dies ist nicht verbindlich, könnte aber für ältere und beeinträchtige Menschen diskriminierend wirken beziehungsweise sie dem Risiko der Nichtbehandlung aussetzen.

  • Eine gesetzliche Regelung für diese (überlebensnotwendige) Situation gibt es nicht.

  • Es gilt zu klären, wie die Auswahl getroffen werden kann ohne Risiken der Diskriminierung von älteren Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung.

Am 29.12.2021 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht als Entscheidung zur Triage (1 BvR 1541/20), dass der Gesetzgeber unverzüglich handeln müsse, um jede Benachteiligung – auch beziehungsweise gerade wegen einer Beeinträchtigung – bei knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen, wirksam zu verhindern. Nun kam der Deutsche Bundestag in die Pflicht, dieses Urteil umzusetzen.

Nancy Poser, eine mit Beeinträchtigung lebende Juristin und eine der Beschwerdeführenden, fasst das Erreichte so zusammen:

„Der Gerichtsbeschluss ist natürlich erstmal insoweit in unserem Sinne, als dass das Gericht ganz klar herausgestellt hat, dass es so eben nicht geht. Uns wurde ja von der Politik immer signalisiert oder von weiten Teilen der Politik signalisiert, dass doch alles bestens ist, wenn die Ärzte das einfach entscheiden und die DIVI-Richtlinien seien doch auch super. Und das hat das Bundesverfassungsgericht ganz klar festgestellt, dass das eben nicht reicht, dass wir da auf jeden Fall tatsächlich benachteiligt sind und dass Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen. (…) Was auch sehr wichtig war, für uns als Behindertenbewegung auch insgesamt, dass das Bundesverfassungsgericht auch die UN-BRK herangezogen hat, wo auch wahrscheinlich einige Politiker – so ist zumindest mein Eindruck manchmal – noch immer nicht mitbekommen haben, dass sie existiert“ (Poser 2022 ).

Zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes fand am 16. Februar 2022 ein Fachgespräch im Gesundheitsausschuss des Bundestages statt. Es wurden mehrere Vertreter ärztlicher Organisationen, ein Jurist und eine der Beschwerdeführerinnen eingeladen, jedoch keine Selbstorganisation behinderter Menschen. Die Beschwerdeführerin Nancy Poser, die als einzige Person mit Beeinträchtigung beteiligt war, kritisierte dies ebenfalls und kommentierte:

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Behinderte hier nur stören, beim schnellen Gießen der DIVI-Leitlinien in Gesetzesform“ (kobinet 2022 ).

Die Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgte am 10. November 2022 im Bundestag. Das Triage-Gesetz sieht nun vor, dass in Fällen der Knappheit durch eine übertragbare Krankheit die Zuteilung medizinischer Ressourcen (etwa in Krankenhäusern) nur aufgrund „der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit “ getroffen werden darf. Eine Benachteiligung wegen Behinderung, Alter, Geschlecht oder Herkunft wird ausdrücklich untersagt. Dennoch gibt es weiter besorgte Stimmen, die die genannten Kriterien nicht für geeignet halten, Menschen mit Behinderung zu schützen (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022 ).

  • Staatliche Vorsorge in der Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung durch Abbau von Barrieren

Als ein Beispiel für eine entsprechende Benachteiligung taugt die anfänglich fehlende Barrierefreiheit bei Informationen zu Coronalage und -maßnahmen. Erst auf Drängen der Behindertenselbsthilfe und anderer Organisationen wurde das Gebärdendolmetschen entsprechender Pressekonferenzen und das Veröffentlichen von Informationen in Leichter Sprache umgesetzt. Auch die schon beschriebene Studie zur „Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in Zeiten der COVID-19-Pandemie aus Sicht der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Betreuungskräfte“ (Habermann-Horstmeier 2020b ) rief dazu auf, die Übersetzung behördlicher Anordnungen in Leichte Sprache nicht zu vergessen. Inzwischen informiert eine Internetseite in Leichter Sprache rund um Corona: https://corona-leichte-sprache.de/page/6-startseite.html (s. Abb.  3.2 ).

Abb. 3.2
Die Abbildung zeigt im Stil der „Leichte Sprache Zeichnungen“ und in Grüntönen eine Gruppe von sechs Superhelden in Verteidigungspositionen. Sie weisen auf die Notwendigkeit hin, sich durch barrierefreie Informationen vor dem Corona-Virus schützen zu können. Die maskierten Superhelden sind in einer Abwehrformation gruppiert. Rechts und links steht jeweils ein Superheld mit Schutzschild. Zwischen ihnen nehmen vier Superhelden und Superheldinnen abwehrende Kampfpositionen ein. Auf den Schutzschildern und auf den Kostümen ist jeweils ein Icon mit dem Corona-Virus. Mitten im Corona-Virus sieht man das Zeichen für Leichte Sprache – ein offenes Buch mit einem stilisierten lesenden Menschen. Über der Gruppe ist eine gezackte Sprechwolke. Alle Superpersonen rufen: „Darum haben wir uns entschieden: Wir gründen eine Task Force Leichte Sprache.“

(Quelle: Illustration von Simone Fass: Erschienen auf https://corona-leichte-sprache.de/page/5-ueber-uns.html Eine Internetseite mit Informationen zu Corona in Leichter Sprache)

Informationen zu Corona in Leichter Sprache.

Über die skizzierten Momentaufnahmen zu Corona zwischen Politik und Praxis hinaus stehen weiterhin zu Einschätzungen, Erfahrungen und Auswirkungen im Pandemiegeschehen in Deutschland wissenschaftliche Aussagen mit Bezug zu Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung noch aus. Ebenso fehlte vielfach eine passgenaue Einbindung ihrer Bedarfe und Bedürfnisse in die Planung und Umsetzung der Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie sowie die anstehende Aufarbeitung, idealerweise durch partizipatorische Verfahren .

3.2.4 Kooperationen in Differenz und Einklang

Das Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf Schutz der Gesundheit hat hohen Rang. Es steht jedoch während einer Pandemie zugleich im Spannungsverhältnis von medizinisch oder gesundheitswissenschaftlich empfohlenen Vorsorge- und Versorgungsmaßnahmen und dem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung . Zwar liegt ein bestimmtes Maß an Gesundheitssorge im eigenen Interesse von Personen, zugleich geht es um das Gemeinwohl und darum, in ein solidarisches Sozialleistungssystem eingebunden zu sein. Problematisch ist, dass Gesundheitsverpflichtungen tendenziell in Selbstbestimmung und Privatheit eingreifen. Neu sind diese Überlegungen nicht. Bezogen auf Menschen mit Beeinträchtigungen konturiert sich das Recht auf Gesundheit und die Pflicht zur Gesundheitssorge zusätzlich um die spezifische Beachtung einer unbedingt gleichen Teilhabeberechtigung aller im entsprechenden Leistungsgefüge. Das Recht auf Freiheit und individuelle Selbstbestimmung ist nur aus überaus starken Gründen einschränkbar. Lösungen müssen folglich partizipativ gesucht und ausgehandelt werden. Es geht um den Einklang zwischen individueller Verantwortung in den jeweiligen Kontexten und um die in der Person liegenden Möglichkeiten mit Bezug auf situative Erfordernisse.

Behinderung ist und macht nicht gleich. Eine differenzierende Sicht auf die Vielfalt von Beeinträchtigungen und Behinderung ist daher gerade in einer Pandemie erforderlich. Sie muss sensibel sein für Leben in Zusammenhängen (Wacker 2019a ), weil Lebensumstände für bestimmte Personengruppen und Lebenslage n gerade in einer Pandemie jeweils eigene Aufmerksamkeit erfordern und verdienen.

Aus Sicht einer Risikovermeidung sind drei Ebenen unterscheidbar, nämlich

  • die individuelle Verantwortung,

  • die gemeinsame Verantwortung und

  • die Umsetzungsmöglichkeiten (Kontextbedingungen wie Regulationen, Wissen, Umwelt, Technik).

Für die Gesundheitssorge ist es ideal, diese Ebenen kombiniert in Einklang zu bringen. Hierzu sind Hochrechnungen gegebener Risiken und ihrer Kontrollierbarkeit möglich, die – beispielsweise nach dem „ Swiss Cheese-Model l“ (Schweizer-Käsemodell) – die Umsetzbarkeit und Wirksamkeit einzelner Bestandteile von Vorsorgemaßnahmen abschätzen (Kartoglu et al. 2020 ). Da jede Schutzmaßnahme Schwachpunkte hat („Löcher im Käse“), sollen so durch einen gleichzeitigen Einsatz verschiedener Maßnahmen ( Schichtmodell ) Durchlässigkeiten verringert werden. Grundvoraussetzung dafür ist die möglichst solide Kenntnis der Eigenschaften und Verbreitungsformen von SARS-CoV-2, verbunden mit den Möglichkeiten in den jeweiligen Settings und der Bereitschaft aller relevanten Personengruppen, die ergriffenen/vorgeschriebenen Maßnahmen zu unterstützen. Ein Beispiel der kombinierten Schutzmaßnahmen gibt Tab.  3.1 .

