1 Forschungsgegenstand und Forschungsstrategien

Als theoretische Perspektive impliziert die Soziologie der Konventionen einen methodologischen Standpunkt (vgl. Abschn. 3.2), der Annahmen über die „ontologische Beschaffenheit der sozialen Welt“ beinhaltet (Diaz-Bone 2018, S. 368). Die theoretische Konstruktion des Forschungsgegenstands, d. h. die Annahmen bezüglich der Frage „was es gibt“, sind relevant für das empirische Vorgehen ihrer Erforschung, also wie sich das, was es gibt, beobachten lässt (vgl. ebenda). Die konventionentheoretische Perspektive steht für einen methodischen HolismusFootnote 1:

Methodischer Holismus bezeichnet die Kohärenz zwischen (a) den theoretischen Annahmen über die Ontologie der sozialen Welt, (b) den empirischen Forschungsstrategien, wie man auf die sozialen Praktiken bzw. auf die sozialen Strukturen „methodisch zugreifen“ kann, und (c) den eingesetzten Forschungsinstrumenten. (Diaz-Bone 2018, S. 369)

Im Fokus der vorliegenden Studie stehen Deutungs- und Argumentationsmuster sowie Koordinationslogiken in Prozessen der Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter in Unternehmen. Analyseeinheit ist die Situation im Sinne der EC, in der sich diese Prozesse vollziehen, also die jeweilige Konstellation von „Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten“ (Diaz-Bone 2018, S. 375). Der Gegenstand der vorliegenden Studie lässt sich durch folgende Elemente charakterisieren: Tritt eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit bei Beschäftigten auf, stellen sich im Unternehmen typische Koordinationsprobleme, an deren Lösung sich bestimmte Personen beteiligen. Das Problem der Arbeitsunfähigkeit führt zu Diskussionen über das angemessene Vorgehen, in denen die Akteurinnen Argumente vorbringen müssen. Die Interpretations- und Koordinationsmodelle (Konventionen), auf die sie zurückgreifen, weisen einen Bezug zu Werten auf und sind kontextuell mitbedingt durch die materialisierten oder institutionalisierten Formate, die im Unternehmen Relevanz besitzen, wie z. B. Personalreglements oder gesetzliche Regelungen. Dabei determinieren Formate jedoch nicht das Handeln der Akteure, sondern müssen durch diese interpretiert werden. Akteurinnen sind in der Lage, zwischen Konventionen hin- und herzuwechseln. Wie Diaz-Bone (2018, S. 374) betont, stehen aus der Perspektive der EC nicht die „Individuen, deren Intentionen, Handeln und Entscheidungen“ im Fokus, sondern die „in Situationen existierenden, kollektiv geteilten Schemata des Interpretierens und Koordinierens von Handlungen, die sich als Ressourcen für die Koordination mobilisieren lassen, wie auch die kognitiven Formate und institutionellen Arrangements, durch die jene gestützt werden“. Das Ziel der Analyse besteht darin, eine „Introspektion“ der Situation zu vollziehen (Salais 2007, S. 96).

Zwecks einer solchen Introspektion der Situation der betrieblichen Arbeitsintegration interessiert zwar nicht die Perspektive einzelner Individuen als solche, dennoch muss in Erfahrung gebracht werden, durch welche Logiken des Interpretierens und Handelns und durch welche Formate die Situation aus der Sicht der involvierten Akteure geprägt ist. Dies soll in der vorliegenden Studie durch ein qualitatives Forschungsdesign erreicht werden. Um die Situation der Wiedereingliederung aus der Sicht der involvierten Akteurinnen zu erfassen ist ein methodischer Zugang notwendig, der es erlaubt, ihre Interpretationsleistungen und sinnhaften Bezüge zu rekonstruieren. Dazu wird ein Verfahren der Datenerhebung angewendet, das es ihnen ermöglicht, Inhalte innerhalb des eigenen Relevanzsystems zu entfalten, um sie in ihrem spezifischen Verweisungszusammenhang nachvollziehbar werden zu lassen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 17). Die Studie setzt deshalb auf qualitativ-interpretative Verfahren der Datenerhebung und -analyse.

Methodisch richtet sich die Studie am offen definierten Vorgehen der Grounded Theory aus. Mit der Soziologie der Konventionen hat diese die sozialtheoretischen Einflüsse des amerikanischen Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus gemeinsam. In der Grounded Theory gilt Realität als multiperspektivischer Prozess, der durch die Handelnden mithervorgebracht wird (Strübing 2014, S. 39). Kennzeichnend für die Grounded Theory-Perspektive ist nach Juliet Corbin und Anselm Strauss die Ablehnung einer deterministischen Sichtweise auf soziales Handeln. Stattdessen geht die Grounded Theory davon aus, dass Handelnde innerhalb von gewissen Bedingungen zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen wählen können (Corbin und Strauss 1990, S. 5). Mit diesen Grundannahmen ist die Grounded Theory mit der EC kompatibel. Im Fokus der klassischen Grounded Theory-Analyse steht jedoch nicht die Situation, sondern ein sozialer Prozess. Zudem fokussiert die Grounded Theory auf die „Mikroebene“ und behandelt Faktoren der „Makro-“ bzw. „Meso-Ebene“ als situationsexterne Bedingungen. Um die Kohärenz zwischen den theoretischen Annahmen über den Forschungsgegenstand und dem methodischen Vorgehen zu gewährleisten, greife ich deshalb auf die von Adele Clarke (2003) entwickelte Erweiterung der Grounded Theory, die situational analysis, zurück.

Als primäre Datenquelle dienen in der vorliegenden Studie qualitative Interviews. Diese eignen sich dazu, Interpretationen von Akteurinnen nachzuvollziehen. Zur Erfassung von Interpretationen und Aushandlungen in Wiedereingliederungsverfahren in situ würde sich auch die teilnehmende Beobachtung eignen. Da sich Diskussionen zu Wiedereingliederungsverfahren in Unternehmen spontan und an verschiedenen „Orten“ innerhalb der Organisation ereignen können, ist der Zugang zu diesen Situationen forschungspraktisch jedoch schwierig zu organisieren. Zudem bestehen Zugangshürden von Seiten der betrieblichen Gatekeeper: insbesondere im Zusammenhang mit dem heiklen Thema psychischer Erkrankungen zeigten sich diese zurückhaltend, mir als Forscherin Zugang zu gewähren. Deshalb nutzte ich teilnehmende Beobachtungen nur punktuell als Erhebungsstrategie, wo der Zugang forschungspraktisch möglich war. Als weitere Strategie der Datenerhebung sammelte ich Dokumente, die bezüglich Organisationsstrukturen und Kategoriensystemen aufschlussreich sind.

In den Interviews griff ich auf die Strategie zurück, die Interviewten um ausführliche Erzählungen von Fallgeschichten konkreter Wiedereingliederungsverfahren zu bitten. Wie Dodier (1993, S. 44) argumentiert, werden in retrospektiven Fallgeschichten die Konventionen sichtbar, anhand derer die Erzählenden eine Situation beurteilen. In den Erzählungen entfalten sie die verschiedenen Elemente der „Welten“, also Personen, Institutionen, Objekte etc., die sie für die Interpretation, Koordination und Bewertung herangezogen haben. Daraus lässt sich zwar keine „objektive“ Version des Fallverlaufs ableiten, aber die Mittel, derer sich die Erzählenden bedienen, um ihren Handlungen und Entscheidungen Sinn zu geben, werden sichtbar. Ergiebig ist es darüber hinaus, verschiedene Akteure Fallgeschichten zum selben Wiedereingliederungsprozess erzählen zu lassen. Im Kontrast der Perspektiven werden übereinstimmende, aber auch divergierende Interpretationen und Begründungen deutlich, die bezüglich der erfolgten Aushandlung von Wiedereingliederungsaktivitäten aufschlussreich sein können. Soweit es möglich war, habe ich die Strategie der multiperspektivischen Erhebung von Fallverläufen genutzt, also Betroffene, Vorgesetzte und BGM-Verantwortliche zum selben Fall interviewt.

Zur Erforschung der Deutungs- und Argumentationsmuster sowie Koordinationslogiken in Prozessen der Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter in Unternehmen werden in dieser Studie also verschiedene Strategien der Datenerhebung kombiniert. Die Analyseeinheit der Studie, auf die sich das Forschungsinteresse bezieht, ist die Situation nach dem beschriebenen Verständnis der EC. Die Fälle der Datenerhebung, die dazu dienen, über diese Situation etwas in Erfahrung zu bringen, sind aber teilweise auf anderen Ebenen angesiedelt: So betrachte ich sowohl Fälle von Eingliederungsverläufen als auch drei Fälle von Unternehmen, um auf diesen Ebenen etwas über die Situation der Wiedereingliederung psychisch Erkrankter zu erfahren.

In Abschn. 4.2 führe ich die Grounded Theory, sowie ihre Erweiterung durch die Situationsanalyse ein. In Abschn. 4.3 stelle ich das konkrete Forschungsfeld der Studie vor. Ins Untersuchungsdesign wurden drei Unternehmen einbezogen, innerhalb derer eine vertiefte Feldforschung stattfand. Auf die Auswahl von Interviewpartnerinnen und -partnern und die Datenerhebung gehe ich im Abschn. 4.4 ein. In Abschn. 4.5 diskutiere ich forschungsethische Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Datenerhebung und Ergebnispräsentation stellen. In Abschn. 4.6 präsentiere ich das Vorgehen bei der Datenanalyse.

