Mit der Ausweitung des sozialpolitischen Paradigmas der „Aktvierung“ auf die Behindertenpolitik sind auch Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen vermehrt dazu aufgefordert, ihren Lebensunterhalt durch die Partizipation am Arbeitsmarkt unabhängig von finanziellen sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen zu bestreiten. Zumindest hypothetisch wird damit den Unternehmen eine stärkere Verantwortung zugewiesen, die Arbeitsorganisation, Arbeitsplätze und -bedingungen so zu gestalten, dass Arbeitsstellen auch für Menschen mit psychisch bedingten Beeinträchtigungen der Gesundheit zugänglich sind. Verbindliche Auflagen für Unternehmen sind in dieser Hinsicht jedoch schwach bzw. in der Schweiz fast inexistent.

Unternehmen spielen für die Arbeitsmarktinklusion bzw. -exklusion gesundheitlich eingeschränkter Menschen eine zentrale Rolle: sie regulieren den Zugang zu Beschäftigung und bestimmen über Arbeitsabläufe, Arbeitsinhalte und geben in der Regel Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen vor. Nach einer kurzen Diskussion des sozialpolitischen Hintergrunds (Abschn. 2.1) präsentiere ich in Abschn. 2.2 Thesen und Forschungsbefunde aus den Disability Studies und der Arbeitssoziologie, die sich mit dem Zusammenhang von Arbeitsorganisation und dem Potential zur Inklusion gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte befassen. Damit soll die grundlegende Perspektive verdeutlicht werden, an die die vorliegende Studie anschließt: die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der betrieblichen Arbeitsintegration sollen im Kontext der sozialen Praktiken und Formen der Organisation und Bewertung von Arbeit in Unternehmen analysiert werden.

Im Anschluss gehe ich konkreter auf den Forschungsstand zur betrieblichen Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter ein (Abschn. 2.3) und leite daraus das Erkenntnisinteresse der Studie her (Abschn. 2.4). Ich beziehe mich in der Darstellung auf internationale Forschungsliteratur und gehe punktuell auf die nationalstaatlichen Besonderheiten der Schweiz ein, auf der der Fokus der Studie liegt.

1 Sozialpolitischer Hintergrund

Arbeit ist mit Robert Castel (2011, S. 37) gesprochen das „Epizentrum der sozialen Frage“. Ein „festes Arbeitsverhältnis in Form einer Anstellung“ bildet „die Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Integration“. Die Unfähigkeit, durch Arbeit für die eigene Existenzsicherung aufzukommen, ist nach Castel (2008, S. 27) das grundlegende Kriterium, über das ein Anspruch auf Sozialfürsorge historisch begründet wurde. Als die besten „Passierscheine“, um „in den Genuss von Fürsorge zu kommen“, galten stets „möglichst sichtbare“ und „für den Blick möglichst unerträgliche Gebrechen“ (ebd., S. 45; vgl. Nadai et al. 2015, S. 36). Wo die Grenze zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit verläuft, ist indes wandelbar und unterliegt Prozessen der sozialen Konstruktion (Seing et al. 2012; Probst et al. 2015; Koch 2016). Zudem wandeln sich die Definitionen von Fürsorge. War die sozialstaatliche Unterstützung gesundheitlich eingeschränkter Personen in Form von finanziellen Transferleistungen lange unbestritten, wurde sie ab den 1990er Jahren zunehmend in Frage gestellt.

Karl Polanyi (1978[1944]) analysierte die mit der Industrialisierung erfolgte Herauslösung der Arbeit aus der Lebenswelt des Haushalts als eine Aufhebung der gesellschaftlichen Einbettung der Wirtschaft. Durch sie wurde Arbeit den Gesetzen des Marktes unterworfen und zur „fiktiven Ware“. Dies setzte Arbeitskräfte einer persönlich nicht zu bewältigenden Unsicherheit aus. Vor diesem Hintergrund interpretierte Polanyi die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats als „Selbstschutzbewegung“ der Gesellschaft (Deutschmann 2007, S. 85). Indem der Sozialstaat eine soziale Absicherung von Risiken wie Alter, Unfall, Krankheit oder Erwerbslosigkeit bietet, bewerkstelligt er im politisch kontrollierten Rahmen eine Dekommodifizierung der Arbeit (Esping-Andersen 1990; Offe 1984)Footnote 1.

Jacques Donzelot (1994[1984)] prägte in diesem Zusammenhang die Idee der „Erfindung des Sozialen“, das durch den Sozialstaat repräsentiert wird. Das Soziale ist als eine „symbolische und materiale Konstruktion einer öffentlich-rechtlichen Verantwortlichkeit ‚der Gesellschaft‘ für ihre Mitglieder“ zu verstehen (Lessenich 2008, S. 16). Damit ging nach Stephan Lessenich eine fundamentale Umgestaltung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen und der gesellschaftlichen Allgemeinheit einher. Hatte sich das „Soziale“ bis im 19. Jahrhundert als „Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten“ ausgestaltet, das in den nicht-staatlichen Unterstützungsleistungen der christlichen Philanthropie und des unternehmerischen Paternalismus zum Tragen kam (Castel 2011, S. 158), wurde es neu als Verhältnis zwischen der staatlich repräsentierten Gesamtheit und den einzelnen Bürgerinnen aufgefasst. Während Ersteres als freiwillige Fürsorgeleistung in Erscheinung trat, basierte Letzteres auf dem Prinzip der kollektiven sozialen Absicherung. Die Unsicherheit der Einzelexistenz wurde damit als überindividuell auftretendes, kollektiv zu bewältigendes Risiko aufgefasst.

Mit der als „aktivierungspolitische Wende“ (Streckeisen 2012) analysierten, tiefgreifenden sozialpolitischen Transformation zeichnet sich nach Lessenich (2008) wiederum eine „Neuerfindung“ des Sozialen ab: Dieser liegt die Sichtweise zugrunde, dass bedingungslose sozialstaatliche Unterstützungsleistungen die Handlungsmöglichkeiten der Empfängerinnen nicht erweitern, sondern sie, im Gegenteil, in Passivität und Abhängigkeit führen. Demgegenüber zielt die aktivierende Sozialpolitik nach dem Motto des „Förderns und Forderns“ auf eine Stärkung der individuellen Initiative und Eigenverantwortung.Footnote 2 Mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung (Marquardsen 2007) ging die Fokussierung auf eine umfassendere Integration der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt einher: anstatt der abhängig machenden Sozialtransfers sollten Empfänger sozialstaatlicher Leistungen dazu ermächtigt werden, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit so weit wie möglich eigenständig zu bestreiten. Aktivierung bedeutet damit eine „Neujustierung von privaten und öffentlichen Bürgerrechten und -pflichten“, sowie die „Reformulierung gesellschaftlicher Leistungs- und Produktivitätserwartungen“ (Lessenich 2008, S. 17).

Konkret zeigte sich die aktivierungspolitische Wende in der schweizerischen Behindertenpolitik in den Revisionen der Invalidenversicherung (IV). Hatte die berufliche Eingliederung in der IV seit ihrer Einführung Priorität (Canonica 2020; Germann 2008), wurde der Fokus auf die Arbeitsintegration ab 2004 durch die Einführung neuer Eingliederungsmaßnahmen und eine vermehrte Kooperation der IV mit Arbeitgeberinnen weiter verstärkt (Nadai 2017; Gonon und Rotzetter 2017). Gleichzeitig bezweckten die Revisionen eine Reduktion der Zahl der Rentenbezügerinnen. Erklärtes Ziel der 5. Revision des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) von 2008 war es, die Anzahl Neurentner um 30 % zu reduzieren (Ferreira et al. 2008, S. 169). Eingeführt wurde außerdem die sanktionierbare Verpflichtung für Versicherte, an Eingliederungs- und Beschäftigungsmaßnahmen teilzunehmen. Zudem wurden finanzielle Leistungen abgeschafft, so z. B. Zusatzrenten und die Anpassung der Renten an eine hypothetische Einkommenserhöhung im Erwerbsverlauf. Darüber hinaus wurde die Mindestbeitragszeit für einen Rentenanspruch auf drei Jahre erhöht (Nadai et al. 2015, S. 37). Das Wegfallen von Transferzahlungen führt für Personen, deren Gesundheitszustand keine ausreichende Erwerbstätigkeit zulässt, zu Prekarität und verstärkt soziale Ungleichheiten (Manske 2005). Die Revisionen führten zudem zu einer Delegitimierung des Anspruchs auf finanzielle sozialstaatliche Unterstützungsleistungen und verstärken damit das Risiko des Nicht-Bezugs von Sozialleistungen (Rosenstein 2021).

Mit der aktivierenden Sozialpolitik sind also auch gesundheitlich eingeschränkte Personen aufgefordert, sich verstärkt am Arbeitsmarkt auszurichten und die Verantwortung für ihre Existenzsicherung zu übernehmen. Das „Soziale“ nimmt hier nach Lessenich (2008) die Form eigenverantwortlichen Handelns durch die aktive Teilnahme am Erwerbsleben an. Diese Neuinterpretation sozialstaatlicher Unterstützung wird als Entwicklung der Rekommodifizierung der Arbeit analysiert, weil durch sie der Zwang zur Verwertung der Arbeitskraft verallgemeinert wird (Bothfeld et al. 2005; Bonvin 2017). Eine vermehrte Integration gesundheitlich eingeschränkter Personen in den Arbeitsmarkt ist aber nur dann zu erreichen, wenn es Unternehmen gibt, die ihnen eine Arbeitsstelle anbieten und ihnen ermöglichen, trotz gesundheitlicher Einschränkungen einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen (Breedgard 2017). Neben der individuellen Eigenverantwortung wäre also auch ein verstärktes Engagement von Unternehmen zur Arbeitsintegration „vulnerabler Gruppen“ des Arbeitsmarktes gefordert (van Berkel et al. 2017). Die sozialpolitischen Empfehlungen der OECD identifizieren Arbeitsplätze denn auch als „key target for mental health policy“:

Essential factors include good working conditions which avoid job strain; sound management practices so as to minimise productivity losses; systematic monitoring of sick-leave behaviour; and help to employers to reduce workplace conflicts and avoid unnecessary dismissal caused by mental health problems. (OECD 2012, S. 15)

Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und Praktiken des Personalmanagements geraten damit als sozialpolitische Interventionsfelder in den Vordergrund. Ihnen wird Bedeutung für den Erhalt von Arbeitsfähigkeit und die Verhinderung von gesundheitlich bedingter Erwerbslosigkeit zugeschrieben. Damit rücken Arbeitgeber als Wohlfahrtsproduzenten in einer mixed economy of welfare in den Fokus. Wie Jeannette Brejning (2012, S. 2) festhält, bleibt es jedoch primär bei einer rhetorischen Verantwortungszuweisung an Unternehmen, ohne dass diese mit konkreten gesetzlichen Auflagen verbunden wurde.