Tab. 3.1 Elemente und Prozessqualitätsschritte beim Umgang mit der Verbreitung von SARS-CoV-2 (Beispiele)

Ein Risikomanagement („safety-oriented cultural mindset“), das dem Swiss Cheese-Modell folgt, ist unabhängig von akuten Pandemieerfahrungen schon länger in der an Prozessqualität ausgerichteten Risikobearbeitung bekannt (etwa in riskanten Arbeitsumgebungen wie Laboren oder Öltankern) (Grohowski 2018 ).

Insgesamt geht es darum, die bekannten Risiken mit geeigneten setting- oder zielgruppenspezifischen Maßnahmen zu reduzieren. Die Aufmerksamkeit richtet sich damit im Alltag auf alle Gelegenheiten, bei denen Menschen zusammenkommen: auf die Fortbewegung in öffentlichen Verkehrsmitteln ebenso wie auf Arbeitsplatzsituationen, Bildungssysteme, Religionsausübung und Freizeitveranstaltungen, letztlich auf das tägliche Zusammenleben an sich. Soziale Kontakte haben dort verschiedene Qualität und Nähe. Manche engen Kontakte sind kaum vermeidbar ohne erhebliche Risiken in Kauf zu nehmen, etwa, wenn es um Pflege oder Assistenz geht. Die Situation kann aber auch zu psychischen Herausforderungen führen, die bei den Versuchen Abstand zu wahren entstehen können: So können z. B. nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen verstehen, wann bzw. warum das Abstandhalten notwendig ist und fühlen sich gegebenenfalls abgelehnt oder im Stich gelassen.

Eine individuelle Risikozuschreibung (etwa mit Maßeinheiten wie dem IKKA-Score: Wolfschmidt et al. 2020 ) könnte in einer Pandemie die Gefährdungsbeurteilung beim Einsatz bestimmter Beschäftigter lenken (BMAS 2021 ). Dies würde aber womöglich weniger den Schutz aller beschäftigen Personen durch angemessene Vorkehrungen sichern, als vielmehr den Ausschluss definierter Risikopersonen bewirken, warnen Kaifie et al. ( 2021 , 43):

„Eine Differenzierung des Schutzniveaus in Abhängigkeit von der individuellen Schutzbedürftigkeit könnte in dem Sinne (fehl-)verstanden werden, dass mit dem Ausschluss von Risikopersonen von bestimmten Tätigkeiten und ihrem Schutz durch Zuweisung anderer Tätigkeiten (beziehungsweise durch Freistellung) die Infektionsproblematik dieser Tätigkeiten gelöst sei. Dieser Eindruck sollte vermieden werden.“

Kooperationen sind erstrebenswert, bei denen alle sich dafür einsetzen, jeweils Risiken zu reduzieren und Teilhabechancen zu erhöhen. Differenzen werden dann anerkannt und Einvernehmen gesteigert. Dies ist jedoch nicht einfach herstellbar. Vielmehr lassen sich riskante Übergänge und Schnittstellen zwischen Nähe und Distanz ausmachen, die in strukturellen wie in personellen Bezügen wurzeln. Solange sich der Perspektivenwechsel der UN-BRK auf Behinderung als Menschenrechtsanliegen in vielen Bereichen noch nicht durchgesetzt hat, erscheint es oftmals weiterhin selbstverständlich, dass für Menschen mit Beeinträchtigungen „zu ihrem Besten“ entschieden wird, ohne sie in diese Entscheidungen einzubeziehen.

  • Ängste und Gefährdungen

Das Wohlbefinden von Menschen mit Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen sowie von den für sie tätigen Fachkräften wurde in der Pandemie besonders durch Ängste und Gefährdungen beeinflusst (Shi et al. 2020 ). Berichtet wird von belastenden Quarantäne erfahrungen, Schlafstörungen, qualitativ und quantitativ reduzierten Therapieangeboten, gestörten Alltagsroutinen, Zukunftsängsten, finanziellen Sorgen und Engpässen, schließlich von Isolationsleiden wie Einsamkeit und hoher Reizbarkeit. Zugleich finden sich aber auch Beispiele von sozialer Solidarisierung und Resilienz Einzelner. Dies zeigten erste explorative Studien weltweit und in Deutschland (El-Zraigat und Alshammari 2020 ; Fatke et al. 2020 ; Frank et al. 2020 ; Habermann-Horstmeier 2020b ; Shao et al. 2020 ). Viele Befragte sprachen bezogen auf gewünschte Teilhabe von belastenden Einschränkungen im alltäglichen Leben. Verordnete Kontaktbeschränkungen durch Behörden wie „ Lockdown “ und Quarantäne, die eine Ausbreitung des Virus durch Distanz von Mensch zu Mensch verringern sollten, zielten auf bestehende Gefährdungslagen, schufen zugleich aber weitere Gefährdungen (etwa in Form häuslicher Konflikte oder struktureller Gewalt : Frank et al. 2020 ; Lund et al. 2020 ). Diese Zweischneidigkeit zeigte Habermann-Horstmeier ( 2020c ) in einer empirischen Analyse des Infektionsgeschehens (bereits Juni 2020) am Beispiel der Personengruppe von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen. Demnach schienen Menschen, die in Einrichtungen leben, ein deutlich höheres Risiko zu haben, infiziert zu werden, womöglich auch durch die mit der besonderen Unterbringung und der erforderlichen Unterstützung bestehende Nähe. Zusätzlich lagen unter Umständen spezifische Schwierigkeiten vor, Verhaltensempfehlungen zu verstehen und zu befolgen.

Bei der erforderlichen Gratwanderung zwischen gewünschter, beziehungsweise erforderlicher Nähe und notwendiger Distanz können Gefährdungen durch Exklusion (Ausschluss, z. B. von Information und Versorgung) ebenso wie durch Einschluss (Abschirmung/Isolation in Einrichtungen) von Bedeutung sein. Entsprechende Maßnahmen reichten je nach Lageeinschätzung (RKI 2020 ) von Besuchsbegrenzungen (z. B. nur eine Stunde am Tag eine Person, Besuche nur vor der Einrichtung oder in Schutzkleidung) bis hin zu kompletten Mobilitätseinschränkungen (z. B. ein Verlassen der Einrichtung oder des eigenen Zimmers wurde nicht gestattet oder Plexiglastrennwände wurden zwischen allen Bewohnerinnen und Bewohnern errichtet). Dies schränkte soziale Bedürfnisse und Sozialkontakte erheblich ein, beeinflusste aber auch Sicherheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung, insbesondere, wenn sie bei den Aktivitäten des täglichen Lebens auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Selbst ein Einschalten Dritter im Falle unerwünschter und unangebrachter Übergriffe war erschwert oder nicht möglich. So entstanden aus Gratwanderungen womöglich Fallen, aus denen kaum Auswege möglich sind (Lund 2020 , 200–202).

Dass es im Kontext von Behinderung ein signifikantes Gefahrenpotenzial für Gewalt gibt, ist nicht neu und wurde in allen Teilhabeberichten nachdrücklich angesprochen (BMAS 2021 , 646 ff.). Generell ist man also bereits aufmerksam auf mögliche Risikolagen. Auch das SGB IX wird um eine Gewaltschutzregelung ergänzt, die sich an die Leistungserbringer richtet. Geeignete Maßnahmen sollen nach § 37a SGB IX den Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Menschen, insbesondere für Frauen und Kinder, gewährleisten und so die Verpflichtungen aus Art. 16 der UN-BRK umsetzen. Als geeignete Maßnahme wird

„insbesondere die Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung oder Dienstleistungen zugeschnittenen Gewaltschutzkonzepts“ Footnote 9

angeführt.

Wie sensibel es ist, nach Gewalt und Übergriffen zu fragen, ist bekannt (Saxton et al. 2001 , 2006 ). Die besonderen Bedingungen von Nähe und Distanz unter Corona erhöhten die Dringlichkeit zusätzlich. Auch weitere Barrieren dabei, (sexualisierte) Gewalterfahrungen zu melden und bekanntzugeben, sind denkbar. Denn unter Umständen sind Hilfe-/Beratungsangebote noch weniger zugänglich, bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit entsprechender Hinweise Einzelner oder kommt zur allgemeinen Sorge um Sicherheit und Schutz noch die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen hinzu. Solche möglichen sozialen Auswirkungen der Pandemie wurden vorgetragen (Lund 2020 , 202). Entsprechend ist der Nutzen des Infektionsschutzes differenzierend mit Nachteilen wie eingeschränktem Zugang zu Versorgung und Unterstützung sowie den Risiken zu Gewalterfahrungen und Vereinsamung abzuwägen (s. Abb.  3.3 ).

Abb. 3.3
Die Abbildung zeigt das Zusammenspiel verschiedener Faktoren bei der Abwägung riskanter Folgen der Maßnahmen für Menschen mit Beeinträchtigungen in der Corona-Pandemie. Die Abbildung ist in drei Bereiche untergliedert. Auf der linken Seite der Abbildung ist senkrecht angeordnet das Zusammenwirken der drei Faktoren „Schutz vor Ansteckung“, „Isolation und Diskriminierung“ und „Einsamkeit und Gewalterfahrungen“ zu sehen. Diese drei Faktoren sind jeweils von Kreisen in verschiedenen Farben umrandet. Ihr Zusammenwirken kommt mithilfe von Pfeilsymbolen an den Übergängen zwischen den einzelnen Kreisen zum Ausdruck. Entlang der Basis der Abbildung ist eine Wirkungskette dargestellt, die sich aus fünf Elementen zusammensetzt. Sie führt mithilfe von Pfeilen vom Faktor „Schutz“ auf der linken Seite zum Faktor „Gefährdungspotenzial“ auf der rechten Seite. Dazwischen werden die Aspekte „Zugang zu Diensten, Versorgungsqualität“, „Beratung“ und „Ressourcen, Materialen“ aufgelistet. Der Faktor Schutz ist in einem Kreis aus einer bunten Menge unterschiedlich großer und bunter kleinerer Kreise stilisiert. Der Faktor Gefährdungspotenzial ist in einen leuchtend rot gefärbten Kreis geschrieben. Im Zentrum der Abbildung wird die Abwägung zwischen den verschiedenen Faktoren durch ein rostrotes Waage-Icon mit schrägen Waagbalken verbildlicht.