2 Grounded Theory und situational analysis

Der Grounded Theory-Ansatz wurde ab den 1960ern von den US-amerikanischen Soziologen Barney Glaser and Anselm Strauss entwickelt.Footnote 2 Grounded Theory bezieht sich sowohl auf den an der Empirie ausgerichteten Forschungsprozess als auch auf das angestrebte Resultat dieses Prozesses: eine empirisch fundierte Theorie. Mit der Grounded Theory grenzten sich Glaser und Strauss von den zur damaligen Zeit dominierenden soziologischen Großtheorien ab, die sie als realitätsfern kritisierten. Grounded Theory zielt demgegenüber darauf ab, in enger Beziehung zu empirischen Daten eine vorläufige, gegenstandsbezogene Theorie zu generieren und zu überprüfen. Strauss (1987, S. 5) bezeichnet die Grounded Theory als Forschungsstil. Sie schreibt keine strikt einzuhaltenden methodischen Regeln vor. Vielmehr umfasst sie Leitlinien und Faustregeln für das praktische Forschen und legt eine bestimmte Haltung zum Forschungsgegenstand nahe.

Heute ist Grounded Theory ein sehr populärer Ansatz in der qualitativen Sozialforschung, was auch zur Kritik veranlasst, dass ihre Leitprinzipien in manchen Anwendungen verwässert werden und Grounded Theory nur noch ein oberflächliches Label ist. Entscheidend für den Ansatz ist nach Jane C. Hood (2007), dass forschungsstrategische Entscheidungen im Hinblick auf ihre Fruchtbarkeit für die Weiterentwicklung der entstehenden Theorie getroffen werden. Wichtig dafür sind ihr zufolge drei zentrale Leitprinzipien: ständiges Vergleichen, theoretisches Sampling und theoretische Sättigung. Auf diese Prinzipien werde ich im Laufe der folgenden Abschnitte näher eingehen.

Wie andere qualitative Verfahren zeichnet sich das Vorgehen der Grounded Theory durch eine iterativ-zyklische Forschungslogik aus (Strübing 2014). Anstelle der in der quantitativen Forschung üblichen zeitlichen Abfolge von Sampling, Datenerhebung, Analyse und Interpretation, sind diese Schritte ineinander verschränkt. Mit der Analyse wird begonnen, sobald Daten vorliegen und die ersten tentativen Interpretationen dienen als Anhaltspunkte für weitere Datenerhebung. Theoretische Konzepte und Hypothesen, die am Material gebildet wurden, gelten als vorläufig und müssen anhand von neuem Datenmaterial überprüft, ggf. verworfen oder verfeinert werden.

In der Diskussion um die Gültigkeit der Ergebnisse qualitativer Sozialforschung wurde oft argumentiert, dass diesen die logische Schlussform der Abduktion zugrunde liegt (Kelle und Kluge 2010; Strübing 2014). Während die herkömmlichen Formen des logischen Schließens, Einzelphänomene unter bestehende Regeln subsumieren (Deduktion) oder von Einzelphänomenen auf allgemeine Regeln schließen (Induktion) und damit nicht zu einer Erweiterung von Wissenskategorien beitragen, gilt die Abduktion als Form des Schlussfolgerns, die es erlaubt, auf Neues zu schließen. Wie Jo Reichertz argumentiert, ist die Abduktion jedoch keine Form des logischen Schließens im engeren Sinn, sondern eine kognitive Logik der Entdeckung (Reichertz 2007, S. 220). Er unterscheidet zudem die qualitative Induktion, bei der ein Fall in eine bestehende Wissenskategorie eingeordnet wird, von der eigentlichen Abduktion, bei der die Forscherin in einem intellektuellen „Geistesblitz“ eine neue Regel bzw. Kategorie erfindet, die zum Beobachteten passt. Anstelle von abduktiven Schlüssen zu sprechen, legt Reichertz deshalb nahe, in der Grounded Theory-Forschung eine abduktive Grundhaltung einzunehmen. Jörg Strübing (2014, S. 48) weist darauf hin, dass die Grounded Theory-Methode einige Techniken vorschlägt, die das Eintreten von „abduktiven Geistesblitzen“ begünstigen.

Ebenfalls zu Diskussionen veranlasst der Status von theoretischem „Vorwissen“ in der Grounded Theory-Forschung. Während Glaser und Strauss im Werk „The Discovery of Grounded Theory“ zunächst noch davor warnten, die Analyse von empirischen Daten durch den Einbezug vorgefertigter theoretischer Kategorien zu „verfälschen“ und die Meinung vertraten, theoretische Konzepte sollten aus dem Material „emergieren“ (Kelle und Kluge 2010, S. 18 ff.), hat Strauss später den Wert von theoretischem wie auch persönlichem Wissen für die Analyse positiv hervorgehoben (Strübing 2014, S. 59). Theoretisches Wissen kann zur so genannten theoretischen Sensibilität der Forscherin beitragen, also zu ihrer Fähigkeit, empirischen Daten „Bedeutung zu verleihen“ und das „Wichtige vom Unwichtigen zu trennen“ (Strauss und Corbin 1996, S. 25). Sinnvoller als sich durch unausgesprochene Vorannahmen leiten zu lassen, ist es, theoretische Annahmen über den zu erforschenden Gegenstand zu reflektieren und transparent zu machen.

Theoretisches Vorwissen soll allerdings nicht als gültige Aussage über die zu erforschende Realität betrachtet werden, sondern dazu anregen, über das Datenmaterial nachzudenken und die Forscherin für analytische Themen und Fragestellungen sensibilisieren. In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Studie verfahren: die Daten werden nicht subsumtionslogisch unter konventionentheoretische Konzepte eingeordnet. Vielmehr dienen Begriffe der EC als sensibilisierende Konzepte, die im Prozess der Analyse beigezogen werden können, wo es analytisch interessant und sinnvoll ist. Die Datenanalyse wird durch den theoretischen Rahmen aber keineswegs vorstrukturiert. In der Datenanalyse wurde die Konventionentheorie erst gegen Ende zu den entwickelten Kategorien in Beziehung gesetzt, als bereits eine Vielzahl von Konzepten anhand des Datenmaterials erarbeitet war (Abschn. 4.6).

Im Zentrum des praktischen Verfahrens der Grounded Theory steht das Kodieren: Ereignisse, Aussagen, Handlungen oder Zusammenhänge werden mit vorläufigen Bezeichnungen versehen. Eine Methode, die zur abduktiven Forschungslogik beiträgt, ist das Stellen von so genannten generativen Fragen. Diese sollen die Daten „aufbrechen“, also eine analytische Distanz zum Material erzeugen. Beim Kodieren werden provisorische Kodes und Kategorien formuliert, wie auch hypothetische Überlegungen zu den Zusammenhängen zwischen den Kategorien angestellt (Strauss 1987, S. 21). Da die erarbeiteten Konzepte stets an neuem Datenmaterial zu überprüfen sind, werden „falsche“ Interpretationen im Laufe des Forschungsprozesses korrigiert (ebd., S. 29).

Ein weiteres Grundprinzip, das die abduktive Forschungslogik begünstigt und dabei hilft, analytische Konzepte zu generieren, ist das erwähnte ständige Vergleichen (Strauss 1987, S. 17). Durch das Vergleichen von Daten können Ähnlichkeiten, Unterschiede und Abstufungen von Unterschieden entdeckt werden, die die Formulierung theoretischer Konzepte erlauben. Um die Eigenschaften und Dimensionen der erarbeiteten Konzepte möglichst umfassend zu entwickeln, wird zunächst nach sehr ähnlichen Ereignissen, Handlungen, etc. gesucht. Diese Strategie wird als minimales Kontrastieren bezeichnet. Erst wenn neue Daten keine weiteren Erkenntnisse in Bezug auf diese Konzepte generieren, wird zur Strategie des maximalen Kontrastierens gewechselt, d. h. es wird nach Fällen gesucht, die von den vorhergehenden möglichst abweichen (Glaser und Strauss 1998, S. 62). Dieses Vorgehen erlaubt es, weitere Variationen ausfindig zu machen oder Kontextbedingungen zu spezifizieren, unter denen bestimmte Phänomene auftreten (Strübing 2014, S. 31).

Die in der Analyse erarbeiteten Konzepte dienen als Entscheidungsgrundlage für die Auswahl weiterer Daten. Dieses Verfahren wird als theoretical sampling bezeichnet.

Theoretical sampling is a means “whereby the analyst decides on analytic grounds what data to collect next and where to find them.” “The basic question of theoretical sampling is: What groups or subgroups of populations, events, activities (to find varying dimensions, strategies, etc.)” does one turn to next in data collection. And for what theoretical purpose? “So, this process of data collection is controlled by the emerging theory.” (Strauss 1987, S. 38 f., Hervorhebungen i. O.)