Einige OECD-Länder haben zwar gesetzliche Quoten zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen oder Gesetze der Antidiskriminierung eingeführt, in denen das Recht auf einen an die gesundheitlichen Einschränkungen angepassten Arbeitsplatz festgehalten ist. Deren Wirksamkeit ist allerdings umstritten (OECD 2009, S. 25; Kuznetsova und Yalcin 2017). Zudem haben einige Staaten, wie z. B. Deutschland, gesetzliche Vorgaben zur Wiedereingliederung von gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten eingeführt (Voswinkel 2017c). Die Schweiz kennt hingegen keinerlei gesetzlichen Verpflichtungen für Arbeitgeber zur Beschäftigung und Wiedereingliederung von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften. Stattdessen gilt das Prinzip der „Freiwilligkeit“ (Canonica 2017) und die Annahme, dass die Arbeitsintegration ohne gesetzliche Auflagen effizienter gelingen könne. Die von Lessenich als „Neuerfindung des Sozialen“ charakterisierte Verschiebung der Verantwortung für die Wohlfahrtsproduktion betrifft also – insbesondere in der Schweiz – vorwiegend die Individuen, die sich um ihre Integration in den Arbeitsmarkt bemühen sollen, aber weniger die Wirtschaft. Die Verantwortungszuweisung ist insofern als „asymmetrisch“ zu beschreiben (Nadai 2017).

Fehlen gesetzliche Vorgaben wie in der Schweiz, sind die Praktiken der Beschäftigung und Wiedereingliederung von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften weitgehend durch die Willkür der Arbeitgeberinnen bestimmt. Zu fragen ist also, ob und in welcher Form sich diese eine Rolle in der Arbeitsintegration gesundheitlich eingeschränkter Menschen zuschreiben. Während Backhaus-Maul et al. (2019, S. 206) den „Rückzug des Wohlfahrtsstaats“ durch einen Ausbau von betrieblichen Sozialleistungen begleitet sehen, sind andere Einschätzungen diesbezüglich skeptischer und stellen fest, dass es bisher eher schwierig war, Arbeitgeber in die aktivierende Arbeitsmarktpolitik einzubinden (Sissons und Green 2017) und dass sie nur zaghaft Verantwortung für die Reintegration gesundheitlich eingeschränkter Beschäftigter übernehmen (Seing et al. 2014).

2 Arbeitsintegration als Frage der Arbeitswelt – die Perspektive der Studie

Ob die Integration gesundheitlich eingeschränkter Menschen in den Arbeitsmarkt gelingt, lässt sich durch den Sozialstaat nur indirekt beeinflussen. Dieser vermag durch Verpflichtungen, Anreize und Investitionen in arbeitsmarktrelevante Fähigkeiten auf die Seite des Arbeitsangebots, also die Arbeitskräfte, Einfluss zu nehmen. Auf Seite der Arbeitsnachfrage, also den Bedarf nach Arbeitskräften der Unternehmen, und die Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen hat der Sozialstaat jedoch keinen direkten Einfluss. Vielmehr spielen Arbeitgeber und Betriebe hier eine zentrale Rolle: Sie entscheiden über die (Nicht-)Beschäftigung von gesundheitlich eingeschränkten Menschen, organisieren Arbeitsabläufe und definieren Leistungserwartungen. Arbeitsintegration ist somit primär eine Frage der Arbeitswelt.

Auf die Frage, wie die Möglichkeiten zur Teilnahme am Erwerbsleben mit den Bedingungen der Wirtschaft und Arbeitsorganisation zusammenhängen, finden sich in der Arbeitssoziologie und vor allem in den Disability Studies Antworten und analytische Perspektiven. Demnach hängen die Spielräume zur Beschäftigung von gesundheitlich eingeschränkten Menschen wesentlich davon ab, wie die Erwerbsarbeit und wirtschaftliche Produktion gesellschaftlich und betrieblich organisiert sind. Im Folgenden stelle ich einschlägige Thesen und Analysen dazu vor, mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und betrieblicher ArbeitsorganisationFootnote 3 und den Möglichkeiten der Arbeitsintegration zu verdeutlichen.

Nach der Sichtweise der Disability Studies werden „Behinderungen“ durch sich historisch wandelnde gesellschaftliche Teilhabebarrieren, kulturelle Praktiken und Diskurse hervorgebracht (Oliver 1990; Thomas 2007; Goodley 2018; Furner 2020).

Historically then, disability can be understood as changing social experience arising from the specific ways in which society organizes its fundamental activities like work, transport, leisure, education and domestic life as they relate to the impaired individual. (Abberley 2002, S. 136)

Weil der Erwerbsarbeit hinsichtlich Existenzsicherung, gesellschaftlicher Integration und Teilhabe, wie auch Identitätsstiftung in der modernen Gesellschaft eine so zentrale Rolle zukommt, ist die gesellschaftliche Exklusion von Menschen mit Behinderungen nach Paul Abberley (ebenda) eng mit der Arbeitswelt verknüpft. Als zentraler Bereich gesellschaftlicher Aktivitäten trägt die Organisation des Arbeitslebens zur Hervorbringung von Inklusionsbarrieren und zur Konstitution der sozialen Erfahrung erschwerter Teilhabe bei. Mit dem Fokus auf strukturelle Teilhabebarrieren und Praktiken, die Exklusionserfahrungen prägen, leisten die die Disability Studies – über die Theoretisierung von Behinderung hinaus – einen analytischen Beitrag zur Bedeutung der Arbeitsorganisation für die (begrenzten) Möglichkeiten marginalisierter Gruppen, am Erwerbsleben teilzuhaben. Die Arbeitswelt in ihren historischen und soziologisch typisierbaren Ausformungen spielt nach diesen Überlegungen eine zentrale Rolle für das Potenzial zur gesellschaftlichen Inklusion gesundheitlich eingeschränkter Menschen.

Im Folgenden fasse ich sozialwissenschaftliche Thesen und Erkenntnisse zusammen, die sich auf die Frage beziehen, welche Eigenschaften und Merkmale der Arbeitswelt Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen die Teilhabe an den Aktivitäten der wirtschaftlichen Produktion erschweren bzw. vereinfachen.

Die im Folgenden dargestellte Literatur bezieht sich vorwiegend auf Menschen mit Behinderungen, versteht Behinderung aber nicht als objektive Gegebenheit, sondern als eine soziale „Differenzierungskategorie“ (Waldschmidt 2006, S. 40). Dabei handelt es sich um eine Kategorie der Andersartigkeit, die gesellschaftlich hervorgebracht und zugeschrieben wird, und mit der Konsequenzen bezüglich der sozialen Positionierung der Betroffenen verbunden sind. Da dieses Verständnis nahe an dem in dieser Arbeit vertretenen Verständnis psychisch bedingter gesundheitlicher Einschränkungen liegt, die das Leben der Betroffenen ähnlich wie Behinderungen ebenfalls über einen längeren Zeitraum beeinflussen können, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die in dieser Literatur festgestellten Zusammenhänge auf die Situation psychisch Erkrankter übertragbar sind.Footnote 4

2.1 Industrialisierung, Standardisierung und das „social model of disability“

Als entscheidender Faktor, der zur Exklusion von Menschen mit Behinderungen aus der Erwerbsarbeit führt, wird in der Literatur die Standardisierung von Arbeitsrollen und Produktivitätserwartungen betrachtet. Diese gilt als ein Resultat des historischen Prozesses der Industrialisierung. Zur Standardisierung trug überdies die Gestaltung der Arbeitsorganisation nach wissenschaftlichen Methoden der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung bei, wie z. B. Frederick W. Taylors Prinzipien des wissenschaftlichen Managements. Standardisierung und die darin implizit enthaltene Vorstellung einer normierten „Standardarbeitskraft“ waren und sind nach Deborah Foster und Victoria Wass (2013) ausschlaggebend für die erschwerte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. Foster und Wass argumentieren, dass durch die Standardisierung von Stellenprofilen spezifische körperliche, psychische und mentale Eigenschaften von Arbeitskräften zur impliziten Norm erhoben werden. Diese implizite Norm benachteiligt alle Arbeitnehmenden, die ihr, z. B. aus gesundheitlichen Gründen, nicht entsprechen.

It is the abstract measurements of efficiency and productivity, of job design and ‘ideal’ worker behaviour that make up part of established organisational logic and management ideology which excludes people with impairments. (Foster und Wass 2013, S. 710)

Eine ähnliche These wurde von Vertretern der materialistischen Variante des social model of disability vorgebracht. Das social model beruht auf der konzeptionellen Unterscheidung einer körperlichen, psychischen, kognitiven oder sensorischen funktionalen Beeinträchtigung (impairment) und der Behinderung (disability) als dem entwertenden, einschränkenden oder unterdrückenden gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit einer solchen Beeinträchtigung. Behinderung wird demzufolge nicht als individuelle „Tragödie“ angesehen, sondern als Folge gesellschaftlicher Handlungen und Institutionen (Flynn 2017). Die materialistische Variante des social model betont die Rolle der kapitalistischen Wirtschafts- und Arbeitsorganisation für die Exklusion von Menschen mit Behinderungen (Oliver 1990). Diese These beruht auf der Gegenüberstellung einer idealtypischen vorkapitalistischen und vorindustriellen Produktionsweise und den idealtypischen industriellen und kapitalistischen Arbeitsformen.

In der vorindustriellen landwirtschaftlichen Produktion konnten Menschen mit Behinderungen nach Michael Oliver (1990, S. 27 f.) zwar nicht immer voll am Produktionsprozess teilnehmen, doch gab es für sie dank der langsamen, flexiblen Arbeitsrhythmen und selbstbestimmten Arbeitsmethoden durchaus Möglichkeiten, nach ihren individuellen Fähigkeiten einen Beitrag zur wirtschaftlichen Produktion zu leisten. Durch die Einbettung der Arbeit in den privaten Haushalt und das Alltagsleben konnten auch Menschen mit Behinderungen landwirtschaftliche Arbeitsabläufe oder handwerkliche Techniken erlernen. Mit der Industrialisierung und der gleichzeitig erfolgenden Trennung von Erwerbsarbeit und Haushalt fielen nicht nur diese Lernmöglichkeiten weg, auch wurde die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen durch die Produktionsnormen der Industriearbeit erschwert, die Geschwindigkeit, Disziplin und die Einhaltung eines Arbeitstaktes erforderten. Zudem trug der Übergang zur Lohnarbeit zur Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen bei. Dieses Argument wird von B. J. Gleeson (1996, S. 392) vertreten: ihm zufolge führte die Kommodifizierung der Arbeit eine „soziale Bewertung“ ein, die bis dato nicht existiert hatte. Arbeit wurde einem Gesetz des (Geld-)Werts (law of value) unterworfen und die Wertigkeit (worth) individueller Arbeit wurde an durchschnittlichen Produktivitätsstandards bemessen. Dies führte zu einer Abwertung der Fähigkeiten von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zur „Erosion“ ihrer Arbeitskraft:

From the beginning, this competitive, social evaluation of individual labour-power meant that ‘slower’, ‘weaker’ or more inflexible workers were devalued in terms of their potential for paid work. (Gleeson 1996, S. 392)

Gleeson betont neben der Kommodifizierung auch die Rolle der Standardisierung von Produktivitätsnormen bezüglich Arbeitsgeschwindigkeit, Kraft und Verfügbarkeit. Diese Normierung erhielt Aufschwung durch die Mechanisierung der Produktion. Annahmen über die Standardarbeitskraft waren nun in der materiellen Infrastruktur z. B. der Gestaltung industrieller Anlagen oder Maschinen verankert: “The rise of mechanized forms of production introduced productivity standards which assumed a ‘normal’ (i.e. usually male and non-impaired) worker’s body and disabled all others.” (ebenda).

