Der Lebensalltag ist von gesundheitlichen Ungleichheiten durchzogen. Doch ist Gesundheit gem. Art 25 UN-BRK ein Menschenrecht, auch und gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung (s. Abschn.  4.1 ). Entsprechend müssen Anstrengungen in allen Lebenssitutationen unternommen werden, um Gesundheitschancen zu erhöhen und -risiken zu senken. Dabei ist es kaum möglich, wesentliche Elemente zu isolieren (z. B. besondere Personenkreise, Umgebungen, Orte und Strukturen der Krankheitsbehandlung oder Gesundheitserziehung ). Aber es gibt in der UN-BRK und der ICF der WHO benannte Unterschiede, die Risiken und Chancen, wie auch international anerkannte und tragfähige Maßstäbe für Gesundheitsansprüche für beeinträchtigte Menschen beschreiben. So lassen sich in einem salutogenetischen Zugang Lebenslagen und Lebenswelten von Menschen mit Beeinträchtigungen betrachten, strukturierte Handlungsmöglichkeiten (Gelegenheiten) finden und Handlungsbegrenzungen (Ausschlüsse) für einen Personenkreis, der mit hohen Gesundheitsrisiken lebt, festmachen. Dabei ist ein „ common sense “, ein gemeinsames Verständnis, im Sinne einer Fähigkeit und Notwendigkeit zur sozialen Interaktion und Kooperation genauso wichtig, wie die Frage danach, welche Veränderungen erforderlich sind oder sein werden.

Die WHO hat entsprechend bereits frühzeitig eine Commission of Social Determinants of Health (CSDH 2008 ) einberufen (2005–2008). Länder und globale Gesundheitspartner sollen sie bei dem Anliegen unterstützen, die sozialen Faktoren, die zu Krankheiten und gesundheitlichen Ungleichheiten führen, mehr in den Blick zu nehmen. Insbesondere sollen für die am stärksten gefährdeten Personengruppen bessere Gesundheitsbedingungen geschaffen werden. Als Determinanten der Gesundheit werden vor allem soziale, wirtschaftliche und lebensstilbezogene Aspekte hervorgehoben, da sie – im Zusammenspiel mit Alter, Geschlecht, Beeinträchtigungen und genetischen Faktoren – wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit haben, sich aber über wirtschaftliche, politische, kulturelle (Verhältnisse) und individuelle (Verhalten) Weichenstellungen beeinflussen lassen. Der Abschlussbericht verdeutlichte die Bedeutung der Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen, der ungleichen Verteilung von Macht, Geld und Ressourcen sowie eines klaren Verständnisses dafür, welche Maßnahmen ergriffen und Maßstäbe für Wirkungen gesetzt werden sollten.

Die sozialen Determinanten der Gesundheit und soziale Gradienten gesundheitlicher Ungleichheit gewinnen somit zunehmend an Beachtung (Rathmann 2015 , 35). Es wird nun auch die Vielfalt der Gesundheitsaspekte einbezogen, um sie in eine förderliche Balance zu bringen. Eine zentrale Rolle spielen dabei biologische Faktoren, Lebensführung und Umwelt, damit Gesundheit und Wohlbefinden in der Gemeinschaft entstehen und Bestand haben können. Nicht alle diese Elemente liegen aber in der Hand einzelner Personen (Verhalten) (Dahlgren und Whitehead 2006 ). Hier werden die ungleichen Chancen auf ein gesundes Leben betont, verbunden mit der Frage, wie Ausgleiche gefunden werden können. Im Idealfall sollte demnach

  • jede Person das volle Gesundheitspotenzial erreichen,

  • niemand aufgrund der sozialen Stellung oder sozial bedingter Faktoren benachteiligt werden,

  • Gesundheitspolitik entsprechend an Gerechtigkeit orientiert sein,

  • soziale Ungleichheit im Gesundheitsbereich, verglichen mit der Lage der Gesamtbevölkerung, verringert oder beseitigt werden.

Es sollen

  • erhöhte Risiken für den Gesundheitszustand mit verbesserten Maßnahmen möglichst ausgeglichen,

  • eine geschlechterspezifische Schlechterstellung über wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Bedingungen vermieden oder verringert,

  • soziale Ungleichheiten im Gesundheitsbereich so weit wie möglich getrennt beschrieben und analysiert,

  • ethnische Unterschiede im Gesundheitszustand beobachtet und ausgeglichen sowie

  • geografische Unterschiede im Gesundheitszustand unter Beachtung von Alters- und sozioökonomischer Struktur beschrieben und analysiert werden, und

  • niemand soll wegen Beeinträchtigungen benachteiligt werden.

Auf die gemeinschaftliche Aufgabe der Gesundheitssorge richtet sich besonderes Augenmerk: Mit fairen Regelungen sollen alle Menschen die Versorgung, die sie benötigen erhalten, unabhängig von geografischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder gesundheitlichen Einflussfaktoren. Dimensionen wie angemessene informelle und professionelle Pflege sind ebenso einbezogen wie Aufmerksamkeit für bestehendes Betreuungsrecht, eine gerechte Finanzierung der Gesundheitsdienste und die Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit im Feld der Gesundheitsversorgung.

Diese Determinanten oder Einflussfaktoren für Gesundheit (determinants of health) werden häufig in einem „Regenbogen“-Modell abgebildet (Dahlgren und Whitehead 2006 , 20), das inzwischen in einer populären Darstellung von Barton und Grant ( 2006 ) als „Health Map“ weite Verbreitung findet (Abb.  4.1 ). Footnote 1

Abb. 4.1
Die in Englischer Sprache beschriftete Abbildung zu „The determinants of health and well-being in our neighbourhoods“ zeigt die verschiedenen Ebenen und Bestandteile von Gesundheit und Wohlbefinden mit Umgebungsbezügen. Die Darstellung besteht aus einem Kern, in dem die Menschen mit ihrem individuellen Alter, Geschlecht und biologisch erworbenen Faktoren stehen. Um diesen Kern gruppieren sich wie bei Zwiebelschalen insgesamt sechs Hüllen: Zuerst der Lifestyle / Lebensstil. Dazu zählen Ernährung, körperliche Aktivität und die Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Darum liegt die Ebene Community also die Gemeinschaft oder Gemeinde. Es werden Sozialkapital und Netzwerke genannt. Die nächste Ebene ist die lokale Ökonomie mit Wohlstandsgenerierung und Märkten. Diese drei genannten Ebenen sind hellblau gefärbt, die folgenden drei Ringe sind dunkler blau unterlegt. Die erste auf der Mesoebene abgebildete Schicht ist mit Aktivitäten bezeichnet. Konkret genannt werden Arbeit, Einkaufen und Mobilität sowie Lebensführung, Freizeit und Wissenserwerb. Auf der nächsten Ebene ist die gebaute Umgebung skizziert. Dazu zählen Gebäude und Plätze sowie Straßen und Verbindungen. Auf der äußersten Ebene in diesem Mesobereich ist die Umwelt als Umgebungsfaktor berücksichtigt. Dazu zählen natürliche Habitate sowie Luft, Wasser und Land. Alle Ebenen sind eingebettet in den grün gefüllten äußeren Ring des globalen Ökosystems, das wiederum differenziert wird nach Klimaveränderung und Biodiversität. Unten im Bild sind zwei Einflussfaktoren genannt: auf der einen Seite Makroökonomie, Politik, Kultur, globale Kräfte. Auf der anderen Seite Nachbarschaften und andere Regionen.