(Quelle: Eigene Darstellung)

Abwägung riskanter Folgen der Maßnahmen für Menschen mit Beeinträchtigungen bei Pandemien

  • Unzureichende Gesundheitsversorgung

In der Gesamtbevölkerung und insbesondere bei Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung führte die Corona-Pandemie zu einer weiter verringerten Inanspruchnahme der routinemäßigen und akuten Gesundheitsversorgung bei Nicht-Corona-Erkrankungen (Grates et al. 2021 ). Dies gibt Anlass zu Sorge. Denn Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen haben, um Überlastungen zu vermeiden und einer möglichen Verbreitung des Virus vorzubeugen, nicht zwingend erforderliche Behandlungen verschoben. Gleichzeitig haben manche Patientinnen und Patienten auch wegen der Infektionsgefahr Kontakte mit einer klinischen Umgebung vermieden. Betroffen waren auch hier in besonderem Maße Menschen mit Behinderung oder sich aktuell entwickelnden Beeinträchtigungen. Sorgen um Triage ( Priorisierung ) (s. Abschn.  3.2.3 ) sowie medizinische Rationierung wuchsen (Andrews et al. 2020 ), obwohl die Verantwortlichen beteuerten, Menschen mit Beeinträchtigungen auf keinen Fall bei der Versorgung zu benachteiligen (z. B. Solomon et al. 2020 ).

  • Spezielle Versorgungsrisiken: Exklusion, Nähe und Distanz

Viele Menschen mit Behinderung sind im Alltag auf Hilfe angewiesen, die entweder in besonderen Wohnformen (wie Heimen oder Gemeinschaftswohnungen ) oder in privaten Wohnungen erbracht wird. Menschen mit Beeinträchtigungen, die ihr Leben mit persönlicher Assistenz selbst organisieren, sorgten sich, ob sie wegen pandemiebedingter Versorgungsengpässe in Gemeinschaftsunterbringung wechseln müssten, auch wenn dies ihren Lebensplänen widerspricht (Rödler 2020 ). Denn Material- und Personalengpässe, Infektionsregeln oder Quarantänevorschriften konnten ihre individuelle Versorgung grundlegend gefährden: Wenn sich beispielsweise eine infizierte Assistenzperson mit allen anderen primären Kontaktpersonen in Quarantäne begeben musste, galt dies auch für die von ihr unterstützte Person mit Beeinträchtigung. Sollte sie selbst erkranken und in ein Krankenhaus müssen, fehlte dort ihre persönliche Assistenz. Dies kann dann über die akute Erkrankung hinaus Gesundheitsgefährdungen erhöhen, wenn im Krankenhaus niemand die jeweilige individuell benötigte Assistenz leisten kann. Wenn die Person beispielsweise bei vielen Aktivitäten oder auch bei der Kommunikation passgenau unterstützt werden muss oder Besonderheiten im Verhalten zeigt, wird die Gefährdung noch elementarer.

Glossar 8: Persönliche Assistenz

Das Konzept der Persönlichen Assistenz wurde in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entwickelt. Die eingesetzten Assistenzpersonen verrichten die Tätigkeiten, die die Assistenznehmenden aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht selbst verrichten können. Persönliche Assistenz grenzt sich klar von Betreuung ab. Um sicherzustellen, dass die Selbstbestimmung gewahrt bleibt, entscheiden die Assistenznehmenden darüber, wer, wann, wo und zu welcher Zeit die Assistenzleistung erbringt.

Persönliche Assistenz wird im sog. Arbeitnehmerinnen- bzw. Arbeitnehmer-Modell selbst oder von ambulanten Hilfsdiensten organisiert.

Auch bei Selbstisolation in der eigenen Wohnung bleiben Infektionsrisiken, wenn Assistenz erforderlich ist. Denn wie riskant sich die Assistenzpersonen außerhalb der Arbeit oder auf den Wegen verhalten, kann nicht beeinflusst werden. Dasselbe gilt ebenso für deren Impfstatus , auch wenn seit dem 16. März 2022 u. a. für im Gesundheitswesen Tätige eine Impfpflicht bestand. So erweiterten sich die ohnehin vorhandenen Herausforderungen bei der Organisation der benötigten Unterstützung um Sorgen wegen unkontrollierbarer, womöglich riskanter Nähe oder plötzlichem Ausfall der Unterstützungsperson/en (beispielsweise wegen Infektion oder Quarantäne). Groß war auch die Sorge, selbst infiziert zu sein, beziehungsweise in Quarantäne zu müssen. Zur Klärung solch struktureller Kernkonflikte in Gefährdungslagen fehlen weitere systematische und breiter angelegte wissenschaftliche Studien in und mit der Praxis.

3.2.5 Wege aus der Pandemie – Lernen für Gesundheitsaufgaben

In der Auseinandersetzung mit der Pandemie lassen sich Muster erkennen: Zum einen zeigte sich, wie Angebote aufrechterhalten und angepasst werden können beziehungsweise, ob dies möglich ist. Auch Optionen und Ausgestaltungen von Ersatzangeboten wurden ausgelotet (DVfR 2021a , 102). Zum anderen wurden spezifische Defizite in der Gesundheitsversorgung sichtbar, die dringend behoben werden müssen. Neben objektive Maße der Gesundheitsversorgung treten Anforderungen an die anzustrebende Qualität der Gesundheitsleistungen, die unmittelbar auf die Lebenslage der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung als Ganzes einwirken. Dies zeigt sich exemplarisch an der Situation der Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen (Beck und Franz 2019 ). Von entscheidender Bedeutung sind Angebote, die unmittelbare Wirkungen auf Teilhabechancen entfalten und auch „die psychosozialen Bedürfnisse aller Betroffenen und ihre Wünsche“ stärker berücksichtigen (Leopoldina 2020 , 3). Vor besonderen Gefährdungen der Selbstbestimmung wurde ebenso gewarnt (Lund 2020 , 202) wie vor falschverstandener Fürsorge . Denn ableistische Vorurteile (Lund et al. 2020 ), also die Abwertung von Menschen mit Behinderung aufgrund (angeblich) fehlender bestimmter Fähigkeiten, begrenzen generell Chancen auf Lebensgestaltung und Selbstbestimmung (Andrews et al. 2020 ).

Glossar 9: (Disability) Mainstreaming

Mainstreaming ist eine politische Strategie, die zunächst als Gender Mainstreamig in der Gleichstellungspolitik gefordert und zunehmend umgesetzt wurde; so muss seit dem Jahr 2000 bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesrepublik der Aspekt des Gender Mainstreamings beachtet werden.

Gender Mainstreaming bedeutet, dass bei allen politischen Vorhaben sowie in Institutionen und Organisationen die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und selbstverständlich berücksichtigt werden müssen, um zu vermeiden, dass eine Gruppe benachteiligt wird. Die Idee dahinter ist, „dass marginalisierte Thematiken zurück in den Fokus des Mainstreams, des Hauptstroms, der Diskussion gebracht werden und zwar von Beginn an und nicht erst am Ende von Entscheidungsprozessen“ (Spoerke 2013 , 92).

Entsprechend wird gefordert, Disability Mainstreaming für die Gleichstellung behinderter Menschen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen anzuwenden. Der frühere Bundesbehindertenbeauftragte Karl Hermann Haack hat es in einer Grundsatzrede so auf den Punkt gebracht: „Jedwedes politische und gesellschaftliche Handeln soll danach befragt werden, in welcher Weise es zur Gleichstellung und Teilhabe behinderter Menschen beiträgt oder sie verhindert“ (Haack 2004; nach Grüber et al. 2011 , 11). Erfolgen soll dies durch frühzeitiges Einbeziehen behinderter Menschen und ihrer Organisationen, wie es auch die UN-BRK fordert, die Disability Mainstreaming als zentralen Bestandteil der Umsetzung ansieht, ganz im Sinne des „Nichts über uns – ohne uns“.

In den Sozialen Medien wurden in den letzten Jahren für solche soziale und politische Aufmerksamkeit Begriffe wie „woke“ (engl. wach/erwacht) bzw. „ wokeness “ verwendet. Sie gehen auf die Bürgerrechtsbewegung von Menschen afroamerikanerischer Herkunft in der Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. „Wokeness“ ruft zu kritischer Aufmerksamkeit gegenüber Diskriminierung und Ungerechtigkeit auf, zum wachsam und feinfühlig Sein und engagiert Bleiben. Woke wäre beispielsweise, politisch bewusst einen Mainstreamingansatz lebendig zu halten, um gegen soziale und politische Missstände und für Chancengerechtigkeit einzutreten.