Die materialistische Version des social model of disability wurde innerhalb der Disability Studies stark kritisiert und gilt in ihrer einseitigen Fokussierung auf materielle und ökonomische Teilhabebarrieren als überholt. Unzulässig ist zudem, wie James Furner (2020, S. 1543) argumentiert, die Gleichsetzung der Normen kapitalistischer Lohnarbeit mit der Auferlegung der Normen körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit (abled-bodied/-minded norms). Auch historische Arbeiten veranlassen zu einer Relativierung der These, dass Behinderung als solche als ein Produkt der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation zu verstehen sei. Dem Übergang von vorindustriellen zu industrialisierten Produktionsformen messen historische Untersuchungen aber dennoch Bedeutung für die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen an der wirtschaftlichen Produktion zu.

Ein wichtiger Unterschied vorindustrieller und industrieller Lebens- und Arbeitsformen wird in den Zeitstrukturen verortet. Das Mittelalter war geprägt durch eine flexible Zeit, die die Strukturierung des Arbeitsalltags nach individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten erlaubte (Metzler 2013, S. 71 f.). Die wirtschaftliche Produktion war nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich eng mit dem Alltagsleben im Haushalt verwoben. Die Arbeitsrhythmen waren langsam, flexibel und viele Pausen waren üblich. Grundlegend für die Arbeitsorganisation war weniger eine Zeitorientierung (Anzahl geleisteter Arbeitsstunden) als eine Aufgabenorientierung (Abschließen bestimmter Aufgaben) (ebd., S. 75). Dies ermöglichte es auch langsamer arbeitenden Menschen, sich an der wirtschaftlichen Produktion zu beteiligen. Wie E. P. Thompson (1967) argumentiert, nahm mit der Industrialisierung die standardisierte Zeitmessung durch die Uhr Überhand im gesellschaftlichen Leben, was zur Durchsetzung der industriellen Arbeitsdisziplin und durchgetakteter Arbeitsrhythmen beitrug. Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen und mentalen Konstitution langsamer arbeiteten oder auf eine autonomere Gestaltung des Arbeitsrhythmus angewiesen waren, wurde die Teilnahme an der wirtschaftlichen Produktion somit erschwert. Nach Irina Metzler (2013, S. 73) gab es allerdings auch schon im späten Mittelalter Formen der protokapitalistischen Produktion, z. B. Handwerkszünfte, die bezüglich Standardisierung an die tayloristische Arbeitsorganisation erinnern. Die Möglichkeit für gesundheitlich eingeschränkte Arbeitskräfte, sich daran zu beteiligen, hing nach Metzler mit den Formen der Entlohnung zusammen. Wo sich diese an der Menge des Produzierten ausrichtete, standen die Chancen für gesundheitlich eingeschränkte Arbeitskräfte besser, als wenn die Bezahlung pro geleistete Arbeitsstunde erfolgte.

Neben dem Faktor der Zeitstrukturen und Arbeitsrhythmen wird in der Literatur die Art der Arbeitsanforderungen als Bedingung für die In- bzw. Exklusion von Arbeitskräften mit gesundheitlichen Einschränkungen thematisiert. Walter Fandrey (1990, S. 11 f.) zufolge waren in den mittelalterlichen Produktionsformen physische Kraft und Ausdauer wichtig, etwa in der Verrichtung landwirtschaftlicher Schwerarbeit. Ein Mangel an feinmotorischen Fähigkeiten oder Sehschärfe ließ sich durch „festes Zupacken“ kompensieren. Dies führte dazu, dass körperliche Einschränkungen schneller auffielen als geistige oder psychische Beeinträchtigungen. Ebenso spielte Abstraktionsfähigkeit keine große Rolle. Mit der Industrialisierung änderten sich die typischen Arbeitsanforderungen. So stiegen etwa die Ansprüche an die Sehschärfe durch die Technisierung der Arbeit. Nach dieser Argumentation führte die Industrialisierung also nicht zwingend zu einer Verringerung des Inklusionspotenzials der Arbeitswelt, sondern zu einer Veränderung des Typs gesundheitlicher Einschränkungen, die sich im Produktionsprozess als Hindernisse erweisen.

Daniel Blackie (2018) stellt die Dichotomisierung einer vorindustriellen und industrialisierten Arbeitswelt insgesamt in Frage. Ihm zufolge brachte die Industrialisierung bezüglich der Erwerbsmöglichkeiten von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen nicht den behaupteten radikalen Umbruch. Vielmehr verweist er auf Evidenz für deren weiterhin bestehende massenhafte Beteiligung an der wirtschaftlichen Produktion. So übernahmen Menschen mit körperlichen Behinderungen in der industriellen Produktion tendenziell die weniger anstrengenden Arbeiten, in denen sie den Produktivitätsstandards trotz ihrer Einschränkungen genügen konnten. Auch in der industrialisierten Arbeitswelt gab es zudem Tätigkeiten, die nicht nach geleisteten Arbeitsstunden, sondern nach Ertrag entlohnt wurden. Diese erleichterte die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten und -rhythmen, was den Bedürfnissen von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften entgegenkam (ebd., S. 187). Als Beispiel nennt Blackie die Arbeit in Kohleminen. Allerdings verdienten langsamer arbeitende Personen, die nach Ertrag bezahlt wurden, weniger. Generell waren Arbeitskräfte mit Behinderungen in den weniger gut bezahlten Tätigkeiten beschäftigt. Zudem waren sie aufgrund ihrer Einschränkungen oft einem noch größeren Unfallrisiko ausgesetzt als die nicht-behinderten Arbeitskräfte.

Blackie relativiert außerdem die Folgen, die von der Trennung von Erwerbsarbeit und Haushalt ausgingen. Wiederum am Beispiel der Kohleminen belegt er, dass gesundheitlich eingeschränkte Arbeitnehmende oftmals auf die Unterstützung von Familienmitgliedern oder Verwandten zählen konnten, die ebenfalls in den Minen beschäftigt waren. Ähnliche familiäre Unterstützungsnetzwerke sind auch für die Arbeit in Fabriken belegt (ebd., S. 190). Darüber hinaus argumentiert er, dass die standardisierten Rollen und Abläufe in der Fabrikarbeit nicht zwangsläufig zum Ausschluss von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften führten, sondern umgekehrt, dank des hohen Grads der Arbeitsteilung, zusätzliche Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen entstanden:

Rather than excluding workers with impairments, the division of labor and use of machinery in factories created lots of opportunities for light work that potentially facilitated the inclusion of disabled people in the industrial workforce. (Blackie 2018, S. 190)

Nach dieser Analyse wirkt sich also eine Standardisierung von Arbeitsrollen und Produktivitätsvorgaben nicht negativ auf das Inklusionspotenzial aus, wenn gleichzeitig ein hoher Grad an Arbeitsteilung besteht. Analog argumentierte Henry Ford (2007[1922]) in seiner Autobiografie. Angesichts der in einer hochgradig arbeitsteiligen Produktionsweise sich bietenden unterschiedlichen Tätigkeitsprofile ergibt sich seiner Meinung nach für alle Arten von gesundheitlichen Einschränkungen eine Möglichkeit der Integration und damit der eigenständigen Existenzsicherung durch Lohnarbeit:

If work is sufficiently subdivided – subdivided to the point of highest economy – there will be no dearth of places in which the physically incapacitated can do a man’s job and get a man’s wage [sic]. (Ford 2007[1922], S. 107)

In einer solchen Produktion gibt es laut Ford eine so große Vielfalt an Aufgaben, die irgendwo erledigt werden müssen, dass sich für alle – wie es scheint zumindest für alle körperlich eingeschränkten Männer – eine geeignete Stelle findet: „The blind man or cripple can, in the particular place to which he is assigned, perform just as much work and receive exactly the same pay as a wholly able-bodied man would. [sic]“ (ebenda) Die Arbeitskräfte werden diesem Modell entsprechend auf Arbeitsplätze eingeteilt, in denen ihre Behinderung sich nicht auf die Leistung auswirkt, weshalb sie denselben Lohn erhalten wie nicht-behinderte Arbeitskräfte. Die „entwickelte“ Industrie könne so einem höheren Anteil der Bevölkerung Lohnarbeit bieten und eine eigenständige Existenzsicherung ermöglichen als andere Formen der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation.

2.2 Die post-tayloristische Arbeitswelt

An diese Gegenüberstellungen vorindustrieller und industrieller Produktionsformen inklusive ihrer fordistischen Ausprägungen schließen Arbeiten an, die nach dem Inklusionspotenzial der zeitgenössischen Arbeitsorganisation fragen. Deren Entwicklungstendenzen werden mitunter als Tertiarisierung, Post-Fordismus bzw. Post-Taylorismus beschrieben.

Laut Foster und Wass (2013) hat das Inklusionspotenzial der Arbeitswelt mit dem Aufkommen post-fordistischer Organisationsprinzipien abgenommen. Foster und Wass verstehen darunter die zunehmende Komplexität und Intensität der Arbeit, die sich aus den Anforderungen an Multi-Tasking, Austauschbarkeit der einzelnen Arbeitskraft sowie der Teamarbeit ergibt. Diese Formen der Arbeitsorganisation wurden mit dem Ziel der Effizienzsteigerung seit den 1980ern in Unternehmen eingeführt. Gestützt auf die empirische Analyse von Gerichtsurteilen zu angemessenen Arbeitsplatzanpassungen für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in Großbritannien arbeiten Foster und Wass verschiedene Merkmale der post-fordistischen Arbeitsorganisation heraus, die die Teilhabe an der wirtschaftlichen Produktion erschweren.

Ein erstes Merkmal betrifft die Aufgabenkomplexität (Foster und Wass 2013, S. 714): Jobprofile werden zunehmend komplexer, d. h. sie umfassen mehr und vielfältigere Aufgaben. Wenn erwartet wird, dass die Beschäftigten die Leistungsnormen aller Aufgaben erfüllen, führt dies zum Ausschluss von Personen, die lediglich eine dieser verschiedenen Aufgaben nicht bewältigen können. Nach Foster und Wass wird die Zunahme der Aufgabenkomplexität durch häufig stattfindende Reorganisationen vorangetrieben, in deren Zuge Stellen zusammengefasst werden. Zur geringeren Flexibilität der individuellen Anpassung von Jobprofilen und Leistungsvorgaben tragen Teamziele bei, die in der post-fordistischen Arbeitswelt vermehrt eingeführt wurden. Wenn Teams an gemeinsam zu erreichenden Zielen beurteilt werden, wirken sich individuelle Abweichungen von Leistungsstandards auf die Bewertung des gesamten Teams aus (ebd., S. 715). Ein ähnlicher Zusammenhang ergibt sich bei einer starken Verkettung der Produktionsabläufe: erfüllt eine Arbeitskraft die Produktivitätsstandards ihrer Funktion nicht, gefährdet sie damit unter Umständen das Funktionieren des gesamten Systems.

