Die folgenden beiden Schlusskapitel dienen der Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse dieser Studie. Wurden die theoretischen Konzepte der Soziologie der Konventionen im empirischen Teil nur punktuell als sensibilisierende Konzepte in die Analyse einbezogen, so stelle ich in Kap. 11 systematisch Bezüge zum theoretischen Rahmen her. Kap. 12 präsentiert die zentralen Schlussfolgerungen der Studie.

Ziel der empirischen Untersuchung war es, Deutungsmuster und Koordinationslogiken herauszuarbeiten, die sich für die Wiedereingliederung psychisch erkrankter Mitarbeitender als zentral herausstellen. Kap. 11 dient der Zusammenfassung der herausgearbeiteten Deutungsmuster und Koordinationslogiken. Über die Anwendung der konventionentheoretischen Perspektive sollte das Postulat eingelöst werden, betriebliche Arbeitsintegration in ihrer Einbettung in Unternehmen als soziale Gefüge mit spezifischen Organisationsstrukturen und betrieblichen Eigenlogiken zu betrachten. Mit der EC sollten, spezifischer, die „Grammatiken“ der Beurteilung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten und der Begründung von Entscheidungen über die weitere Beschäftigung, sowie deren Zusammenhang mit den kognitiv-evaluativen Formaten des Personalmanagements und der Arbeitsorganisation in den Blick genommen werden.

Ausgehend von der Annahme, dass Prozesse der Wiedereingliederung und Entscheidungen über die weitere Beschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Mitarbeitender in Betrieben vielfältige Fragen der Gerechtigkeit aufwerfen können (vgl. Abschn. 2.3.3), wurde ein besonderes Augenmerk auf die Identifizierung „kritischer Momente“ gelegt, in denen die Akteurinnen sich im Regime des rechtfertigbaren Handelns bewegen. Dabei sollten die Begründungsmuster herausgearbeitet werden, nach denen die Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung in Unternehmen gerechtfertigt werden. Zur Frage stand also, auf welche Konventionen sie in ihrer Kritik bzw. der Formulierung von Rechtfertigungen im Rahmen der betrieblichen Wiedereingliederung zurückgreifen. Auf diese Weise sollten die „Grammatiken“ der kollektiven betrieblichen Beurteilung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten hervortreten. Da Deutungsmuster und Koordinationslogiken nach der EC einen Objektbezug aufweisen, wurde zudem auf die materiellen Objekte sowie Formate geachtet, die bestimmte Deutungen oder Begründungslogiken stützen oder auch Kompromisse zwischen widersprüchlichen Deutungsrahmen und Rechtfertigungsordnungen stabilisieren.

Abschn. 11.1 erläutert die zwei zentralen Koordinationserfordernisse der betrieblichen Arbeitsintegration. Abschn. 11.2 diskutiert, auf welche Weise im Rahmen der Koordination der betrieblichen Wiedereingliederung „kritische Momente“ auftreten und setzt das anhand der empirischen Analysen entwickelte Konzept der Rechtfertigungsarbeit mit dem Modell des Rechtfertigungshandelns nach Boltanski und Thévenot in Beziehung. Abschn. 11.3 fasst die Begründungsmuster zusammen, die in der Kritik und Rechtfertigung von Wiedereingliederungsaktivitäten von Bedeutung sind und bezieht sie auf die von Boltanski und Thévenot beschriebenen Rechtfertigungsordnungen. Abschn. 11.4 diskutiert schließlich die Koordinationsmodelle und Formate des Managements von psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit als Kompromiss zwischen verschiedenen betrieblichen Logiken und charakterisiert diesen als „selektive Wiedereingliederung“.

1 Koordinationserfordernisse in der Eingliederung

Die Situation, in der eine Mitarbeiterin aus psychischen Gründen arbeitsunfähig wird, ist durch zwei Koordinationserfordernisse gekennzeichnet, mit denen Unsicherheit verbunden ist. Erstens muss abgeschätzt werden, in welchem Ausmaß das Arbeitsvermögen der Betroffenen eingeschränkt ist. Zwar liefert in vielen Fällen ein ärztliches Attest Anhaltspunkte dafür. Ein Arztzeugnis stellt zudem einen für kurze Zeit gesetzlich bindenden Rahmen dar, der die Arbeitgeberin dazu verpflichtet, den Leistungsausfall als Krankheit und nicht als Fehlverhalten des Mitarbeiters zu behandeln. Diese Einordnung ist durch das Arbeitsgesetz, den verlängerten KündigungsschutzFootnote 1 und die LohnfortzahlungspflichtFootnote 2 abgestützt. Das ärztliche Attest fungiert damit als ein kognitives, gesetzlich abgestütztes Format, das zur Objektivierung und Legitimität eines Leistungsausfalls als krankheitsbedingt beiträgt. Trotzdem bleibt die Situation mit Unsicherheiten behaftet: Aus einer ärztlichen Krankschreibung geht nicht hervor, wie lange eine Mitarbeiterin insgesamt ausfallen wird. Zwar wird ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis normalerweise auf eine begrenzte Dauer ausgestellt. Nach deren Ende kann aber eine weitere Krankschreibung erfolgen. Es ist also unklar, wann und ob jemand überhaupt in seiner Stelle wieder einsatzfähig sein wird. Bei psychischen Erkrankungen ist der zu erwartende Verlauf oftmals schlecht abschätzbar. Zudem kann das eingeschränkte Arbeitsvermögen, wie das Datenmaterial zeigt, trotz ärztlicher Bescheinigung Gegenstand von Zweifeln und wiederholter Überprüfung und Aushandlung bleiben. So wird die Legitimität von Arztzeugnissen durch betriebliche Akteure zuweilen systematisch angezweifelt, etwa indem der Grad der Arbeitsunfähigkeit als übertrieben dargestellt wird. Insbesondere im Kontext von Konflikten wird eine Arbeitsunfähigkeit mitunter als Ausflucht der Betroffenen interpretiert. Um die Deutung abzuwenden, die Krankschreibung sei ein Weg, sich der Arbeitspflicht zu entziehen, bedarf es einer Plausibilisierungsarbeit, die legitime Ursachen für die Arbeitsunfähigkeit etabliert. Auch hier sind psychische Erkrankungen besonders betroffen, weil sie zu den tabuisierten Krankheiten gehören und ihre Symptome für Außenstehende nicht leicht als Krankheitssymptome erkennbar sind.