Anders als von manch skeptischen Stimmen geäußert, geht es nicht darum, anderen „den Mund zu verbieten“ oder gar die Demokratie zu bedrohen. Vielmehr ist es beispielsweise „woke“, wenn eine nachhaltige und gleichberechtigte Unternehmenskultur nicht nur werbewirksam verkündet, sondern auch faktisch errungen und gelebt wird, anstatt lediglich „politisch korrekte“ Fassaden zu präsentieren.

Daher meint der Aufruf #woke mehr als nur Aufklärung, sondern will zum „mainstreaming“ politischer Missstände ermutigen, aber auch auf Vielfalt und Unterschiede unter den Menschen aufmerksam machen und dazu ermutigen, die Menschenrechte aller in den Mainstream zu bringen.

Exkurs: Selbsthilfe Behinderungserfahrener während der Corona-Pandemie – eine Denkhilfe

Während der Corona-Pandemie wurde mehrfach deutlich, wie hartnäckig sich das traditionelle Denken über Menschen mit Behinderung auch in der Politik hält. Mehr als zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK war und ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit, politische Maßnahmen, in diesem Fall die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, einem Disability Mainstreaming zu unterziehen. Dies führte zu erheblichen Benachteiligungen beziehungsweise Menschenrechtsverletzungen. Pressekonferenzen wurden nicht in Gebärdensprache übersetzt und so gehörlose Menschen von für sie wichtigen Informationen ausgeschlossen. Ergriffene Maßnahmen zum Schutz „der Schwächsten“ bezogen sich spezifisch auf Menschen – ältere wie behinderte – in Einrichtungen; tatsächlich lebt jedoch die Mehrzahl gesundheitlich beeinträchtigter und älterer Menschen in Privathaushalten. Nach Statistischem Bundesamt werden lediglich 20 % aller pflegebedürftigen Menschen in Einrichtungen vollstationär betreut (Destatis 2022 ). Da nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen pflege- beziehungsweise assistenzbedürftig sind, dürfte hier der Prozentsatz derer, die in Privatwohnungen leben, noch erheblich höher sein.

Dies verweist auf ein noch immer verbreitetes Denken über Behinderung und Menschen mit Beeinträchtigungen, das diese vor allem in Einrichtungen und als passive Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen sieht. Zugleich und deswegen gab es in der Corona-Pandemie zahlreiche Aktivitäten behinderter Menschen, die dazu beitrugen, dass Menschenrechtsverletzungen als solche angeprangert und abgeschafft wurden.

Zu Beginn der ersten Impfkampagne dominierte beispielsweise die Meinung, dass „ vulnerable Personen “ in Einrichtungen leben. Außerhalb von Einrichtungen wohnende Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung wurden – anders als ältere Menschen – nicht der ersten, sondern der dritten Priorisierungsgruppe zugerechnet und hätten sehr lange auf eine Impfung warten müssen (Die Welt 2021 ).

Um diese Situation zu verändern, startete Christian Homburg, ein mit Muskeldystrophie und selbst organisierter Assistenz lebender 24-Jähriger, eine online Petition:

„Von Anfang an wurden behinderte Menschen, die sich zu Hause in Pflege befinden, vergessen. Von der Politik getroffene Maßnahmen haben uns lange nicht erreicht“ (Die Welt 2021 ).

In der online Petition „Impfschutz auch für schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeeinrichtungen“ verdeutlichte Homburg:

„Für mich und viele andere bedeutet diese Situation seit nun neun Monaten: dauerhafte Selbst-Quarantäne, Isolation und Angst. Wir sind aus der Gesellschaft nahezu verschwunden“ (Homburg o. J. ).

Die online Petition wurde von 103.099 Personen unterzeichnet und damit erfolgreich in die allgemeine und politische Aufmerksamkeit gebracht. Unterstützt wurde die Petition von Akteurinnen und Akteuren der Selbstorganisation behinderter Menschen wie abilitywatch, der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL e. V.), dem Netzwerk für Inklusion , Teilhabe , Selbstbestimmung und Assistenz (Nitsa e. V.) und der Liga Selbstvertretung, aber auch der Aktion Mensch, dem Bundesbehindertenbeauftragten und anderen. Der durch die mediale Aufmerksamkeit erzeugte Druck führte zur Veränderung der Impfverordnung (Maskos 2021 , o. S.).

Zum Verständnis für das mögliche Ausgrenzungspotenzial von Gesundheitsaufgaben bzw. -maßnahmen im Rahmen der Pandemie ist ein sensibilisierter Blick auf Menschen mit Einschränkungen der Teilhabe in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit erforderlich. Dies kann zukünftig auch vermehrt Chancen auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft erhöhen (Ehni und Wahl 2020 ; Miller 2020 ; Morrow-Howell et al. 2020 ).

Eher gelassen schien nach manchen Studien die ältere Bevölkerung mit der Pandemiesituation umzugehen; während der Zeit von Abriegelungen fühlten sich Ältere teilweise sozial gut unterstützt (Röhr et al. 2020 ). Gleichzeitig wiesen andere Studien auf Gruppen Älterer hin, die spezifische Unterstützung benötigen, um bessere psychische Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen (z. B. Brandt et al. 2021 ; Grates et al. 2021 ). Hierzu sind Längsschnittbeobachtungen notwendig, wie auch dazu, in welchen Altersgruppen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mit besonderen Risiken verbunden waren (Brooks 2020 ; Craven 2020 ; Lippke et al. 2022 ). So könnten sich mit der weiteren Forschung zu sozialen Voraussetzungen und Folgen der Pandemie evidenzbasierte Bewältigungsstrategie n entwickeln lassen. Dazu sollte Forschung auch eine Lebenslaufperspektive einnehmen, die Unterschiede zwischen und innerhalb verschiedener Lebensphasen berücksichtigt (Settersen et al. 2020 ).

Viele weiterführende wissenschaftliche Studien – auch differenziert nach verschiedenen Gruppen der Bevölkerung mit Teilhabeeinschränkungen – stehen somit noch aus, um folgende Aussagen vertiefend zu untersuchen:

  • Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden u. a. von Courtenay und Perera ( 2020 ) als durch die Auswirkungen der Pandemie besonders betroffene Personengruppe benannt.

  • Pflegende Angehörige und professionelle Pflegekräfte von Menschen mit Behinderung gelten als besonders verletzlich für Überlastungen und verdienen besondere Aufmerksamkeit (Courtenay und Perera 2020 ; Willner et al. 2020 ).

  • Insbesondere gesundheitlich vorbelastete Kinder sind voraussichtlich (weiteren) Entwicklungsverzögerungen und klinisch bedeutsamen psychischen Gesundheitsproblemen ausgesetzt (Patel 2020 , 2).

  • Einen generell hindernisreichen Weg in die Gesundheitsversorgung haben Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen über die gesamte Lebensspanne (für Heranwachsende Peacock et al. 2012 ; Proesmans et al. 2015 ; für Ältere Jessen 2020 ; Seitzer et al. 2020 ; Thimm et al. 2018 ). Dies wiegt unter Pandemiebedingungen besonders schwer (Bössing et al. 2019 ).

Über die konkreten Auswirkungen der Lebensumstände der Bewohnerinnen und Bewohner besonderer Wohnformen in Zeiten der Pandemie berichtet eine vom BMAS finanzierte Feldstudie unter dem Titel „Die Corona-Pandemie in besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderung. Momentaufnahmen und Zukunftsplanung zu Gleichstellung und Teilhabe bei der Gesundheitssorge im Jahr 2020“ (Wacker und Ferschl 2022 ). Ziel ist dabei, Erfahrungen multiperspektivisch und mit qualitativen Methoden aufzugreifen. Die Stimmen der Bewohnerinnen und Bewohner, des Fachpersonals, die Sichtweise der Leitungsebene ebenso wie die der Angehörigen und gesetzlichen Betreuung mit Blick auf die Zeit vor und während der Pandemie unterrichten über Ereignisse und Wahrnehmungen. Dies hilft für Planungen und die daraus folgenden Zukunftsaufgaben. Gleichstellung und Teilhabe werden dabei als zentrale Fragestellungen verfolgt.

Aber auch im Feld der Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken im Arbeitsleben lohnt sich ein Blick auf die Zukunft. Aus vor der Corona-Pandemie in den USA erhoben Datensätzen ist bekannt, dass Erwerbstätige mit Beeinträchtigungen häufiger als Erwerbstätige ohne Beeinträchtigungen zu Hause arbeiten. Dies gilt für Angestellte und Selbstständige gleichermaßen. Jedoch waren nur 34 % der Erwerbstätigen mit Beeinträchtigungen in Berufen mit hohem Potenzial für Heimarbeit tätig, verglichen mit 40 % der Erwerbstätigen ohne Beeinträchtigungen (Schur et al. 2020 ). Inwiefern Angebote zum mobilen Arbeiten während der Corona-Pandemie in Deutschland ausgebaut wurden, ist aktuell nicht differenziert für Menschen mit Beeinträchtigungen bekannt; auch weitere Entwicklungen sind kaum abschätzbar. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) an der Bundesagentur für Arbeit gibt dazu bislang keine Auskunft: In Studien zur Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona (Bünning et al. 2020 ) wird beispielsweise die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht erfasst. Erste Hinweise auf die negativen Effekte der Pandemie bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt von Menschen mit Behinderung gibt es durch den Inklusionsbarometer Arbeit (Aktion Mensch 2021 ) und die Statistik der Bundesagentur für Arbeit ( 2022 ).

