1.1 Betriebliche Arbeitsintegration

„Freilich schuldet der Arbeitgeber seinem Angestellten jeder Vertragsgerechtigkeit nach nur seinen Lohn, er kann jedoch begreifen, dass es nur billig und auch in seinem Interesse ist, ihm Dienste zu erweisen, die keiner strikten Marktlogik gehorchen. […] [So] kann der Arbeiter aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls zeitweise seiner Überlebensfähigkeit beraubt sein, ohne dafür verantwortlich zu sein. Die Festsetzung des Lohnes folgt trotzdem den Gesetzen der politischen Ökonomie, welche auf diese Schwierigkeiten keine Rücksicht nehmen kann. In solchen Diensten kann das „soziale Engagement“ Form annehmen, ohne in Widerspruch zu den wirtschaftlichen Erfordernissen zu geraten. Die Wiederherstellung der Gesundheit […] und Beihilfen bei Arbeitsunfähigkeit, Arbeiterwitwen- und Waisenunterstützungen usw. können nach einer anderen Logik als der des Profits verteilt werden, ohne ihr deshalb zuwiderzulaufen. Derart macht sich der Patron zum Sachwalter der Sicherheit des Arbeiters, wozu dieser von sich aus außerstande wäre.“ (Robert Castel 2008, S. 224 f., Hervorhebung weggelassen)

Nach einer liberalen Konzeption beschränkt sich die Arbeitsbeziehung auf den Tausch von Lohn gegen Arbeitsleistung. Wie Robert Castel im einleitenden Zitat am Typus des „patronalen“ Arbeitgebers aus dem 19. Jahrhundert darlegt, kann eine Unterstützung von Beschäftigten in Notsituationen jedoch durchaus im Interesse eines Arbeitgebers liegen. Der „patronale Arbeitgeber“ bot seinen Beschäftigten diverse Sozialleistungen, darunter „Dienste“, die der „Wiederherstellung ihrer Gesundheit“ sowie der „Unterstützung in Notsituationen“ dienten. Auf diese Weise sollte die Pauperisierung der Arbeiterschaft verhindert, sowie ihre Disziplin und Sesshaftigkeit und damit die Verfügbarkeit ihrer Arbeitskraft längerfristig gesichert werden. Diese „Dienste“ durften aber nicht in einen „Widerspruch zu den wirtschaftlichen Erfordernissen“ treten oder der „Logik des Profits“ zuwiderlaufen. Instrumente zur sozialen Absicherung von erkrankten (oder sich in anderen Notsituationen befindenden) Beschäftigten wurden so gestaltet, dass sie mit der Wirtschaftlichkeit der Produktionsabläufe im Einklang standen. Mit dem System der Patronage gingen moralische Verpflichtungen für die Angestellten einher, etwa die Einhaltung eines bestimmten Lebenswandels. Nur wer sich an diese Erwartungen hielt, dem stand die Unterstützung des „patronalen Arbeitgebers“ zu.

Die vorliegende Studie befasst sich mit „Diensten“ für gesundheitlich eingeschränkte Angestellte in Unternehmen der Gegenwart. Sie fragt danach, wie diese gestaltet werden, wie sie im Kontext wirtschaftlicher Anforderungen legitimiert werden und welche (moralischen) Erwartungen an die Beschäftigten mit ihnen verknüpft sind.

Mit der sozialstaatlichen Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im 20. Jahrhundert verloren betriebliche Sozialleistungen und das System der Patronage zwar an Bedeutung. Soziale Absicherung im Falle gesundheitlicher Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit wurde als allgemeines Anrecht formuliert. Mit dem sozialpolitischen Paradigma der „Aktivierung“ wird seit den 1990er Jahren jedoch vermehrt eine Integration gesundheitlich eingeschränkter Menschen in den Arbeitsmarkt anstelle von materiellen Unterstützungsleistungen gefordert (Nadai et al. 2015, S. 34–37; Probst et al. 2015; Koch 2016).Footnote 1 Damit gewinnt die Arbeitsintegration in Unternehmen an Bedeutung.