Zugleich finden sich im Sample auch Beschäftigte, bei denen die Einordnung als Fall einer psychischen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit auf einer Selbst- oder Fremdzuschreibung beruht, ohne dass eine ärztliche Krankschreibung vorliegt. Einige BGM- und Personalverantwortliche in den beiden Versicherungsunternehmen setzen sich dafür ein, dass Beschäftigte, bei denen möglicherweise psychische Krankheiten bestehen, nicht als „low performers“ behandelt werden. Die Betrachtung solcher Mitarbeitenden unter dem Aspekt eines möglichen Gesundheitsproblems hängt zu einem Teil mit der kognitiven Instrumentierung des Personalmanagements, respektive der Zuständigkeitsdefinition und Organisation des BGM zusammen: In einem der beiden Versicherungsunternehmen wird das BGM regulär in jedes Disziplinarverfahren miteinbezogen. Möglichen gesundheitlichen Aspekten von Konflikten oder Leistungsproblemen wird damit institutionell Rechnung getragen. Die breite Zuständigkeit, nicht nur für kranke Beschäftigte, sondern für verschiedene soziale und persönliche Probleme führt zu einer Ausweitung der Interpretationsfolie des Gesundheitsproblems auf Beschäftigte, deren Status als Kranke nicht über eine formale Krankschreibung geregelt ist. Zugleich bleibt diese Art der Einordnung als gesundheitliches Problem instabil und kann – gerade im Konfliktfall – leicht hinterfragt werden, besonders wenn kein ärztliches Attest vorliegt. In beiden Fällen – mit oder ohne ärztliche Krankschreibung – muss die Einordnung als Krankheit bisweilen gegenüber Zweifeln und kritischen Einwänden verteidigt werden.

Das zweite Koordinationserfordernis betrifft die Entscheidung über Maßnahmen zur Wiedereingliederung und weiteren Beschäftigung sowie deren Umsetzung. Es ist nicht immer eindeutig, welche Maßnahmen angemessen und erfolgsversprechend sind. Im BGM und Personalmanagement sind zwar Verfahrensregeln zum Umgang mit Krankheiten und Leistungsproblemen von Beschäftigten definiert. Da Regeln nach der EC niemals vollständig sind, müssen sie durch die betrieblichen Akteurinnen auf den Einzelfall angewendet und interpretiert werden (Diaz-Bone 2009b). Zudem können Maßnahmen im Unternehmen verschiedentlich auf Kritik stoßen. Das Ausmaß, in dem Eingliederungsmaßnahmen in den drei Unternehmen Unverständnis und Kritik hervorrufen, hängt von der Abteilung und dem Job der Betroffenen ab. Je ungewöhnlicher eine Maßnahme in einem Arbeitsumfeld ist, desto eher ist zu erwarten, dass Kollegen sie als ungerecht kritisieren und höhere Vorgesetzte oder Personalverantwortliche sie als unangemessen in Frage stellen. In Arbeitsbereichen, in denen Vollzeitarbeit die Norm ist, wirft bereits ein vorübergehendes Teilzeitpensum Rechtfertigungsbedarf auf. Mitentscheidend für das Ausmaß des Rechtfertigungsbedarfs sind die Formate der Leistungssteuerung und Arbeitsorganisation: Job Designs, d. h. die Gestaltung von Stellenprofilen und die betrieblichen Regeln, wie gearbeitet werden soll und wie die Qualität von Arbeit bewertet wird. Darüber hinaus spielen informelle Arbeitsroutinen, Reziprozitätserwartungen und Statusordnungen eine Rolle.

2 Kritische Momente und Rechtfertigungsarbeit

Innerhalb der Koordination von Wiedereingliederungsprozessen können also sowohl das krankheitsbedingt eingeschränkte Arbeitsvermögen als auch die im Betrieb getroffenen Maßnahmen zur Reintegration Zweifel und Kritik hervorrufen. Die Möglichkeit der Kritik ergibt sich nach Boltanski (2010) aus dem Wesen der Institutionen selbst, die durch eine inhärente Spannung gekennzeichnet sind, die er als „hermeneutischen Widerspruch“ bezeichnet. So geben Institutionen vor, abschließend und endgültig zu sagen, was ist, können aber zugleich niemals den gesamten „sozialen Raum“ besetzen (Boltanski 2010, S. 148). Es bleiben immer Elemente, die mit der durch die Institution betriebenen Konstruktion der Realität nicht übereinstimmen. An diesen kann Kritik ansetzen. Je heterogener bzw., in der Formulierung von Boltanski und Thévenot (2007, S. 303), je „hybrider“ eine Situation ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Kritik geäußert wird. Die berufliche Eingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter ist durch eine Heterogenität kategorialer und normativer Bezugssysteme gekennzeichnet, so etwa das medizinische Fachwissen der Ärztinnen, betriebliche Formen der Leistungsbewertung und Personalplanung, Reziprozitätserwartungen zwischen den Beschäftigten und Verfahrensregeln des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Da die je nach Bezugssystem erfolgenden Realitätskonstruktionen nicht deckungsgleich sind, überrascht es nicht, dass die Wiedereingliederung durch eine Vielzahl „kritischer Momente“ gekennzeichnet ist.

Zur Charakterisierung „kritischer Momente“ habe ich in den empirischen Analysen die Kategorien Rechtfertigungsbedarf und Rechtfertigungsarbeit verwendet: In der Situation einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit ergibt sich Rechtfertigungsbedarf im Hinblick auf die Einordnung als „echte“ Krankheit und bezüglich der getroffenen betrieblichen Maßnahmen. Rechtfertigungsarbeit stellt ein zentrales Handlungserfordernis dar, das verschiedene betriebliche Akteurinnen bewältigen, um eine Reintegration der Betroffenen am Arbeitsplatz zu erreichen. Im Folgenden sollen die EC-Konzepte der „kritischen Momente“ und des Handlungsregimes des rechtfertigbaren Handelns zu einer weiteren Klärung der empirisch entwickelten Kategorien verwendet werden. Zu diesem Zweck seien hier nochmals die wichtigsten Merkmale eines kritischen Moments genannt: Es handelt sich um einen Moment, in dem es zu einer Streitigkeit kommt und in dem Kritik geäußert wird. Dabei werden Routinen unterbrochen. Die Akteure treten aus dem Bereich des Selbstverständlichen heraus und wechseln auf eine höhere Reflexionsstufe. Ein weiteres Merkmal ist dasjenige der Öffentlichkeit. Kritische Momente verlangen „stichfeste Urteilsprinzipien“ (Boltanski 2010, S. 51), die einer Überprüfung durch beliebige Dritte standhalten können: „The justifiable action engagement regime is oriented by demands of a public order, since the evaluation must be valid for a third party and characterized by generality and legitimacy.“ (Thévenot 2007, S. 417) Die Argumentation muss sich auf allgemeingültige Äquivalenzprinzipien stützen, die es erlauben, Unstimmigkeiten und Ungerechtigkeiten kenntlich zu machen und eine bestimmte Form des Gemeinwohls implizieren. Nach Boltanski ereignen sich kritische Momente hauptsächlich in direkten Interaktionssituationen, in denen sich Personen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und ihre Streitigkeiten diskursiv austragen (Basaure 2008, S. 4).