(Quelle: The Health Map (Barton und Grant 2006 , 2; nach Dahlgreen und Whitehead 2006 ; Whitehead und Dahlgreen 1991 ))

The Determinants of Health and Well-being

Im Oktober 2021 ist ein “Next Generation-Paper” erschienen, das 30 Jahre zurückblickt unter dem Titel: „The Dahlgren-Whitehead model of health determinants: 30 years on and still chasing rainbows“ (Dahlgreen und Whitehead 2021 ).

Ob man Regenbogen erfolgreicher jagen kann, als den Wind fangen, sei dahingestellt. Aber es bleibt die Mutmach-Botschaft, dass das Regenbogen-Modell in der relativ langen Zeitspanne nicht „von der Bildfläche verschwunden“ ist, obwohl es anfangs mit sehr viel Skepsis aufgenommen wurde. Im Gegenteil, inzwischen trifft es weltweit auf Anerkennung, in Theorie und Praxis, und es leistet auch etwas sehr Bedeutsames: Ein sehr komplexes Modell von Gesundheit wird einfach ins Bild gesetzt und Erklärungszusammenhänge werden verdeutlicht. So wird es noch weiter die Determinanten und Triebkräfte der Gesundheit aufzeigen und bei der anstehenden Zukunftsplanung nach den Pandemieerfahrungen auch die weltweit wachsenden Ungleichheiten in den Blick rücken.

4.1 Von der Gunst der Stunde und neuen Gleichungen

Auch wenn dieses Buch in der Zeit der Corona-Pandemie verfasst wurde und diese daher auch besondere Aufmerksamkeit findet, so geht es im Feld der Gesundheit doch um weit mehr und Weitreichenderes. Aber in den pandemischen Zeiten wurde deutlich, wie die Lebensumstände den Alltag, die Wirtschaft und das Soziale bestimmen, Menschen in ihrem Nahraum berühren und limitieren sowie zugleich die Beziehung der Länder und Nationen untereinander tief beeinflussen.

Das dargelegte neue Verständnis von Gesundheit ist und will aber mehr als nur Krisenbewältigung sein, auch wenn sich eine „Gunst der Stunde“ nicht leugnen lässt. Denn die besonders hohe Aufmerksamkeit für das Gesundheitsthema verbesserte womöglich die Chancen, ein reflektiertes Verständnis für Gesundheitsfragen zu fördern und aus wissenschaftlicher Perspektive zu vertiefen, gerade mit Bezug zu gesundheitlicher Ungleichheit. Die Un-Gleichungen im Umgang mit besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen traten nun besonders zutage und die Bedeutung und Dringlichkeit, ihre Rechte zu klären und in der Gesellschaft umzusetzen, gelangten mehr ins allgemeine Bewusstsein.

Das europäische Parlament hat für das Jahrzehnt 2021–2030 eine Strategie für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung abgestimmt. Die Europäische Kommission ( 2021 , 20) konstatiert:

„Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf eine hochwertige Gesundheitsversorgung, einschließlich gesundheitsbezogener Rehabilitation und Prävention. Es besteht nach wie vor Handlungsbedarf, da Menschen mit Behinderungen viermal häufiger über einen ungedeckten Bedarf an medizinischer Versorgung berichten als Menschen ohne Behinderung.“

Im Sinne der Intersektionalität wurden Beispiele für besonders kumulierte Risikolagen von Menschen mit Beeinträchtigungen angesprochen und damit Handlungsfelder skizziert:

„Unter den Menschen mit Behinderungen benötigen Frauen, Kinder, ältere Personen, Obdachlose, Flüchtlinge, Migranten, Roma und andere ethnische Minderheiten daher besondere Aufmerksamkeit“ (Europäische Kommission ( 2021 , 3).

Das Augenmerk allein auf soziale Ungleichheiten wie die Verschiedenheiten bezüglich Lebensalter oder Nationalitäten, Ethnien oder religiösen Orientierungen, Beeinträchtigungen und Behinderung oder Gebrechlichkeit (frailty) zu richten, reicht aber nicht aus. Denn es geht zugleich vor allem um Risiken einer unterstellten Anderswertigkeit, also um Diskriminierungen, niedrige soziale Platzierungen und daraus folgende Unterschiede in den Lebenschancen. Deswegen rufen Solga und Kollegen zur Daueraufmerksamkeit auf für entsprechend

„regelmäßige und dauerhafte Formen der Begünstigung oder Benachteiligung“ (Solga et al. 2009 , 15).

Auch hierbei ist Gesundheit ein zentrales Feld und ein Handlungsraum, der in der Eingliederungshilfe und den damit verbundenen Herausforderungen und Potenzialen bislang wenig im Zentrum stand. In einer Situation des Übergangs sollten aber große Anstrengungen unternommen werden für mehr Teilhabe und für die Suche nach Wegen zu einer inklusiven Gesellschaft. Anliegen, neue Steuerungen, zukunftsweisende Ziele und ein gelingendes Miteinander zu erreichen, können zu vertieften Kenntnissen und Analysen des weiten Gesundheitsfeldes für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und Behinderung führen. Risiken können aufgezeigt und wesentliche Weichen gestellt werden. Dies ist allerdings ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, der nicht allein im Gesundheitssystem gelöst werden kann und soll. Denn Gesundheit wird, wie im vorliegenden Band gezeigt, beeinflusst durch sozioökonomische, kulturelle und umweltbezogene Kontextfaktoren (wie beispielsweise allgemeine Lagen zur Ernährung, Bildung, Arbeitssituation oder Arbeitslosigkeit, Hygiene und Umwelt wie Wasser oder Luft, Wohnen und Versorgungssysteme). Alle diese Bestandteile haben erheblichen Einfluss auf erreichbare und nutzbare Lebens- und Arbeitsbedingungen im sozialen und kommunalen Raum sowie auf einer personenbezogenen Ebene.

Gesundheit ist – wie erläutert – sozial ungleich verteilt und Zugehörigkeiten zu privilegierten oder marginalisierten Gruppen können ein Leben lang jeweils gerechte Chancen auf Gesundheit ermöglichen oder verschließen. Entsprechend zielt die Behindertenrechtskonvention auf Verteilungsgerechtigkeit ab, wie in Art. 25 weiter spezifiziert wird.