Gleichzeitig hat sich der Strukturwandel in Richtung einer stärkeren Tertiarisierung nach Jones und Wass (2013) positiv auf die Erwerbsmöglichkeiten für gesundheitlich eingeschränkte Menschen ausgewirkt. So weisen sie für Großbritannien nach, dass die Zunahme nicht-manueller Jobs zwischen 1998 und 2011 mit einer stärkeren Beteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt einherging. Noch kaum erforscht sind die Auswirkungen der Digitalisierung der Arbeitswelt auf die Teilhabemöglichkeiten von gesundheitlich eingeschränkten Menschen. Laut ersten Forschungsbefunden kann davon ausgegangen werden, dass diese in „Gig-Jobs“ der Plattformökonomie, wie z. B. Crowdwork, überrepräsentiert sind (Frieß und Nowak 2020; Qu 2020). Dies wird damit erklärt, dass diese Jobs online von zu Hause aus erledigt werden können und in der Gestaltung des Arbeitstakts und der konkreten Abläufe große Spielräume bieten, was, so auch hier die Annahme, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen entgegenkommt. Gleichzeitig handelt es sich dabei jedoch um prekäre Formen der Beschäftigung, die weder ein stabiles Einkommen noch Sozialleistungen garantieren und daher ist fraglich, ob hier tatsächlich von einer Teilhabe an der Erwerbsgesellschaft gesprochen werden kann.

Die bisher dargestellten Inklusionsbarrieren am Arbeitsplatz beziehen sich auf die Frage, unter welchen Bedingungen behinderte und gesundheitlich eingeschränkte Menschen in der Arbeitswelt nach den gängigen Normen produktiv sein können. Das Inklusionspotenzial der Erwerbsarbeit hängt jedoch auch davon ab, inwiefern Behinderungen bzw. eine (vorübergehend) eingeschränkte Arbeitsfähigkeit in einem betrieblichen Kontext als legitim anerkannt werden. Wie Carol Thomas (2007) mit dem Konzept des psycho-emotional disablism verdeutlicht, führen nicht nur strukturelle Barrieren zum Ausschluss von Menschen mit Behinderungen und Krankheiten, wie etwa, dass es für sie kein passendes Stellenprofil gibt. Vielmehr tragen auch symbolische Prozesse der Abwertung zur Exklusion bei. Mit dem Konzept des psycho-emotional disablism erweiterte Thomas das social model der Behinderung um eine immaterielle, symbolische Dimension: „Disablism is a form of social oppression involving the social imposition of restrictions of activity on people with impairments and the socially engendered undermining of their psycho-emotional wellbeing.“ (Reeve 2015, S. 100, Hervorhebung i. O.) Dieser Typ der Barriere beruht darauf, dass den Lebensformen und Bedürfnissen gesundheitlich eingeschränkter Menschen die Legitimität aberkannt wird, was zur Beeinträchtigung ihres psychischen Wohlbefindens führt. In eine ähnliche Richtung zielen die Critical Disability Studies, die auf diskursive und kulturelle Praktiken der Abwertung gesundheitlicher Einschränkungen und Behinderungen und die damit verbundene Überhöhung von Autonomie, Eigenverantwortung und individuellen Fähigkeiten fokussieren, welche sie als ableism kritisieren (Goodley 2014).

Wie arbeitssoziologische Studien zeigen, hängt die betriebliche Akzeptanz und Bewertung gesundheitlicher Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit ebenfalls mit den gängigen Formen der Arbeitsorganisation zusammen. Laut Regina Brunnett (2009) hat die Toleranz für krankheitsbedingte Leistungsschwankungen unter den Bedingungen der postfordistischen Arbeitswelt abgenommen. Krankheit wird ihr zufolge heute vermehrt als selbstverschuldet wahrgenommen. Mit betrieblichen Steuerungs- und Produktionsformen, die stärker auf Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Arbeitskräfte setzen, ging nach Stephan Voswinkel (2012, S. 924) eine „Delegitimierung“ des Krankseins einher. Ein knapper Personaletat, wie es für eine „verschlankte“ Arbeitsorganisation typisch ist, sowie eine starke Identifikation der Arbeitnehmenden mit der Arbeit bewirken, dass sie ihr Kranksein zu ignorieren tendieren und führen zu einer betrieblichen Kultur der „Krankheitsverleugnung“ (Kocyba und Voswinkel 2007). So können auch Formen der Arbeitsorganisation, die den Arbeitskräften viel Eigenverantwortung und Autonomie zugestehen, zu eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten führen, insbesondere, wenn sie mit hohen Leistungserwartungen kombiniert werden. Unter diesen Bedingungen können es sich die Beschäftigten nicht leisten, nur eingeschränkt für die Erwerbsarbeit zur Verfügung zu stehen.

Die verschiedenen dargestellten Theorien, historischen und arbeitssoziologischen Studien legen nahe, dass die Art und Weise, wie die wirtschaftliche Produktion und die gesellschaftlichen Arbeitsaktivitäten organisiert werden, einen großen Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten gesundheitlich beeinträchtigter Menschen hat. Kaum umstritten ist die Annahme, dass eine Arbeitswelt, die es gesundheitlich eingeschränkten Menschen erlaubt, ihre Arbeit nach selbstbestimmten Zeiten, Rhythmen und Geschwindigkeiten zu verrichten, für die Teilhabe gesundheitlich eingeschränkter Menschen am Erwerbsleben von Vorteil ist. Eine unabhängig von konkreten Arbeitnehmenden erfolgende Standardisierung von Stellenprofilen und zeitlichen Vorgaben kann deshalb zu einer erschwerten Teilhabe führen. Darüber hinaus spielen symbolische und soziale Bewertungen einer reduzierten Arbeits- und Leistungsfähigkeit eine Rolle dafür, wie inklusiv ein Arbeitsumfeld ist.

Ob die Standardisierung von Stellenprofilen und Produktivitätsnormen per se zum Ausschluss von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften führt, ist umstritten. Gestützt auf die Annahme, dass es von der Art der Krankheit oder Behinderung abhängt, welche Arbeiten eine Person verrichten kann und welchen Produktivitätsnormen sie entsprechen kann, postuliert eine Gegenposition, dass das Inklusionspotenzial nicht vom Grad der Standardisierung abhängt, sondern von der Vielfalt der vorhandenen Stellenprofile. Wenn eine hinreichend große Anzahl an Stellenprofilen mit unterschiedlichen Anforderungen besteht, so findet sich laut dieser Perspektive für jede Art der Krankheit und Behinderung ein Arbeitsplatz, an dem die Arbeitskraft den Produktivitätsnormen entspricht. Negativ auswirken würde sich demnach jedoch eine zu große Bandbreite unterschiedlicher Anforderungen innerhalb desselben Stellenprofil, also eine zu große Aufgabenkomplexität.

Eine weitere umstrittene These betrifft die räumliche Trennung der Erwerbsarbeit vom Haushalt der arbeitenden Menschen. Ist die Erwerbsarbeit in den privaten Haushalt eingebettet, können gesundheitlich eingeschränkte Menschen ihre Beeinträchtigung besser „managen“, weil sie sich zwischenzeitlich ausruhen können, oder weil sie Unterstützung von Familienmitgliedern erhalten. Gegenüber dieser Position lässt sich aber argumentieren, dass es auch am außerhalb des Haushalts liegenden Arbeitsplatz Formen der sozialen Unterstützung geben kann, ebenso wie Spielräume für das Management von gesundheitlichen Einschränkungen.

Die Disability Studies machen deutlich, dass die Arbeitsorganisation – verstanden als die historisch wandelbare Art und Weise, wie die wirtschaftliche Produktion gesellschaftlich und betrieblich organisiert wird, welche Leistungsanforderungen gestellt werden und welche Art von Arbeitsbedingungen verbreitet sind – eine wichtige Rolle dafür spielt, welche Gesellschaftsmitglieder wie an der Erwerbsarbeit teilhaben können. Die vorliegende Studie schließt an diese Perspektive an und untersucht die betriebliche Arbeitsintegration psychisch erkrankter Beschäftigter vor dem Hintergrund von Formen der Arbeitsorganisation und Systemen des Personalmanagements. Als relevant für die betriebliche Arbeitsintegration gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte werden in anderen Worten nicht lediglich die gezielten betrieblichen Aktivitäten und Prozesse zur Eingliederung gesundheitlich eingeschränkter Beschäftigter betrachtet. Vielmehr soll die Bedeutung der – unabhängig von der Frage der Eingliederung erfolgenden – Praktiken der Arbeitsgestaltung und Formen der Arbeitsorganisation berücksichtigt werden. Diese Perspektive wurde in der bisherigen Forschung zur betrieblichen Arbeitsorganisation nur selten eingenommen. Bevor ich weiter auf das Forschungsinteresse eingehe, fasse ich im folgenden Kapitel Forschungsbefunde zusammen, die sich konkreter auf die betriebliche Arbeitsintegration psychisch Erkrankter beziehen.

3 Forschungsstand

Im Folgenden führe ich aus, wie die (psychische) Gesundheit der Beschäftigten als betriebliche Managementaufgabe erkannt wurde und was dies konkret bedeutet (Abschn. 2.3.1). Anschließend stelle ich die sozialwissenschaftliche „Return to work“-Forschung vor, die sich hauptsächlich mit individuellen Faktoren und formalen Strukturen befasst, die das Gelingen eines beruflichen Wiedereinstiegs nach einer Erkrankung begünstigen (Abschn. 2.3.2). Vor allem in jüngerer Zeit berücksichtigt die Forschung zunehmend auch soziale Dynamiken zwischen verschiedenen Akteuren der Arbeitsintegration. Ein zentraler Forschungsbefund lautet, dass Arbeitsintegration Fragen betrieblicher Gerechtigkeit aufwirft (Abschn. 2.3.3). Schließlich gehe ich auf darauf ein, dass die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen eine wesentliche Herausforderung bei der Arbeitsintegration darstellt (Abschn. 2.3.4).

3.1 Psychische Gesundheit als betriebliche Managementaufgabe

Mit der aktivierungspolitischen Wende der staatlichen Sozialpolitik kam die Forderung auf, dass Unternehmen sich vermehrt für die Arbeitsintegration gesundheitlich eingeschränkter Menschen engagieren und dabei insbesondere psychische Gesundheitsrisiken berücksichtigen sollen. Arbeitsmarktpolitische Empfehlungen der OECD (2012, 2014) legen nahe, dass Arbeitgeberinnen bei sich abzeichnenden psychischen Belastungen oder Erkrankungen von Beschäftigten früh intervenieren und medizinische Hilfe vermitteln sollen. Durch das gezielte Monitoring von Krankheitsabwesenheiten sollen psychische Belastungen früh erkannt werden, um Unterstützung anbieten und den Verlust des Arbeitsplatzes verhindern zu können.Footnote 5 Zudem sollen auch Konflikte zwischen Mitarbeitenden als Warnzeichen für psychische Probleme einzelner Beschäftigter ernst genommen werden. Die psychische Gesundheit wird also zur Managementaufgabe von Unternehmen erklärt.