In den vergangenen Jahrzehnten sind zudem auf betrieblicher Seite neue Initiativen entstanden, die darauf abzielen, erkrankten Beschäftigten die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu erleichtern oder gesundheitlich eingeschränkten Erwerbslosen den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Diese werden mit der Idee sozialer Verantwortung begründet (Nadai et al. 2019; Kuznetsova und Yalcin 2017), stehen aber gleichzeitig unter dem Vorzeichen eines ökonomischen Nutzens für die Unternehmen (Shamir 2008; Hiß 2009; Brejning 2012; Lohmeyer 2017). In der Schweiz, auf deren staatlichen Kontext diese Studie fokussiert, sind diese Initiativen in der Regel in einem so genannten betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) verankert.Footnote 2 Gesundheitsmanagement-Programme wurden in Schweizer Unternehmen ab den 1990er Jahren eingeführt (Buri-Moser 2013, S. 19) und sind heute vor allem in Großunternehmen implementiert und verbreitet (Füllemann et al. 2017). In der vorliegenden Studie verwende ich den Begriff der betrieblichen Arbeitsintegration für die Aktivitäten von Unternehmen zur (Wieder-)Eingliederung von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften in die Erwerbsarbeit.

1.2 Gesellschaftliche Inklusion und das Paradox der Erwerbsarbeit

Die gleichberechtigte Beteiligung gesundheitlich eingeschränkter Menschen am Erwerbsleben ist ein gesellschaftspolitisches Ziel, das viele Staaten mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention anerkennen.Footnote 3 Im Sinne einer verstärkten sozialen Teilhabe wurde die Integration in den Arbeitsmarkt nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch von den sozialen Bewegungen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingefordert (Maschke 2004, S. 400). Erwerbsarbeit spielt für die gesellschaftliche Inklusion jedoch eine paradoxe Rolle. In einer Gesellschaft, die der Erwerbsarbeit nach wie vor einen zentralen Stellenwert beimisst, ist sie eine Grundlage für die soziale Teilhabe. Indem der Zugang zu Erwerbsarbeit selektiv gestaltet wird, ist sie aber zugleich ein Mechanismus der Exklusion (Wansing 2007).

Im Zuge der jüngeren Entwicklungen der Arbeitswelt, die als Flexibilisierung, Deregulierung und Vermarktlichung der Erwerbsarbeit charakterisiert wurden (Boltanski und Chiapello 2003; Pongratz und Voß 2003; Sauer 2010; Castel 2011; Schultheis 2013a, b), hat sich der Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen teilweise noch erschwert. Das politische Ziel einer verstärkten Erwerbsbeteiligung impliziert somit die Erwartung, sich in eine Arbeitswelt einzugliedern, deren Bewertungs- und Selektionsprinzipien, Arbeitsbedingungen, Produktivitätsanforderungen und Beschäftigungsformen die Beschäftigung unsicherer und selektiver werden lassen und so der gesellschaftlichen Teilhabe entgegenwirken.

Auch wenn Arbeitsmarktinklusion bzw. -integrationFootnote 4 gesellschafts- und sozialpolitische Ziele darstellen, können sie durch die staatliche Politik nur begrenzt beeinflusst werden. Die Möglichkeiten und Bedingungen der Arbeitsmarktinklusion werden nämlich wesentlich in und durch Unternehmen hergestellt: Diese regulieren den Zugang zu Erwerbsarbeit, geben Beschäftigungsbedingungen vor, organisieren Arbeit und bewerten Arbeitsleistungen. Zudem liegt es in ihrer Entscheidung, auf welche betrieblichen Sozialleistungen und unterstützenden Maßnahmen Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen zählen können. Die vorliegende Studie untersucht somit am Beispiel des Umgangs mit gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten auch, wie die Bedingungen für Arbeitsmarktinklusion – also die für die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsprozess relevanten Voraussetzungen – in und durch Unternehmen gestaltet werden. Beleuchtet wird dabei einerseits die Rolle von betrieblichen Einrichtungen und Instrumenten, die gezielt im Hinblick auf den Umgang mit gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten eingeführt wurden, wie das betriebliche Gesundheitsmanagement. Andererseits nimmt die Studie auch andere betriebliche Praktiken, Dispositive und Prinzipien der Arbeitsorganisation in den Blick, die einen Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten gesundheitlich eingeschränkter Menschen haben.