Art. 25 Gesundheit

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere

Art. 25 – Health

States Parties recognize that persons with disabilities have the right to the enjoyment of the highest attainable standard of health without discrimination on the basis of disability. States Parties shall take all appropriate measures to ensure access for persons with disabilities to health services that are gender-sensitive, including health-related rehabilitation. In particular, States Parties shall:

a) stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens;

a) provide persons with disabilities with the same range, quality and standard of free or affordable health care and programmes as provided to other persons, including in the area of sexual and reproductive health and population-based public health programmes;

b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst geringgehalten oder vermieden werden sollen;

b) provide those health services needed by persons with disabilities specifically because of their disabilities, including early identification and intervention as appropriate, and services designed to minimize and prevent further disabilities, including among children and older persons;

c) bieten die Vertragsstaaten diese Gesundheitsleistungen so gemeindenah wie möglich an, auch in ländlichen Gebieten;

c) provide these health services as close as possible to people’s own communities, including in rural areas;

d) erlegen die Vertragsstaaten den Angehörigen der Gesundheitsberufe die Verpflichtung auf, Menschen mit Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen angedeihen zu lassen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung nachvorheriger Aufklärung, indem sie unter anderem durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schärfen;

d) require health professionals to provide care of the same quality to persons with disabilities as to others, including on the basis of free and informed consent by, inter alia, raising awareness of the human rights, dignity, autonomy and needs of persons with disabilities through training and the promulgation of ethical standards for public and private health care;

e) verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung, soweit eine solche Versicherung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist; solche Versicherungen sind zu fairen und angemessenen Bedingungen anzubieten;

e) prohibit discrimination against persons with disabilities in the provision of health insurance, and life insurance where such insurance is permitted by national law, which shall be provided in a fair and reasonable manner;

f) verhindern die Vertragsstaaten die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder – leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund von Behinderung

(UN-BRK 2008 )

f) prevent discriminatory denial of health care or health services or food and fluids on the basis of disability

(CRPD 2006 )

Die Anliegen, Benachteiligungen abzubauen und Mängel an Wertschätzung von Verschiedenheit zu bearbeiten, weisen in dieselbe Richtung. Es gilt,

  • durch Anerkennung gesellschaftliche Spaltungen zu verringern,

  • ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe zu gewährleisten,

  • zu verhindern, dass Verschiedenheit (hier wegen bestehender Beeinträchtigungen) benachteiligt.

Es geht also um Akzeptanz, die mit dem Erkennen und Anerkennen von Unterschieden einhergeht (egalitäre Differenz, Prengel 2019 , 8) und dem Streben nach Zusammengehörigkeit (Seligman 2009 ). Das Ziel ist nicht,

„jegliche Ungleichheit mit allen Mitteln zu bekämpfen … sondern vielmehr, Verschiedenheit wahrzunehmen und wertzuschätzen“ (Wacker 2019 , 723).

Die gesellschaftliche Wertschätzung von Personen, die nicht einer ableistischen Fiktion von Perfektion entsprechen, wird durch die Umsetzung ihrer (Menschen-)Rechte garantiert und damit auch die Entfaltung ihrer Fähigkeiten ermöglicht. Das könnte auch ein Königsweg für die Teilhabeforschung werden.

4.2 Zehn Merkposten zu Aufgaben und Wegen

Folgende Merkposten lassen sich mit Blick auf die Gesundheitslage, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken von Menschen mit Beeinträchtigungen diskursiv auf den Prüfstand der „HiaP“-Strategie stellen:

Die Abbildung visualisiert eine Zusammenfassung der Erträge aus dem gesamten Buch. Links ist das in einen Kreis eingebettete mehrfarbige Icon einer Wegstrecke mit Haltepunkten. Ein Teil der Strecke ist als ausgefüllter geschwungener Strich dargestellt, ein weiterer Teil ist ebenfalls in Biegungen gestrichelt, ist also in der Zukunft. In einer daneben angeordneten orange gefärbten Box steht „Merkposten zu Gesundheitslage, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken auf dem Prüfstand von „Health in All Policies“.

4.2.1 Worum es geht

Kernziele individueller Lebensführung, die in Gemeinschaft gelingen können, sind gewünschten Beschäftigungen nachgehen zu können und sich wohl zu fühlen. So schlicht lässt sich die tiefergehende Auseinandersetzung mit Gesundheit und Beeinträchtigungen, mit Einschränkungen der Teilhabe und mit drohenden Benachteiligungen und Behinderung auf den Punkt bringen. Mit dem Blick auf das Zusammenspiel von Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken bietet sich ein Beobachtungs- und Analyserahmen, der ein gesundes Leben für alle Menschen jedes Alters darstellbar macht, Wohlbefinden als Prüfstein nutzt und bestehende Benachteiligungen aufdeckt.

Genau dies will die UN-BRK im Art. 25 festhalten und garantieren: Es geht um den Genuss und den Erhalt des erreichbaren Höchstmaßes an Gesundheit, ohne aufgrund von Beeinträchtigungen diskriminiert zu werden. Dabei steht auch die Bedeutung der Gemeinschaft mit anderen für Gesundheit zur Debatte, verbunden mit Fragen von Anerkennung und diskriminierungsfreier Unterstützung. Ein belastbares Verständnis und Wissen darüber, wie dieses „Höchstmaß an Gesundheit“ erreicht werden kann, sind dabei wichtig, denn:

  • um Benachteiligungen abzubauen, müssen sie erkannt sein und benannt werden;

  • um Bewährtes zu bewahren, muss man die Erfolge definieren und erfassen;

  • um die Anliegen der Zielgruppen zu treffen, muss man sich mit ihnen beraten und sie gut kennen (lernen).

Für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung bedeutet dies, die Vision einer gleichberechtigten Teilhabe an Gesundheit und Wohlbefinden erwarten und einfordern zu können. Dies umschließt auch den Zugang zu allen individuellen und bedarfsdeckenden Leistungen der Gesundheitsversorgung, der Rehabilitation und Pflege sowie der Prävention und Gesundheitsförderung.

4.2.2 Wie es geht: Gesundheit als Gemeingut und als multidimensionaler Prozess

Gesundheit ist das gute Recht aller, sie ist sehr wichtig und zugleich schwer zu definieren. Das liegt an ihrem prozesshaften und multidimensionalen Charakter. Das bedeutet, es ist immer notwendig, sie

  • zu entwickeln,

  • zu verwirklichen und

  • zu nutzen,

um sie im Sinne eines guten Lebens (weiter) voranzubringen.

Für eine gute Lebensqualität, förderliche Lebenssituationen und selbstbestimmte beziehungsweise selbstständige Lebensführung von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sind dazu die „Stellschrauben“ zu finden. Dabei gilt es auch, zusammen mit dem gewachsenen System der Eingliederungshilfe, das eingebunden ist in die Idee und das Ziel der inklusiven Gesellschaft, Wege zu besserer Gesundheitsversorgung zu bahnen.

Für Wohlergehen und Wohlbefinden sind entsprechend, bezogen auf Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung oder andere verletzliche Bevölkerungsgruppen wie die alternde und gesundheitlich beeinträchtigte Bevölkerung,

  • im Versorgungssystem Vorkehrungen für besondere Bedarfe zu treffen,

  • Isolation und Einsamkeit zu bekämpfen, insbesondere zu Zeiten vermehrten Alleinlebens und geforderten Abstandhaltens. Dies sollte in Planungen und Programme einbezogen werden, denn bei ausgeprägter Vereinzelung und wahrgenommener Einsamkeit sind Folgen für psychische und körperliche Gesundheit nicht auszuschließen. Darüber hinaus gilt es,

  • Ungleichheiten in der allgemeinen Gesundheitsversorgung zu beseitigen.

Es ist mit vielen Beispielen belegt worden, dass Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung viele unerfüllte Gesundheits-, Präventions-, Pflege- und Rehabilitationsbedürfnisse haben. Entgegen der aktuellen Rechtslage sind sie nach wie vor mit Benachteiligungen sowie unzureichender Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung konfrontiert.

4.2.3 Gesundheit vielfältig denken: Wie und warum?

Nach der Ottawa-Charta der WHO sollen in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern

  • Interessen vertreten werden zugunsten der Gesundheit (advocacy),

  • Kompetenzen für ein gesundes Leben wachsen (enable) und

  • relevante Akteure vernetzt werden (mediation).