Die gesetzlichen Vorgaben zur Prävention psychischer Beanspruchungen durch die Arbeit sind in Europa und insbesondere in der Schweiz hingegen nach wie vor schwach ausgeprägt. Zwar kam das Thema psychische Gesundheit in den 1980ern im gesetzlichen Arbeitsschutz auf, der zuvor nur auf Unfälle und auf physische Gefahren ausgerichtet war. Dies änderte sich mit dem Wandel des Gesundheitsbegriffs. Als entscheidend für diesen Wandel gilt die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation von 1986, mit der nach Nora Alsdorf et al. (2017) der Paradigmenwechsel von der Patho- zur Salutogenese vollzogen wurde. Gesundheit wurde nun nicht mehr als Abwesenheit von Krankheit, sondern als „Zustand allgemeinen Wohlbefindens“ definiert, „das von den Beteiligten aktiv hergestellt werden soll“ (ebd., S. 33). Dieses Verständnis lenkt den Blick auf Ressourcen, mit denen sich die Gesundheit fördern lässt und verlieh der Idee der Gesundheitsförderung Aufschwung. Der neue Gesundheitsbegriff beruht auf einem biopsychosozialen Gesundheitsmodell und schließt auch psychische und soziale Dimensionen ein (Becke 2010, S. 191).

Die Europäische Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie 89/391/EWGFootnote 6 von 1989 verlangt eine gesetzliche Pflicht für Unternehmen, Gefährdungsanalysen und – falls angebracht – Gegenmaßnahmen durchzuführen und zu dokumentieren. Psychische Gesundheitsrisiken werden in der Richtlinie zwar nicht explizit angesprochen, jedoch sollen Arbeitgeberinnen „für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen“, sorgen (Steiger-Sackmann 2013, S. 46). Die Rahmenrichtlinie überschreitet damit das im traditionellen Arbeitsschutz vorherrschende Paradigma der Unfallverhütung, indem es Arbeitgeber zu einer humaneren Gestaltung der Arbeit verpflichtet (Brunnett 2009, S. 197 f.). Anstelle von konkreten Vorgaben führte die EU-Rahmenrichtlinie aber nur allgemeine „Schutzziele“ ein, weshalb sie als Deregulierung des Arbeitsschutzes eingestuft wird (Gerlinger 2000). Annette Funk (2011, S. 152) zufolge ist sie gerade aufgrund der Allgemeinheit dieser Ziele ungeeignet, psychischen Belastungen und Fehlbeanspruchungen am Arbeitsplatz vorzubeugen. Die Schweiz hat das System eines betriebsinternen Risikomanagements zudem nur für den Bereich der Unfallverhütung übernommen (Steiger-Sackmann 2013, S. 192). Eine Pflicht für Unternehmen zur Überprüfung psychischer Gesundheitsrisiken wurde dagegen nicht eingeführt.

Während gesetzliche Vorgaben also fehlen oder schwach ausgeprägt sind, ist gleichzeitig eine Vielfalt an freiwilligen betrieblichen Initiativen und Strukturen entstanden, die auf das Management der Gesundheit der Beschäftigten und damit verbunden auf die Prävention psychischer Belastungen und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit abzielen. Das 1996 gegründete europäische Netzwerk für betrieblichen Gesundheitsförderung regte zur Einrichtung nationaler Foren an und entwickelt Qualitätskriterien sowie Best Practice-Beispiele (Ulich und Wülser 2015, S. 375). Ab den 1990er Jahren führten vor allem größere Unternehmen ein „betriebliches Gesundheitsmanagement“ (BGM) ein (Ulich und Wülser 2015; Oppolzer 2010; Kratzer et al. 2011; Harder und Scott 2009; Bauer 2005; Buri-Moser 2013), welches in der Regel den Arbeits- und Gesundheitsschutz, Gesundheitsförderung, das Monitoring von Krankheitsabwesenheiten und die Durchführung von Eingliederungsmaßnahmen umfasst.

Wiedereingliederungsmaßnahmen kommen bei Beschäftigten zum Einsatz, die aufgrund einer Erkrankung länger ausfallen oder in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind. Sie zielen darauf ab, den Betroffenen die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu erleichtern. Dies soll zum Beispiel durch Anpassungen der Aufgaben und der materiellen Ausstattung des Arbeitsplatzes erreicht werden, die es den Betroffenen erlauben, trotz der gegebenenfalls fortbestehenden gesundheitlichen Einschränkung weiterzuarbeiten. Ziel ist die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und das Verhindern des Stellenverlusts (Giesert und Weßling 2012, S. 104; Alsdorf et al. 2017; Riechert und Habib 2017).

In der Schweiz hat die Stiftung Gesundheitsförderung durch gezielte Kampagnen und die Definition von Best Practices zur Verbreitung eines relativ einheitlichen BGM-Konzepts beigetragen (Hassler 2021, S. 55). Nach einer Studie von Buri-Moser (2013, S. 154) ist das BGM organisatorisch meistens in der Personalabteilung verortet und verfügt über ein eingeschränktes Budget (ebd., S. 164). Als Grund für die Einführung eines BGM spielt neben der „Zufriedenheit“ der Beschäftigten auch eine Reduktion der durch Krankheit verursachten Kosten durch die Senkung der Abwesenheitsrate, sowie eine Steigerung der Produktivität der Beschäftigten eine zentrale Rolle (Buri-Moser 2013, S. 147 f.; Füllemann 2017, S. 33).

Empirische Studien zur praktischen Umsetzung der Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der betrieblichen Gesundheitsförderung belegen, dass diese bezüglich der Prävention von (psychischen) Gesundheitsrisiken und der gesundheitsförderlicheren Gestaltung von Arbeitsplätzen nur eingeschränkt wirksam sind. Nach Becke (2010, S. 198) werden psychische Belastungen von Beschäftigten mitunter als „normal“ und damit als irrelevant für den Arbeitsschutz hingenommen. Aktivitäten der Gesundheitsförderung und Prävention setzen, wie oft festgestellt wird, eher beim Verhalten der Beschäftigten als bei den Arbeitsverhältnissen an. Anstelle einer gesundheitsförderlicheren Gestaltung der Arbeitsbedingungen wird den Beschäftigten somit vorwiegend Unterstützung in der individuelle Stressbewältigung angeboten (Funk 2011, S. 55; Becke 2010, S. 199 f.). Nach Kratzer und Dunkel (2011, S. 17) ist dies darauf zurückzuführen, dass sich gesundheitliche Belastungen auch aus den Formen der Arbeitsorganisation und der Leistungssteuerung selbst ergeben und somit „ökonomischer Erfolg und Gesundheit in einem Konfliktverhältnis [stehen]“. Gesundheitsschutz kann demzufolge seine Wirkung nur entfalten, wenn er nicht von der betrieblichen Leistungspolitik entkoppelt wird. Mit einem auf individuelle Copingstrategien reduzierten Gesundheitsschutz wird der organisationale Konflikt zwischen Leistungspolitik und Gesundheitsförderung, so Kratzer und Dunkel, von der organisationalen auf die individuelle Ebene verschoben. Die Bewältigung arbeitsbedingter Überlastungen wird den Beschäftigten überantwortet. Überlastungsbedingte Erkrankungen erscheinen dadurch als Ausdruck einer „missglückten Anpassung“ (Brunnett 2009, S. 305 ff.; Brunnett 2013) und eines Scheiterns der gewählten Bewältigungsstrategien.

Ein Verständnis von gesundheitlichen Risiken und Krankheit als Anzeichen erfolgloser Anpassungsstrategien und mangelnder „Resilienz“ hat, wie Foster (2017) sowie Dale und Burell (2014) anmerken, den für die Gesundheitsförderung paradoxen Effekt, dass gesundheitliche Einschränkungen und Behinderungen als Themen unsichtbar werden. Indem Initiativen der Gesundheitsförderung die Beschäftigten zu einem gesunden, stressreduzierenden Lebensstil ermuntern, führen sie nach Maravelias (2016) zudem zu einer Ausweitung der ökonomischen Investitionslogik auf den Bereich der Privatsphäre und werden zu einem Instrument der „Selbstoptimierung“ (Mämecke 2016). Die Verschiebung des organisationalen Widerspruchs zwischen Leistungspolitik und Gesundheitsförderung auf die individuelle Ebene ist der Analyse von Brunnett (2009, S. 292 f.) zufolge bereits im Diskurs um den Arbeitsschutz angelegt: Wenn Gesundheit als „Humankapital“ verstanden und mit Produktivität gleichgesetzt werde, rücke der produktivitätsbegrenzende Charakter der betrieblichen Gesundheitspolitik aus dem Blickfeld. Dies geschieht nach Brunnett nicht zuletzt aus strategischen Gründen. Ein Arbeitsschutz, der auch in ökonomischer Hinsicht effizienzsteigernd ist, lasse sich den Unternehmen besser schmackhaft machen. Die Gesundheit der Beschäftigten wird damit zum entwicklungsfähigen Potential und zur Produktivkraft.

Das betriebliche Management von Wiedereingliederungsverfahren ist, wie Stephan Voswinkel (2017c) darlegt, ebenfalls durch strukturelle Begrenzungen der Wirksamkeit charakterisiert. Anhand einer empirischen Studie in Deutschland zeigt er auf, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement eine individualisierende Betrachtungsweise einnimmt und das Ziel, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen zu verändern, erst gar nicht verfolgt. Vielmehr wird auch in Wiedereingliederungsmaßnahmen auf die individuelle Anpassung der Beschäftigten fokussiert. Gerade bei psychischen Erkrankungen beschränkt sich die Intervention laut Voswinkel oft auf eine zeitweilige Reduktion des Pensums, was eher einer Anpassung der Arbeitnehmerin an die Arbeitsbedingungen gleichkommt als umgekehrt. Einen strukturell bedingten Mangel an Möglichkeiten des betrieblichen Gesundheitsmanagements, auf die Arbeitsverhältnisse von erkrankten Beschäftigten Einfluss zu nehmen, stellt auch Benedikt Hassler (2021) fest. Eingliederungsmaßnahmen betreffen in den von ihm untersuchten Fällen in Schweizer Unternehmen vorwiegend die Person der Betroffenen, nicht aber die Bedingungen ihres Arbeitsplatzes.

Im Gegensatz zur betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention psychischer Belastungen wurden die Aktivitäten der betrieblichen Wiedereingliederung erst selten aus einer soziologischen Perspektive untersucht. Eine umfangreiche Literatur gibt es jedoch zu den Gelingensbedingungen und Hindernissen des beruflichen Wiedereinstiegs, mit denen sich die anwendungsorientierte „Return to work“-Forschung befasst.

3.2 Return to work-Forschung

Die sozialwissenschaftliche „Return to work“-Forschung untersucht die Faktoren, die zum Gelingen der betrieblichen Eingliederung beitragen. Return to work (RTW) kann sich sowohl auf den Wiedereinstieg am selben Arbeitsplatz nach einer Krankschreibung beziehen als auch auf den beruflichen Wiedereinstieg nach dem Verlust einer Arbeitsstelle. Die RTW-Forschung fokussiert primär auf individuelle Faktoren der Betroffenen oder anderer Akteure in der Wiedereingliederung. Eine typische Fragestellung bezieht sich auf den Einfluss individueller und arbeitsplatzbezogener Faktoren auf die Dauer bis zum Wiedereinstieg am Arbeitsplatz (Blank et al. 2008). Neuere Studien betonen die Rolle des Alters, des Ausbildungsniveaus, der Selbstwirksamkeit, der positiven Einstellung der Betroffenen, aber auch der Unterstützung von Vorgesetzten und Kolleginnen (de Vries et al. 2018; Etuknwa et al. 2019), sowie Faktoren des Krankheitsverlaufs und des Schweregrads der Erkrankung (Ervasti et al. 2017). Allerdings lässt sich aus einer kurzen Dauer bis zum Wiedereinstieg nicht schließen, inwiefern die Integration am Arbeitsplatz längerfristig erfolgreich ist. Die Nachhaltigkeit der Wiedereingliederung bleibt in dieser Perspektive somit ungeklärt. Zudem wird auch die Qualität der Reintegration ausgeblendet, also unter welchen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Betroffene wieder eingestiegen sind und inwiefern die Arbeitsstelle ihren Kompetenzen und Ansprüchen entspricht.