Bei den im Datenmaterial der vorliegenden Studie dokumentierten Situationen des Rechtfertigungsbedarfs handelt es sich in einigen Fällen um Interaktionssituationen, in denen von Angesicht zu Angesicht Kritik geäußert wird: So kritisieren Betroffene, Arbeitskolleginnen oder BGM-Verantwortliche Eingliederungsmaßnahmen als ungerecht. Vorgesetzte stellen die Angemessenheit von ärztlichen Zeugnissen und den darin festgelegten Grad einer Arbeitsunfähigkeit in Frage. Übergeordnete Vorgesetzte hinterfragen den Aufwand, der zur Eingliederung eines Mitarbeiters betrieben wird. BGM- oder Personalverantwortliche kritisieren Vorgesetzte bezüglich ihres rücksichtslosen Umgangs mit psychisch angeschlagenen Mitarbeiterinnen. Von Interviewten werden aber auch Situationen benannt, in denen Kritik nicht von Angesicht zu Angesicht geäußert wird: so zum Beispiel, wenn Mitarbeiter nach einer Entlassung rechtliche Schritte einleiten. Auch hier handelt es sich um Streitigkeiten im weiteren Sinn. Bei Gerichtsfällen ist das Kriterium der Öffentlichkeit unstrittig gegeben, aber auch der Umgang mit arbeitsunfähigen Beschäftigten und die Entscheidung über Eingliederungsmaßnahmen wird von einer betriebsinternen Öffentlichkeit mitverfolgt: Diese setzt sich aus den involvierten Arbeits- und Führungskräften, aber auch Kolleginnen der Betroffenen zusammen.

Wie die empirischen Analysen zeigen, können psychische Probleme von Beschäftigten in Betrieben zu zwei Arten von kritischen Momenten führen. Zum einen stehen Qualitäten der Betroffenen – beispielsweise als „echte“ Kranke oder als leistungsfähige Mitarbeitende – zur Debatte. Zum anderen haben sich am Umgang mit (potenziell) erkrankten Mitarbeitenden die Qualitäten des Unternehmens – beispielsweise als effizient geführter Betrieb oder als sozial verantwortlich agierender Arbeitgeber – zu erweisen. Wie sich am Fallbeispiel Bernhard Aebischers (8.1) zeigt, kann zwischen diesen beiden Arten der Kritik hin- und hergewechselt werden. Als Bernhard Aebischer von seinen Vorgesetzten zunächst hinsichtlich seiner mangelnden Leistungen kritisiert wird und mit dem Disziplinarverfahren seine Qualitäten als leistungs- und anpassungsbereiter Mitarbeiter überprüft werden sollen, kritisiert er das Disziplinarverfahren als unangebracht und verweist auf seine psychische Überforderung. Zur Frage stehen damit nicht mehr seine Qualitäten als Beschäftigter, sondern die Qualität des Unternehmens als Arbeitgeberin, die ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitenden nachkommt.

Eine Realitätsprüfung stellt nach Boltanski und Thévenot ein Mittel zur Bewältigung kritischer Momente dar. Sie setzt der Uneinigkeit ein Ende, indem sie den Wert und die Qualitäten von Personen oder Objekten nach einem spezifischen Verfahren festlegt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 191). Realitätsprüfungen haben im Unterschied zu so genannten Wahrheitsprüfungen einen tatsächlichen Testcharakter, d. h. es besteht a priori Ungewissheit über ihr Resultat (Boltanski 2010, S. 155 ff.). Prüfungen können sich aber auch auf die Adäquatheit einer Prüfung selbst beziehen, zum Beispiel, wenn die Durchführung eines Disziplinarverfahrens mit dem Verweis auf psychische Probleme einer Beschäftigten als unangemessen herausgestellt wird, wie es im Fallbeispiel Bernhard Aebischers (8.1) geschieht. Zu einer Realitätsprüfung im Sinne Boltanskis und Thévenots gehört, wie Knoll (2021) herausstreicht, ein institutionalisiertes Prüfverfahren. Von einer Realitätsprüfung im engeren Sinn kann im Datenmaterial deshalb nur in Bezug auf die Qualitäten der Betroffenen die Rede sein, wenn durch das Absenzenmanagement die Gründe von Abwesenheiten überprüft werden, oder sich im Rahmen eines Disziplinarverfahrens die Leistungsbereitschaft einer Mitarbeiterin zeigen soll. Neben institutionalisierten Realitätsprüfungen lassen sich im Datenmaterial jedoch noch weitere Strategien der Bewältigung kritischer Momente beobachten.

Ein zentrales Ergebnis der Studie besteht in der These, dass die Bewältigung kritischer Momente einen wichtigen Teil der Eingliederungsarbeit in Unternehmen ausmacht – verstanden als Arbeit, die von verschiedenen Akteuren, den Betroffenen, Vorgesetzten, BGM- und HR-Verantwortlichen – geleistet werden muss, damit der berufliche Wiedereinstieg und die Integration am angestammten oder einem anderen Arbeitsplatz im Unternehmen erfolgreich sind. In der Grounded Theory-Analyse spreche ich von Rechtfertigungsarbeit als einem Teil der Eingliederungsarbeit. Das Konzept ist anschlussfähig an das Modell des Rechtfertigungshandelns nach Boltanski und Thévenot, insofern diese die alltäglichen Operationen des Übens und Begründens von Kritik, sowie des Rechtfertigens ebenfalls als Arbeit verstehen: Es handelt sich um die Operationen, die Akteurinnen zu vollziehen haben, um sinnhafte und stichhaltige Konstruktionen der sozialen Welt herzustellen (Boltanski und Thévenot 2000, S. 208 f.). Im Anschluss an Boltanski und Thévenot verstehe ich unter Rechtfertigungsarbeit die alltäglichen Methoden der Begründung und Kritik von Handlungen im Bereich der Weiterbeschäftigung und Wiedereingliederung. Darüber hinausgehend fasse ich auch die Ausrichtung von Handlungsstrategien an gängigen Rechtfertigungskriterien unter der Kategorie Rechtfertigungsarbeit.