Dieses Programm gilt seit Jahrzehnten als zielführend und bietet in einem sich dynamisch entwickelnden gesellschaftlichen Gestaltungsraum Orientierung. Wie auch Fragen der Umwelt und zum Klimawandel lassen sich Gesundheitsfragen nur multidimensional und auf allen Ebenen denken: weltweit, in Organisationen und Institutionen und gleichzeitig in direkten örtlichen und persönlichen Nahräumen. Es kann keine Ausnahmen von Gesundheitsrechten geben; aber der politische Wille muss bestehen, die umfassende Aufgabe der Teilhabe aller an der Gesundheit zum Programm zu erheben. Dazu dienen passende Leistungen, Maßnahmen, Versorgungssysteme und die größtmögliche Selbstbestimmung der Personen, die ihre Gesundheit dann verstehen, für sie eintreten und sie verwirklichen können (empowerment). Der jeweils gegebene körperliche und psychische Zustand ist ein wesentliches Element für die Umsetzung dieser Ziele, ebenso wie vorhandene Fähigkeiten und eine Umwelt, die sich mithilfe individueller, sozialer und materieller Ressourcen und ohne vermeidbare Barrieren meistern lässt. Dieser ganzheitliche Zugang nimmt auch alle Politikbereiche in die Pflicht, nicht nur jeweils spezifische Gesundheitsdienste oder -ressorts. Die aktuell weltweit genutzte Leitidee hierzu ist die ICF (WHO 2001 | DIMDI 2005 ). Sie liefert wichtige Leitplanken zur Orientierung.

4.2.4 Verhalten und Verhältnisse in der Lebensspanne und im demografischen Wandel

Die ICF lenkt die Sorge um das Gesundheitsverhalten Einzelner ebenso wie um die Versorgung aller durch das Gesundheitssystem. Es geht also um

  • Selbstsorge, z. B. auf die eigene Gesundheit zu achten und diese zu erhalten sowie Ernährung und Fitness sicherzustellen. Diese ist verbunden mit der

  • Gesundheitssorge im Alltag und mit erforderlicher wachsender

  • Gesundheitskompetenz.

Rüstzeug ist dabei auf der Verhältnisebene ein Gesundheitssystem, das alle Menschen erreicht, sie mitnimmt und nicht diskrimiert. Dazu muss eine enge Verbindung gelingen zwischen der kommunalen Gesundheitssorge und den erforderlichen Therapien und medizinischen Leistungen im Gesundheitswesen, der Pflege und der Rehabilitation. Lotsendienste, die dafür Hilfe in engen strukturellen und konzeptionellen Vernetzungen bieten und sichern, sind dabei von großer Bedeutung. Dazu zählen auch die vermehrte Aufmerksamkeit und Anstrengung im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung, die vorsorgend ausgerichtet sind beziehungsweise sein sollten.

Die Zusammenarbeit von Sozialversicherungsträgern, Ländern und Kommunen in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung soll zur Selbstverständlichkeit werden und auch Personengruppen einbeziehen, die noch nicht, nicht oder nicht mehr im Berufsleben stehen. Alle Altersgruppen und Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger sind relevant. Die sich so entwickelnde und notwendige dauerhafte Aufmerksamkeit für Chancen auf ein gesundes Leben ist eine zentrale Aufgabe der Zukunft. Sie umfasst alle Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger und reicht von Impffragen über die betriebliche Gesundheitsförderung beziehungsweise Gesundheitsförderung in der Wohnumgebung/Nachbarschaft, dem Quartier beziehungsweise dem Stadtteil bis zur (Wieder-)Herstellung von Funktionalität bei bestehenden Beeinträchtigungen sowie dem Abbau von Behinderungsrisiken.

Aufmerksam zu sein für Fragen von gesellschaftlichen Erwartungen (Gesundheitszwängen) und Risiken der Selbst-Überforderung dient ebenso den gesteckten Gesundheitszielen. Gesundheit sollte nicht idealisiert werden. Sie bedeutet nicht, Verhalten und Aussehen zu perfektionieren, sondern meint ein gutes Leben in Wohlbefinden, also in Einklang mit den eigenen Kräften, Möglichkeiten und Rechten. Für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen bedeutet dies, wie alle anderen den Anspruch auf ein bedarfs- und leistungsgerechtes gesundheitliches Versorgungssystem zu haben. Genügt das Regelversorgungssystem ihren Bedarfen im Einzelfall nicht, müssen Benachteiligungen bei der spezifischen medizinischen Versorgung, der Zugänglichkeit und Verständlichkeit bis zur Überwindung baulicher, finanzieller und struktureller Barrieren ausgeglichen werden. Hierzu sind gegebenenfalls auch persönliche Assistenzdienste notwendig.

4.2.5 Spielräume im Gesundheitsfeld

Barrieren im Hinblick auf Erreichbarkeit, Verfügbarkeit, Nutzbarkeit und Bezahlbarkeit der allgemeinen Gesundheitsversorgung für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sind hinlänglich bekannt; nicht erst seit Beginn der Teilhabeberichterstattung wird auf solche Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Dies betrifft vor allem die Zugänglichkeit allgemeiner Gesundheitsleistungen, das Wissen um Rechtsansprüche und ihre Verständlichkeit, einschließlich der gesundheitsrelevanten beziehungsweise medizinisch geprägten besonders exklusiven Kommunikation.

Dass Teilhabechancen aber nicht nur mit mehr Zugang zu Gesundheit einhergehen, sondern auch durch den Gesundheitsschutz begrenzt werden können, lehrte die Corona-Pandemie. Hier müssen also „neue Gleichungen“ aufgemacht werden. Es geht darum, Chancengerechtigkeit und Menschenwürde in der Lebenssituation aller Menschen ebenso zu gewährleisten wie die Rechte auf Freiheit und Selbstbestimmung, gleichberechtigte Behandlung und Teilhabe. Das seit langem andauernde Ringen um passende, allgemeine Maßstäbe für Gesundheit wird damit intensiver und gemeinschaftlicher; allgemeine Lebensqualität (Quality of Life) beziehungsweise gesundheitsbezogene Lebensqualität (health related Quality of Life) werden schon länger als Prüf- beziehungsweise Zielgrößen in der wissenschaftlichen Diskussion genutzt. Sie halten nun auch in der Praxis Einzug in die Gestaltungen der Leistungssysteme.

Damit ist eindeutig klargestellt, dass beispielsweise Gesundheitsschutz beziehungsweise der Weg zu besserer Gesundheitssorge insbesondere von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung nicht durch ihre Isolation gelöst werden darf. Stattdessen geht es um die Aufgabe, bei bestehenden Gesundheitsanliegen Wege zu finden, die Gesundheitschancen ebenso wie Teilhabe und Wohlbefinden verbessern. Zu denken ist beispielsweise an

  • Programme zur Stärkung der körperlichen und psychischen Widerstandskräfte,

  • Kontakte im medialen Bereich beziehungsweise medial unterstützt (etwa über Hotlines),

  • Teilhabestärkung (über partizipative Verfahren und kreative Kollaboration | co-creation) sowie

  • Aufmerksamkeit für Benachteiligungen.