Ein theoretical sampling kann zu jedem Zeitpunkt der Datenanalyse durchgeführt werden. Während die Entscheidungen über die Auswahl weiterer Daten zu Beginn des Forschungsprozesses noch auf tentativen Annahmen beruhen, lassen sie sich mit der Weiterentwicklung der entstehenden Theorie immer spezifischer formulieren und begründen. Das theoretische Sampling wird so lange betrieben, bis sich aus weiteren Daten keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf die erarbeiteten Konzepte und ihre Zusammenhänge ableiten lassen (Strauss 1987, S. 35). Dieser Zustand wird als theoretische Sättigung bezeichnet. Ziel ist es, eine Theorie mit möglichst hoher konzeptueller Dichte zu erarbeiten.

Das Vorgehen des theoretischen Samplings war in der vorliegenden Studie zum einen bei der Auswahl der Unternehmen ausschlaggebend (Abschn. 4.3.1), zum anderen bei der Auswahl von Interviewpartnerinnen und -partnern (Abschn. 4.4.1). Die Auswahl möglicher Fälle war aus forschungspraktischen Gründen jedoch begrenzt, weil die Zahl der von einer psychischen Arbeitsunfähigkeit betroffenen Beschäftigten erstens limitiert war und zweitens nicht alle der Betroffenen zu einem Interview bereit waren. Um weitere „ähnliche“ bzw. kontrastierende Fälle erheben zu können, hätte die Datenerhebung entweder einen längeren Zeitraum abdecken oder in zusätzlichen Unternehmen durchgeführt werden müssen, was jedoch den zeitlichen und pragmatischen Rahmen des Projekts gesprengt hätte. Wie Inga Truschkat et al. (2011, S. 373) argumentieren, lässt sich theoretische Sättigung auch durch eine hinreichende analytische Durchdringung des Materials sowie eine Verfeinerung der entwickelten Kategorien anhand einer begrenzten Anzahl Interviews erreichen.

Auf die in der Grounded Theory vorgeschlagenen Kodierverfahren und ihre Anwendung am Datenmaterial gehe ich in Abschn. 4.6 detailliert ein. Strauss und Corbin legen nahe, dass ein so genanntes Kodierparadigma die Aufmerksamkeit der Forscherin lenken soll. Dieses soll hier bereits eingeführt werden, um zu verdeutlichen, weshalb zusätzlich auf Analysestrategien der situational analysis nach Adele Clarke zurückgegriffen wird. Das Kodierparadigma beruht auf der methodologischen Annahme der sozialen Wirklichkeit als Prozess. Aus dem Material soll ein zentrales Phänomen herausgegriffen werden, das hinsichtlich seiner Bedingungen und seines Kontextes, also hinsichtlich seiner wichtigsten Eigenschaften, bestimmt wird. Darüber hinaus empfiehlt das Kodierparadigma, nach den Strategien zu suchen, mit denen sich die Handelnden auf dieses Phänomen beziehen. Außerdem sind die Konsequenzen zu benennen, die sich aus diesen Strategien ergeben, wie auch die intervenierenden Bedingungen, die sich darauf auswirken, inwiefern es den Handelnden gelingt, ihre Strategien umzusetzen (Strauss 1987, S. 64; Strauss und Corbin 1996, S. 78 ff.). Das Ziel besteht darin, eine Theorie zu entwickeln, die erklärt, inwiefern ein Phänomen für die Handelnden relevant und problematisch ist (Strauss 1987, S. 34). Dieses soll sich über eine Schlüsselkategorie ausdrücken lassen.

Clarke (2003, 2005) kritisiert die Idee, dass sich die Forscherin auf einen „basic social process“ konzentrieren soll, um den herum Bedingungen, Strategien und Konsequenzen spezifiziert werden, wie es das Kodierparadigma nach Strauss und Corbin vorschlägt. In ihren eigenen Worten beabsichtigt sie mit der Situationsanalyse eine „Re-situierung“ der Grounded Theory, indem sie diese methodologisch an den „postmodern turn“ anpasst (Clarke 2003, S. 553). Die Analyse soll demnach stärker berücksichtigen, dass die empirische Realität stets konstruiert, situativ, fragmentiert, heterogen und instabil ist (Clarke 2003, S. 555). Nimmt man die als „postmodern“ verstandene Auffassung der sozialen Realität ernst, kann es nach Clarke keinen einzelnen „basic social process“ geben, sondern es gilt immer, mehrere soziale Prozesse bzw. die gesamte „Situation“ in den Blick zu nehmen. Clarke ersetzt das Kodierparadigma durch die von Strauss geprägte Theorie der sozialen Welten, Arenen und Aushandlungen (Clarke 2003, S. 554). Soziale Wirklichkeit wird demzufolge in verschiedenen Gruppen und Diskursen hervorgebracht und ausgehandelt. Damit gibt sie auch die Idee auf, dass die Analyse sich um eine Schlüsselkategorie kristallisieren soll.

Für die Erforschung von Deutungs-, Aushandlungs- und Koordinationsprozessen der betrieblichen Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter erscheint es als sinnvoll, sich von der Idee eines einzelnen sozialen Prozesses, der für das zu untersuchende Phänomen grundlegend sein soll, wegzubewegen. So findet diese Aushandlung in parallelen Teil-Aushandlungen, multi-lokal und in verschiedenen sozialen Zusammenhängen statt, wie etwa zwischen den Betroffenen und ihren Ärztinnen, den Betroffenen und ihren Vorgesetzten oder Personalverantwortlichen. Dabei fließen verschiedene Diskurse und Definitionen von Arbeitsunfähigkeit ein. Clarke legt zudem stärkeren Wert darauf, die Rolle von Artefakten und Objekten für die Konstitution sozialer Realität in die Analyse einzubeziehen. Indem sie die Bedeutung von Objekten und sozialen Welten als Diskursuniversen betont, berücksichtigt die Situationsanalyse laut Diaz-Bone (2012) noch konsequenter als die traditionelle Grounded Theory die methodologischen Grundlagen des Pragmatismus.

Clarkes Auffassung der Situation, die Einheit der Analyse ist, erinnert an das Situationsverständnis der Soziologie der Konventionen. Sie lehnt ebenfalls die analytische Unterscheidung sowie eine einseitige Fokussierung auf die Mikro- oder Makroebene ab und geht davon aus, dass in einer Situation stets Elemente beider Ebenen präsent sind, bzw. auch Elemente, die man der Meso-Ebene zuordnen würde. Elemente, die die klassische Grounded Theory als situationsexterne Kontextbedingungen der Makroebene verstehen würde, betrachtet Clarke als situationsimmanent:

in situational analysis, the conditions of the situation are in the situation. The conditional elements of the situation need to be specified in the analysis of the situation itself as they are constitutive of it, not merely surrounding it or framing it or contributing to it. (Clarke und Friese 2007, S. 364, Hervorhebungen i. O.)

Dies bedeutet für die Analyse, dass auch in der Betrachtung von Interaktionssituationen von Anfang an die Rolle von „Makro“- oder „Meso“-Phänomenen, wie z. B. Gesetzen, Organisationsstrukturen etc. berücksichtigt werden sollte. Indem ein solches Verständnis der Situation auch in der Datenanalyse umgesetzt wird, lässt sich das Postulat des methodischen Holismus der Soziologie der Konventionen (vgl. Abschn. 4.1) noch konsequenter umsetzen.

Als konkrete Strategien für die Analyse schlägt Clarke (2003, S. 554) vor, drei Typen von Karten anzufertigen. Diese werden im Folgenden sehr kurz vorgestellt. Auf die Anwendung, wie sie im Rahmen der vorliegenden Studie erfolgte, gehe ich in Abschn. 4.6 ein. In situational maps soll die Forscherin die verschiedenen Elemente der Situation zu einander anordnen: dazu gehören sowohl menschliche als auch nicht menschliche Akteure, diskursive und weitere Elemente. Indem die Forscherin diese zueinander in Beziehung setzt, sollen generative Fragen entstehen, die zu weiteren Analysen des Datenmaterials veranlassen. In einem zweiten Typ von Karten, den social worlds/arenas maps, werden die Arenen, in denen sich die verschiedenen Akteurinnen in Aushandlungen einbringen, dargelegt. Positional maps dienen schließlich dazu, die von Akteuren eingenommenen und nicht eingenommenen möglichen diskursiven Positionen darzustellen. Für die vorliegende Studie wurden Karten des ersten Typs (Situationskarten) angefertigt (vgl. Abschn. 4.6).

3 Das Forschungsfeld: drei Unternehmen

Im Folgenden wird das Forschungsfeld vorgestellt, in dem die Daten für die vorliegende Studie erhoben wurden. Das Forschungsdesign beruht darauf, in drei Unternehmen Deutungs-, Aushandlungs- und Koordinationsprozesse der betrieblichen Wiedereingliederung zu untersuchen. Gemäß der iterativ-zyklischen Forschungslogik der Grounded Theory begann die Datenerhebung und -analyse in einem Unternehmen. Basierend auf den ersten Analyseergebnissen wurde dann ein zweites Unternehmen ausgewählt und daran anschließend ein drittes. Im Folgenden fasse ich die Überlegungen zusammen, die für diesen Sampling-Prozess maßgebend waren und stelle gleichzeitig die drei ausgewählten Unternehmen mit einigen Charakteristika vor (Abschn. 4.3.1). Wie der Feldzugang in diesen Unternehmen gelang, führe ich im Anschluss aus (Abschn. 4.3.2).