Eine andere Perspektive der RTW-Forschung fragt nach Gelingensbedingungen und Barrieren, die eine dauerhafte Reintegration am Arbeitsplatz begünstigen oder hemmen. Hier gilt die Motivation der Betroffenen als zentraler Faktor (Carlsson et al. 2018). Ob die Betroffenen wieder voll arbeitsfähig werden können, hängt laut RTW-Forschung auch davon ab, inwiefern sie über taugliche Strategien verfügen, sich von der Arbeit abzugrenzen, einen übertriebenen Perfektionismus zu vermeiden und damit die psychischen Belastungen ihrer Arbeit zu managen (Noordik et al. 2011). Neben individuellen Faktoren wird auf die Bedeutung der Kooperation der verschiedenen, am Prozess der Wiedereingliederung beteiligten Akteurinnen hingewiesen. So wirkt sich eine positive Einstellung der Arbeitgeber bezüglich Abstimmung mit den behandelnden Ärzten und anderen Beteiligten positiv auf die Wiedereingliederung aus (Homlund et al. 2020). Wichtig ist außerdem, dass sich die verschiedenen Stakeholder im Wiedereingliederungsprozess, also Betroffene, Führungskräfte, aber auch Akteurinnen aus dem medizinischen Bereich, auf einheitliche Rehabilitationsziele einigen können (Gouin et al. 2017).

Des Weiteren nimmt die RTW-Forschung die Rolle von Führungskräften und Vorgesetzten in den Blick: die Rolle von direkten Vorgesetzten gilt als zentral (Lemieux et al. 2011). Festgestellt wird eine große Unsicherheit von Führungskräften im Umgang mit den vertraulichen Aspekten psychischer Krankheiten im Wiedereingliederungsprozess (Freigang-Bauer und Gröben 2011), sowie ein mangelndes Vermögen, die Symptome psychischer Erkrankungen als solche zu erkennen und auf sie zu reagieren (Sainsbury et al. 2008; Baer et al. 2011; Baer et al. 2017). Bisweilen werden auch arbeitsplatz- und betriebsbezogene Barrieren thematisiert, wie das Fehlen von Arbeitsplätzen, die für die Rehabilitation zur Verfügung gestellt werden können (Freigang-Bauer und Gröben 2011) oder die Gefahr, dass Arbeitsbedingungen nicht an gesundheitliche Einschränkungen angepasst werden und die Fehlbeanspruchungen durch die Arbeit nach dem Wiedereinstieg einen raschen Rückfall provozieren (St. Arnaud et al. 2007).

In jüngster Zeit wurde die betriebliche Arbeitsintegration vermehrt zum Gegenstand soziologischer Studien, die sich nicht nur für individuelle Faktoren oder die formalen Prozesse des Eingliederungsmanagements interessieren, sondern die betriebliche Arbeitsintegration als soziale Handlungspraxis betrachten, die durch informelle Aushandlungen und Interaktionen und organisationale Rahmenbedingungen im weiteren Sinne geprägt ist. Aus einer solchen Perspektive wird postuliert, dass nicht nur die auf die betriebliche Eingliederung abzielenden formalen Organisationsstrukturen in den Blick genommen werden sollen, sondern dass auch weitere soziale Zusammenhänge wie eine Unternehmenskultur, alltägliche Interaktionen oder betriebliche Routinen einen Einfluss auf das Eingliederungsgeschehen haben (Hergesell und Albrecht 2021).

Für das Gelingen einer betrieblichen Arbeitsintegration sind etwa biografische Dispositionen von Führungskräften, wie auch Faktoren der Unternehmenskultur mitverantwortlich, wie Heike Ohlbrecht et al. (2018) und Bianca Lange (2021) aufzeigen. Nach Ohlbrecht et al. (2018) spielt die Bereitschaft von Führungskräften, sich für die Wiedereingliederung der Betroffenen einzusetzen, eine entscheidende Rolle. Diese ist biografisch verankert und geht mitunter auf eigene Krankheitserfahrungen zurück. Außerdem betont die Studie die Bedeutung einer auf vertrauensvollen Beziehungen aufbauenden Unternehmenskultur.Footnote 7 Des Weiteren hängt der Verlauf der betrieblichen Wiedereingliederung gerade bei psychischen Erkrankungen davon ab, ob Ansprüche unterschiedlicher Akteure berücksichtigt und allenfalls entstehende Konflikte bewältigt werden (Windscheid 2019a, b).

3.3 Arbeitsintegration und betriebliche Gerechtigkeit

Im Kontext der sozialwissenschaftlichen Return to work-Forschung weisen mehrere Studien darauf hin, dass Fragen der Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung in Betrieben normativ aufgeladen sind. So können Entscheidungen über Eingliederungsmaßnahmen von verschiedenen Akteurinnen hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit beurteilt und kritisiert werden. Eine betriebliche Reintegration ist mithin nur möglich, wenn auch die sich stellenden Gerechtigkeitsfragen angegangen werden. Einerseits können die Betroffenen selbst die Maßnahmen zur Eingliederung als ungerecht erleben, zum Beispiel, weil sich ihr beruflicher Status im Zuge der Wiedereingliederung verschlechtert (Windscheid 2019a; Seing et al. 2015). Zudem können sie sich durch Eingliederungsverantwortliche unfair behandelt fühlen (Hepburn et al. 2010), was sich negativ auf ihre Gesundheit und ihre Perspektiven auf eine nachhaltige Arbeitsintegration auswirkt (Corbière et al. 2017; Orchard et al. 2020). Gerechtigkeitsfragen können andererseits auch aus der Perspektive anderer betrieblicher Akteure aufkommen. Beispielsweise können durch Maßnahmen der Wiedereingliederung organisationale oder kulturelle Normen der Reziprozität zwischen den Beschäftigten verletzt erscheinen (Williams-Whitt und Taras 2010).

Betriebe sind demzufolge als soziale Zusammenhänge zu betrachten, die durch informelle Verhaltensnormen und Erwartungen an Gerechtigkeit geprägt sind. Der Umgang mit Kranken und Entscheidungen zur Weiterbeschäftigung und Integration stellen die implizite Gerechtigkeitsordnung in Betrieben auf eine Probe. In der Literatur wird besonders die Bedeutung der Gerechtigkeitswahrnehmungen von Arbeitskolleginnen thematisiert (Dunstan und MacEachen 2014). Maßnahmen, die im Zusammenhang mit gesundheitlichen Einschränkungen getroffen werden, wie z. B. eine Verkürzung der Arbeitszeit, das Erlauben zusätzlicher Pausen usw., können als Verstoß gegen die geltenden Normen der Leistungserbringung wahrgenommen werden. Sie können je nach Arbeitsorganisation auch zu Mehrarbeit für die gesunden Kollegen führen. Der Wunsch, die Arbeitskolleginnen vor der zusätzlichen Belastung zu schützen, kann Betroffene sogar dazu veranlassen, auf eine bestimmte Wiedereingliederungsmaßnahme zu verzichten (Ohlbrecht et al. 2018). Nach Windscheid (2019a) reagieren Kollegen, die während der Abwesenheit der Betroffenen Mehrarbeit leisten mussten, mitunter irritiert, wenn beim Wiedereinstieg weiterhin andere Regeln und Erwartungen für die Rückkehrenden gelten als für die restliche Belegschaft. Zudem kann das Vorurteil auftauchen, die Betroffenen hätten sich durch Erkrankung und Wiedereingliederung einen Job mit angenehmeren Arbeitsbedingungen verschafft. Anpassungen von Arbeitsaufgaben werden von Kolleginnen insbesondere dann als unfair wahrgenommen, wenn sie nichts oder wenig von den gesundheitlichen Problemen der Betroffenen wissen (Krupa et al. 2009, S. 421). Nach Angela Martin et al. (2018) treten psychische Gesundheitsprobleme oft im Kontext anderer Arbeitsplatzprobleme auf, wie Konflikte, Abwesenheiten, oder Probleme mit der Einhaltung von Arbeitszeiten und sind in der Wahrnehmung der betrieblichen Akteure von diesen kaum zu trennen. Auch dies kann dazu führen, dass Return to Work-Maßnahmen als illegitime Wege der Konfliktlösung oder Bevorzugung erscheinen (Williams-Whitt und Taras 2010, S. 546).

Laut Adrienne Colella (2001, S. 101) ist es zentral für eine gelingende Reintegration, dass Arbeitskolleginnen die Anpassung von Arbeitsaufgaben oder andere Maßnahmen, die den Betroffenen den Wiedereinstieg erleichtern sollen, als gerecht wahrnehmen. Erstens bedarf es für die Umsetzung vieler Eingliederungsmaßnahmen der Kooperation der Kollegen, z. B. wenn Aufgaben getauscht werden. Zweitens können die antizipierten Reaktionen der Kolleginnen die Erwartungen von Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen beeinflussen und damit deren Entscheidungen, eine Anpassung zu verlangen. Drittens stellt die Gerechtigkeitswahrnehmung der Kolleginnen einen gewichtigen Faktor in der Entscheidung von Vorgesetzten dar, ob und in welchem Ausmaß sie eine Anpassung der Arbeitsaufgaben ermöglichen. In einem auf empirische Befunde gestützten theoretischen Modell postuliert Colella (2001), dass Arbeitskollegen Anpassungen dann als unfair wahrnehmen, wenn sie den Betroffenen die Arbeit erleichtern und, umgekehrt, ihnen die Arbeit erschweren.Footnote 8 Es gibt zwar Hinweise darauf, dass die besonderen Bedürfnisse gesundheitlich eingeschränkter Mitarbeitender im Urteil der Arbeitskolleginnen berücksichtigt werden. Dies gilt jedoch weniger, wenn es sich um eine stigmatisierte oder unsichtbare Erkrankung handelt. Bei psychischen Erkrankungen wäre also damit zu rechnen, dass Anpassungen von Aufgaben und Arbeitsplätzen eher als ungerecht wahrgenommen werden. Colella et al. (2004) haben darüber hinaus ein Modell entwickelt, unter welchen Bedingungen der Entscheidungsprozess in den Augen von Kollegen als fair erscheint. Auch hier spielt die Sichtbarkeit der Erkrankung eine Rolle.