Diese Aufgaben sind unbedingt für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gleichermaßen relevant. Ziel bleibt, für alle Bürgerinnen und Bürger Ressourcen bereit zu halten, Resilienzen (Widerstandskräfte) aufzubauen und auch alle zu befähigen, ihre Selbstsorge sowie ihre Rechte wahrzunehmen (empowerment). Die entsprechende „Universal Design Research“ (UDR) wird zudem helfen, mehr Wissen über gesundheitswirksame Zusammenhänge und Entscheidungen zu gewinnen und allen Menschen zugänglich zu machen. Zugleich gilt es auf politischer Ebene, aber auch bei den Fachdiensten des medizinischen Feldes und den sozialen Diensten, das Bewusstsein für die Lage von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung zu schärfen. Heimleitungen, Ämter und Gerichte sollen mit besseren Informationen und mithilfe der Diskurse um Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken in ihrer beruflichen und gestalterischen Aufgabe informiert und gestärkt werden.

4.2.6 Gesundheit als Querschnittsaufgabe

Gesundheit wird somit zu einer Dauer- und Querschnittsaufgabe (HiaP), das heißt bei allen Entscheidungen und Planungen sind alle Bevölkerungsgruppen mitzudenken:

  • Welche Gesundheitswirkungen sollen und können eintreten?

  • Wo: auf persönlicher Ebene, in Städten und Gemeinden?

  • Für wen: die Bundesländer und national?

  • In welchen Bereichen: Freizeit, Beruf, Bildung?

  • In welchen Handlungsfeldern und Organisationen?

  • Wie: im Alltag oder in besonderen Aktionsfeldern?

Wie das Anliegen einer inklusiven Gesellschaft (Inclusion in All Policies) wird sich auch diese Anstrengung zugunsten gerechterer Chancen auf Gesundheit lohnen. Benachteiligungen von Personen und Personengruppen werden dann abgebaut werden und Diskriminierungen nicht zugelassen. Wohlbefinden (well-being) für alle zu erreichen wird gesellschaftliche Aufgabe für alle (Gesundheit als Gemeingut) und bleibt nicht nur der Selbstsorge Einzelner überlassen. Entsprechende Leistungsgestaltungen behandeln dann nicht mehr nur Gesundheitsmängel und Abweichungen, sondern beseitigen oder mindern benachteiligende Lebensumstände.

Die Bundesregierung hat im Jahr 2016 über ihren Behindertenbeauftragten in einer Tagungsreihe unter dem Motto Teilhabe braucht Gesundheit darauf aufmerksam gemacht, dass, um umfassende Teilhabe zu erreichen

  • Umweltbarrieren,

  • strukturelle Barrieren im Gesundheitssystem sowie

  • Gleichberechtigungshürden

zu überwinden sind. Beispielsweise geht es um den Zugang zu Kranken- und Lebensversicherungen, zu Hilfsmitteln des täglichen Gebrauchs, die die Selbstständigkeit und Sicherheit im Alltag erhöhen oder zu Gesundheitsleistungen, die nicht durch (hohe) Eigenleistungen und Zuzahlungen verstellt werden dürfen. Vor allem aber sind auch in Anerkennung und Umsetzung der UN-BRK die Aufmerksamkeit und Offenheit für Bedarfe und Bedürfnisse erforderlich, getragen von der Wertschätzung für die Menschen.

4.2.7 Menschen im Blick – vorsorglich, proaktiv und aufmerksam stärkend

Eine Lehre aus der Corona-Pandemie ist, dass der Schutz der Schwächeren hohe Bedeutung hat, aber aufgrund vielfältiger Wechselwirkungen mit Bedacht ausgestaltet werden muss. Der Mensch und seine Würde sowie der Mensch als Gefährdender oder als Gefährdeter durch Viren standen in bestimmten Versorgungslagen im Spannungsverhältnis. Damit Hand in Hand ging die Sorge darum,

  • Gesundheitssysteme (von Intensivstationen bis zu Gesundheitsämtern) nicht zu überfordern, den sogenannten

  • Risikogruppen wie Menschen im höheren Lebensalter und solchen mit chronischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen besonderen Schutz zu bieten, sowie

  • andauernd aufmerksam zu sein für angemessene Gesundheitschancen.

Es ging nicht nur um die Systeme der Versorgung, die zukünftige Planungen und Entscheidungen einbeziehen und beherzigen müssen, sondern es ging auch um die Angst um die Menschen und die Angst der Menschen, die mit den Gesundheitsrisiken leben und umgehen müssen.

In der Corona-Pandemie bestand in den Bevölkerungsgruppen mit höherer Verletzlichkeit Sorge

  • übersehen und vergessen zu werden,

  • mit einer beschädigten Existenz (mit Langzeitschäden der Gesundheit und des Vermögens) leben zu müssen,

  • aus der Gemeinschaft zu fallen und einsam zu werden oder zu bleiben,

  • Lebenszeit zu verlieren und Lebensqualität einzubüßen sowie

  • nicht geschützt zu sein vor existentiellen Nöten, wie Verlust von Einkommen, Unterkunft oder auch Gewalt und Diskriminierung.

Mit diesen Ängsten gingen Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung unterschiedlich um. Einige suchten die Öffentlichkeit, getrieben von Empörung und Unverständnis über unfreiwillige Isolation (Exklusion) oder mit dem Ruf nach Schutz von Minderheiten. In der Mehrheitsbevölkerung fehlte zugleich oft das Wissen um die Umstände von Verletzlichkeiten und deren Verbreitung (beispielsweise im hohen Lebensalter, aber auch bei schweren Beeinträchtigungen). So konnten unangemessene oder mangelnde Kommunikation, unsensible Umweltgestaltung (z. B. Barrieren der Zugänglichkeit, der Orientierung und Verständlichkeit), rigide Abläufe im Gesundheitssystem (wie lange Wartezeiten, kurze Information in komplizierter Sprache oder unangebrachte Umgangsformen) Emotionen wie Mutlosigkeit oder Empörung hervorrufen oder verstärken. Dies alles erhöhte soziale Barrieren. Zwischen Sorgen um Mitmenschlichkeit und auch um eigene Freiheitsrechte fiel es oft schwer, den Weg der Solidarität und Subsidiarität zu finden. Das galt auch für den Personenkreis der Menschen mit Unterstützungsbedarf (beispielsweise durch Pflege/Assistenz), der auf fachliche und/oder bürgerschaftliche Hilfe angewiesen ist, seine Privatheit nur schwer abgrenzen kann und auf das solidarische Verhalten in seiner Umwelt vertrauen muss.

Personengruppen, die dabei als Risikogruppe beziehungsweise als besonders vulnerabel gelten, können sehr unterschiedliche Bedarfe haben und Bedürfnisse verfolgen wollen. Sei es, weil sie psychische oder physische Beeinträchtigungen haben; sei es, weil sie verschieden sind im Hinblick auf Alter, Geschlecht, sexuelle oder religiöse Orientierung, Herkunft und kulturelle Einbindung. Unabhängig davon haben alle Menschen die gleichen Rechte, nicht als Einzelperson oder Gruppe ausgeschlossen beziehungsweise eingeschlossen (und/oder isoliert) zu werden, ohne dass gleichzeitig ein Mindestmaß an sozialer Interaktion gewährleistet wird. Während der Corona-Pandemie haben viele Behörden und Einrichtungen, die soziale Dienste erbringen, mit der Umsetzung dieser Vorgaben gerungen.