3.1 Die Auswahl der Unternehmen

Ein im Vorherein feststehendes Auswahlkriterium betraf die Unternehmensgröße. Aus verschiedenen Gründen wurden nur Großunternehmen für die Studie in Betracht gezogen. Ein Grund dafür ist, dass pro Unternehmen Interviews zu mehreren Fällen von Wiedereingliederungen geführt werden sollten. Bei Unternehmen mit einer kleineren Anzahl Beschäftigten bestand das Risiko, dass sich nicht genügend Fälle von Beschäftigten mit psychischer Arbeitsunfähigkeit finden würden. Aussagen über die Verhältnisse in KMU können im Rahmen dieser Studie also nicht getroffen werden. Ein solcher Fokus könnte für weitere Untersuchungen interessant sein, würde allerdings ein anderes Forschungsdesign erfordern, in das eine größere Anzahl Unternehmen einbezogen werden müsste.

Als erstes Unternehmen habe ich ein Versicherungsunternehmen ausgewählt, zu dem über das SNF-Projekt „Berufliche Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Wirtschaft“, an dem ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt war, bereits ein Feldzugang bestand.Footnote 3 Versicherungsunternehmen umfassen eine große Bandbreite an Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus, Routineanteilen und Modi der Leistungssteuerung: Sachbearbeitung, Kundenberatung, Informatik, Mathematik, Buchhaltung, Administration u.v.m. Dadurch gelangten Fälle von Wiedereingliederungsprozessen aus Bereichen mit variierenden Arbeitsbedingungen, Formen der Zusammenarbeit und Leistungsbewertung ins Sample. Dies erlaubt es, die Bedeutung von Formen der Arbeitsorganisation für Deutungs-, Aushandlungs- und Koordinationsprozesse der betrieblichen Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter zu analysieren. Ich bezeichne dieses erste Unternehmen im Folgenden mit dem Pseudonym Komfortia. Diese Versicherung hat ca. 4000 Beschäftigte in der Schweiz. Zwischen 2015 und 2017 konnte ich an verschiedenen Unternehmensstandorten insgesamt 16 Interviews führen und betriebliche Dokumente sammeln. Um die durch die Datenanalyse angeleiteten Sampling-Entscheidungen zu erklären, nehme ich hier bereits ein paar Ergebnisse vorweg: So zeigte sich in der Versicherung Komfortia, dass insbesondere für Kundenberater hohe psychische Belastungsrisiken bestanden, dass in diesem Bereich besonders viele Fälle psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit vorlagen und eine Weiterbeschäftigung sich oft als schwierig herausstellte, weil dieser Job durch einen hohen Leistungsdruck und die Unmöglichkeit von Teilzeitarbeit gekennzeichnet ist.

Als minimalen Kontrast (Glaser und Strauss 1998) und im Hinblick auf eine „maximale Komparabilität“ (Schultheis 2012, S. 176 ff.) wählte ich ein weiteres Unternehmen aus der Versicherungsbranche aus. Mitentscheidend für diese Wahl war die Frage, inwiefern auch hier die Interpretationsfolie der psychisch überlasteten Kundenberater und weitere damit verbundene Deutungs- und Begründungsmuster vorzufinden wären. Das ausgewählte Unternehmen ist gleich groß, hat also ebenfalls ca. 4000 Beschäftigte in der Schweiz. Ich benenne es mit dem Pseudonym Celestia. Hier gelang der Feldzugang über einen persönlichen Kontakt. Zwischen 2017 und 2018 konnten zehn Interviews geführt, Dokumente gesammelt und bei zwei Anlässen teilnehmend beobachtet werden. Auch wenn hier kein Diskurs über überlastete Kundenberater vorzufinden war, bestätigte sich der Eindruck, dass die Arbeitsbedingungen und Modi der Leistungssteuerung eines Arbeitsbereichs für die Deutung von Arbeitsunfähigkeit und Begründungen von Wiedereingliederungsentscheidungen relevant sind. Es schien daher angemessen, als maximalen Kontrast ein Unternehmen aus einer ganz anderen Branche auszuwählen.

Als maximalen Kontrast habe ich einen industriellen Produktionsbetrieb ausgewählt, der mit ca. 1000 Beschäftigten kleiner ist als die beiden Versicherungsunternehmen. Ich benenne ihn mit dem Pseudonym Industriebetrieb. Das Unternehmen produziert im Bereich der Konsumgüterindustrie und stellt auch Güter für den Export her. Tätigkeiten umfassen hauptsächlich handwerkliche Berufe und einen gewissen Anteil Jobs ohne formale Qualifikationsanforderungen. Dabei handelt es sich vorwiegend um repetitive Fabrikarbeiten, bei denen im Schichtmodell gearbeitet wird. Im Gegensatz zu den Hauptstandorten der Versicherungsunternehmen ist der Produktionsbetrieb, in dem die Datenerhebung durchgeführt wurde, in einer ländlichen Umgebung verortet. Der Kontakt zum Unternehmen kam zustande, weil ich auch hier schon für das Forschungsprojekt „Berufliche Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Wirtschaft“ ein Interview hatte führen können. Im Industriebetrieb konnte ich im Jahr 2017 insgesamt fünf Interviews führen, Dokumente sammeln und bei zwei Anlässen teilnehmend beobachten.

Alle drei Unternehmen genießen in der Öffentlichkeit die Reputation, als Arbeitgeberinnen soziale Verantwortung wahrzunehmen und legen Wert darauf, diesen Ruf nicht zu gefährden. Dies mag als Faktor für die Bereitschaft zur Teilnahme am Forschungsprojekt mitgespielt haben.

3.2 Feldzugang über das betriebliche Gesundheitsmanagement

Die Anfrage bezüglich einer möglichen Datenerhebung richtete ich an die Personalabteilung der Unternehmen oder direkt an das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM). Da dieses eine interne Anlaufstelle für gesundheitlich eingeschränkte Mitarbeitende ist und Eingliederungsmaßnahmen koordiniert, eignete sich das BGM als Koordinationsstelle für die Feldforschung. Das BGM ist die betriebliche Einheit, bei der die Fäden der Begleitung kranker Beschäftigter zusammenlaufen und bei der das Wissen, wer wann von was betroffen war, zentralisiert ist. Dies macht das BGM für die Feldforschung zur strategisch zentralen Akteurin, die dank persönlicher Kontakte zu diversen Betroffenen und deren betrieblichem Umfeld in der Lage ist, Interviewpartnerinnen und -partner zu vermitteln.

Die drei ausgewählten Unternehmen verfügen alle über ein BGM. In den Versicherungen ist es als eigene Fachstelle organisiert und mit mehreren Vollzeitäquivalenten ausgestattet. Im Industriebetrieb handelt es sich um ein alle zwei Wochen tagendes Gremium, das sich aus zwei Personalverantwortlichen, dem Produktionsleiter und einem Mitarbeitervertreter zusammensetzt. Das BGM ist in den drei Unternehmen ähnlich ausgerichtet. Es umfasst eine breite Palette an Angeboten und Aufgaben. Es organisiert Angebote zur Gesundheitsförderung, wie sportliche Aktivitäten für die Beschäftigten, bietet Schulungen und Workshops für Führungskräfte an, die der Sensibilisierung für Gesundheitsfragen dienen sollen und es ist für die Verwaltung von Krankheitsfällen zuständig. Letztere umfasst das so genannte AbsenzenmanagementFootnote 4 bzw. Krankheitsmonitoring: Dabei werden krankheitsbedingte Abwesenheiten von Beschäftigten systematisch beobachtet, ausgewertet und zur Grundlage von Interventionen gemacht, die z. B. den beruflichen Wiedereinstieg erleichtern bzw. beschleunigen sollen. Außerdem gehört dazu die intensivere Begleitung von Beschäftigten, die über längere Zeit arbeitsunfähig sind, wie auch das Koordinieren medizinischer Behandlungen und das Durchführen von Eingliederungsmaßnahmen. In den beiden Versicherungen bietet das BGM zusätzlich Beratung und Begleitung für Beschäftigte in diversen Problemlagen an, ohne dass eine ärztliche Krankschreibung vorliegen muss. Insbesondere die zuletzt genannten Aufgaben erinnern an das klassische Tätigkeitsspektrum der Sozialen Arbeit. In den BGM der drei Unternehmen werden jedoch keine Sozialarbeitenden beschäftigt. Es handelt sich vielmehr um Quereinsteigerinnen aus der betrieblichen Personalarbeit, dem Sozialversicherungswesen, dem Pflegebereich und anderen Gesundheitsberufen.