Die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewonnenen Erkenntnisse zur Vulnerabilität bestimmter Bevölkerungsgruppen lassen sich vermutlich auch verstärkt im Hinblick auf Inklusionschancen auswerten und nutzen. Welche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen hierzu erforderlich sind, ist jedoch noch weitgehend unklar. Ähnliches gilt für Annahmen, dass über die Lockdown-Erfahrungen Ideen für ein neues Gesundheitsverhalten reifen werden (wie Freiräume für Spaziergänge, Fahrradfahren, Tierbesuche sowie generelle Entschleunigung), und dass die Aufmerksamkeit für Themen rund um Gesundheit, Prävention und Gesundheitskompetenz wachsen wird (zur Health Literacy : Chiluba et al. 2020 ; Courtenay 2020 ; Turk und McDermott 2020 ).

Eine systematische und kritische Betrachtung aller Maßnahmen im Hinblick darauf, ob sie sich für Menschen mit Beeinträchtigungen negativer auswirken können, als für die als nicht-beeinträchtigt geltende Mehrheit der Gesellschaft (Disability Mainstreaming), sollte vorliegende Ideen, Maßnahmen und Lernprozesse zugänglich, bewertbar und nutzbar machen.

Die Deutsche Rentenversicherung Bund förderte bis 2022 Forschungsprojekte speziell zu den Auswirkungen der Pandemie. Hier wurden die Herausforderungen und neuen Lösungsansätze in der medizinischen und Suchtrehabilitation sowie der ambulanten beruflichen Rehabilitation (Heide et al. 2022 ) erforscht. Darüber hinaus haben sich viele kleinere Projekte – finanziert aus Eigenmitteln von Einrichtungen oder Instituten – ähnliche Fragestellungen vorgenommen, mit dem Ziel nachhaltige Lösungen für Akutversorgung , Rehabilitation und Prävention zu entwickeln.

3.2.6 Recht auf Gesundheit – gerechte Gesundheitssorge für alle?

Gesundheit als soziales Menschenrecht ist in Art. 12 des Internationalen Pakts für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte verbürgt. Die Bedeutung des Gutes der Gesundheit betont das Bundesverfassungsgericht auch in seinem Urteil zum Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vom 9. Februar 2010: Es geht darum, dass

„der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet“ (Huster 2015 , 224)

ist, für die angemessenen materiellen Voraussetzungen für Gesundheit Sorge zu tragen, auch wenn es kein allgemeines, von vielen Faktoren abhängiges, „Recht auf Gesundheit“ geben kann und die gesetzlichen Krankenkassen von der Verfassung her nicht verpflichtet sind, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist. Besonders verpflichtet ist der Staat jedoch zum Schutz der Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG, also dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Abb.  3.4 ).

Abb. 3.4
Die Abbildung visualisiert einen Ausschnitt aus dem Grundgesetz, schriftlich in vier rostrot umrandeten Boxen und als Icon für Gerechtigkeit. Links oben befindet sich das rostrote Icon einer Waage mit geraden Waagbalken. Sie geht über in eine Box, die die obere Position in einer Listung von vier übereinander positionierten Boxen einnimmt und die Abkürzung des Grundgesetzartikels Artikel 2 Abs. 2 GG enthält. In den darunter gestaffelten drei Boxen sind Teilsätze von Artikel 2 Abs. 2 GG aufgelistet. In der ersten Box aus Absatz 2 der erste Satz „1 Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, in der mittleren Box der zweite Satz „2 Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Schließlich in der unteren Box der Satz „3 In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

(Quelle: Eigene Darstellung)

Verbriefte Grundrechte (GG)

Gleiches gilt auch im Hinblick auf Bürgerinnen und Bürger, die nicht aus eigener Kraft im Rahmen der ihnen gegebenen Vorrausetzungen für ihre Lebensvollzüge (Bedarfe und Bedürfnisse) den Erhalt und die Wiederherstellung ihrer Gesundheit sichern können. Dies geht in der Regel weit über medizinische Versorgung hinaus.

Vorbedingung für all dies ist eine vorhandene und allen zugängliche Gesundheitsversorgung (HiAP) (Huster 2012 , 24 ff.) (s. Kap.  4 ). Dabei wird auch das ungleiche Risiko von älteren und jüngeren, gesundheitlich beeinträchtigten und nicht beeinträchtigten Menschen und ein ggf. erhöhtes Schutzbedürfnis berücksichtigt, wie dies beispielsweise in der Coronavirus-Impfverordnung geschehen ist. Eine entsprechende Gesundheitspolitik, die auch Prävention im Sinne von Vorsorge umspannt, ist Teil der staatlichen Gestaltungsaufgaben. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich auf die Corona-Pandemie auch mit Erweiterungen der Präventionsleistungen im SGB V reagiert Footnote 10 Diese Leistungen müssen nicht nur Viren beziehungsweise Ansteckungsrisken und Epidemien bekämpfen, sondern vor allem auch Gesundheitsungleichheit en zwischen sozialen Gruppen abbauen, weil Chancen auf ein gesundes und zufriedenes Leben (well-being) für alle Bevölkerungsgruppen in ihrer Verschiedenheit garantiert werden sollen. Dafür lohnt sich die Suche nach partizipativen, menschlicher Verschiedenheit verpflichteten Bearbeitungsweisen, die sich in gemeinschaftlicher Anstrengung um passende Infrastrukturen und Anerkennungsverhältnisse bemühen, eingebunden in kommunale Gegebenheiten. Entsprechende Ansätze verfolgt beispielsweise eine Forschergruppe der Universität Ottawa. Sie schlägt vor, bei den Planungen und Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus die sozialen Rahmenbedingungen für ein gesundes Leben ( social determinants of health ) unbedingt in Betracht zu ziehen (Rangel et al. 2020 ). Dabei sind, soweit wie möglich, die Sorgen und Bedarfe aller Beteiligten zu klären, sowie bei Entscheidungen, was recht und gut sein soll, die jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer einzubeziehen. Damit könne es gelingen,

• achtsam zu sein und nicht allein Patientinnen und Patienten zu sehen, sondern Personen, die ihr Leben selbst bestimmen. Das Gesundheitssystem solle dabei

respect for autonomy

• den größtmöglichen Nutzen suchen,

beneficience

• den geringsten Schaden in Kauf nehmen müssen und

non-maleficience

• möglichst gerecht sein.

justice

All dies gilt unabhängig von der Pandemielage. Die in deren Verlauf aufgedeckten Versorgungslücken können jedoch Hinweise geben für eine zukünftig bessere Gesundheitsversorgung.

Für solche Entwicklungen ist der Blick über den fachlichen Tellerrand zu anliegenden Expertisen (beispielsweise in der Altenhilfe und in Pflegebereichen) vielversprechend, wenn es gilt, auch Resilienz en zu erkennen und Ressourcen (Kraftquellen) zu aktivieren. Auf einige der aktuell international und national laufenden Studien zur gesundheitlichen Lage und den Gesundheitsrisiken der Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung wurde bereits hingewiesen. So soll mit Blick auf die Zukunft ein wertvoller Wissensschatz wachsen sowie weiter gehoben und bearbeitet werden. Dass die Dynamik getrieben ist durch eine Notlage, lässt sich auch als Chance deuten. Beispielsweise wird erforscht, welche Wirkungen von Quarantänemaßnahmen ausgehen und ob sich deren Härten mindern lassen (Brooks et al. 2020 ). Auch Studien zum Belastungserleben der verschiedenen Betroffenengruppen versprechen neue Erkenntnisse. Ein „Cross-cultural online survey on the impact of COVID-19 among persons with and without disabilities“ stellt die Frage nach dem Belastungserleben von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in insgesamt 20 Ländern in den Mittelpunkt (Fisher et al. 2022 ; Park et al. 2022 ). Im Rahmen einer Kooperation zwischen der Michigan State University, der Universität Hamburg und der Hochschule Zittau/Görlitz wurden wahrgenommene Belastungen und Ressourcen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in Deutschland an dieser Studie teilnahmen, gesondert ausgewertet. Der Fokus liegt dabei auf den Aspekten von  Erwerbstätigkeit , Stress und Wohlbefinden, während der Einschränkungen durch die Pandemie. Diese Faktoren sind eng verknüpft mit Gesundheit, wie bereits in der Forschung zu sozialer Unterstützung gezeigt werden konnte. Die Daten sind ausgewertet und die Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgt (Silter et al. 2023 i. E.). Die Möglichkeiten zur Unterstützung im persönlichen Umfeld, etwa in Familien oder bei pflegenden Angehörigen, verdienen ebenso Aufmerksamkeit (Cattan et al. 2020 ; Eggert et al. 2020 ; Hämel et al. 2020 ; Stokes und Patterson 2020 ). Risiken und Chancen mit dem Blick auf erkannte Versorgungs- und Aufmerksamkeitslücken sind gleichfalls eine bedeutsame Spur zur weiteren Entwicklung (Monahan et al. 2020 ; Reynolds 2020 ). Lebensumstände in besonderen Wohnformen werden in nationaler und internationaler Sichtweise betrachtet (Barnett und Grabowski 2020 ; Lorenz-Dant 2020 ). So werden Untersuchungen/Ergebnisse zu Langzeitfolgen von Corona-Erkrankungen (Long COVID beziehungsweise Post-COVID-19-Syndrom/Post Acute Corona Syndrome, PACS) über bio-psychische Phänomene hinaus zu erwarten sein.