Rechtfertigungsarbeit wird also geleistet, um die Angemessenheit von Wiedereingliederungsmaßnahmen zu bekräftigen und Eingliederungsentscheidungen im Betrieb als sinnvoll und wohlbegründet erscheinen zu lassen. Rechtfertigungsarbeit kann entweder im Rahmen einer institutionalisierten Prüfung oder auch im informellen Rahmen geleistet werden. Sie vollzieht sich, wie im Folgenden argumentiert werden soll, teilweise im Regime des rechtfertigbaren Handelns oder, mit einem Konzept von Boltanski, in den metapragmatischen Registern der Kritik und der Bestätigung (Boltanski 2010, S. 106 f., 113 ff.). Rechtfertigungsarbeit kann verschiedene Gestalten annehmen. Sie kann erstens in einer direkten Reaktion auf Kritik bestehen, wenn in der Interaktion Argumentationen und Rechtfertigungen formuliert werden. Als Reaktion auf Kritik oder weitere Kritik vorwegnehmend kann Rechtfertigungsarbeit zudem in der Ausarbeitung von Rechtfertigungserzählungen bestehen. Hierbei handelt es sich um Darstellungen der Ursachen und des Verlaufs der Erkrankung und der betroffenen Beschäftigten, die auf bereits geäußerte Zweifel reagieren oder erwartbare Einwände antizipieren. Rechtfertigungserzählungen zielen darauf, die Betroffenen in Bezug auf antizipierte Kritik und Logiken der Beurteilung vorteilhaft zu präsentieren. Ihre Entwicklung wird auch durch BGM-Verantwortliche angestoßen, die gemeinsam mit den Betroffenen eine Selbstpräsentation ausarbeiten, die sich günstig auf deren Reintegrationschancen auswirken soll. In der Begründung, weshalb sie sich für oder gegen bestimmte Wiedereingliederungsmaßnahmen entschieden haben, argumentieren auch Vorgesetzte mit den in solchen Fallschilderungen herausgestellten Ursachen der Erkrankung.

Diese beiden Typen der Rechtfertigungsarbeit beruhen auf der Formulierung von Rechtfertigungen und lassen sich als argumentative Rechtfertigungsarbeit beschreiben. Dieser Teil der Rechtfertigungsarbeit findet im Regime des rechtfertigbaren Handelns statt. Sowohl Boltanski als auch Thévenot weisen auf die sprachlichen Besonderheiten des Regimes des rechtfertigbaren Handelns hin. Thévenot hält fest:

When discursive language is used in this regime, it is sharply distinct from the ordinary language used to communicate planned action. It implies controlled use of reference terms that constitute so many conventional benchmarks and apprehend objects in terms not of their functions but their legitimate qualities. Language here links together conventional beings only, in texts that are more like a systematic table than a narrative; it thereby becomes conventional itself, not unlike the language of law, which is to be used to the letter. The use of conventional terms gives the language of this engagement its rigid, official quality. (Thévenot 2007, S. 418)

Nach Thévenot zeichnet sich das Regime des rechtfertigbaren Handelns durch die systematische Bezugnahme auf standardisierte Referenzen aus, mit denen legitime Qualitäten herausgestellt werden sollen. Die Sprache erhält dadurch einen formelhaften Charakter. Ähnlich beschreibt Boltanski die Sprache des metapragmatischen Registers als gekennzeichnet durch einen von Regeln geprägten Kategoriengebrauch, der auf den „Bezug zu homogenen, deutlich begrenzten semantischen Räumen“ aufbaut (Boltanski 2010, S. 111). Einige dieser Eigenschaften finden sich in den empirische beobachteten Rechtfertigungserzählungen wieder. So fällt auf, dass gewisse sprachliche Wendungen von verschiedenen Akteuren formelhaft wiederholt werden, wie zum Beispiel: „sie hat immer gewollt“, „es schien, als sei er nicht glücklich gewesen mit seinem Job“ (Abschn. 6.1.1) oder „es ist nicht der Job, der ihn krank macht“ (Abschn. 6.2.1). Dies führt dazu, dass die Erzählungen in gewissen Passagen rigide und stereotyp wirken.

Wenn Rechtfertigungserzählungen als antizipierende Reaktionen auf erwartbare Kritik entwickelt werden, lassen sie sich dem metapragmatischen Register der Bestätigung nach Boltanski (2010, S. 113 ff.) zuordnen, welches demjenigen der Kritik systematisch entgegengesetzt ist. Im Register der Bestätigung geht es darum, eine bestimmte Realitätskonstruktion zu konsolidieren und dadurch „Unruhe, über das, was ist, abzuschwächen“ (ebd., S. 114). Sprachlich zeichnet sie sich dieses Register durch häufige Wiederholungen und tautologische Formulierungen aus. Auch Wiederholungen sind in den empirisch beobachteten Rechtfertigungserzählungen häufig, wie sich an den in Kap. 6 zitierten Interviewaussagen zeigt, zum Beispiel am folgenden Zitat.:

Ich glaube nicht, dass der Job ihn krank macht, weil das ist ein super, das ist, das ist einer, der geht auf neue Kunden los. Und ich habe selbst, also der, der gewinnt Kunden, weil er einfach ein super Typ ist. Der ist seit 20 Jahren in der Branche, […] Also das ist wirklich so ein super Typ, das ist nicht der Job, der ihn krank macht. (Personalverantwortliche, vgl. Abschn. 6.2.1).

Ein dritter Typ der Rechtfertigungsarbeit besteht schließlich darin, durch strategisches Handeln kritische Momente gezielt zu vermeiden. Akteurinnen der Eingliederung sind sich des Problems des entstehenden Rechtfertigungsbedarfs und der gängigen Begründungslogiken bewusst. In ihrem Handeln lassen sich Strategien erkennen, die darauf abzielen, den Rechtfertigungsbedarf eines eingeschränkten Leistungsvermögens oder von Wiedereingliederungsmaßnahmen so gering wie möglich zu halten. Beispiele dafür sind das Verzichten auf Arbeitsplatzanpassungen, von denen erwartbar ist, dass sie Kritik auslösen würden, wie auch das nur teilweise Beanspruchen eines therapeutischen Teilzeitpensums, wie im Beispiel Simon Rohners (Abschn. 5.1). In diesem Fall richten sowohl der Betroffene als auch sein direkter Vorgesetzter ihre Strategien darauf aus, Kritik der Kollegen und des höheren Managements zu vermeiden. Ein anderes Beispiel ist die Orientierung an Verhaltenserwartungen der Arbeitgeberin durch die Betroffenen, wie es im Fall von Irina Cerny (Abschn. 6.1.2) deutlich wird.

3 Konventionen der Rechtfertigung betrieblicher Reintegration

In der Formulierung von Rechtfertigungen und Kritik beziehen sich die Akteure im Datenmaterial der vorliegenden Studie auf Kriterien, die sich vier unterschiedlichen Konventionen nach Boltanski und Thévenot zuordnen lassen. Von Bedeutung ist die häusliche Konvention: Vor allem in der Beurteilung von Beschäftigten durch Vorgesetzte, BGM- und Personalverantwortliche spielen „zwischenmenschliche Beziehungen“ eine wichtige Rolle (Boltanski und Thévenot 2007, S. 228). Als Grundlage für die Verpflichtung gegenüber erkrankten Beschäftigten wird deren Willensbekundung, sich an den Erwartungen des Unternehmens auszurichten, angesehen. Die Dominanz der häuslichen Konvention in den Rechtfertigungen von eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und Eingliederungsaktivitäten lässt sich damit erklären, dass den direkten Vorgesetzten in der Entscheidung über die weitere Beschäftigung am meisten Gewicht zukommt. Dies verleiht Faktoren der Kooperation und der Beziehung Bedeutung. Die Gewichtung der häuslichen Konvention in der Beurteilung gesundheitlich eingeschränkter Mitarbeitender hängt, wie Nadai et al. (2019, S. 162) argumentieren, mit der (räumlichen) Nähe der Betroffenen zu den entscheidungsbefugten Vorgesetzten zusammen. Sind diese weit weg von den gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten, sind sie eher zu einer Betrachtung nach Kosten- und Effizienzkriterien geneigt.