In der Anfrage an die Unternehmen stellte ich die Fragestellung und Zielsetzung des Forschungsprojekts in groben Zügen vor und schilderte Art und Umfang der anvisierten Datenerhebung. Für die Kontaktierten handelte es sich dabei um eine ungewohnte Anfrage, insbesondere was den eher großen Umfang der Erhebung betrifft. Ähnlich wie in der ethnografischen Feldforschung muss der Feldzugang für eine solche Datenerhebung wiederholt ausgehandelt werden. Wie Breidenstein et al. (2013, S. 50 ff.) festhalten, bereitet ein Gatekeeper das Feld im Idealfall auf die Feldforschung vor. In Unternehmen als Gebilde mit klar definierter Zugehörigkeit und Außengrenzen ist dieser Schritt essenziell. So bedarf die Anwesenheit „Fremder“, d. h. Nicht-Unternehmensangehöriger, einer stichhaltigen Begründung gegenüber anderen betrieblichen Akteurinnen. Im Falle der Studie bestand die Begründungspflicht nicht nur gegenüber hierarchisch höher gestellten Akteuren, sondern auch gegenüber den Personen, mit denen die BGM-Mitarbeitenden ein Vertrauensverhältnis unterhielten und die sie nun auffordern sollten, bezüglich des heiklen Themas psychischer Erkrankungen jemand Aussenstehendem Auskunft zu geben.

Für die Gatekeeper ist diese Forschungsanfrage also eine komplexe Aufgabe. Wie gut sie zu bewältigen ist, hängt für BGM-Verantwortliche auch davon ab, welchen informellen Status das BGM im Unternehmen besitzt: ist es bei der Unternehmensleitung und den Beschäftigten generell anerkannt und unumstritten, so besitzen sie mehr Spielraum, externen Forschenden den Zugang zum Unternehmen zu gewähren. Gerade Personalabteilungen größerer Unternehmen reagieren zunächst oft abwimmelnd auf Forschungsanfragen. So stellten sich die BGM-Leiterinnen der beiden Versicherungen anfänglich als zu beschäftigt und übererforscht dar, sie verwiesen darauf, dass sie bereits etliche Interviews für Qualifikationsarbeiten von Studierenden gegeben haben und beklagten sich über deren unprofessionelles Vorgehen. Bei einem Versicherungsunternehmen erhielt ich zunächst eine unverbindliche Zusage. Jedoch erst nach mehrfachem Nachfragen über einige Monate wurden mir Interviewkontakte vermittelt. Im anderen Versicherungsunternehmen forderte die BGM-Leitung eine Gegenleistung: ich sollte an einer betriebsinternen Schulung als Expertin auftreten und ein Referat zum Thema psychische Belastungen bei der Arbeit halten. Dies diente der BGM-Leitung unter anderem zur internen Rechtfertigung der Unterstützung meiner Feldforschung. Ich ging auf diese Anfrage ein und betrachtete sie als Gelegenheit, erste Eindrücke vom Unternehmen zu gewinnen und einen „Rapport“ zu meiner Gatekeeperin aufzubauen (Breidenstein et al. 2013, S. 63).

Die Art und Weise der Erschließung des Feldzugangs ist laut Breidenstein et al. (2013, S. 59) bereits eine Erkenntnisquelle, aus der man über das Feld lernen kann. So ließ sich daran u. a. ablesen, auf welche Weise die Gatekeeper die Unterstützung des Forschungsprojekts organisationsintern legitimieren mussten. Im Industriebetrieb lief die Aushandlung relativ problemlos ab, was vermutlich mit der Position des BGM-Leiters zu tun hat, der zugleich der Personalchef des gesamten Unternehmens ist und damit über eine starke Verhandlungsposition verfügt. Ein Grund, warum die BGM-Leitenden das Forschungsprojekt unterstützten, lag möglicherweise auch im Anliegen, zu zeigen, dass sich ihr Unternehmen im Bereich psychische Gesundheit engagiert und hier eine Vorbildrolle einnimmt. Zudem handelte es sich bei psychischer Arbeitsunfähigkeit zumindest in zwei Unternehmen um ein Thema, das zum Zeitpunkt der Erhebung als dringendes Problem wahrgenommen wurde.

Der Feldzugang über das BGM hatte für die Feldforschung die Konsequenz, dass ich zu diesen einen engen Kontakt aufbaute. So ging ich nach einer Forschungsgelegenheit mit BGM-Verantwortlichen in der betrieblichen Kantine zum Mittagessen und trat damit auch im informellen Rahmen in ihrem Umfeld auf. Bei den Anlässen, an denen ich teilnehmend beobachtete, wirkte ich wie eine Assistentin der BGM-Verantwortlichen. Von den anderen Interviewpartnerinnen und -partnern wurde ich deshalb als dem BGM nahestehend – und damit als der Arbeitgeberseite zugehörig – wahrgenommen. Für die Datenerhebung war also eine gewisse Reserviertheit und Zurückhaltung bezüglich derjenigen Themen zu erwarten, die die Teilnehmenden gegenüber dem BGM nicht offenlegen wollten, auch wenn ich ihnen die Vertraulichkeit des Gesprächs zusicherte. Trotz dieser Einschränkung erwiesen sich viele Interviewte als erstaunlich offen. Einige von ihnen gaben Informationen preis, von denen sie sagten, dass sie sie gegenüber ihren Vorgesetzten nicht offengelegt hatten. Zu einem Teil ist dies möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die BGM-Verantwortlichen mir vor allem Interviewte vermittelten, zu denen sie ein positives, vertrauensvolles Verhältnis pflegten, weil bei diesen die Wahrscheinlichkeit einer Zusage am höchsten war. Dieses Vertrauensverhältnis übertrugen sie möglicherweise auch auf mich als Vertrauensperson des BGM.

4 Datenerhebung

Um Erkenntnisse zu Prozessen der Deutung, Aushandlung und Koordination betrieblicher Wiedereingliederungsprozesse zu gewinnen, verfolgt die Studie zwei unterschiedliche Strategien: Zum einen habe ich detaillierte Informationen zu konkreten Deutungs- und Aushandlungsprozessen erhoben, wie sie bei individuellen Fällen von Beschäftigten mit psychischer Arbeitsunfähigkeit stattgefunden haben. An diesen Fallbeispielen lassen sich Verläufe und Praktiken der Deutung und Aushandlung beispielhaft und unmittelbar nachvollziehen. Zum anderen dienen die allgemeinen Beschreibungen, Einschätzungen und Erfahrungen von Personen, deren fachliche Funktion mit Wiedereingliederung zu tun hat, als Informationsquelle. Diese waren zudem in der Lage, über formale Prozesse und informelle Praktiken der Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung Auskunft zu geben. Beide Strategien beruhen auf Interviews als Erhebungsmethode (Abschn. 4.4.1). Ergänzende Informationen zu Praktiken, Diskursen und Organisationsstrukturen konnte ich durch gelegentliche teilnehmende Beobachtung und Dokumentenanalyse gewinnen (Abschn. 4.4.3).

4.1 Die Interviews

Für die um einzelne Fälle von Beschäftigten zentrierte Datenerhebung verfolgte ich das Ziel, multiperspektivische Daten zu gewinnen. Wenn möglich sollten mehrere Perspektiven zu einem Fallverlauf berücksichtigt werden: diejenige der betroffenen Beschäftigten, ihrer Vorgesetzen und BGM- oder HR-Verantwortlichen. Interviewt habe ich neun Beschäftigte, die im Zusammenhang mit einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit vom BGM beraten und begleitet wurden. In vier Fällen war es möglich, auch die direkten Vorgesetzten und die begleitenden BGM-Verantwortlichen zu interviewen, bei weiteren fünf konnte ein Interview mit einem der beiden geführt werden. Detaillierte Informationen zu weiteren sechs Fallverläufen konnten ich in Interviews mit Vorgesetzten und/oder BGM-Verantwortlichen gewinnen, ohne dass ein Interview mit den Betroffenen möglich war. Insgesamt liegen also zu 15 Fallverläufen detaillierte Informationen vor. Tab. 4.1 gibt einen Überblick über die Fälle des Samples.

Tab. 4.1 Überblick über die Fälle der betroffenen Beschäftigten

Es gelang also nicht, für jeden Fallverlauf sowohl die Beschäftigten als auch ihre Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen zu interviewen. Zudem liegen zu den Fallverläufen, bei denen dies nicht gelang, Interviews mit unterschiedlichen Akteurstypen vor: Bei einigen konnten nur die Beschäftigten und ihre BGM-Begleitpersonen, bei anderen lediglich die Vorgesetzten sowie die zuständigen BGM-Verantwortlichen interviewt werden. Zwei Fallverläufe konnten sogar nur aus der Perspektive der BGM-Verantwortlichen erfasst werden. Dies schränkt die Vergleichbarkeit der erhobenen Fallverläufe ein. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie, deren Analyseeinheit wie oben erwähnt die Situation und nicht die Fallebene der Wiedereingliederungsverläufe ist, stellt dies jedoch keine grundsätzliche Einschränkung dar.Footnote 6

Der Kontakt zu den Interviewten kam durch das BGM zustande. Wie bereits erwähnt kann davon ausgegangen werden, dass dieser Weg der Kontaktaufnahme die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner dahingehend beeinflusste, dass es sich um Fälle handelte, die zu ihrer BGM-Bezugsperson eine tragfähige Beziehung hatten. Personen, die mit dem BGM in einem Konflikt standen oder dieses gänzlich ablehnten, konnten so nicht ins Sample gelangen, was eine Einschränkung darstellt. Die Interviewten konnten den Ort des Interviews selbst bestimmen. Während die Interviews mit Vorgesetzten, BGM- und HR-Verantwortlichen in deren Büros oder in Besprechungsräumen der Firma stattfanden, entschieden sich ein paar Betroffenen auch für unternehmensexterne Räumlichkeiten, z. B. Cafés.