Schließlich bleibt als eine Kernaufgabe, die Widersprüche zwischen Gesundheit und Exklusion in der gesamten Lebensspanne und für alle Menschen zu erkennen und zu bearbeiten (Berg-Weger und Morley 2020 ; Kessler et al. 2020 ; Macdonald und Hülür 2020 ; van Tilburg et al. 2020 ). Erkenntnisleitende Anhaltspunkte hierzu finden sich auch – wie dargelegt – im Gebiet der Eingliederungshilfe. Aus einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e. V. (DGRW) bei Fachkräften (Meyer und Posthumus 2020 , 315–318) geht beispielsweise hervor, dass die durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ausgelösten Belastungen der Fachkräfte im Rahmen der Pandemie zum Teil gravierender eingeschätzt werden als Corona-Infektionen.

Zudem verdient Aufmerksamkeit wie Daten produziert werden und

„welchen Sachverhalten, Gruppen und Räumen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird“ (Conrad 2020 , 432).

Es zeigt sich ein enormes Ungleichgewicht in der Erfassung und Qualität von gesundheitsbezogenen Daten zwischen verschiedenen Gruppen. Grauzonen des Nicht-Wissens entstehen. Obwohl auch die gesamte Öffentlichkeit im Zuge der Pandemie einen

„Intensivkurs in wissenschaftlicher Methodik, Peer-Review, Irrtumstoleranz und Selbstkorrektur mitgemacht hat“ (Conrad 2020 , 433),

bleibt ein entsprechendes „Training“ in Auseinandersetzungen mit Wissensbeständen und Methoden der Sozial- und Erziehungswissenschaften, der Wirtschaft oder des Rechts weitgehend aus. Virologie und Epidemiologie dominier(t)en stattdessen eine medizinisch gelenkte Biopolitik . Diese gilt es nun in eine multiperspektivische und präventive Dauerbeobachtung und Gesundheitssorge zu transformieren, die sich auch in einer entsprechenden Sozial-, Infrastruktur- und Umweltpolitik wie auch in den Planungen und Handlungen des sorgenden Staates niederschlägt (Frevert 1984 ).

Denn dort gilt es „Überleben“ und „Leben“ im Sinne von Lebensqualität zu konkretisieren, also

„emotionale Nähe, soziale Teilhabe, staatsbürgerliche Rechte, aber auch die vielfachen Ungleichheiten, denen es unterworfen ist“ (Conrad 2020 , 438).

Eine breite gesellschaftliche Debatte zu „ ageism “, also der strukturellen Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres (angenommenen) Alters (Brauer 2010 ; Lichtenstein 2021 ) und „ ableism “ (Lund et al. 2020 ) (s. Abschn.  1.5 ) steht noch aus. Allerdings richtet sich Diskriminierung nicht nur gegen ältere und beeinträchtigte Menschen, sondern manifestiert sich entlang aller Linien sozialer Ungleichheit. Menschen mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen sind besonders betroffen, wie das Phänomen der anfänglichen Unterregistrierungen („uncounted, unseen“; Editor's Note; The Economist 2020 ) in Altersheimen, Pflegeeinrichtung en und ambulanten Assistenz-/Pflegeverhältnissen zeigt. Dies könnte auch eine angemessene Aufnahme in Krankenhäuser oder Intensivstationen verhindert haben. Die Aberkennung von „ agency “, also einer aktiven Sorge um sich selbst, und die Reduktion von Teilhaberechten sind ein damit verbundener besorgniserregender Umstand. Hier scheinen grundsätzliche Veränderungen erforderlich (Campbell 2009 ). Die Frage der Zugehörigkeit offen zu thematisieren könnte eine Schlüsselrolle spielen.

Ein Signal für Zugehörigkeit wäre der gezielte und universelle Einbezug in die Forschung. Obwohl Menschen mit Beeinträchtigungen jeglicher Art ein ebenso breites Spektrum an Gesundheitszuständen aufweisen wie die allgemeine Bevölkerung, sind sie in der Gesundheitsforschung stark unterrepräsentiert. Dies könnte zu den gesundheitlichen Ungleichheiten in dieser Bevölkerungsgruppe beitragen. Es ist beispielsweise prüfenswert, ob ein Konzept des Universal Design of Research (UDR) die routinemäßige Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in biomedizinische Studien fördern würde. Hierzu müsste es Routine werden, die entsprechenden Teilnehmenden zu rekrutieren und die Forschungsinstrumente anzupassen, mit dem Ziel die Verallgemeinerbarkeit der Forschungsergebnisse zu verbessern, aber auch die Qualität des Gesundheitswissen bezogen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu steigern. Williams und Moore ( 2011 ) machen dies in einer Forschungsstandanalyse deutlich: Die Fachwelt im Gesundheitswesen setze oft Behinderung und Gesundheitmängel gleich, ohne zu realisieren, dass Menschen mit Beeinträchtigungen oft ein langes, gesundes und aktives Leben führen, wenn auch mit erhöhten Gesundheitsrisiken. Diese bestehen aus einer tendenziell höheren Anfälligkeit für chronische Gesundheitsumstände (z. B. Herzkrankheiten, Diabetes, Übergewicht, Krebs und Arthritis), Folgeerscheinungen ihrer Beeinträchtigungen sowie den Auswirkungen der mangelnden Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung, da angemessene Vorkehrungen im Gesundheitssystem oft fehlen. Die Studie konstatiert zugleich, dass einerseits Menschen mit Behinderung die Gesundheitsversorgung häufiger in Anspruch nehmen als die Allgemeinbevölkerung, während sie andererseits in der allgemeinen Gesundheitsforschung stark unterrepräsentiert seien. Beispielsweise haben 20 % der Menschen mit Diabetes Schwierigkeiten beim Sehen (Williams und Moore 2011 ). Benötigt würden daher beispielsweise Forschungsarbeiten über die Dosiergenauigkeit mit Insulinpens, aber Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sind dabei bislang ausgeschlossen.

Mit einfachen Regeln und praktischen Leitlinien für die UDR käme man dem Ziel näher, die Qualität der Gesundheitsforschung durch Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern. Die Ergebnisse werden dadurch besser verallgemeinbar und anwendbar auf ganze Bevölkerungsgruppen. Umfassendere (weniger selektive) Erkenntnisse führen sehr wahrscheinlich zu einer höheren Versorgungsklarheit und letztlich zu besseren Gesundheitschancen für die gesamte Bevölkerung.

Die UDR-Anliegen werden bezogen auf Begrifflichkeit, Erfordernisse und mögliche Wirkungen auch kritisch diskutiert. Im Kern geht es um die Frage, ob man mit einer differenzierenden „materialistischen Methodologie“ – also einer vor allem auf die Gestaltung von Materialien bezogenen Strategie – die Aufgabe lösen könne, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit abzubauen.

Die gewonnenen Einsichten könnten zukünftig dazu beitragen, Unterschiede dort zu beleuchten, wo sie entstehen, mit mehr Klarheit für die Verflechtung biologischer und sozialer Faktoren. Hierfür mag es ein erster Schritt sein, frühere Studiendesigns kritisch zu überdenken, aber vor allem gilt es aufmerksam gegenüber den Bedingungen zu bleiben, unter denen Forschung im Zusammenhang mit Behinderung möglich ist und geschieht (Hamraie 2012 ).

3.3 Teilhabechancen über digitale Gesundheitsangebote : Digitale Inklusion

Nach einer ARD/ZDF-Onlinestudie zum Zuwachs der medialen Internetnutzung und Kommunikation sind 94 % der deutschen Bevölkerung online (Beisch und Koch 2021 ), wenn auch mit starken Unterschieden zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (was als “ digital divide ” bezeichnet wird). Insbesondere Menschen hohen Alters sind deutlich seltener online aktiv, als Personen im jüngeren und mittleren Alter (Beisch und Koch 2021 ). Ob und wie das Internet genutzt wird, ist aber auch abhängig von Bildung, finanziellen Ressourcen, dem sozialen Netzwerk, Gesundheit und weiteren Faktoren, zumindest wenn man Personen in den Blick nimmt, die aktuell mittleren und höheren Alters sind (Ehlers et al. 2020 ; König et al. 2018 ). Das mag sich in Zukunft ändern. Intersektionale soziale Ungleichheiten zeigen sich zwar in Bezug auf den Zugang zum Internet und die allgemeine Nutzung (online vs. offline, first-level digital divide ), nehmen aber allmählich ab (Huxhold et al. 2020 ). Weiterhin sind beim Online-Personenkreis soziale Ungleichheiten nachvollziehbar, insbesondere bei Intensität, Umfang und Kompetenz der Internetnutzung ( second-level digital divide ) (Bertelsmannstiftung 2021 ; Hunsaker und Hargittai 2018 ). Dies könnte zur Folge haben, dass sozioökonomisch besser gestellte Gruppen stärker vom Internet profitieren ( third-level digital divide ) (van Deursen und Helsper 2015 ; Zillien 2009 ).