In diesen komplexen Ausgangslagen und Zielsetzungen sollte es ein erstes Ziel sein, die Vielfalt der Anliegen und Anforderungen im Blick zu behalten. Dies kann beispielsweise erfolgen über Kommunikation, Einbindung, gemeinsame Planungen und Umsetzungen, Verständnis füreinander, Solidarität und Aufmerksamkeit für Risiken.

Es ist wichtig, Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung als Expertinnen und Experten ihrer Lebenssituation einzubeziehen ( partizipativ ). Entsprechend zahlt es sich aus, sich mit ihnen zu Plänen zu beraten, Maßnahmen zu erklären und so nachvollziehbar zu machen. Aber ebenso verdienen pflegende Angehörige, professionelle Pflegekräfte und weitere Unterstützungspersonen aus dem sozialen Umfeld Aufmerksamkeit, denen beispielsweise Überlastungen, Gesundheitsschäden sowie finanzielle und soziale Einbußen drohen. Viele verschiedene passende Gestaltungswege müssen noch weiter diskutiert, abgewogen und realisiert und last but not least Disability Mainstreaming in diesem Bereich fest verankert werden.

4.2.8 Risse in der Gesellschaft? Verschieden und gleich sein können

Zusammenhalt statt wachsender Einsamkeit wären Indikatoren, die nicht nur Diskriminierungsrisiken einzelner Menschen wahrnehmen, sondern zugleich Chancen auf Gemeinsinn und ausreichende Verbindungen verschiedener sozialer Gruppen beobachten und melden können. Exklusion gefährdet nicht nur gesellschaftlichen Zusammenhalt, politische Partizipation und soziale Teilhabe, sondern zieht auch ökonomische Kosten nach sich. Über Nachteilsausgleiche lässt sich punktuell unerwünschtes Alleinsein mindern, aber die Frage, ob Menschen sich auch zugehörig fühlen können und willkommen sind, muss auf gesellschaftlicher Ebene geklärt werden.

Einsamkeit geht Hand in Hand mit Beeinträchtigungen oder Behinderung. Ebenso zeigen sich aus wissenschaftlicher Sicht Zusammenhänge mit weiteren Merkmalen wie beispielsweise Geschlecht, Verfügbarkeit von Einkommen oder anderen materiellen Ressourcen, Migrationshintergrund, Kompetenz und Bildungsstand, aber auch der Wohnsituation (etwa in besonderen Wohnformen oder Einpersonenhaushalten) sowie sozialen Netzen und Partnerschaften.

Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung erlebten in der Corona-Pandemie, dass gesamtgesellschaftliche Risikolagen keineswegs gleichmachen. Vielmehr zeigte sich die Verstärkung struktureller Ungleichheiten. Dies betraf nicht nur in besonderer Weise Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung, sondern auch ältere Menschen, Frauen, ethnische Minderheiten oder Menschen in Armut, in der Wohnungslosigkeit oder mit unsicherem Aufenthaltsstatus.

Krisen decken bestehende Gesundheitschancen und -risiken auf beziehungsweise verstärken sie, jenseits von individuellem Risikoverhalten. Wird dies verstanden, dann erhalten Debatten um prioritäre Zugänge zu Schutzausrüstungen und Testungen, um Impfungen oder andere Wohnsituationen, um den Zugang auch zu spezifischen Förder- und Therapieeinrichtungen sowie zu Diensten (wie Tagespflege, Heilbehandlungen, aber auch Essensdiensten) eine höhere und weiterreichende Bedeutung.

Entsprechend dürfen Forderungen nach diskriminierungsfreiem Zugang

  • zu gesundheitsrelevanten Informationen,

  • zu Diensten und Einrichtungen gesundheitlicher Versorgung,

  • zum Recht auf Unterstützung und Assistenz und

  • zu lebensrettenden Maßnahmen

nach der Pandemie keineswegs nur „Geschichte werden“, denn sie weisen auf bestehende Ungleichheiten hin und legen „den Finger in Wunden“. Zugleich zeigen Krisen, dass Nachteilsausgleiche und angemessene Vorkehrungen dazu beitragen Benachteiligungen zu vermeiden, wie es Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verlangt. Es gilt, strukturelle Benachteiligungen soweit irgend möglich zu vermeiden beziehungsweise aufzuheben.

4.2.9 Gesundheit in und durch Teilhabe – Geteilte Verantwortung in Vielfalt

Gesundheit als soziales Menschenrecht ist in Art. 12 des Internationalen Pakts für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte sowie in Art. 25 UN-BRK verbürgt. Darüber hinaus ist die Bundesrepublik Deutschland mit dem grundrechtlichen Auftrag, die Menschenwürde zu schützen, auch zu gesundheitssichernden sozialrechtlichen Ausgestaltungen verpflichtet. Dies schließt materielle Ausstattungen und strukturelle Ausgestaltungen ein, auch wenn es – wegen ihrer Prozesshaftigkeit und Vieldimensionalität – kein Recht auf allumfassende Gesundheit geben kann. Sehr wohl gibt es aber eine besondere Schutzbedürftigkeit, die zum Ausgleich ungleicher Risikolagen aufruft und verpflichtet. Im Bereich des Gesundheitswesens ist dies inzwischen auch für Leistungen der Prävention und Gesundheitsvorsorge erkannt worden. Damit dies auch in der Praxis gelingen kann, lohnt sich die Suche nach partizipativen, menschlicher Verschiedenheit verpflichteten Bearbeitungsweisen, die sich um passende Infrastrukturen und Anerkennungsverhältnisse bemühen, eingebunden in kommunale Gegebenheiten und als gemeinschaftliche Anstrengung.

Aus Sicht der Risikovermeidung sind in diesem Vertiefungsthema drei Ebenen besonders bedeutsam, nämlich

  • die individuelle Verantwortung,

  • die gemeinsame Verantwortung und

  • die Kontextbedingungen.

Auf all diesen Wegen sind unter Ein- beziehungsweise Wertschätzung der Selbstbestimmungs- und Lebensgestaltungsfähigkeit der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung Erfahrungen auszutauschen und Entwicklungen voranzutreiben. Getragen von gegenseitigem Verständnis und mit angemessener Kommunikation wird dies die Einbindung, Mitwirkung und geteilte Verantwortung für Gesundheit weiterentwickeln. Mit dem mehr und mehr trainierten (intersektionalen) Blick für Vielfalt und Verschiedenheit aller Menschen (beispielsweise nach Geschlecht, Alter, Beeinträchtigung, Herkunft, Lebenserfahrung und anderen Merkmalen) kann es gelingen, dass die Bereitschaft dafür wächst, vorhandene Potenziale ins Spiel und zur Entfaltung zu bringen.

Damit wächst auch die Bedeutung der Gesundheitskompetenz (health literacy), mit der langfristig auch im gesamten Feld der Sozialen Leistungen und Dienste die Gesundheit und Lebensqualität unterstützt und gefördert werden kann. Bei der Aufbauarbeit und Umsetzung dazu geeigneter Programme müssen Expertinnen und Experten in eigener Sache, die Selbsthilfe und weitere relevante Interessenvertretungen einbezogen sein.