In den Interviews mit den Beschäftigten orientierte ich mich an der Vorgehensweise der teilnarrativen Interviewführung. Dabei handelt es sich um eine Form des Leitfadeninterviews, bei der man durch das Setzen von Erzählstimuli wiederholt zu Erzählungen anzuregt, in denen die Interviewten Erlebtes nach ihren eigenen Relevanzen ordnen (Helfferich 2011). Während der einzelnen Erzählsequenzen sollen die Interviewten möglichst nicht unterbrochen, sondern nur durch Hörersignale zum Weitererzählen ermuntert werden. Rückfragen werden erst in den Nachfrageteilen gestellt, die sich an jede Teilerzählung anschließen. Die Interviews mit den Beschäftigten begannen mit der Bitte zu erzählen, wie sie zur Firma gekommen sind, mit welcher Tätigkeit sie angefangen haben und wie es sich seither entwickelt hat. Ein zweiter Erzählstimulus beinhaltete die Bitte, ausführlich zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie mit dem BGM in Kontakt kamen und wie es danach weiterging. Diese Erzählung machte in der Regel den Hauptteil des Interviews aus. Anschließend stellte ich den Interviewten Fragen zu ihren Arbeitsbedingungen, zu einzelnen Maßnahmen der Weiterbeschäftigung und Wiedereingliederung sowie zu ihrer aktuellen Arbeitssituation. Die Interviews mit den Beschäftigten dauerten zwischen einer und zwei Stunden.

Auch die fallbezogenen Interviews mit Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen enthielten einen narrativen Teil, in dem ich sie bat, ausführlich zu erzählen, wie sie die betroffene Person kennengelernt haben und wie es dazu kam, dass das BGM eingeschaltet wurde. Die BGM-Verantwortlichen fragte ich innerhalb eines Interviews in der Regel nach mehreren Fällen. Anschließend folgte ein stärker leitfadenstrukturierter Teil, in dem ich nach weiteren Erfahrungen mit psychisch erkrankten Mitarbeitenden fragte, sowie nach Praktiken der Wiedereingliederung, relevanten Organisationsstrukturen und Abläufen im Zusammenhang mit Krankschreibung. Die Interviews mit HR-Verantwortlichen waren hauptsächlich leitfadenstrukturiert und bezogen sich neben den Praktiken und Strukturen der Wiedereingliederung auch auf die Art und Weise der betrieblichen Leistungsbeurteilung und den Umgang mit Leistungsproblemen. Insgesamt habe ich elf Vorgesetzte, sechs BGM-Verantwortliche und fünf Personalverantwortliche interviewt. Diese Interviews dauerten zwischen einer und zwei Stunden. Mit zwei BGM-Verantwortlichen habe ich im Laufe der Feldforschung zudem ein weiteres, in einem Fall sogar noch ein drittes Interview geführt. Sämtliche Interviews habe ich als Audio-Aufnahmen aufgezeichnet und vollständig transkribiert.

4.2 Das Sample

Im Folgenden stelle ich einige Charakteristika des Samples der Fälle von Beschäftigten mit psychischer Arbeitsunfähigkeit dar. Ein Problem des Sampling bestand darin, dass sich nur eine begrenzte Anzahl von Personen überhaupt für ein Interview zur Verfügung stellte, was die Fallauswahl einschränkte. Im Zuge der ersten Analysen des Materials erwiesen sich wie bereits in Abschn. 4.3 erwähnt die Tätigkeit und deren Arbeitsbedingungen als relevanter Hintergrund für die Interpretation und Aushandlung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten. Daher habe ich, soweit eine Wahl möglich war, im Sinne eines theoretical sampling darauf geachtet, Fälle aus unterschiedlichen Tätigkeiten einzubeziehen. Die Grundidee hierbei war, Arbeitsbedingungen nicht (primär) als Faktor für die Entstehung psychischer Probleme in Betracht zu ziehen, sondern als Faktor, der Praktiken, Möglichkeiten und Begründungslogiken im Zusammenhang mit beruflicher Wiedereingliederung beeinflusst.

Die Tätigkeiten der Interviewten verteilen sich bis auf drei Ausnahmen auf die folgenden Felder: Kundenberater im Versicherungsaußendienst, Buchhaltung, IT, Sachbearbeiter oder Tätigkeiten der industriellen Produktion. (Für eine genauere Beschreibung der jeweiligen Arbeitsbedingungen siehe Abschn. 7.1). Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren die Interviewten zwischen 25 und 60 Jahren alt. Bezüglich der Vertretung beider Geschlechter ist das Sample der Beschäftigten unausgeglichen. Weil sich nicht mehr Frauen für ein Gespräch zur Verfügung stellten, konnte ich nur zwei weibliche Betroffene direkt interviewen, während sieben der interviewten Betroffenen Männer sind. Zwar gibt es im Datenmaterial keine konkreten Hinweise darauf, dass das Geschlecht im Deutungs- und Aushandlungsprozess eine Rolle spielt. Aus der Forschung ist jedoch bekannt, dass Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise von psychischen Erkrankungen betroffen sind und unterschiedlich mit psychischen Gesundheitsproblemen umgehen (Rosenfield und Mouzon 2012). So sind beispielsweise Männer zurückhaltender bei der Offenlegung psychischer Probleme sowie der Inanspruchnahme therapeutischer Unterstützung (Brown et al. 2018). Um das Geschlechterverhältnis auszugleichen, bat ich deshalb Vorgesetzte und BGM-Verantwortliche um ausführliche Schilderungen zu den Verläufen weiblicher Betroffener. Das gesamte Sample der Fälle setzt sich somit aus zehn männlichen und fünf weiblichen Beschäftigten zusammen. Die Untervertretung der subjektiven Perspektive weiblicher Betroffener stellt aber dennoch eine Einschränkung der Studie dar. Hinsichtlich der medizinischen Diagnosen dominierte, wo überhaupt eine Diagnose gestellt bzw. kommuniziert war, die Depression.

Erwähnenswert ist zudem, was für Verläufe im Sample vertreten sind. Von den insgesamt 15 BGM-Fällen galten zum Zeitpunkt der Datenerhebung sechs als abgeschlossen. In drei Fällen waren die Betroffenen wieder zu denselben Bedingungen wie vor der Krankschreibung an ihrem angestammten Arbeitsplatz tätig. In drei Fällen war das Arbeitsverhältnis beendet worden bzw. seine Auflösung stand kurz bevor. Nimmt man den von den Akteuren erwarteten bzw. vereinbarten Abschluss der BGM-Begleitung hinzu, zeigt sich folgendes Bild: In sechs Fällen findet eine Wiedereingliederung zu denselben Bedingungen statt, bzw. wird angestrebt. In drei Fällen war eine Wiedereingliederung unter angepassten Bedingungen im Gespräch, etwa durch eine Reduktion des Pensums oder den Wechsel des Arbeitsplatzes. Es ist davon auszugehen, dass Fälle, in denen eine Weiterführung des Arbeitsverhältnisses von den Beteiligten als realistisch und erstrebenswert angesehen wird, in diesem Sample übervertreten sind. Baer et al. (2017, S. 13) belegen anhand einer Befragung von Führungskräften in der Schweiz, dass es bei psychischen Erkrankungen häufiger zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses kommt. Diese Zusammensetzung des Samples ist vermutlich wiederum der Vermittlung der Fälle durch die BGM-Verantwortlichen geschuldet, die entweder geneigt waren, besonders „erfolgreiche“ Fälle zu präsentieren oder Interviewpartner vermittelten, zu denen sie ein gutes, wenig belastetes Verhältnis pflegten.

4.3 Weitere Daten und Datenübersicht

Ergänzend zu den Interviews dienen betriebliche Dokumente und Feldnotizen aus teilnehmender Beobachtung als Datenmaterial. Teilnehmend beobachten konnte ich im Industriebetrieb bei einer BGM-Sitzung zum Thema psychische Gesundheitsprobleme, zudem nahm ich an einer ca. einstündigen Betriebsbesichtigung teil. In der Celestia nahm ich an zwei Schulungen zur Sensibilisierung für das Thema Gesundheit und psychische Belastungen teil. Bei der einen unterstützte ich die zuständige BGM-Verantwortliche bei der Vorbereitung, bei der anderen hielt ich selbst einen Vortrag. Zudem nahm ich in beiden Unternehmen an informellen Mittagessen mit HR- und BGM-Mitarbeitenden teil. Diese Beobachtungsgelegenheiten erwiesen sich als aufschlussreich hinsichtlich der betrieblichen Diskurse zum Thema psychische Belastungen und Erkrankungen. Die Beobachtungen habe ich jeweils direkt nach den Anlässen als Feldnotizen schriftlich festgehalten.