Die genannten Faktoren, die die Internetnutzung beeinflussen, wie z. B. Bildung, zeigen sich auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen (Duplaga 2017 ). Der Ruf nach Internetzugang und Medienbildung für alle hat entsprechend Konjunktur (z. B. Achter Altersbericht der Bundesregierung zur „Digitalisierung als Chance für ein selbstbestimmtes Leben“, BMFSFJ 2020 ). Spätestens seit die Corona-Pandemie neue Kommunikationswege erforderte, steigt das Bewusstsein für die drängende digitale Transformation , gerade auch für die Teilhabe der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung. Studien zeigen allerdings, dass beispielsweise Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei der Mediennutzung vielen und vielfältigen Barrieren begegnen (Zaynel et al. 2020 , 119). Vermutlich ist es wichtig, sich der Tatsache zu stellen, dass Aktivitäten und Dienstleistungen zunehmend aufs Digitale verlagert werden und so gerade vulnerable Gruppen sozial exkludiert werden. Damit wachsen Risiken von Isolation und negativen gesundheitlichen Folgen weiter und soziale Ungleichheiten können sich erneut verschärfen (Endter et al. 2020 ). 

Im Bereich der digitalen/medialen Gesundheitssorge liegen kaum systematische Erkenntnisse zum Stand von Angebot, Planung und Praxis vor. Spezifische und systematische empirische Studien sind dringend notwendig.

3.3.1 Digitale soziale Teilhabe

Mehr und mehr ist das Alltagsleben generell mit digitalen Aktivitäten angereichert. Von der Unterhaltung über Finanzaufgaben bis zur Beschaffung von Lebensmitteln und anderen Gütern, vom Wissensgewinn bis zur Planung von Mobilität, von der Kommunikation über Verabredungen bis zu Abgrenzung und Protesten; vieles wird online genutzt, gepostet und erwartet. Digitale und soziale Teilhabe scheinen somit untrennbar verwoben.

Generell enthalten digitale Angebote auch für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung viele Potenziale, um soziale Teilhabe zu ermöglichen oder zu erleichtern. Beispielsweise sind rund um die Uhr vielfältige Informationen verfügbar und mit  Künstlicher Intelligenz (wie ChatGPT) aggregierbar. Informationen können geteilt werden, soziale Kontakte lassen sich ebenso pflegen wie individuelle Entspannung über Unterhaltungsprogramme. In vielfacher Weise reduzieren digitale Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen Teilhabebarrieren. Ebenso bietet das Internet auch geschützte Räume ( social bubble ) für Personengruppen sowie die Möglichkeit über soziale Medien eigene Inhalte zu veröffentlichen, Beziehungen aufzubauen und Gemeinschaft zu erleben, wie es für Menschen mit Beeinträchtigungen offline in dieser Form vielleicht nur schwer oder nicht möglich wäre (Dobransky und Hargittai 2021 ; Duplaga 2017 ).

Der Einsatz von Videokonferenz en kann Barrieren überwinden und z. B. bei gruppenbezogenen Interventionen für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen auch dann eine Teilnahme ermöglichen, wenn die Mobilität oder – wie während der Corona-Pandemiebekämpfung – die physische Nähe eingeschränkt sind. In ihrem systematischen Review haben Banbury et al. ( 2018 ) zusammengefasst, dass häusliche Gruppenangebote mit einer Videokonferenz auch für Personen mit begrenzten digitalen Kenntnissen machbar sind. Die allgemeine Akzeptanz von Videokonferenzen in den 17 von ihnen ausgewerteten Interventionsstudien ist hoch, wobei der digitale Zugang von zu Hause sehr geschätzt wird und Fragen des Datenschutzes kaum eine Rolle spielen. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Originalstudien berichten allerdings, dass sie Gruppen mit persönlicher Begegnung bevorzugen.

Eine gute informationstechnologische (IT-)Ausstattung und entsprechende Schulung der IT-Fähigkeiten sind dennoch für moderierende und teilnehmende Personen unerlässlich, wenn diese noch nicht anderweitig erworben wurden (z. B. bei der schulischen oder beruflichen Qualifikation oder Tätigkeit). Die Kommunikation kann an die Bedarfe angepasst und durch klare Kommunikationsstrategien und -protokolle verbessert werden. Als Vorteile von digitalen Angeboten heben Banbury et al. ( 2018 ) hervor:

  • die Zusammenarbeit mit oder das Lernen von anderen Menschen mit ähnlichen Problemen,

  • den verbesserten Zugang zu Gruppen,

  • die Entwicklung von Wissen, Einsichten und Fähigkeiten im Zusammenhang mit Gesundheit,

  • die Nutzung gruppendynamischer Prozesse wie Bindung und Zusammenhalt.

Der Teilhabebericht der Bundesregierung (BMAS 2021 ) führt folgende Vorteile digitaler Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen an:

  • Die Mobilitäts- und Planungsmöglichkeiten von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern können durch Informationstechnologie n wie Wheelmap verbessert werden (BMAS 2021 , 359 ff.).

  • Das Internet kann dabei helfen, mehr über die Barrierefreiheit von Arztpraxen zu erfahren (BMAS 2021 , 428 ff.).

  • Telefonangebote, Online-Beratung, Sofort-Chat bieten Möglichkeiten, den Zugang zu Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen, die Gewalt erfahren haben, bestmöglich direkt sicherzustellen (BMAS 2021 , 687 ff.).

  • Erleichterung der Kommunikation und Unterstützung der Teilhabe in der täglichen Lebensführung von Menschen mit Beeinträchtigungen, etwa des Seh- oder Hörvermögens und/oder mit körperlichen Beeinträchtigungen, durch assistive Technologien (BMAS 2021 , 387 ff.).

Digitale Formate bieten also Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und zur Nutzung von Angeboten, die sonst insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht oder nur schwer zugänglich wären (Dobransky und Hargittai 2021 ). Vor allem vor dem Hintergrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie stellen folglich digitale Angebote auf verschiedene Weise Optionen bereit, um – bestimmte – Exklusionsrisiken abzuschwächen oder sogar zu überwinden (Bössing et al. 2021 ). Im „Pakt für Inklusion 2021“ ist auch die Weiterentwicklung der Digitalisierung enthalten (Ehlers et al. 2021 ). Beratung, Unterstützung und Ausstattung sind Ziel der Unterzeichnenden des Positionspapiers aus Verbänden beziehungsweise Vereinen im Bereich der Eingliederungshilfe (Ehlers et al. 2021 ). Allerdings werden solche Angebote von den Personen häufig nicht angenommen, die vermutlich am meisten davon profitieren könnten, wie z. B. ältere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen (Gallistl et al. 2020 ), insbesondere wenn die Angebote nicht umfassend barrierefrei gestaltet sind.

3.3.2 Digitale Gesundheitsversorgung mit inklusiver Innovation

Unabhängig von Krisenlagen rufen Noel und Ellison ( 2020 ) eine Zeit der „ inclusive innovation “ mit „telehealth“ aus und bekunden die große Bereitschaft, aber auch die Forderung von Menschen mit Beeinträchtigungen, hier partizipativ einbezogen zu werden:

„leaders must embrace persons with disabilities and caregivers as valued partners in design and implementation, not as passive “end-users”. We call for a new era of inclusive innovation, a term proposed in this publication to describe accessible technological design for all.“

(Noel und Ellison 2020 )

Führungskräfte müssen Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Assistenzpersonen als geschätzte Partnerinnen und Partner bei Design und Umsetzung betrachten, nicht als passive „Endnutzerinnen und -nutzer“. Wir fordern eine neue Ära der inklusiven Innovation, ein Begriff, den wir in dieser Veröffentlichung vorschlagen, um zugängliches technologisches Design für alle zu beschreiben.

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Gleichzeitig können sich jedoch Benachteiligungen verschärfen, wenn beispielsweise die technische Ausstattung nicht verfügbar ist. Da digitale Gesundheitsanwendungen neu in den Leistungskatalog zur medizinischen Rehabilitation im SGB IX aufgenommen sind, könnten sich hier Teilhabeverbesserungen, aber auch weitere Exklusionsrisiken abzeichnen. Im Einzelnen sieht § 64j SGB IX einen Anspruch von Pflegebedürftigen

„auf eine notwendige Versorgung mit Anwendungen, die wesentlich auf digitalen Technologien beruhen,“

vor. Dabei sollen

„insbesondere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten des Pflegebedürftigen“

gemindert oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegengewirkt werden. Andere wichtige Aspekte, die es zu beachten gilt, sind – neben der Grenzziehung zwischen Pflege und Eingliederungshilfe – die Bereitschaft und die Kenntnisse der potenziellen Nutzerinnen und Nutzer ( digital health literacy ).

Die Gestaltung der Leistungen zur Teilhabe von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderung in digitalisierter Form wird aktuell beispielsweise über Forschungsfördergelder der Deutschen Rentenversicherung vorangetrieben (Heide et al. 2022 ). Dabei geht es insbesondere um den Nutzen digitaler Unterstützung für die Routineversorgung, die Gestaltung von flexiblen, räumlich und zeitlich unabhängigen Formen der Leistungserbringung, aber auch die Ableitung von zukünftigen Qualifikationsbedarfen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Rehabilitationseinrichtungen. Lösungen, die in der Pandemiesituation gefunden wurden, bieten womöglich Lernchancen auch zur Bewältigung der anstehenden Veränderungen im Zuge der Digitalisierung in der Arbeitswelt.