Auch auf die industrielle Konvention wird in den analysierten Rechtfertigungen Bezug genommen. Nach dieser Konvention hängt Wert mit Effizienz und Funktionalität zusammen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 278): Personalmaßnahmen in Bezug auf psychisch erkrankte Beschäftigte werden darauf hin betrachtet, inwiefern sie zu einem langfristig effizienten Einsatz der Arbeitskräfte beitragen. Eine Wiedereingliederung lohnt sich aus diesem Blickwinkel vor allem bei Beschäftigten, von denen zu erwarten ist, dass sie die Leistungsanforderungen ihrer Arbeitsstelle in absehbarer Frist wieder erfüllen werden. In Arbeitsbereichen, in denen die Beschäftigten unter starkem Leistungsdruck stehen und psychische Erkrankungen häufig vorkommen, stützen sich Rechtfertigungen auf die Argumentation ab, dass die Erkrankung der Betroffenen nicht arbeitsbedingt ist und daher mit einem problemlosen Wiedereinstieg zu rechnen ist. Rechtfertigungen dieser Art scheinen vor allem darauf ausgerichtet, den Generalverdacht auszuräumen, jemand könne durch die Arbeit krank geworden und daher für den Job prinzipiell ungeeignet sein. Das Gewicht industrieller Rechtfertigungskriterien hängt also mit den Formen der Leistungssteuerung, den durch sie erzeugten psychischen Beanspruchungen und dem daraus entspringenden Verdacht zusammen, dass eine Krankheit arbeitsbedingt sein könnte.

Zudem kann die Marktkonvention eine Rolle spielen, der zufolge Preis und Markterfolg die zentralen Bewertungskriterien darstellen (ebd., S. 268). Eine Eingliederung zahlt sich nach dieser Perspektive bei solchen Beschäftigten aus, die aufgrund ihrer Eigenschaften und Kompetenzen (z. B. spezielle Qualifikationen, frühere Erfolge) auf dem Arbeitsmarkt schwer ersetzbar scheinen. Im Rahmen der kennzahlenorientierten Steuerung lässt sich der „Wert“ eines Mitarbeiters als Kennwert der erzielten Verkaufserfolge ausdrücken. Eingliederungsmaßnahmen wie z. B. die Anpassung von Aufgabenprofilen lassen sich in diesem Rahmen über die besonderen Markterfolge einer Mitarbeiterin rechtfertigen. Das Gewicht marktlicher Rechtfertigungskriterien hängt also auch davon ab, ob es üblich ist, die Leistungen der Beschäftigten als monetäre Erfolge zu quantifizieren.

Die staatsbürgerliche Konvention, nach der Kollektivinteressen das zentrale Wertkriterium ausmachen, kam in der Begründung von Beschäftigungsentscheidungen durch Vorgesetzte, BGM- oder Personalverantwortliche nicht vor. Dies lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich die Studie auf die Frage der Weiterbeschäftigung bestehender Mitarbeitender bezieht, nicht aber auf die Neuanstellung gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte, für die staatsbürgerliche Begründungen eine größere Rolle spielen (Nadai et al. 2019; Canonica 2020). Bezüge auf das kollektive Interesse wurden dennoch vereinzelt formuliert, und zwar in der Kritik an Arbeitsbedingungen durch Beschäftigte. Darin bezogen sie sich auf das gemeinsame Interesse der Arbeitnehmenden, die unter den gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit zu leiden haben. Diese Art von Kritik blieb in den untersuchten Unternehmen jedoch ohne Folgen.

Aus den beschriebenen Begründungs- und Rechtfertigungslogiken der betrieblichen Arbeitsintegration ergeben sich für Beschäftigte, die sich bezüglich einer Wiedereingliederung vorteilhaft positionieren wollen, konkrete Handlungsanforderungen. So berichteten Betroffene davon, dass sie sich während der Krankschreibung und Wiedereingliederung bewusst an den Erwartungen ihrer Arbeitgeberinnen orientierten, um sich als kooperative, zuverlässige Mitglieder der Betriebsgemeinschaft zu erweisen. Dabei gingen sie auch auf Erwartungen ein, die sie angesichts ihres Gesundheitszustands noch überforderten. Zum Beispiel beantworteten sie frühe Kontaktversuche des BGM, während sie sich noch in einer psychiatrischen Klinik aufhielten, um ihre Kooperativität und weitere Verbundenheit mit dem Unternehmen zu demonstrieren. Um mögliche Zweifel an ihrer Produktivität und Leistungsfähigkeit zu beseitigen, pochten einige Interviewte selbst auf einen frühen Wiedereinstieg, obwohl eine längere Krankschreibung aus der Sicht der behandelnden Ärztinnen und der BGM-Verantwortlichen sinnvoll gewesen wäre. Die oftmals hervorgehobenen „privaten“ Ursachen der Erkrankung wurden auch als Begründung dafür herangezogen, dass keine Anpassungen von Arbeitsaufgaben nötig seien.

Ähnlich wie die Strategie des Vermeidens kritischer Momente können diese Handlungsanforderungen dazu führen, dass erkrankte Beschäftigte sehr früh wieder an ihrem Arbeitsplatz einsteigen und dass auf mögliche Eingliederungsaktivitäten verzichtet wird, weil diese die weitere Leistungsfähigkeit der Betroffenen in Frage stellen würden. Rechtfertigungsbedarf und die sich aus den gängigen Rechtfertigungskriterien ergebenden Handlungsanforderungen können also dazu führen, dass das Potential möglicher Eingliederungsmaßnahmen nicht ausgeschöpft wird und Arbeitsplätze nicht gesundheitsgerechter gestaltet werden.