Besteht die Gefahr, dass Eingliederungsmaßnahmen als ungerecht wahrgenommen werden, ergibt sich für Vorgesetzte das Dilemma, einerseits auf die Bedürfnisse der gesundheitlich eingeschränkten Mitarbeitenden eingehen und andererseits den Eindruck einer Bevorzugung verhindern zu wollen. Auch für die Betroffenen führt dies zu Handlungs- und Legitimationsdruck (Charmaz 2010, S. 267; Kirsh et al. 2016). Nach Windscheid (2019a) definieren Vorgesetzte die Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter oft zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, ab dem sie wieder ihr früheres Arbeitspensum bewältigen. Dies setzt die betroffenen Beschäftigten unter Druck, sich wieder an den Leistungsvorgaben für gesunde Mitarbeitende zu orientieren. Gerade wenn keine äußerlichen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit mehr wahrnehmbar sind, werden sie auch von ihrem Umfeld an diesen Leistungsvorgaben gemessen (Vossen et al. 2017; Gonon 2019), was den Druck erhöht, möglichst schnell wieder den Produktivitätsnormen zu entsprechen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Prozess der Wiedereingliederung und seine Durchführbarkeit von den Wahrnehmungen und Bewertungen betrieblicher Akteurinnen abhängen. Entscheidend ist, wie diese die Angemessenheit von Eingliederungsmaßnahmen beurteilen und aushandeln. Aus dem Forschungsstand geht zudem hervor, dass die Frage der Eingliederung und Weiterbeschäftigung in Betrieben normativ stark aufgeladen ist: Betroffene können bestimmte Maßnahmen zur Weiterbeschäftigung im Namen einer gerechten Behandlung einfordern und das Arbeitsumfeld kann getroffene Maßnahmen umgekehrt als ungerechte Bevorzugung kritisieren.

3.4 Psychische Erkrankungen als Stigma

Die in den dargestellten Befunden der Return work-Forschung häufig erwähnte Eigenheit psychischer Erkrankungen, für das Umfeld nicht an äußerlichen Symptomen wahrnehmbar zu sein, wurde in der Stigma-Forschung in ihren sozialen Implikationen untersucht. So gilt das Stigma, das mit psychischen Erkrankungen verbunden wird, als eine Hauptbarriere der Inklusion (Krupa et al. 2009, S. 413). Unter anderem erschwert die Angst vor Stigmatisierung die Thematisierung psychischer Leiden am Arbeitsplatz. Damit zusammenhängend kommt es leicht zu falschen Interpretationen der Symptome psychischer Erkrankungen durch das betriebliche Umfeld der Betroffenen, z. B. Vorgesetzte oder Arbeitskolleginnen.

Erving Goffman (2012[1967], S. 11) definierte den Terminus Stigma als eine „besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“. Ein Individuum entspricht bezüglich seiner Eigenschaften und Attribute nicht den Erwartungen, die andere Personen aufgrund der gesellschaftlichen Kategorie, in die sie es einordnen, an es richten. Vielmehr weist es Attribute auf, die negativ besetzt sind. Ein Stigma bedeutet, „in unerwünschter Weise anders [zu sein], als wir es antizipiert hatten“ (ebd., S. 13). Goffman unterscheidet zwischen negativ besetzten Attributen, die in sozialen Interaktionen direkt ersichtlich sind und ihre Träger „diskreditieren“ und solchen, die nicht direkt wahrnehmbar sind, ihre Trägerinnen aber durch die Möglichkeit der Aufdeckung zu „Diskreditierbaren“ machen. Da die meisten psychischen Erkrankungen nicht an eindeutigen äußerlichen Zeichen erkennbar sind, fallen sie in die zweite Kategorie. Für die Betroffenen stellt sich somit das Problem, ob und inwiefern sie ihre Erkrankung in sozialen Interaktionen geheim halten sollen und wann es angebracht sein kann, sie offenzulegen. Als verdeckbare soziale Identität beeinflussen psychische Erkrankungen, wie Betroffene ihren Arbeitsplatz wahrnehmen und wie sie Interaktionen in der Arbeit gestalten (Follmer und Jones 2018, S. 328 f.).

Terry Krupa et al. (2009) verstehen unter Stigmatisierung die gesellschaftliche Neigung, diskriminierend auf Personen mit psychischen Erkrankungen zu reagieren. Stigmatisierung, etwa durch exkludierende Praktiken, ist auch dann wirksam, wenn die Erkrankung vom betrieblichen Umfeld nicht bewusst wahrgenommen wird. Stigmatisierung wirkt sich negativ auf die soziale Unterstützung am Arbeitsplatz aus und kann dazu führen, dass die Betroffenen ihre Arbeitsaufgaben nicht mehr richtig ausführen können. Laut Krupa et al. (2009, S. 418) bestehen drei negative Stereotypen in Bezug auf psychisch Erkrankte. Erstens wird unterstellt, dass sie die Leistungsanforderungen und sozialen Normen ihres Arbeitsplatzes nicht erfüllen können. Gerade bei Arbeitgeberinnen kann dieser Stereotyp negative Vorbehalte verstärken (ebd., S. 420). Zur Typisierung psychisch erkrankter Beschäftigter als unproduktiv tragen, wie verschiedene Studien belegen, nicht zuletzt betriebliche Diskurse bei (Zanoni 2011; Jammaers et al. 2016). Wie Laura Dobusch (2014) zeigt werden Mitarbeiterinnen mit psychischen oder geistigen Behinderungen in Praktiken des Diversity-Managements diskursiv als weniger „inklusionsfähig“ konstruiert als solche mit körperlichen Einschränkungen. Ein zweiter negativer Stereotyp gegenüber psychisch Erkrankten betrifft nach Krupa et al. (2009) die Annahme, dass sie potenziell gefährlich sind und ein dritter, dass ihre Erkrankung illegitim sei.

Wie Stephan Voswinkel (2017b) festhält, sind Beschäftigte, die an psychischen Erkrankungen leiden, eigentlich von zwei Stigmata betroffen, zwischen denen sie sich entscheiden müssen. Zum einen stehen sie unter dem Verdacht, ihre Erkrankung sei nicht authentisch: ihnen wird unterstellt, dass sie simulieren oder überempfindlich sind. Was dabei nach Voswinkel eigentlich stigmatisiert ist, ist die Simulation. Diesem Stigma können die Betroffenen entkommen, wenn sie ihre Erkrankung ärztlich diagnostizieren und damit bestätigen lassen. Die Diagnose einer psychischen Störung ist aber ihrerseits mit einem Stigma behaftet. Das Stigma einer psychiatrischen Diagnose ist Voswinkel (2017b, S. 102 f.) zufolge deshalb besonders stark, weil die Störungen unmittelbar die Person zu betreffen scheinen und auch nach einer „Heilung“ weiterhin ihre soziale Identität dominieren.

Zum Umgang der Betroffenen mit dem verdeckbaren Stigma einer psychischen Erkrankung am Arbeitsplatz liegen einige soziologische Studien vor. Viele Studien fokussieren auf die Frage, wie die Betroffenen mit der Diskreditierbarkeit umgehen und unter welchen Bedingungen sie ihre Erkrankung am Arbeitsplatz kommunizieren. Der Frage der Offenlegung vorgelagert ist die Selbstwahrnehmung der Betroffenen, also ob sie sich überhaupt selbst als krank wahrnehmen und medizinische Hilfe suchen (Irvine 2011a). Kommt es zur Diagnose einer Erkrankung, ist die Entscheidung bezüglich Offenlegung besonders schwierig, wenn es sich um eine Krankheit handelt, bei der man nicht krank aussieht (Charmaz 2010). Nach Kate Toth und Carolyn Dewa (2014) entscheiden sich Beschäftigte, denen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde, zunächst oft gegen eine Offenlegung am Arbeitsplatz, um zu vermeiden, dass sie als inkompetent erscheinen, um eine langfristige Beschädigung ihrer sozialen Identität im Unternehmen zu verhindern und weil sie fürchten, ihre Stelle zu verlieren. Entscheidet sich eine Mitarbeiterin dennoch zur Offenlegung, hat dies in der Regel einen konkreten Auslöser, wie etwa, dass sich die Erkrankung negativ auf Kolleginnen auswirkt oder dass sie ihre Arbeitsaufgaben nicht mehr richtig erledigen kann. Nach Kathy Charmaz (2010) ist der Bedarf nach Anpassung von Arbeitsaufgaben eines der wichtigsten Motive für die Offenlegung von Erkrankungen am Arbeitsplatz. Toth und Dewa benennen außerdem Bedingungen, die die Entscheidung für die Offenlegung begünstigen: dazu gehören Vertrauen zum Arbeitgeber und ein Gefühl der Arbeitsplatzsicherheit. Wie Charmaz (2010) festhält, können Offenlegungen auch nur teilweise und selektiv erfolgen, d. h. nur gegenüber bestimmten Personen und bezüglich ausgewählter Aspekte der Krankheit oder Diagnose. So werden psychische Erkrankungen oft nur den Vorgesetzten, nicht aber dem restlichen betrieblichen Umfeld kommuniziert (Jones 2011). Ein Motiv für ihre Offenlegung gegenüber Kolleginnen kann jedoch auch sein, dass man soziale Beziehungen stärken (Toth und Dewa 2014) oder die Akzeptanz der Kollegen gewinnen will (Charmaz 2010).

Die Entscheidung für oder gegen eine Offenlegung wirkt sich darauf aus, wie andere betriebliche Akteurinnen die Betroffenen wahrnehmen und welche Maßnahmen im Betrieb getroffen werden. Wird die Erkrankung nicht offengelegt, können keine offiziellen Anpassungen von Arbeitsaufgaben erfolgen und die Betroffenen sind stärker vom Wohlwollen der verantwortlichen Führungskräfte abhängig, falls sie Erwartungen an Leistung und Verhalten nicht erfüllen (Le Roy-Hatala 2009, S. 45).

Dazu, wie Vorgesetzte und Kolleginnen psychische Erkrankungen wahrnehmen, liegt relativ wenig Forschung vor. Nach einer Studie von Baer et al. (2011) werden die Symptome psychischer Erkrankungen von Führungskräften häufig falsch interpretiert und als Leistungsversagen oder Fehlverhalten eingeordnet. Vorgesetzte nehmen psychische Gesundheitsprobleme vorwiegend als Produktivitätsprobleme wahr (Jansson und Gunarsson 2018) oder erleben sie auf der Beziehungsebene als problematisch. Nach Claire Le Roy-Hatala (2009) führt eine psychische Erkrankung zu einem „Bruch“ in der Beziehung der betroffenen Arbeitnehmerin zum Betrieb. Eine tragfähige persönliche Beziehung zwischen Vorgesetzen und erkrankten Mitarbeitenden gilt indes als wichtige Grundlage für die Bereitschaft zur Wiedereingliederung (Dujin und Maresca 2010; Williams-Whitt und Taras 2010).