1.3 Das Beispiel psychisch erkrankter Beschäftigter

Psychische Erkrankungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten im sozialpolitischen Diskurs, aber auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung als zunehmende Ursache für Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit thematisiert und problematisiert. Vor diesem Hintergrund fokussiert die Studie auf den betrieblichen Umgang mit psychischen Erkrankungen. Psychische Erkrankungen werden aber nicht als neurologisch-physiologische, in medizinischen bzw. psychiatrischen Begrifflichkeiten zu erfassende Gegebenheiten in den Blick genommen, sondern als gesellschaftlich zugeschriebene „Differenzierungskategorien“ (Waldschmidt 2014, S. 177). Im Vordergrund des Interesses steht somit nicht der medizinische Befund, sondern die Zuschreibung einer Andersartigkeit, die sich auf die soziale Positionierung der Betroffenen und das Handeln von AkteurinnenFootnote 5 auswirkt. Es geht, in anderen Worten, um die mit der sozialen Klassifikation als psychisch erkrankte Person verbundenen Interpretationen und Handlungen der Akteure in der betrieblichen Arbeitsintegration in Unternehmen.

Laut einem Bericht der OECD (2012, S. 29) stellen psychische Erkrankungen eine „rapidly growing cause of inactivity and labour market exclusion“ dar. Zum einen weisen Personen, die an psychischen Erkrankungen leiden, eine tiefere Erwerbsbeteiligung und tiefere Einkommen auf als Menschen ohne gesundheitliche Einschränkungen. Zum anderen wird oft auf die markante Zunahme psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit hingewiesen, die in den letzten Jahrzehnten in fast allen OECD-Ländern zu verzeichnen war (OECD 2012, 2014). Eine solche Entwicklung zeigte sich auch in der Schweiz am steigenden Anteil psychischer Krankheiten als Ursachen für Neuverrentungen in der Invalidenversicherung (IV): betrug der Anteil im Jahr 1990 34 %, lag er 1999 bei 39 % (Prins und Heijdel 2004) und 2019 bei rund 50 % (Obsan 2021). Ob diesem Anstieg eine tatsächliche Zunahme psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung entspricht, ist umstritten. Nach Niklas Baer et al. (2011, S. IX) ist keine erhöhte Prävalenz psychischer Krankheiten festzustellen. Vielmehr sei der Anstieg u. a. auf vermehrte „gesellschaftliche Ausschlussprozesse“ und wirtschaftliche Veränderungen zurückzuführen. Dies könnte auf verstärkte Teilhabebarrieren in der Erwerbsarbeit, wie z. B. selektivere Bewertungskriterien in Unternehmen hindeuten, die dazu führen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen der Wiedereinstieg in die Arbeit schwerer fällt, was in einer anhaltenden Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit resultieren kann.

Krankheiten, die als „psychisch“ klassifiziert werden, sind nach wie vor einer besonderen Stigmatisierung ausgesetzt (Krupa et al. 2009; Follmer und Jones 2018). Wie die Analysen von Ferreira et al. (2008) sowie Ferreira (2015) exemplarisch zeigen, zeugt allein schon die in der Diskussion gängige Zusammenfassung von verschiedenen Krankheitsbildern zur undifferenzierten Kategorie der „psychisch Erkrankten“ von einer Pauschalisierung und kann damit einer vorurteilsbehafteten, diskreditierenden Sichtweise auf die betroffenen Krankheitsbilder Vorschub leisten. Wenn die pauschale Kategorie der „psychisch Erkrankten“ in dieser Studie aufgegriffen wird, soll nicht unterstellt werden, dass zwischen einzelnen als „psychisch“ geltenden Krankheitsbildern keine Unterschiede bestehen. Die Studie übernimmt vielmehr den Standpunkt der Akteurinnen der betrieblichen Arbeitsintegration, um die Bedeutung nachzuvollziehen, die die Kategorisierung als „psychische Krankheit“ für ihre Handlungspraxis hat.