Dass Gerechtigkeitsfragen ein entscheidendes Thema im Eingliederungsprozess sind, und zwar besonders bei unsichtbaren und tabuisierten Erkrankungen, zu denen auch psychische Krankheiten gezählt werden, ist in der sozialwissenschaftlichen Forschung bereits bekannt. Vor allem untersucht wurde die Rolle der Gerechtigkeitswahrnehmungen von Kollegen der Betroffenen (Dunstan und MacEachen 2014; Windscheid 2019a). Diese spielt laut Forschungsbefunden eine wichtige Rolle für die Umsetzbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen. Denn viele Maßnahmen bedürfen der Kooperation von Kolleginnen. Zudem beeinflusst die antizipierte Reaktion der Kollegen die Entscheidung von Betroffenen, Eingliederungsmaßnahmen zu verlangen, sowie diejenige von Vorgesetzten, solche zu gewähren (Colella 2001; Colella et al. 2004). Die Resultate der vorliegenden Studie bestätigen diese Befunde. Ergänzend deuten sie zudem darauf hin, dass auch Gerechtigkeitsurteile anderer betrieblicher Akteurinnen – etwa höherer Vorgesetzter oder Personalverantwortlicher – eine Rolle spielen können. Mit dem Modell der Rechtfertigungsordnungen nach Boltanski und Thévenot konnten in dieser Studie typische Rechtfertigungsmuster identifiziert werden. Diese spielen für das Verständnis der Dynamiken der Arbeitsintegration eine entscheidende Rolle. Aus den vorherrschenden Rechtfertigungslogiken ergeben sich Zugzwänge und Anforderungen an die Eingliederungsakteure. Das Erfordernis, sich als kooperative sowie genesungs- und arbeitswillige Arbeitskraft zu präsentieren, wie auch die Anforderung, die weiter bestehende Leistungsfähigkeit zu demonstrieren, führen zu Handlungszwängen, die für die Eingliederung als dysfunktional anzusehen sind. So gehen Betroffene auf Erwartungen der Arbeitgeber ein, die sie angesichts ihres gesundheitlichen Zustands noch überfordern. Zudem tendieren BGM-Verantwortliche, Vorgesetzte und Betroffene dazu, private Ursachen der Erkrankung in den Vordergrund zu stellen und tragen damit zu deren Individualisierung, sowie zu einer Entlastung des Unternehmens von der Verantwortung bei (Voswinkel 2017c, S. 275).

Mit der Annahme einer Pluralität von Rechtfertigungs- und Bewertungslogiken macht die Soziologie der Konventionen deutlich, dass in der Beurteilung von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften aus Arbeitgebersicht nicht nur deren Produktivität und der Geldwert ihrer Arbeitsleistung, sondern auch andere Wertigkeiten von Bedeutung sind, wie die soziale Verantwortung als Unternehmen gegenüber loyalen Mitarbeitenden. Die Exklusion gesundheitlich eingeschränkter Menschen aus dem Arbeitsmarkt kann also nicht nur, wie es in der materialistischen Variante der Disability Studies im Anschluss an Oliver (1990) geschieht, als Resultat einer kapitalistischen Verwertungslogik verstanden werden, sondern ist als Kompromiss zwischen diesen unterschiedlichen normativen Ordnungen der Beschäftigungsbeziehung zu analysieren.

Mit dem durch die Soziologie der Konventionen nahegelegten Fokus auf die normativen Dimensionen der sozialen Ordnung gerät zudem eine in den Disability Studies und der Arbeitssoziologie nicht thematisierte Art und Weise in den Blick, wie sich Formen der Arbeitsorganisation auf die Exklusion gesundheitlich eingeschränkter Menschen auswirken können: Leistungssteuerung und Arbeitskoordination beeinflussen das Ausmaß, in dem ein eingeschränktes Arbeitsvermögen und Eingliederungsaktivitäten im Unternehmen Rechtfertigungsbedarf aufwerfen. Die dadurch erzeugten Handlungszwänge und Anforderungen an die Akteurinnen der Wiedereingliederung sind für ein besseres Verständnis von betrieblichen Arbeitsintegrationsprozessen zentral.

4 Selektive Wiedereingliederung – Elemente eines Kompromisses

In der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten kommt nach der EC verschiedenen normativen Prinzipien Relevanz zu (Bessy 2008). Dies zeigt sich auch in der betrieblichen Personalarbeit, welche nach Julia Brandl und Katharina Pernkopf (2015, S. 310) durch verschiedene Prinzipien geprägt ist und nicht nur im Hinblick auf ihren Beitrag zur Produktivität des Unternehmens bewertet wird, sondern auch bezüglich der Berücksichtigung moralischer Kriterien und situativer Gerechtigkeitserwartungen. Während oft pauschal von den „sozialen“ Zielen des Personalmanagements die Rede ist, erlaubt die EC, zwischen unterschiedlichen moralischen Prinzipien und Gerechtigkeitserwartungen zu differenzieren. Im Folgenden diskutiere ich die Koordinationslogiken und Formate des betrieblichen Managements von (psychischer) Arbeitsunfähigkeit.

Erkrankungen von Beschäftigten stellen für die Unternehmen, wie die Interviewten der vorliegenden Studie betonen, einen Anlass dar, eine sozial verantwortliche Haltung einzunehmen. Die Betroffenen sollen genügend Raum und Unterstützung für ihre Genesung und den Wiedereinstieg am Arbeitsplatz erhalten. Als entscheidend für ein faires Personalmanagement gilt es, zwischen Beschäftigten, die krank sind, und solchen, deren Leistung oder Verhalten als ungenügend bewertet wird, zu unterscheiden. Dies ist gerade bei äußerlich nicht wahrnehmbaren und tabuisierten Erkrankungen, also bei vielen psychischen Krankheiten, eine Herausforderung. In den beiden Versicherungsunternehmen des Samples zielen verschiedene kognitive Formate auf die kategoriale Unterscheidung zwischen Krankheit und Pflichtverletzung ab. Darunter fällt die separate Zuständigkeit zweier unterschiedlicher betrieblicher Fachstellen für Krankheits- und Disziplinarfälle oder die separate Erfassung und Fallführung innerhalb derselben Fachstelle des Personalmanagements.

Gleichzeitig bringen Krankheitsabwesenheiten oder eine krankheitsbedingt eingeschränkte Leistungsfähigkeit aus unternehmerischer Sicht Mehrkosten mit sich. Denn eine ärztliche Krankschreibung ermöglicht, das vereinbarte Tauschverhältnis von Lohn gegen Arbeitsleistung für begrenzte Zeit auf legale Weise zu unterlaufen. Erkrankungen können zudem als Problem für die längerfristige Personal- bzw. Produktionsplanung betrachtet werden: Ein Aufwand zur Reintegration erscheint mithin nur dann als lohnend, wenn erwartbar ist, dass sich die Betroffenen wieder als voll leistungsfähige Mitglieder in den Betrieb einfügen können.