Viele Bereiche für digitale Gesundheitsangebote ( eHealth , TeleHealth , Tele-Medizin , Tele-Rehabilitation et cetera) sind vorstellbar. Analoge Gesundheitsangebote von Arztpraxen , Rehabilitationseinrichtungen , Krankenhäuser n, Ergo - und Physiotherapie n und Berufsförderungswerken sowie am Arbeitsplatz könnten ergänzt oder ersetzt werden. Dies bietet vor allem auch dann Vorteile, wenn Hindernisse, wie z. B. Mobilitätseinschränkungen, die persönliche Teilnahme an Maßnahmen erschweren oder unmöglich machen. Diese Angebote umfassen Beratungen und Gesundheitsdienstleistungen, die aus der Ferne über elektronische Kommunikationsmedien (z. B. Websites, Telefon bis hin zu Textnachrichten wie SMS/Kurznachrichten oder E-Mail-Informationen) erbracht werden können (Senanayake et al. 2019 ).

Erfahrungen und Studienergebnisse zeigen, dass digitale Gesundheitsangebote als Einzelintervention (Dario et al. 2017 ; Senanayake et al. 2019 ) oder Gruppentherapie (Banbury et al. 2018 ) zur Verbesserung psychischer und körperlicher Beeinträchtigungen nutzbar und wirksam sind. Unterstützungsangebote bis hin zu therapeutischen Maßnahmen können mittlerweile unter Nutzung von Technologien erfolgen. So bestehen beispielsweise auch bei psychischen Krisen Möglichkeiten der Intervention über das Mobiltelefon. Dies ist insbesondere hilfreich für Personen, die in abgelegenen oder ländlichen Gebieten leben sowie in Regionen mit schwieriger Arzt- und Therapieverfügbarkeit und wenigen allgemeinen Unterstützungsangeboten (Gire et al. 2017 ). Allerdings müssen für digitale Interventionen die Internetverbindung stabil sowie die erforderliche Technik sicher verfügbar sein und beherrscht werden.

Studien deuten darauf hin, dass im Grundsatz digital-basierte strukturierte Selbstmanagement programme für Menschen mit gesundheitlichen Problemen eine große Hilfe sein können. Allerdings zeigt sich ein hoher Bildungsgrad der Teilnehmenden, die auch bereits mit digitaler Technik vertraut waren (z. B. Safari et al. 2020 ). Welche Wirkungen bei eher bildungsfernen, wenig techniknahen und wenig unterstützten Menschen eintreten, müssen weitere wissenschaftliche Begleitforschungen zeigen. Dabei kann eventuell das „Technology Acceptance Model“ (TAM, Davis 1989 ) helfen, das vorhersagt, dass die Nutzungsbereitschaft mit dem wahrgenommenen Mehrwert und der empfundenen Bedienfreundlichkeit steigt. Entsprechend zeigen weitere Forschungsbefunde die Potenziale von mHealth (mobile Health) Angeboten. Beispielsweise berichten auch Slater et al. ( 2017 ) in ihrer Überblicksarbeit über Studien mit Endnutzenden zu den Erfahrungen beim Verankern von mHealth-Technologien im Alltag für die Behandlung chronisch-degenerativer Erkrankungen bei jungen Erwachsenen ähnliche Ergebnisse.

All dies kann im Rahmen digitaler Gesundheitsangebote entsprechend bei Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung beachtet und auch passgenau auf ihre jeweiligen Beeinträchtigungen und Lebenssituationen abgestimmt werden (Rogers et al. 2017 ).

3.3.3 Digital verbunden in besonderen Lebenslagen

Zu den Gruppen, die immer noch weitgehend vom Zugang zu digitalen Medien ausgeschlossen sind, zählen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in Wohneinrichtungen leben (Pelka 2018 ). In einer Studie aus dem Jahr 2018 fanden Bosse und Kolleginnen ( 2019 ), dass nur ungefähr die Hälfte der entsprechenden Wohnangebote mit WLAN (Wireless Local Area Network) ausgestattet war. Und selbst dann war den Bewohnerinnen und Bewohnern die Nutzung kaum oder nur unter Kontrolle des Personals möglich. Nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner verfügten über eigene Endgeräte oder gar einen eigenen Internetzugang . Um diesen müssen sie sich selbst kümmern, was für diesen Personenkreis mit besonders großen Barrieren verbunden ist.

Die Studie weist darauf hin, dass die Mediennutzung – und zwar sowohl im Hinblick auf das „ob“ sowie das „wie“ – in starkem Maße von der Haltung des Personals abhängt. Es wurden

„sowohl bevormundende und verbietende Haltungen als auch solche des Begleitens“ (Bosse et al. 2019 , 27)

gefunden. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Kompetenz der Befragten im Umgang mit digitalen Medien. Zwar ist die genannte Studie nicht repräsentativ, aber in Altenpflegeeinrichtungen finden sich ähnliche Befunde (Endter et al. 2020 ). Die Situation in vielen Einrichtungen der Eingliederungshilfe ist vermutlich nicht grundlegend anders. Auch der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (beb) berichtet, wie schwierig es sein kann, Zugang zur digitalen Welt zu bekommen, weil WLAN nicht selbstverständlich sei. Es gebe beispielsweise Probleme, die Kosten (etwa in einem Internet-Café oder von mobilen Daten) über einen Grundsicherungsbetrag zu decken, ebenso wie die Anschaffungskosten für einen Laptop (Wiegel 2021 , 10).

Mit dem Fokus auf die Möglichkeiten digitaler Gesundheitsförderung (durch Kommunikation, Information und Unterhaltung) leitet sich Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen ab (Pelka 2018 ). Es geht darum,

  • die materielle Ausstattung (Verfügbarkeit von WLAN und Endgeräten) deutlich zu verbessern, um allen Menschen, die dies wünschen, die Nutzung des Internets zu ermöglichen, und

  • Neugierde und Motivation z. B. durch niedrigschwellige Interneterfahrungsorte

zu wecken.

Parallel dazu müssen auch Bildungsangebote vorgehalten werden, die in den Gebrauch der digitalen Medien einführen sowie Medienkompetenz (media health literacy) vermitteln (Aktion Mensch o. J.b ). Dabei gilt es auch die Qualifizierung des Personals (z. B. in Pflege, Sozialarbeit, Sozialpädagogik) zu berücksichtigen.

Um solch eklatante Digitalisierungslücken zu schließen, hat beispielsweise die Aktion Mensch das Förderprogramm „Internet für alle“ aufgelegt, das

„insbesondere Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte und chancengleiche Teilhabe durch Internetnutzung ermöglichen (soll)“ (Aktion Mensch o. J.a , 1).

Im Rahmen dieses Programms können Einrichtungen der Eingliederungshilfe Zuschüsse sowohl für die Anschaffung von Endgeräten und Internetzugängen als auch für entsprechende Bildungsangebote erhalten. Weitere Akteure, die sich für die selbstbestimmte und barrierefreie Nutzung digitaler Medien für alle einsetzen, sind unter anderem der Technische Jugendfreizeit- und Bildungsverein (tjfbg) sowie das Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstechnik (AbI). Footnote 11 Ob sich eine digitale Spaltung zwischen Gruppen, die teilhaben an digitalen Gesundheitsangeboten und anderen, die ausgeschlossen sind entwickeln wird, ist noch nicht erkennbar. Die gleiche Frage stellt sich beim „DsiN Digitalführerschein“, der bisher nicht in leichter Sprache verfügbar ist ( https://difü.de/ ).

Zwar durchdringt „always online“ den Alltag und entsprechende Technologien sind meistens „schon da“. Sie vermitteln Dabeisein, zugleich bahnen sie Wahrnehmungen, Werte und Verhalten. Dass die Welt da draußen nach Hause kommt, ist inzwischen Teil sozialer Teilhabe (Wacker 2019a , 14 f.). Bis allerdings digital@home in Sozialleistungskatalog en klar verankern wird, bedarf es noch weiterer Aufklärung. Eine selbstbestimmte und verfügbare Mensch-Technik-Beziehung für alle und entsprechende Strategien verdienen aus vielen Gründen Aufmerksamkeit ( digitale Teilhabe ). Denn Partizipation durch Medien und Technik ist möglich.

Personengruppen, die aus materiellen oder auch Fähigkeitsgründen noch nicht auf einem digitalen Weg sind, dürfen deswegen nicht ausgeschlossen oder vergessen werden – ebensowenig wie diejenigen, die digitale Technologien nicht nutzen wollen (und beispielsweise lieber mit Bankpersonal sprechen möchten, um eine Überweisung zu tätigen, oder medizinisches Personal sehen möchten, um sich ein Rezept erklären zu lassen; s. z. B. Gallistl et al. 2020 ; Wanka und Gallistl 2020 ). Auch digitale Alltagstechnologien sind u. U. Hilfsmittel, sollten also entsprechend flächendeckend und situationsangepasst verfügbar sein. Hierfür technische, finanzielle, Kompetenz- und auch Vertrauensbarrieren zu überwinden wird sich lohnen. Teilhabe lässt sich zwar nicht technisch fertigen, aber sie kann mit Beteiligung – auch an Technologien – wachsen.