Erforscht werden sollen also die spezifischen Handlungsprobleme, die die Zuschreibung einer stigmatisierten Krankheitskategorie für die Betroffenen und deren soziales Umfeld mit sich bringt. Im empirischen Teil der Studie wird die These dargelegt, dass eine wesentliche Herausforderung, die sich im Zuge der Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter stellt, in den Rechtfertigungsproblemen liegt, deren Bewältigung, wie das titelgebende Konzept dieser Studie zum Ausdruck bringt, Rechtfertigungsarbeit erforderlich macht.

1.4 Forschungsdesiderate und Fragestellung

Zur Arbeitsmarktintegration psychisch Erkrankter gibt es eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur. Diese zeichnet sich durch einen primären Fokus auf individuelle Faktoren aus, wie z. B. medizinische und persönliche Eigenschaften der Betroffenen oder fehlende Kompetenzen und mangelndes Wissen von Führungskräften. Ein Integrationshindernis liegt gemäß Forschungsstand darin, dass Vorgesetzte und Personalverantwortliche psychische Krankheiten nicht als solche erkennen und deshalb keine Bemühungen zum Erhalt der Anstellung unternehmen, sondern zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses tendieren (Nelson und Kim 2011; Baer et al. 2011; Stocker et al. 2015). Festgestellt wird zudem eine generelle Inkompetenz von Führungskräften, mit psychisch erkrankten Beschäftigten umzugehen (Sainsbury et al. 2008; Freigang-Bauer und Gröben 2011). Außerdem liegen Forschungsergebnisse zur Umsetzung von Integrationsmaßnahmen vor. So werden Aktivitäten zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit und der Arbeitsstelle der Betroffenen laut Forschungsbefunden oftmals zu spät in Angriff genommen (OECD 2012, S. 166; Vater und Niehaus 2014).

Wie ich in dieser Studie ausführe, ist die Forschung zur betrieblichen Arbeitsintegration psychisch Erkrankter durch eine individualisierende Betrachtungsweise sowie einen einseitigen Fokus auf die Strukturen des Eingliederungsmanagements gekennzeichnet. Konkret werde ich auf drei blinde Flecken eingehen: Wenig beleuchtet wurde erstens, dass sich die Bedingungen für einen Wiedereinstieg am Arbeitsplatz nicht nur aus den formalen Strukturen des Eingliederungs- und Gesundheitsmanagements ergeben, sondern auch aus informellen alltäglichen Interaktionen oder organisationalen Routinen im Betrieb, die nicht im engeren Sinn im Rahmen des Eingliederungsmanagements stattfinden (Hergesell und Albrecht 2021). Etwa können sich bei der Wiedereingliederung nach einer psychischen Erkrankung Konflikte zeigen, die zu bewältigen sind (Windscheid 2019a, b), zudem müssen Bedürfnisse und Gerechtigkeitserwartungen von Arbeitskollegen berücksichtigt werden, die eine wichtige Rolle für die Reintegration spielen (Colella 2001; Colella et al. 2004).

Als zweiter blinder Fleck ist die Ausblendung des wirtschaftlichen Kontexts zu benennen, in dem die betriebliche Wiedereingliederung stattfindet. Die Exklusion von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen aus dem Arbeitsmarkt hängt, wie Marta Russell (2010) argumentiert, nicht nur von den „irrationalen“ negativen Einstellungen und diskriminierenden Haltungen von Arbeitgebern ab, auf die etwa Antidiskriminierungsgesetze in den USA oder Großbritannien abzielen. Vielmehr kann die Beschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Menschen auch an strukturellen Barrieren scheitern, die auf „rationale“ Unternehmenspraktiken und ökonomische Organisationsprinzipien zurückzuführen sind. Entscheidungen über die Reintegration und weitere Beschäftigung erkrankter Mitarbeitender erfolgen vor dem Hintergrund betriebswirtschaftlicher Kalküle und organisationaler Logiken. Sie können nicht losgelöst betrachtet werden von den generellen Entscheidungsprinzipien über den Einsatz von Arbeitskräften, von den Kriterien der Leistungsbewertung und den Strategien zum Erreichen von Produktivitätszielen. Um die sozialen und ökonomischen Logiken der Arbeitsintegration in Unternehmen zu verstehen, bedarf es daher einer analytischen Perspektive, die die betrieblichen Rationalitäten der Beschäftigung mitberücksichtigt.