Einige wenige Studien befassen sich auch mit der Frage, wie Betroffene mit der Stigmatisierung umgehen, nachdem sie ihre Krankheit offengelegt haben, wenn sie also, mit Goffman gesprochen, zur Kategorie der „Diskreditierten“ gehören. Hadar Elraz (2018) zufolge entwickeln manche Betroffene positive Strategien der Identitätskonstruktion und deuten ihre psychische Erkrankung als Erfahrung, durch die sie wertvolle Fähigkeiten und Einsichten erlangt haben, von denen sie in der Arbeit und anderen Lebensbereichen profitieren können. Einen „Gewinn“ aus der Erkrankung ziehen auch diejenigen Betroffenen, die nach Voswinkel (2017b) eine Strategie der „Selbststigmatisierung“ verfolgen: sie sehen sich als Opfer widriger Arbeitsbedingungen und Umstände und verstehen diese Erfahrung als wichtigen Bestandteil ihrer Identität, der zur Aufwertung ihrer Person beiträgt. Voswinkel bezeichnet diese Strategie deshalb auch als Charismatisierung. Davon zu unterscheiden ist die Strategie der Normalisierung, die darin besteht, die psychische Erkrankung als Krankheit wie jede andere zu behandeln. Die wenigen Studien, die zu dem Thema existieren, weisen darauf hin, dass die Arbeit an der eigenen Identität für psychisch erkrankte Beschäftigte auch nach dem beruflichen Wiedereinstieg relevant bleibt. Nach Lineke Hal et al. (2012) wäre dies in der Praxis der beruflichen Eingliederung stärker zu berücksichtigen, die oftmals zu einseitig auf berufliche Fähigkeiten und die Wiederherstellung der Produktivität der Betroffenen fokussiert ist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen die Arbeitsmarktinklusion Betroffener erstens dadurch erschweren kann, dass sie ihre Krankheit nicht offenlegen und daher keine unterstützenden Maßnahmen erhalten können. Zweitens kann dies dazu führen, dass es zu einer falschen Interpretation der Krankheitssymptome durch das Umfeld kommt. Anstatt Maßnahmen des Arbeitsplatzerhalts zu treffen, greifen Vorgesetzte deshalb mitunter auf Sanktionen zurück oder erwägen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die Stigma-Forschung macht damit auf soziale Prozesse der Interpretation, Zuschreibung und Identifikation aufmerksam, die für die Erklärung der erschwerten Arbeitsmarktintegration psychisch Erkrankter zentral sind.

4 Zusammenfassung, Forschungsdesiderate und Fragestellung

Gleichzeitig mit der Wende zu einer „aktivierenden“ Sozialpolitik stieg in OECD-Ländern, so auch der Schweiz, die psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit an. Während die Zahl der Menschen anwuchs, die aufgrund psychischer Gesundheitsprobleme in ihrer Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sind, vollzog sich ein ideologischer Wandel der Sozialpolitik, der Eigeninitiative und selbstverantwortliche Existenzsicherung zur primären Maxime der Wohlfahrtsproduktion erhob. Zeitgleich wurde der Zugang zu Erwerbsunfähigkeitsrenten eingeschränkt. Personen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, sollen sich mit dieser ideologischen Neuausrichtung stärker um eine Beteiligung am ersten Arbeitsmarkt bemühen und dürfen weniger mit materieller Unterstützung in der Form von Sozialtransfers rechnen.

Ob die Teilhabe am Arbeitsmarkt gelingt, ist durch den Sozialstaat wie auch die Betroffenen aber nur bedingt beeinflussbar, denn die Integration in den Arbeitsmarkt ist primär eine Frage der Arbeitswelt. Die historischen, gesellschaftlichen und betrieblichen Formen der Arbeitsorganisation legen den (begrenzten) Möglichkeitsraum für gesundheitlich eingeschränkte Menschen fest, an der Erwerbsarbeit zu partizipieren. Die zeitgenössische „post-fordistische“ Arbeitswelt, die unter anderem durch eine Intensivierung des Zeit- und Leistungsdrucks charakterisiert ist, steht im Verdacht, über ein geringes Inklusionspotenzial zu verfügen (Foster und Wass 2013) und wenig Raum für die Thematisierung krankheitsbedingter Leistungseinschränkungen zuzugestehen (Kocyba und Voswinkel 2007).

Die stärkere Gewichtung der eigenverantwortlichen Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit setzt voraus, dass Unternehmen Personen mit psychisch bedingten gesundheitlichen Einschränkungen anstellen oder nach einer Phase der Erkrankung weiterbeschäftigen. In Großunternehmen sind seit den 1990er Jahren zwar Initiativen zur Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung entstanden. Die Forschung zeigt, dass sich diese jedoch vor allem darauf ausrichten, die individuellen Anpassungsstrategien der Beschäftigten zu optimieren und zur Reduktion von krankheitsbedingten Kosten beizutragen.

Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass die Erforschung der Bedingungen der Arbeitsintegration für psychisch erkrankte Beschäftigte nicht nur eine Auseinandersetzung mit den spezifischen Eingliederungsprogrammen des betrieblichen Gesundheitsmanagements erfordert. Vielmehr ist die berufliche Wiedereingliederung als alltäglicher sozialer Prozess zu analysieren, der durch die Interpretationen, Handlungsanliegen und Interaktionen der beteiligten Akteurinnen geprägt wird, wie auch durch betriebliche Routinen, Organisationsstrukturen und Institutionen. Die Möglichkeiten der Teilhabe hängen außerdem von den Strategien des Personaleinsatzes und den Formen und Praktiken der Arbeitsorganisation ab. In der bisherigen Forschung zur betrieblichen Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter wurden diese Aspekte bisher selten berücksichtigt. Insgesamt fehlt es an Forschung, die offen danach fragt, wie Betriebe mit psychisch eingeschränkter Arbeitsunfähigkeit umgehen, welche Akteurinnen darauf einen Einfluss haben und um was für eine Art von „Problem“ es sich aus deren Perspektive handelt.

Eine erschwerende Rolle bei der Arbeitsintegration spielt gemäß Forschungsstand die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Weil psychische Erkrankungen selten offen thematisiert werden, nehmen die betriebliche Akteure sie unter Umständen nicht als Krankheiten wahr. Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen sanktioniert werden. Unter dem Begriff Stigma werden in der Regel negative Stereotypisierungen verstanden. Inklusionsbarrieren lassen sich jedoch nicht allein auf negative Vorurteile und Diskriminierung zurückführen (Russell 2010). Vielmehr gibt es weitere komplexe soziale und betriebliche Zusammenhänge, die für die erschwerte Reintegration bedeutsam sind, wie zum Beispiel spezifische Arbeitsanforderungen, die für Beschäftigte mit psychischen Gesundheitsproblemen besonders belastend sind. Relevant in Bezug auf psychische Erkrankungen erscheint zudem die Erkenntnis, dass die Wiedereingliederung gesundheitlich eingeschränkter Mitarbeitender in einem Betrieb Gerechtigkeitsfragen aufwirft. Aufgrund der Tendenz der Betroffenen, Erkrankungen so lange wie möglich für sich zu behalten, sind Fehlinterpretationen der Symptome durch das Umfeld erwartbar. Damit ist es bei psychischen Erkrankungen auch besonders zu erwarten, dass Kolleginnen und Führungskräfte Eingliederungsmaßnahmen als ungerecht bzw. unangemessen wahrnehmen.

Ausgehend von den Überlegungen in diesem Kapitel lassen sich drei Forschungsdesiderate benennen:

  1. a)

    Die Forschung zur betrieblichen Wiedereingliederung psychisch Erkrankter berücksichtigt bisher nur selten, dass betriebliche Prozesse der Wiedereingliederung nicht nur von der Organisation des Eingliederungsmanagements im engeren Sinn abhängen, sondern auch durch Akteurinnen, Organisationsstrukturen und betriebliche Eigenlogiken beeinflusst werden, die nicht zum Eingliederungsmanagement gehören. Als Akteure sind hier z. B. die Arbeitskollegen sowie weiter entfernte Führungskräfte zu nennen, als Organisationsstrukturen die allgemeine betriebliche Personal- und Produktionsplanung durch das Management.

  2. b)

    Zudem berücksichtigt die Forschung zur betrieblichen Arbeitsintegration psychisch Erkrankter nur am Rande, dass formale Organisationsstrukturen die Praxis der Wiedereingliederung nicht vollständig determinieren, sondern dass diese durch die betrieblichen Akteurinnen im alltäglichen Handeln interpretiert werden müssen. Prozesse der Wiedereingliederung sind durch Deutungen, Interaktionen und Aushandlungen der beteiligten Akteure geprägt.

  3. c)

    Darüber hinaus reflektiert die Forschung zu wenig, dass das Potential zur Integration abhängig von tätigkeits- oder branchenspezifischen Bedingungen der Arbeitsorganisation variiert, wie ich in Abschn. 2.2 ausgehend von den Disability Studies ausgeführt habe. Die Bedeutung von Arbeitsbedingungen müsste in der Forschung zur Arbeitsintegration stärker berücksichtigt werden. Zu achten wäre insbesondere auf die thematisierten Merkmale, die die Beschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Menschen erleichtern bzw. erschweren können: die Möglichkeit, nach selbstbestimmten Zeiten, Rhythmen und Geschwindigkeiten zu arbeiten, die Standardisierung von Stellenprofilen, die Vielfalt unterschiedlicher Anforderungsprofile, die Komplexität einzelner Stellenprofile, die Möglichkeit am Arbeitsplatz Unterstützung zu erhalten, sowie die soziale Bewertung gesundheitlicher Einschränkungen im Arbeitsumfeld.

In der vorliegenden Studie sollen diese drei Punkte Beachtung erhalten. In der Annahme, dass Deutungsprozesse und Aushandlungen für das Zustandekommen von Beschäftigungsentscheidungen in Unternehmen eine wichtige Rolle spielen, nimmt die Studie folgenden Fokus ein: Analysiert werden Deutungen und Argumentationen in Bezug auf die Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung psychisch erkrankter Beschäftigter. Zudem fokussiert die Studie darauf, wie Wiedereingliederungen psychisch erkrankter Beschäftigter praktisch umgesetzt werden. Die alltäglichen Prozesse der Deutung, Aushandlung und Umsetzung von Wiedereingliederungsverfahren sollen im Kontext relevanter Organisationsstrukturen, betrieblicher Rationalitäten und der Bedingungen der jeweiligen Formen der Arbeitsorganisation reflektiert werden.

Folgende Fragestellung steht im Fokus: Wie deuten betriebliche Akteure eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit, wie einigen sie sich auf Handlungen zur Wiedereingliederung oder ggf. zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wie begründen sie diesbezügliche Entscheidungen? In der Annahme, dass Beschäftigungsentscheidungen zumindest teilweise informell ausgehandelt werden und auf den Interpretationen der Akteurinnen beruhen, bezieht sich die Fragestellung auf die Aushandlungsdynamiken zwischen den verschiedenen involvierten Akteuren und die typischen Fragen und Probleme, die sich ihnen im Deutungs- und Aushandlungsprozess stellen.

Dabei soll beleuchtet werden, ob und inwiefern sich Deutungsprozesse und Verläufe von Wiedereingliederungen je nach Organisationsstrukturen und Arbeitsbedingungen unterschiedlich gestalten. Ein spezieller Fokus der Studie liegt somit auf der folgenden Frage: Inwiefern wirken sich organisationale Bedingungen und spezifische Formen der Arbeitsorganisation auf den Deutungsprozess und die Aushandlung von Wiedereingliederungsaktivitäten aus?

Ausgehend von der Annahme, dass sich Gerechtigkeitsfragen bei psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit besonders ausgeprägt stellen, lautet eine weitere Fragestellung: Welche Rolle spielt Kritik bezüglich der Gerechtigkeit von Entscheidungen und Maßnahmen im Prozess der Wiedereingliederung?

In einem nächsten Schritt geht es darum, den Forschungsgegenstand und die Fragestellung theoretisch zu schärfen. Zu diesem Zweck wird die Soziologie der Konventionen als theoretischer Rahmen herangezogen.