Zudem erhielt ich von den BGM- und HR-Verantwortlichen folgende internen Dokumente: Präsentationen und Statistiken zum BGM der beiden Versicherungsunternehmen, ein Sitzungsprotokoll einer BGM-Sitzung im Industriebetrieb sowie einen HR-Leitfaden zum Disziplinarverfahren der Komfortia. Diese Dokumente geben Aufschluss über betriebliche Formate, die den Umgang mit Langzeitkranken, Konfliktfällen und Leistungsproblemen strukturieren.

Tab. 4.2 gibt eine Übersicht über die erhobenen Daten.

Tab. 4.2 Datenübersicht

5 Forschungsethische Fragen

Die multiperspektivische Erhebung von Fallinformationen zu einem persönlichen und tabuisierten Thema wie psychische Erkrankungen bringt aus forschungsethischer Sicht Herausforderungen mit sich. Diese betreffen zum einen die Frage der Anonymisierung und Vertraulichkeit der Daten und zum anderen die potenziellen Auswirkungen der Datenerhebung auf das Feld und die betroffenen Beschäftigten. So könnte die spezielle Aufmerksamkeit durch eine externe Forscherin bei betrieblichen Akteuren zu einer verstärkten Wahrnehmung der Situation als problematisch führen, was sich negativ auf die Betroffenen auswirken könnte. Ähnlich angelegte Untersuchungen begründen den Verzicht auf eine multiperspektivische Erhebung von Falldarstellungen denn auch mit dem Verweis auf Forschungsethik (Alsdorf et al. 2017, S. 13; Windscheid 2019b, S. 165), jedoch ohne weiter auszuführen, in welcher Hinsicht Vorbehalte bestehen.

Die Problematik, dass durch die Aufmerksamkeit der Forscherin die Wahrnehmung der Interviewten beeinflusst werden kann, ist im Forschungsfeld der vorliegenden Studie als begrenzt einzuschätzen. Eine Problemfokus wurde nämlich bereits dadurch etabliert, dass das BGM die betroffenen Beschäftigten begleitet und auch die Vorgesetzten im Umgang mit der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit berät.

Ein Problem des Datenschutzes besteht bei der Datenerhebung: Im Wissen, dass die Forscherin durch ihre verschiedenen Einblicke mehr weiß als sie selbst, könnten Interviewte versuchen, Informationen von ihr zu erhalten. Um dieser Problematik zu begegnen, habe ich das fallbezogene Interview mit den Vorgesetzten, BGM- oder HR-Verantwortlichen nach Möglichkeit zeitlich vor das Interview mit den betroffenen Beschäftigten gelegt. Dadurch war klar, dass ich bei diesen Interviews noch nichts zur Perspektive der Betroffenen wusste und auch durch Mimik und Reaktionen auf Darstellungen der Interviewten keine Informationen über sie preisgeben konnte. Selbstverständlich wurden die Betroffene bei der Interviewanfrage informiert, dass ich auch mit ihren Vorgesetzten bzw. BGM-Verantwortlichen sprechen würde, und willigten im Einverständnis damit ins Interview ein.

Ein weiteres Anonymisierungsproblem stellt sich bei der Darstellung der Forschungsergebnisse. Werden zur Untermauerung von Analyseergebnissen Details zu Fallbeispielen und Ausschnitte aus dem Datenmaterial veröffentlicht, besteht die Möglichkeit, dass sich die in den Fall involvierten Parteien gegenseitig erkennen, falls sie die Publikation lesen. Dies ist möglich, auch wenn Merkmale zur Identifizierung der Befragten verändert werden. Der ethische Grundsatz der Anonymisierung ist in der qualitativen und insbesondere der ethnografischen Forschung, die oft mit multiperspektivischer Datenerhebung arbeitet, insofern nur eingeschränkt umsetzbar (von Unger et al. 2014; Breuer et al. 2017; van den Hoonaard 2003). Ein möglicher Umgang mit dieser Problematik besteht darin, Analyseergebnisse nur beschränkt anhand von Einzelfällen und Datenausschnitten zu untermauern und sie stattdessen auf einer höheren Abstraktionsebene zu präsentieren (Breuer et al. 2017, S. 379). Dies schränkt wiederum die intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse ein und verunmöglicht damit, einem zentralen Gütekriterium für die Darstellung qualitativer Forschungsergebnisse zu genügen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 401 f.). Eine weitere Strategie besteht darin, sich nach möglichen Rückwirkungen der Veröffentlichung von Daten auf das Forschungsfeld zu fragen (Breuer et al. 2017, S. 381). Erfolgt die Publikation erst einige Jahre nach der Datenerhebung, sind möglicherweise keine größeren Auswirkungen bzw. kein größeres Interesse mehr zu erwarten (van den Hoonaard 2003).

Im Fall der vorliegenden Studie liegt die Datenerhebung beim Abschluss des Manuskripts bereits drei bis sechs Jahre zurück. Einige Interviewte werden zum Zeitpunkt der Publikation nicht mehr in derselben Organisationseinheit oder gar im selben Unternehmen arbeiten. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die beschriebenen Problem- und Arbeitssituationen in vielen Fällen bereits stark verändert haben. Um dennoch negative Auswirkungen der Veröffentlichung zu verhindern, greife ich zum Teil auf die Strategie der „ausschnitthaften Veröffentlichung“ (Breuer et al. 2018, S. 379) zurück: so verzichte ich auf die Publikation der vollen Fallanalysen, in denen sämtliche Informationen zu einem Fallbeispiel versammelt sind. Bei den zwei Fallanalysen, die im empirischen Teil präsentiert werden, handelt es sich um gekürzte Versionen. Darüber hinaus diskutiere ich Aspekte aus Fallbeispielen mit so wenig Kontextinformationen wie möglich.

6 Datenanalyse

Zur konkreten Umsetzung des Kodierens von Daten im Rahmen der Grounded Theory-Analyse formulieren Strauss (1987) sowie Strauss und Corbin (1996) Faustregeln: Die Analyse beginnt mit dem offenen Kodieren, das zunächst dazu dient, sich von der Konkretheit und Selbstverständlichkeit der Daten zu lösen, um sie von einer konzeptuellen Ebene aus begreifen zu können (Strauss 1987, S. 28 ff.). Dabei sind entweder soziologisch konstruierte Kodes zu vergeben, die sich aus dem Fach- oder Kontextwissen der Forscherin ergeben, oder so genannte „In-Vivo-Kodes“, also Begriffe, die von den Akteurinnen im Forschungsfeld selbst verwendet werden. Beim offenen Kodieren geht es darum, erste Konzepte zu entwickeln, nach ihren verschiedenen dimensionalen Ausprägungen zu suchen, Zusammenhänge zu entdecken und weiterführende Fragen zu generieren. Vorläufige Erkenntnisse sind als „Memos“ auszuformulieren und getrennt von den Daten aufzubewahren. Im Schritt des axialen Kodierens, der darauf abzielt, mehr über die Beziehungen zwischen Konzepten herauszufinden, gilt es, analytisch vielversprechende Kategorien herauszugreifen und um ihre „Achse“ weitere Konzepte zu entwickeln. Dabei soll das Kodierparadigma (vgl. Abschn. 4.2) die Aufmerksamkeit der Forscherin lenken (Strauss und Corbin 1996, S. 78–86). Während des Analyseprozesses wechselt man beständig hin und her zwischen offenem und axialem Kodieren.

Das Datenmaterial der vorliegenden Studie wurde komplett offen kodiert. Ergänzend zum Analyseverfahren der Grounded Theory habe ich parallel zum offenen Kodieren Fallanalysen zu den einzelnen betroffenen Beschäftigten und den zu ihrem „Fall“ stattfindenden Deutungs- und Aushandlungsprozessen angefertigt. Dies bot sich insbesondere bei den Fällen an, zu denen Interviews aus unterschiedlichen Perspektiven vorliegen. Die Fallanalysen erwiesen sich als anregend für das offene Kodieren im Hinblick auf Deutungs- und Aushandlungsprozesse, weil durch das Kombinieren unterschiedlicher Perspektiven umstrittene Definitionen, Aushandlungsmomente und gemeinsame Handlungsanliegen ersichtlich wurden. Relativ bald habe ich zudem als ergänzende Analysemethode Situationskarten erstellt, was für das offene Kodieren und Verfassen von Memos ebenfalls Anregungen brachte.