Diese unterschiedlichen Perspektiven auf Krankheit implizieren widersprüchliche Umgangsweisen mit erkrankten Beschäftigten, was zu Konflikten und Kritik führen kann. Ein Kompromiss stellt nach Boltanski und Thévenot neben der Realitätsprüfung eine weitere Art dar, kritische Momente zu bewältigen (Knoll 2015, S. 13–14). Dabei wird der Konflikt beigelegt, ohne dass man sich auf eine Definition und Bewertung der Realität nach einer einheitlichen Prüfung einigt (Thévenot 2001, S. 411). In den Unternehmen, deren Praktiken im Umgang mit psychisch erkrankten Beschäftigten in der vorliegenden Studie untersucht wurden, lässt sich folgender Kompromiss beobachten: Man bemüht sich zwar um die Wiedereingliederung gesundheitlich eingeschränkter Beschäftigter, aber nur, wenn es genügend plausibel erscheint, dass sie die Leistungsstandards ihrer Stelle in absehbarer Zeit wieder erreichen werden. Unabhängig davon steht für die Arbeitsintegration nur ein begrenzter Zeitrahmen zur Verfügung. Darüber hinaus unternehmen die Betriebe nur dann Bemühungen zur Wiedereingliederung, wenn sich die Betroffenen gegenüber ihren Vorgesetzten, BGM- und Personalverantwortlichen kooperativ verhalten und ihre Erkrankung als legitim und plausibel erscheint (Nadai et al. 2019).

Die Bildung von Kompromissen ist nach der Soziologie der Konventionen ein „prinzipiell fragiles Unterfangen“ (Knoll 2012, S. 71), da die Widersprüche zwischen den Konventionen latent bestehen bleiben und jederzeit zu einer Auseinandersetzung führen können. Kompromisse müssen deshalb aktiv aufrechterhalten werden. Eine wichtige Rolle für ihre Stabilisierung spielen Formate, indem sie durch die Etablierung von Regeln, Standards oder Kategoriensystemen einer bestimmten Art und Weise der Koordination Dauerhaftigkeit verleihen.

Die Praxis, erkrankte Mitarbeitende auch nach dem Auslaufen des Kündigungsschutzes weiter zu beschäftigen und beim Wiedereinstieg zu unterstützen, wird in vielen größeren und mittelgroßen Unternehmen der Schweiz durch die Zahlungen der Krankentaggeldversicherung oder eine betriebliche Sozialkostenstelle gefestigt (Nadai et al. 2019, S. 164–167). Diese Einrichtungen kommen in der Regel für maximal zwei Jahre für die Lohnkosten der gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten auf und entkräften in dieser Zeit Einwände, die mit Mehrkosten, und damit aus der Perspektive der Marktkonvention, argumentieren. Trotzdem ins Gewicht fallen können jedoch Einwände, die die Reintegration als eine Verschwendung von Ressourcen kritisieren, indem sie in Zweifel ziehen, dass die Betroffenen ihre volle Leistungsfähigkeit an ihrer Arbeitsstelle wiedererlangen werden. Wie viel Gewicht solche Einwände erhalten, hängt von der betrieblichen Arbeitsplatzstruktur ab und von den gängigen Praktiken, Arbeitsanforderungen an das Leistungsvermögen einzelner Beschäftigter anzupassen. Während der untersuchte Industriebetrieb über eine ganze Infrastruktur von so genannten Schonarbeitsplätzen mit „einfacheren“ Anforderungen verfügt, gibt es in den Versicherungsunternehmen weniger Möglichkeiten dafür. Eine dauerhafte Anpassung von Anforderungen und Arbeitsaufgaben ist jedoch in keinem der drei Unternehmen gängig und wird durch die Formate der Arbeitsorganisation erschwert, wie zum Beispiel durch Produktionsabläufe, die von Maschinen vorgegeben sind, oder standardisierte Leistungsvorgaben, an denen das Management festhält.

Die Koordinationslogik der betrieblichen Reintegration erkrankter Beschäftigter ist in den untersuchten Unternehmen im BGM verankert, zu dessen Auftrag die Förderung der Rehabilitation und die Koordination des betrieblichen Wiedereinstiegs gehört. Voraussetzung dafür ist, dass die eingeschränkte Leistung der Betroffenen als unverschuldet wahrgenommen wird. Für die Einordnung eines eingeschränkten Arbeitsvermögens als Krankheit gibt es ein gesetzliches Format: ein ärztliches Attest schafft die rechtliche Grundlage dafür, die eingeschränkte Leistungsfähigkeit auf eine Krankheit zurückzuführen. Für die betrieblichen Akteurinnen ist ein ärztliches Zeugnis allein jedoch nicht immer ausschlaggebend dafür, eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit als krankheitsbedingt und unverschuldet anzusehen. Für ihre Interpretation spielen eine Reihe anderer Kategorien eine Rolle.

Zu nennen ist zum einen die juristische Kategorie einer „arbeitsplatzbezogenen“ Arbeitsunfähigkeit (Pärli et al. 2015), also die Idee, dass die Beschäftigten nur an ihrem Arbeitsplatz arbeitsunfähig sind. Dies ist zwar im Arztzeugnis nicht so festgehalten. Die Idee einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsfähigkeit ist den betrieblichen Akteuren als Deutungsmuster jedoch geläufig und vermag die Interpretation zu stärken, dass insbesondere psychische Erkrankungen im Kontext eines Konflikts ein Vorwand sein können, sich der Arbeit zu entziehen. Zum anderen hat sich im Datenmaterial gezeigt, dass die Figur der „schwierigen Mitarbeiter“, also der Beschäftigten, die an unentdeckten psychischen Problemen leiden, wie sie im sozialpolitischen Diskurs in der Schweiz im letzten Jahrzehnt diskutiert wurde, auch von betrieblichen Akteurinnen als Interpretationsfolie herangezogen wird. Dies kann dazu führen, dass Leistungsprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten auch dann mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht werden, wenn kein ärztliches Attest vorliegt. In den beiden Versicherungsunternehmen gab es mehrere Beschäftigte, die ohne ärztliche Krankschreibung ans BGM verwiesen wurden. In einem Versicherungsunternehmen muss zudem bei disziplinarischen Vorwürfen oder Leistungsproblemen standardmäßig geprüft werden, ob nicht eine unentdeckte Krankheit im Hintergrund stehen könnte.