Eng verbunden mit dem zweiten ist ein dritter blinder Fleck: vernachlässigt wird in der Arbeitsintegrationsforschung die Bedeutung betrieblicher Praktiken und Prinzipien der Organisation von Arbeit. Die soziologische Forschung nimmt die Arbeitsorganisation vor allem als Faktor in den Blick, der psychische Belastungen verursacht und damit für das Entstehen psychischer Krankheiten verantwortlich ist (Haubl et al. 2013; Schmiede 2011; Voß und Weiss 2013; Tausig und Fenwick 2011). Seltener wird berücksichtigt, dass die Bedingungen der Arbeitsorganisation einen Einfluss darauf haben, ob man nach bzw. während einer psychischen Erkrankung weiterhin an seiner Arbeitsstelle tätig bleiben kann. So gibt es Hinweise darauf, dass die Teilhabe an der Erwerbsarbeit durch Arbeitsintensivierung und geringere Gestaltungsspielräume für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen schwieriger geworden ist (Foster und Wass 2013; Baumberg 2014).

Diesen Überlegungen entsprechend geht die Studie davon aus, dass die Rahmenbedingungen für Arbeitsmarktinklusion a) von alltäglichen Interaktionen und Aushandlungen in Betrieben und b) betrieblichen Praktiken und Prinzipien des Personaleinsatzes, sowie c) der Organisation von Arbeit abhängen. Sie stellt die Frage nach der betrieblichen Arbeitsintegration psychisch erkrankter Beschäftigter deshalb als Frage nach der kollektiven Deutung, Aushandlung und Koordination von Wiedereingliederungsprozessen sowie nach den Kriterien und Begründungsmustern in Entscheidungen über die weitere Beschäftigung. Im Fokus steht zudem, welche Bedeutung unterschiedlichen Formen der Arbeitsorganisation dabei zukommt.Footnote 6

1.5 Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen

Die Studie greift auf die Soziologie der Konventionen als theoretischen Rahmen zurück. Dabei handelt es sich um einen wirtschaftssoziologischen Ansatz (Diaz-Bone 2018), der auch in der Organisationssoziologie Anwendung findet (Knoll 2015, 2020) und der dem Handeln, der Interaktion und den Interpretationsleistungen der Akteure besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Soziologie der Konventionen bietet nach Rainer Diaz-Bone und Laurent Thévenot (2010, Abs. 9) ein „vollständiges Paradigma für die soziologische und sozioökonomische Analyse sozialer Institutionen, der Sozio-Kognition, der Handlung, Interaktion und Koordination sowie der sozialen Konstruktion von Sachverhalten/Entitäten und ihrer Qualitäten“. Da die Studie nach kollektiven Deutungen und Aushandlungen in Wiedereingliederungsprozessen, sowie nach Begründungsmustern in Beschäftigungsentscheidungen fragt, ist ein theoretischer Ansatz erforderlich, der die Deutungen und die Prozesse der gegenseitigen Abstimmung der Akteurinnen in Aushandlungssituationen sichtbar macht. Gegenüber dem Symbolischen Interaktionismus oder der Ethnomethodologie bietet die Soziologie der Konventionen den Vorteil, dass sie über eine Interaktionssituation, eine soziale Gruppe oder Arena hinausgehende Interpretationsrahmen, sowie deren Verankerung in der institutionellen Struktur der jeweiligen Situation berücksichtigt. Dies erlaubt es in der vorliegenden Studie, die Bedeutung, der Arbeitsorganisation oder anderer organisationaler oder gesetzlicher Rahmenbedingungen für die Prozesse der Deutung und Aushandlung von Wiedereingliederungs- und Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten zu beleuchten.