Zunächst sei das Vorgehen bei den Fallanalysen eingehender beschrieben: das Ziel war es, den im Fall einer erkrankten Person erfolgten Deutungs-, Aushandlungs- und Koordinationsprozess aus den unterschiedlichen erhobenen Perspektiven detailliert zu rekonstruieren. Dabei orientierte ich mich an folgenden Fragen: Welches waren entscheidende Momente der Deutung und Aushandlung? Welche Interpretationsmuster fallen auf? Die Analyse mündete in das schriftliche Festhalten des Verlaufs und der dabei entwickelten analytischen Kodes. Zwei Beispiele solcher Fallanalysen sind in Abschn. 5.1 und 8.1 in gekürzter Fassung in die Ergebnispräsentation integriert. Da es sich bei den Interviews um retrospektive Erzählungen handelt, bilden Fallanalysen die „objektiven“ Aushandlungsprozesse nicht eins zu eins ab. Vielmehr erlauben sie es, die rückblickenden Interpretationen der involvierten Akteure miteinander zu vergleichen. Sowohl die Selbstdarstellungsstrategien der Befragten als auch allfällige Inkonsistenzen zwischen den Interpretationen erwiesen sich als aufschlussreich. So wird an der Selbstpräsentation und Identitätskonstruktion der Interviewten deutlich, von welchen alternativen Interpretationsmustern, die im Unternehmen präsent sind, sie sich abgrenzen. Inkonsistenzen zwischen den Perspektiven können darüber Aufschluss geben, welche Informationen Akteurinnen sich gegenseitig vorenthalten haben. Es kann zum Beispiel deutlich werden, dass es sich bei einer vermeintlichen Einigung nur um einen Kompromiss handelte. Zudem kann die Rolle, die dritte Akteure als Vermittler spielten, klarer ersichtlich werden. Für die Fallanalysen habe ich Schlüsselstellen in den Interviews Zeile für Zeile analysiert (Strauss und Corbin 1996, S. 53).Footnote 8

Parallel und in Wechselwirkung mit den Fallanalysen habe ich das Datenmaterial mittels der Analysesoftware Atlas.ti offen kodiert. Die gebildeten Kodes habe ich regelmäßig an weiterem Material überprüft und weiterentwickelt. Beispiele für Kodes, die bereits in einer frühen Analysephase entstanden und sich bis am Schluss als relevant erwiesen, sind: Deutungsarbeit, Einordnung als Problem, Kausalerklärung, Identitätsarbeit/Gesichtswahrung, Normalisierung/Entstigmatisierung, Entstehen von Rechtfertigungsbedarf, Plausibilisierung des Leistungsausfalls, Herstellung von Akzeptanz bezüglich Eingliederungsmaßnahmen, Rechtfertigungsarbeit. Eine Illustration anhand von Datenmaterial erfolgt im empirischen Teil. Weitere Kodes habe ich anhand der Interviewpassagen zu den allgemeinen Praktiken und formalen Strukturen der Wiedereingliederung entwickelt, wie zum Beispiel Kontaktpraktiken des BGM, betriebliches Krankheitsmanagement, Anpassung Arbeit.

Neben dem offenen Kodieren habe ich axial kodiert, um verschiedene Dimensionen und Ausprägungen der erarbeiteten Kategorien zu entwickeln und sie zu anderen Kategorien in Beziehung zu setzen. Dies sei kurz am Kode Kausalerklärung (in Bezug auf die Erkrankung) illustriert: eine Kausalerklärung kann entweder monokausal oder multikausal ausgeprägt sein. Im Prozess der Wiedereingliederung ist das Erarbeiten einer Kausalerklärung für die Akteurinnen ein relevantes Handlungsproblem. Das Kommunizieren einer Kausalerklärung kann ein entscheidender Moment sein in der Aushandlung von Wiedereingliederungsperspektiven. Zudem kann eine Kausalerklärung zur Rechtfertigungsarbeit der Akteure beitragen.

Ebenfalls parallel zu den Fallanalysen und zum Kodieren habe ich Situationskarten erstellt. Karten im Rahmen der Grounded Theory-Analyse sind nach Clarke (2003, S. 560) nicht als analytische „Endprodukte“ anzusehen, sondern dienen dazu, die „Daten aufzubrechen“ und die Analyse anzuregen. Sie stellen insofern „analytische Übungen“ dar. Es bietet sich an, Karten für Datenmaterial anzufertigen, das bereits kodiert oder zumindest genau gelesen wurde. Das Erstellen von Karten soll zum Verfassen von Memos anregen. Nach Clarke (2003, S. 561) geben Situationskarten Aufschluss darüber, welche Elemente in einer Situation eine Rolle spielen. Sie umfassen „all pertinent human and nonhuman, material and symbolic/discursive elements of a particular situation as framed by those in it and the analyst“. Als erste Version wird eine „messy map“ erstellt. Hier werden alle Elemente ungeordnet aufgeführt. In einer zweiten Version wird eine geordnete Situationskarte erstellt, in der die Elemente der Situation in Kategorien eingeordnet werden, wie menschliche Akteurinnen, nicht-menschliche Elemente, kollektive Akteure, zeitliche und räumliche Elemente, Debatten, diskursive Konstruktionen, symbolische Elemente, Diskurse, etc.

Für die vorliegende Studie wurden Situationskarten sowohl in Bezug auf die Fälle einzelner Beschäftigter als auch auf einer allgemeinen Ebene erstellt. Situationskarten sollen in erster Linie dazu anregen, über das Datenmaterial nachzudenken, generative Fragen zu entwickeln und tentativ Zusammenhänge zwischen verschiedenen Situationselementen herzustellen. Anhand geordneter Situationskarten lassen sich relationale Analysen durchführen. Dazu werden Elemente eingekreist und mit beliebigen anderen Elementen auf der Karte in Verbindung gesetzt. Während einige dieser Beziehungen banal oder uninteressant sein mögen, können dadurch umgekehrt auch überraschende Zusammenhänge deutlich werden (Clarke 2003, S. 569). Die dabei entstehenden Ideen und Überlegungen werden in der Form von Memos festgehalten.

Schließlich sei noch das Vorgehen zur Integration der Analyseergebnisse erläutert. Nach der klassischen Grounded Theory-Analyse, wie sie von Strauss und Corbin vertreten wird, sollte sich im Laufe der Analyse eine Kategorie entwickeln lassen, die darüber Aufschluss gibt, inwiefern ein Phänomen für die Handelnden relevant und problematisch ist. Eine solche Schlüsselkategorie sollte sich dazu eignen, die Variationen im jeweiligen Phänomen zu erklären (Strauss 1987, S. 34 f.). Außerdem sollte sie sich mit anderen wichtigen Kategorien mühelos in Beziehung setzen lassen. Ist eine solche Schlüsselkategorie festgelegt, geht man zum Schritt des selektiven Kodierens über: alle Kategorien werden systematisch zur Schlüsselkategorie in Beziehung gesetzt (ebd., S. 69). Auch in dieser Phase des Analyseprozesses kann man weiterhin offen und axial kodieren. In Anlehnung an Clarke wird für die Analyse der vorliegenden Studie Abstand genommen vom Ziel, eine einzelne Kategorie zu definieren, über die sich alle in der Situation relevanten Prozesse und damit verbundenen Handlungsprobleme entschlüsseln lassen. Dennoch war es hilfreich, den Analyseprozess auf ausgewählte Kategorien zu fokussieren, um die verschiedenen analytischen Ideen und Konzepte zu einem zusammenhängenden Argumentationsgebäude zu integrieren. Folgende Kategorien erwiesen sich als fruchtbar für die Integration der Analyseergebnisse: Entstehen von Rechtfertigungsbedarf, Rechtfertigungsarbeit, Herstellung von Akzeptanz bezüglich Eingliederungsmaßnahmen. Abb. 4.1 stellt ein Diagramm dar, das im Rahmen der Ergebnisintegration entstand.

Abb. 4.1
figure 1

Integratives Diagramm

Die Kasten im Zentrum des Diagramms (Rechtfertigungsbedarf und Rechtfertigung) beziehen sich auf ein zentrales Handlungsproblem, das sich den Akteurinnen der Wiedereingliederung stellt: Eingeschränktes Arbeitsvermögen und Eingliederungsmaßnahmen erzeugen innerhalb der Unternehmen Rechtfertigungsbedarf, sowohl gegenüber Arbeitskollegen im unmittelbaren Umfeld als auch gegenüber dem höheren Management und einer innerbetrieblichen Öffentlichkeit. Viele Handlungen der involvierten Akteurinnen beziehen sich darauf, diesen Rechtfertigungsbedarf zu reduzieren. In gewissen Situationen formulieren sie zudem explizite Rechtfertigungen. Daraus resultieren teilweise Anforderungen und Dynamiken, die sich konträr zu den Zielen der beruflichen Rehabilitation verhalten. Diese Argumentationslinie führe ich im folgenden empirischen Teil in Kap. 5 und 6 näher aus. Der Kasten links oben in Abb. 4.1 macht darauf aufmerksam, dass der besagte Rechtfertigungsbedarf von den Arbeitsbedingungen des Arbeitsumfelds der Betroffenen abhängt. Auf diesen Zusammenhang gehe ich in Kap. 7 ein.

Über den in Abb. 4.1 dargestellten Zusammenhang hinausgehend kann eine Wiedereingliederung noch in weiterer Hinsicht Rechtfertigungsbedarf erzeugen. Getroffene Maßnahmen müssen auch aus der Sicht von HR- und Eingliederungsverantwortlichen verantwortbar sein. In Fällen, in denen es im Zusammenhang mit einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit zu einem Konflikt kommt, können sich die Bemühungen der HR- und Eingliederungsverantwortlichen auch darauf beziehen, die „Fairness“ von Personalmaßnahmen sicherzustellen. Dies führe ich in Kap. 8 und 9 aus. Umgekehrt suchen Betroffene in solchen Konfliktsituationen nach Wegen, ihre Kritik an Vorgesetzten, der Firma oder den Arbeitsbedingungen anzubringen. Darauf gehe ich schließlich in Kap. 10 ein.