Die Definition einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit als krankheitsbedingt bzw. unverschuldet erfolgt somit in den untersuchten Unternehmen zu einem gewissen Grad unabhängig von ärztlichen Krankheitsdefinitionen. Für den Zugang zur betrieblichen Krankenrolle sind also nicht Ärztinnen, wie in der ursprünglichen Konzeption nach Parsons (1952, S. 436 f.), die direkten legitimierenden Agentinnen. Vielmehr wird der Zugang zu dieser Rolle in den Betrieben ausgehandelt. Die Zuordnung zur Kategorie Krankheit oder Disziplinarfall ist, wie auch interviewte BGM-Verantwortliche einräumen, teilweise willkürlich und hängt von der subjektiven Wahrnehmung der Vorgesetzten ab, die die Betroffenen dem BGM oder der Personalabteilung melden. Wenn aus ihrer Sicht die Deutung des Problems als Konflikt oder Pflichtverletzung dominiert, ist es für die involvierten BGM- oder Personalverantwortlichen schwierig, in der Bearbeitung des Falls das Thema Krankheit in den Vordergrund zu stellen. Liegt eine länger andauernde ärztliche Krankschreibung vor, vermag dies der Einordnung als Krankheit zwar Gewicht zu verleihen. Wenn sich aber der Eindruck verfestigt, der betroffene Beschäftigte kooperiere nicht richtig, kann es sein, dass andere Personalmaßnahmen in Betracht gezogen werden, sobald die Krankschreibung aufgehoben ist, wie z. B. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder die Durchführung eines Disziplinarverfahrens. Gerade Vorgesetzte tragen nach Ian Cunningham et al. (2004, S. 285) im Umgang mit erkrankten Beschäftigten oftmals mehrere Hüte, indem sie einerseits den Kranken Unterstützung anbieten, andererseits die Anwendung disziplinarischer Verfahren ins Auge fassen.

Mit der Umkategorisierung des Problems von der Krankheit zur selbstverschuldeten Form der Devianz wechseln die betrieblichen Akteurinnen zu einer Koordinationslogik der Sanktionierung oder erwägen eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die Koordinationslogik der Sanktionierung ist institutionell im Format des Disziplinarverfahrens verankert. Das Disziplinarverfahren wird durch das Personalmanagement festgelegt und umgesetzt. Es beruht darauf, Leistungs- und Verhaltensauflagen, sowie Konsequenzen im Falle ihrer Nichterfüllung schriftlich festzulegen und von den betroffenen Beschäftigten unterschreiben zu lassen. Falls es in letzter Konsequenz zu einer Entlassung kommt, trägt das Verfahren zur Herstellung „legitimer“ Personalentscheidungen bei, indem es sich als institutionalisierte Prüfung mit klar definiertem Gegenstand und transparenten Bewertungskriterien präsentiert (Bourguignon und Chiapello 2005, S. 669). Eine Eigenheit institutionalisierter Prüfungen liegt nach Annick Bourguignon und Eve Chiapello darin, dass sie dem sozialen System, das sie instituiert, Legitimität verleihen. In Bezug auf das Disziplinarverfahren lässt sich argumentieren, dass es insbesondere ein Format zur Gewährleistung legitim scheinender Entlassungen darstellt. Diese Art der Legitimität beruht nicht darauf, dass tatsächlich bestimmte moralische Werte berücksichtigt wurden. Sie liegt vielmehr darin, dass ein geregeltes Verfahren stattgefunden hat und den Beschäftigten die Chance gegeben wurde, sich an transparent kommunizierten Anforderungen zu orientieren.

Das BGM ist jedoch, wie in Abschn. 9.2 argumentiert wurde, nicht nur durch die Koordinationslogik der Reintegration kranker Beschäftigter geprägt, sondern stellt selbst schon eine Kompromissform dar, die verschiedene Koordinationslogiken miteinander verwebt (Suckert 2015, S. 203), also auch finanzielle Aspekte von Krankheitsabwesenheiten und Wiedereingliederungsmaßnahmen, sowie deren Konsequenzen für eine effiziente Planung der Produktion berücksichtigt (Gonon 2022). Wie in Abschn. 9.1 ausgeführt wurde, kommt BGM-Verantwortlichen zuweilen auch die Aufgabe zu, Mitarbeitende im Sinne eines „Cooling-outs“ mit der Perspektive ihrer Entlassung zu versöhnen und dadurch zur Umsetzung gesichtswahrender Formen der Kündigung beizutragen. Zudem kann ihre Rolle darin bestehen, Wut- und Widerstandsreaktionen nach Reorganisationen aufzufangen oder Mitarbeitende durch das Setzen von Leistungszielen wieder an das Erfüllen der Leistungsvorgaben heranzuführen.

Die Berücksichtigung und Priorisierung von gesundheitlichen Problemen erfolgt damit in den untersuchten Unternehmen selektiv und zeitlich begrenzt. Die Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen berücksichtigen Krankheit in dem Ausmaß, wie die Betroffenen sich ihnen gegenüber kooperativ verhalten und nicht in einem offensichtlichen Konflikt mit ihnen oder dem Management stehen. Über die Hervorbringung „sozialer“ Qualitäten des Personalmanagements leisten sowohl das BGM als auch das Disziplinarverfahren einen Beitrag zur Selbstlegitimation des Unternehmens, indem sie es gegenüber der Kritik, auf Erkrankungen von Beschäftigten keine Rücksicht zu nehmen, oder dem Vorwurf, dass bei Leistungsproblemen oder Konflikten leichtfertig gekündigt werde, weniger angreifbar machen.

Die konventionentheoretische Perspektive erlaubt es, die betriebliche Arbeitsintegration als eingebettet in betriebswirtschaftliche Rationalitäten und Institutionen zu analysieren. Daran wird deutlich, dass Initiativen der betrieblichen Gesundheitsförderung und Arbeitsintegration, wie sie am Beispiel des in der Schweiz verbreiteten Modells des BGM analysiert wurden, durch vielfältige Koordinationslogiken geprägt sind. Betriebliche Gesundheitspolitik ist insofern nicht als „entkoppelt“ von Leistungspolitik zu beschreiben (Kratzer und Dunkel 2011), sondern spielt ihrerseits eine Rolle für die Formatierung der „produktiven“ Kapazitäten der Belegschaft (Dodier 2017, S. 122). Umgekehrt beruht die betriebliche Gesundheitspolitik aber nicht auf reinen Kosten-Nutzen-Kalkülen, wie es von der kritischen Forschung zur Gesundheitsförderung zum Teil nahegelegt wird (Foster 2017; Dale und Burell 2014; Maravelias 2016). So trägt das BGM in den untersuchten Unternehmen dazu bei, eine Koordinationslogik der Reintegration zu verankern, indem gesundheitliche Probleme von Beschäftigten systematisch berücksichtigt werden. Diese Koordinationslogik kommt, wie argumentiert wurde, jedoch nur zeitlich begrenzt und selektiv zum Zuge, indem sie vom kooperativen Verhalten der Betroffenen abhängig gemacht wird. Gleichzeitig spielen Kosten-Nutzen-Abwägungen und die Planung produktiver Kapazitäten auch im BGM durchaus eine Rolle.

Eine Stärke des theoretischen Rahmens der EC liegt darin zu zeigen, dass Arbeitsintegration aus betrieblicher Perspektive nicht lediglich ein Organisationsproblem darstellt, das sich durch eine verbesserte Koordination von Abläufen beheben ließe. Die Arbeitsplätze von gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten zu erhalten, ist in anderen Worten kein absolutes Ziel des BGM, sondern eines, das es im Rahmen eines Kompromisses mit anderen Zielen zu vereinbaren gilt.