Geeignet für den Gegenstand der betrieblichen Arbeitsintegration ist die Soziologie der Konventionen zudem aufgrund ihrer Prämisse einer Pluralität an Rationalitäten und Wertigkeiten im wirtschaftlichen Handeln, wodurch Beschäftigungsentscheidungen nicht auf das Problem bloßer Kosten-Nutzen-Kalkulationen reduziert werden. Mit diesem theoretischen Rahmen lassen sich die Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte als betriebliches Koordinationsproblem analysieren, in dem eine Vielzahl an Deutungsrahmen, Begründungsmustern und Wertigkeitsordnungen eine Rolle spielen können.

Für die Frage nach der Arbeitsintegration psychisch Erkrankter erweist sich darüber hinaus das Modell der Rechtfertigungsordnungen als relevant, das von Luc Boltanski und Laurent Thévenot im Werk „Über die Rechtfertigung“ (2007[1991]) formuliert wurde – einem Grundlagentext der Soziologie der Konventionen. Wie bei anderen stigmatisierten Erkrankungen ist die Reintegration psychisch erkrankter Beschäftigter in besonderem Maß kritikanfällig (Colella 2001). Das Modell der Rechtfertigungsordnungen bietet ein theoretisches Werkzeug, um Rechtfertigungsprobleme als Teil der betrieblichen Koordination der Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung zu analysieren und das in dieser Studie anhand empirischer Analysen entwickelte Konzept der Rechtfertigungsarbeit theoretisch zu schärfen.

Die Fragestellung wird auf der Grundlage einer qualitativen empirischen Untersuchung in drei Großunternehmen in der Schweiz beantwortetFootnote 7: zwei Versicherungsunternehmen und ein industrieller Betrieb.Footnote 8 Das Datenmaterial besteht aus 31 Interviews mit verschiedenen betrieblichen Akteurinnen und Akteuren: Beschäftigte, die aufgrund eines psychischen Gesundheitsproblems beim betrieblichen Gesundheitsmanagement gemeldet waren, Vorgesetzte, Personalverantwortliche, sowie Verantwortliche des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Die Datenerhebung zu Fällen von betroffenen Beschäftigten erfolgte nach Möglichkeit multiperspektivisch, d. h. es wurden Vorgesetzte und Personalverantwortliche der interviewten Betroffenen befragt. Die dadurch hervortretenden Konvergenzen bzw. Divergenzen zwischen den Interpretationen sind aufschlussreich in Bezug auf den Prozess der kollektiven Deutung und Aushandlung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten. Außerdem konnte ich bei verschiedenen Anlässen (Sitzungen, Führungskräfteschulungen) teilnehmend beobachten. Darüber hinaus habe ich betriebliche Dokumente zum Gesundheitsmanagement und weiteren Personalverfahren gesammelt und analysiert. Methodisch richtet sich die Studie nach den Prinzipien der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) und der Situationsanalyse (Clarke 2005).

1.6 Aufbau der Studie

Die Studie ist wie folgt aufgebaut: Teil I dient der Herausarbeitung des Forschungsgegenstands und der Darlegung der Methodologie und des methodischen Vorgehens. In Kap. 2 führe ich in das Thema der betrieblichen Wiedereingliederung psychisch Erkrankter ein. Nach dem sozialpolitischen Hintergrund (Abschn. 2.1) erläutere ich, wie das Inklusionspotential der Erwerbsarbeit in den Disability Studies und der Arbeitssoziologie über variierende Formen der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit erklärt wird (Abschn. 2.2). Anschließend diskutiere ich den Forschungsstand zur betrieblichen Arbeitsintegration psychisch erkrankter Beschäftigter (Abschn. 2.3) und leite die Fragestellung der Studie her (Abschn. 2.4).

In Kap. 3 führe ich die Soziologie der Konventionen als theoretischen Rahmen ein. Ich erläutere den Konventionenbegriff (Abschn. 3.1), sowie weitere Grundbegriffe (Abschn. 3.2) und gehe auf das Modell der Rechtfertigungsordnungen ein (Abschn. 3.3). Zudem präsentiere ich Anwendungen auf das Feld der beruflichen Eingliederung (Abschn. 3.4) und schließe mit einer Präzisierung des Forschungsgegenstands in den Begriffen der Theorie (Abschn. 3.5).