Langfristig soll auf diese Weise ein inklusives Versorgungssystem verwirklicht werden, in dem auch der Stand der Teilhabe im Gesundheitskontext überprüft werden kann und sichergestellt ist. Ob Leistungen Teilhabechancen verbessern und die Diskriminierungen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung überwunden werden, muss zu einem entscheidenden Qualitätskriterium (outcome: Wirkungsmaßstab ) werden. Als Versorgungssystem gesundheitskompetent und gesundheitsförderlich aufgestellt zu sein, soll als ein Qualitätskriterium gelten und auch Imagegewinne beziehungsweise ökonomische Vorteile bringen. Im Zusammenspiel mit allen Gesundheitsverantwortlichen wird dies zugleich die Inklusionsbewegungen in Quartieren und Kommunen unterstützen und gemeinschaftliches Planen und Handeln fördern.

4.2.10 Voneinander lernen – beschleunigt durch die Krise

Das Coronavirus kann als Stichwortgeber wirken (cue to action; Hinweisreiz) und als Treiber taugen für die anstehenden Entwicklungen zugunsten der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung im Gesundheitsfeld. Der erforderliche Abbau von Diskriminierungen und Exklusionsrisiken ist mit zahllosen Beispielen unterlegt, wie aus wissenschaftlicher Perspektive unter Berücksichtigung von politischen Aktivitäten dargelegt wurde. Die Aufgaben sind für die und in der Forschung ersichtlich, aber auch, dass sie über Fächergrenzen hinweg angegangen werden müssen. Entsprechende Programme sind dringend aufzulegen.

Auch Gesetzgeber und Politik sind zur Gestaltung aufgerufen, die im Schulterschluss mit der Praxis und den Expertinnen und Experten in eigener Sache erfolgen muss. Zugunsten einer gemeinsamen Gesundheitsförderungspolitik sind eingefahrene und vermeintlich bewährte Leistungsgestaltungen in neuer Weise kritisch-analytisch zu prüfen sowie abwägende Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse erforderlich, damit sich Gesundheitsprozesse verbessern, Teilhabechancen steigen und Diskriminierungsrisiken reduziert werden.

Auf der Ebene der Organisationen und Institutionen zeigt sich mehr und mehr, dass man sich zielgerichtet mit den Möglichkeiten gesunder Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Einrichtungen der Eingliederungshilfe/besonderen Wohnformen befassen muss. Dies ist nicht nur relevant für Bewohnerinnen und Bewohner und geltendes Recht, sondern auch Verpflichtung gegenüber Bewohnerschaft und Personal sowie Ausdruck der dringend eingeforderten Wertschätzung und erforderlichen Lebensqualität.

Auf der Ebene der strukturellen Gestaltungen und Einordnungen bricht die strikte Trennung zwischen den Aufgaben der Eingliederungshilfe und der Sozialhilfeträger auf. Im Feld der Gesundheit erweist sich die Behandlung von Krankheiten nicht mehr nur als Aufgabe, die getrennt von Umgebungsbedingungen mit ärztlicher Hilfe zu lösen ist. Zukunftsfähig wird ein Modell sein, in dem alle bisherigen Rehabilitationsträger (samt Integrationsämtern) mit den Systemen der Daseinsvorsorge eine enge Zusammenarbeit pflegen, mit dem gemeinsam getragenen Anliegen einer Verhältnisprävention .

Auch die betriebliche Gesundheitsförderung und die Schaffung gesundheitsförderlicher Arbeits- beziehungsweise Lebensbedingungen sind von hoher Relevanz und zugleich Aufgabe der sozialen Dienstleister und Betriebe. Dies stützt auch die dringend erforderliche Zufriedenheit, Gesundheit und damit die Leistungsfähigkeit sowie die Gewinnung und den Erhalt der Arbeitskräfte, insbesondere im Feld der Sozialen und Gesundheits-Dienste.

Auf der Ebene der Personen sind Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung nicht mehr allein „Gegenstand“ der Gesundheitssorge, sondern aktiv Beteiligte und potenziell gestaltende Kräfte. Weder wohlmeinende „Gatekeeper“ (seien es Anbieter von Leistungen, Personal, Angehörige oder andere Stellvertretungen) können deren Urteile und Belastungsempfindungen abschließend einschätzen, noch ist ihr systematisches Einbeziehen in Findungs- und Entscheidungsprozesse zugunsten der Gesundheit im Praxisalltag bereits angekommen. Dabei sind die Beteiligungen in partizipativen Verfahren eine wesentliche Quelle von Gesundheitswissen und der Bewertung von Einflussfaktoren. Es gilt also achtsam zu sein und nicht nur Patientinnen und Leistungsnehmerinnen oder Patienten und Leistungsnehmer zu sehen, sondern Menschen, die ihr Leben selbst bestimmen und gestalten (respect for autonomy). Das Gesundheitssystem wird dabei – bereichert um diese Expertisen –

  • den größtmöglichen Nutzen suchen, um den eigenen Auftrag erfüllen zu können (beneficience),

  • den geringsten Schaden in Kauf nehmen müssen beziehungsweise keinen Schaden im multidimensionalen Gesundheitsgeschehen anrichten (non-maleficience) und

  • möglichst gerecht sein, indem nach Wunsch und Wahl das jeweils Angemessene ausgestaltet und zugestanden wird (justice).

Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen erweist sich auch im Bereich der technischen Unterstützungen als wichtige Aufgabe. Von digitalen Gesundheitsangeboten bis zur Vernetzung der Anbietenden, von der Planung, Steuerung und dem Abruf der Hilfen bis zur Einbindung in sozialen Netzwerken über Mediennutzung reichen brachliegende Potenziale, die der Gesundheit dienen können. Technik kann insofern auf vielfache Weise Teilnahme, soziale Teilhabe und ein gutes Leben ermöglichen und erleichtern. Eine angemessene und selbstverständlich als Leistung anerkannte IT-Ausstattung und -Schulung bieten Voraussetzungen, sind aber noch zu wenig ausgebaut. Gesundheitswirksame Nebeneffekte bei gemeinsamen Mediennutzungen sind möglich, beispielsweise

  • die Zusammenarbeit mit anderen Menschen mit ähnlichen Problemen,

  • der verbesserte Zugang zu Gruppen und Netzwerken,

  • die Entwicklung von Wissen, Einsichten und Fähigkeiten im Zusammenhang mit Gesundheit und auch

  • die Nutzung gruppendynamischer Prozesse wie Bindung und Zusammenhalt sowie Resonanz (als Gegenspieler zur Einsamkeit).

Fehlen entsprechende mediale Ausstattungen oder sind sie nicht angemessen zugänglich, können sich jedoch Benachteiligungen verschärfen.

4.3 Health in All Policies – ein Zukunftskonzept

Der Versuch, die gesundheitlichen Risiken der Subjekte durch kollektive Daseinsvorsorge und sozialstaatliche Leistungen zu kompensieren, stößt an Grenzen. Was sich zeigt ist: Die Folgen sozialer Ungleichheit lassen sich nicht umfassend abfedern. Nicht alle haben faktisch freie und gleiche Handlungsräume zur Verfügung, auch Ansinnen zur Selbststeuerung werden keineswegs immer verstanden oder können beherzigt werden. Schroer ( 2010 , 279) spricht von der Unerträglichkeit des unbeachteten Seins . Auch Gesundheitschancen einzelner und tendenziell marginalisierter Gruppen brauchen Beachtung durch andere und öffentliche Aufmerksamkeit.

Im Jahr 2019 erarbeitete eine Gruppe aus Gesundheitsfachleuten im Zukunftsforum Public Health am RKI gemeinsam mit der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung Berlin-Brandenburg ein Zukunftspapier als Entwicklungshilfe zur Gesundheit bei Schwerpunktsetzungen und Umsetzungsstrategien in Deutschland (Geene et al. 2019 ). Als Überschrift wählten sie „Health in All Policies“ (HiaP). Dieser ganzheitliche Ansatz, der vor allem auch die sozialen Rahmenbedingungen von Gesundheit beachtet, wird seit Jahren weltweit von der Gesundheitswissenschaft diskutiert und mittlerweile auch von der Politik wahrgenommen.

Das Verständnis des HiAP-Ansatzes wächst auch in Deutschland – allerdings zeitverzögert –, womöglich aber beschleunigt durch die Erfahrungen in und mit der Corona-Pandemie. Bis zu einer idealerweise flächendeckenden Umsetzung und Bewertung von HiAP, die dann auch die Gesundheitsdienste für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung beeinflusst, wird vermutlich noch Zeit verstreichen. Auch für das Feld der Eingliederungshilfe wäre für das Engagement und die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Sektoren der Gesundheitssorge, Prävention und Rehabilitation der Weg gebahnt, wie es das neue Bundesteilhabegesetz einfordert und erfordert. Die umfangreichen Gesetzesänderungen sollen – auch für Gesundheit – dazu beitragen, Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung möglichst volle Teilhabe in allen Bereichen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Den Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen hierzu soll dieses Buch anregen und erleichtern. Dies kann eine Chance sein, um regionale, nationale und globale Zusammenarbeit im Bereich von HiAP zu fördern und die entsprechenden Fähigkeiten über gezielte Ausbildung der wissenschaftlichen und gesundheitspraktischen Fachkräfte und im Bereich der Politik zu unterstützen.

HiaP umfasst aber ebenso die Einbindung von Bildung, Beschäftigung, wirtschaftlicher Entwicklung, Finanzen, Handel, Wohnungsbau, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie sozialer Sicherheit, Mobilität oder Raum- und Stadtplanung, wie es einer Entwicklung zur inklusiven Gesellschaft entspricht.

Die oben skizzierte „Gunst der Stunde“ zu nutzen bedeutet folglich, Aufmerksamkeit für den Aufbau der Ausgestaltungen von Teilhabe an Gesundheit für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sofort zu intensivieren und zu konkretisieren. Unbedingt erforderlich sind dabei die partizipative Einbindung aller relevanten Akteure, Hand in Hand mit den neuen Chancen des Teilhaberechts, das Selbstbestimmung durch Partizipation in den Mittelpunkt rückt. Entsprechende Maßnahmen und Qualitätsinstrumente sind zu entwickeln, die sich an den neuen gesetzlichen Rahmungen des Bundesteilhabegesetz es oder des Präventionsgesetz es orientieren. Damit wächst auch die Transparenz, bezogen auf eingesetzte Mittel, verfolgte Ziele und erwartete Wirkungen und ihre Nachhaltigkeit.

Eine neue Kombination von Verhaltens- und Verhältnisprävention samt Gesundheitsförderung wird die Traditionen der Eingliederungshilfe aufgreifen, aber zugleich erfolgreich dynamisch weiterentwickeln können, im Dienst von Gesundheit und Wohlbefinden insbesondere der Menschen mit Beeinträchtigungen. Durch den Anschluss an die globalen und anhaltenden Bemühungen um Gesundheit für alle in einer Weltgesellschaft kann die Eingliederungshilfe Kraft schöpfen. Sie kann ihren Weg zu einer inklusiv ausgestalteten Dienstleistung konsequent fortsetzen, indem sie Eingliederungshilfe nicht nur den Leistungserbringern im Sozialen und unabhängig davon Gesundheit dem Gesundheitssektor anbietet, sondern ihre sektorenübergreifende Kompetenz einbringt und ihren Einsatz als eine gemeinschaftsfördernde gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreift.

Ihre Stärken werden dann das nachhaltige Bemühen um Chancengerechtigkeit (ethisch und ökonomisch), Abbau von Diskriminierungen und Benachteiligungen sowie Wertschätzung menschlicher Vielfalt sein, ebenso wie ein intersektionales Verständnis, das Chancenungleichheit abfedert oder beseitigt und über Vernetzung und Nachhaltigkeit gesundheitsförderliche Strukturentwicklungen voranbringt.

Eine zentrale Aufgabe wird die Orientierung an den Nutzerinnen und Nutzern sein beziehungsweise deren partizipative Einbeziehung . Dies garantiert, dass Leistungen an den Bedarfen und Bedürfnissen der Berechtigten ausgerichtet und umgesetzt, aber dann auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit angenommen und dauerhaft genutzt werden. Seit der Ottawa-Charta (s. Abschn.  1.2 ) fokussiert die WHO erklärtermaßen die Rolle und Wertschätzung der Expertinnen und Experten des Alltags, für die Gesundheitsentwicklung stattfinden soll. Sie werden als handlungsfähige und selbstbestimment handelnde Menschen verstanden, auch wenn ihre Unterstützung zu gestalten und zu garantieren ist.

Von der Defizitorientierung wird Abschied genommen zugunsten eines bewussten Blicks auf die Lösungswege und -kräfte, die verfügbar sind oder gestärkt werden können. Dieses salutogenetische Konzept (s. Abschn.  2.4.1 ) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Förderung von Wohlbefinden und gute Gesundheitschancen. Mit den Worten der WHO formuliert:

„Make the healthier way the easier way“ (WHO 1986 ).

Pionierleistungen sind seit langem zu verzeichnen. Die Richtungsdebatten finden seit vielen Dekaden statt. Aber der erforderliche Weg ist noch in weiten Strecken zurückzulegen – ohne dabei die Verschiedenheit der Zielgruppen und Settings zu übersehen und zu vernachlässigen. In die richtige Richtung deuten Bemühungen um dauerhafte Strukturen und Prozesse (capacity building), die dann in kommunalen Programmen mit gesundheitsförderlichen Steuerungsstrukturen verbunden werden und zugleich überregional koordiniert werden können (Geene et al. 2019 , 9). Für entsprechend innovative Allianzen scheint die Zeit reif. Dafür bedarf es eines adäquaten Verständnisses, sinnvoller Ziele und der mutigen (Aktions-)Pläne zum entschlossenen Tun – auch um aktiv(er) zu werden, als Vorbild voranzuschreiten und den Nährboden für weitere Verbesserungen bereitzustellen. Es kommt letztlich auf alle an und auf den Schulterschluss über fachliche, politische und soziale Positionierungen und Spezialisierungen hinaus. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit, entsprechende Zielsetzungen und Handlungen zum Abbau von Barrieren gilt es zu realisieren, damit gesundheitliche Beeinträchtigungen nicht mehr zu Benachteiligungen und Ausgrenzung führen, sondern uneingeschränkte Teilhabe möglich wird.

Die Ausführungen in diesem Buch dokumentieren und analysieren, aber sie rufen auch auf zur inklusiven Gesundheitssorge – Health in All Policies – und zeigen konkrete Wege in der und für die Gesundheits- und Sozialwissenschaft und -politik. Aufbruch ist gefragt!