In Kap. 4 lege ich das Vorgehen der empirischen Untersuchung dar. Ich beginne mit methodologischen Überlegungen (Abschn. 4.1) und führe dann die Grounded Theory und die Situationsanalyse ein (Abschn. 4.2). Ich präsentiere das Forschungsfeld (Abschn. 4.3), die Datenerhebung (Abschn. 4.4), gehe auf forschungsethische Fragen ein (Kap. 4.5) und lege das Vorgehen bei der Datenanalyse dar (Abschn. 4.6).

Darauf folgt Teil II mit der Darstellung der empirischen Ergebnisse. Kap. 5 entfaltet ausgehend von einer Fallanalyse (Abschn. 5.1) eine Übersicht über die verschiedenen Phasen der Etablierung von Deutungen und Wiedereingliederungsperspektiven: die Problematisierung von Symptomen und Diagnosen (Abschn. 5.2), die Entwicklung von Interpretationen (Abschn. 5.3) und die Aushandlung der Bedingungen des Wiedereinstiegs (Abschn. 5.4).

Kap. 6 befasst sich mit den Rechtfertigungsproblemen, die sich im Rahmen der Wiedereingliederung stellen und führt das Konzept der Rechtfertigungsarbeit ein. Das Kapitel ist nach den Begründungsmustern von Wiedereingliederungsentscheidungen gegliedert: Verhalten (Abschn. 6.1) und Leistung (Abschn. 6.2).

In Kap. 7 gehe ich auf die Bedeutung der Arbeitsorganisation für die betriebliche Wiedereingliederung ein. Ich stelle die Tätigkeiten vor, in denen die Interviewten beschäftigt sind (Abschn. 7.1), präsentiere die beobachteten Strategien der Wiedereingliederung (Abschn. 7.2) und setze die Ergebnisse in Bezug zu arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen (Abschn. 7.3).

In Kap. 8 thematisiere ich ausgehend von einer weiteren Fallanalyse (Abschn. 8.1) ein Phänomen, das in zwei der untersuchten Unternehmen zu beobachten war: auch Beschäftigte, die nicht ärztlich krankgeschrieben waren, wurden im betrieblichen Gesundheitsmanagement als Fälle „psychischer“ Gesundheitsprobleme begleitet (Abschn. 8.2).

Kap. 9 beschreibt die Herausforderung, zwischen psychischen Gesundheitsproblemen und anderen Problemfällen des Personalmanagements zu unterscheiden (Abschn. 9.1) und diskutiert ausgehend davon einige Widersprüche des Personalmanagements (Abschn. 9.2).

Zuletzt gehe ich in Kap. 10 darauf ein, dass eine psychische Erkrankung Anlass sein kann, Kritik zu üben (Abschn. 10.1). Eine Kritik, die eine gesundheitsverträglichere Gestaltung von Arbeitsplätzen als allgemeines Anrecht einfordert, kommt in den Unternehmen jedoch kaum vor (Abschn. 10.2).

Teil III dient der Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der empirischen Analysen. In Kap. 11 setze ich diese systematisch zu Konzepten der Soziologie der Konventionen in Beziehung. In Kap. 12 formuliere ich allgemeine Schlussfolgerungen.

Der Fokus der Studie liegt auf der betrieblichen Arbeitsintegration psychisch Erkrankter in Unternehmen in der Schweiz. In der Darstellung des Forschungsstandes beziehe ich mich auf internationale Literatur, sofern davon ausgegangen werden kann, dass sich deren Ergebnisse auf den Kontext der Schweiz übertragen lassen. Umgekehrt gehe ich davon aus, dass die Ergebnisse dieser Studie eine Verallgemeinerbarkeit über die Schweiz hinaus besitzen, insoweit die untersuchten Formen der Unternehmens- und Arbeitsorganisation auch in anderen westlichen, kapitalistischen Industriestaaten verbreitet sind. Auf Besonderheiten, die für den Schweizer Kontext gelten, weise ich gezielt hin.