In den drei untersuchten Unternehmen gehört es zu den Hauptaufgaben des BGM, sich um die Wiedereingliederung gesundheitlich eingeschränkter Beschäftigter zu kümmern. Die Devise lautet, dass eine Wiedereingliederung, soweit möglich und von den Betroffenen gewünscht, in jedem Fall versucht wird. Letztlich findet ein großer Teil der Eingliederungsarbeit jedoch an den konkreten Arbeitsplätzen und im Arbeitsalltag der Betroffenen statt und wird durch die Betroffenen selbst, ihre Vorgesetzten oder ihre Kolleginnen geleistet. In diesem Kapitel präsentiere ich die im empirischen Material vorgefundenen Wiedereingliederungsstrategien als „Maßnahmen“ im weiteren Sinne. Im Fokus steht die Frage, wie ihre Umsetzbarkeit durch die Rahmenbedingungen der Arbeitsorganisation beeinflusst wird und welche Rolle der dabei entstehende Rechtfertigungsdruck spielt.

Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen wirken sich zum einen darauf aus, wie unkompliziert Eingliederungsmaßnahmen organisatorisch umsetzbar sind. Zum anderen können Eingliederungsmaßnahmen mit den in einem Arbeitsbereich geltenden Leistungsnormen und Anerkennungsordnungen konfligieren und sich insofern als rechtfertigungsbedürftig erweisen. Handlungsbedarf ergibt sich bereits dann, wenn die Maßnahmen aus der Sicht betrieblicher Akteurinnen als unangemessen oder ungerecht wahrgenommen werden könnten. Die Situation eines entstehenden Rechtfertigungsbedarfs beschreiben Boltanski und Thévenot (2007, S. 188) als „Szenerie der Streitigkeit“:

Die Infragestellung einer Situation beginnt zunächst damit, dass Disharmonien zwischen den Größen der in der Situation beteiligten Personen und Objekte aufgezeigt und als Schwächen beziehungsweise Defekte hingestellt werden. Die Szenerie der Streitigkeit schließt sich, wenn eine fehlerhafte Größe, also eine Ungerechtigkeit oder eine Unrichtigkeit in einem Arrangement aufgezeigt wird. (Hervorhebungen i. O.)

Im Datenmaterial der Studie wirkt sich Rechtfertigungsbedarf bereits dann im Handeln der Akteure aus, wenn diese Disharmonien von anderen (noch) nicht als „Schwächen“, „Defekte“ oder „Ungerechtigkeiten“ und „Unrichtigkeiten“ benannt wurden. Es reicht schon aus, dass es aus der Perspektive der Handelnden einen potenziellen Anlass für eine solche Kritik geben könnte.

Je größer der Rechtfertigungsbedarf, desto schwieriger wird die Umsetzung der Maßnahmen und Wiedereingliederungsstrategien. Rechtfertigung bedeutet zum einen zusätzlichen Aufwand, vor dem die Akteurinnen zurückschrecken können. Zum anderen können Maßnahmen, durch welche der Wiedereinstieg erleichtert werden soll, von den Betroffenen als Stigmatisierung erlebt werden. Ein Personalverantwortlicher berichtet, dass Betroffene Maßnahmen zur „Erleichterung“ des Wiedereinstiegs oft nicht wünschen, weil sie sich durch sie als weniger leistungsfähig gebrandmarkt fühlen würden:

Manchmal muss man gewisse Erleichterungen machen, aber das WOLLEN sie meistens NICHT. Die MEISTEN Mitarbeiter wollen ja wieder MÖGLICHST schnell, lieber heute als morgen, NORMAL wieder arbeiten können, nicht auffallen, keine Spezialbehandlung, nichts.

Wiedereingliederungsmaßnahmen zielen darauf ab, den Beschäftigten den Wiedereinstieg am Arbeitsplatz zu erleichtern. Die zu diesem Zweck erfolgenden Anpassungen von Arbeitszeiten, -rhythmen und Aufgaben bedeuten eine Abweichung von den für die restliche Belegschaft geltenden Standards. Das Ausmaß, in dem solche Anpassungen als „Spezialbehandlungen“ wahrgenommen werden, hängt mit den in einem Arbeitsbereich gängigen Leistungsstandards und den Formen der Arbeitsorganisation zusammen.

Im Datenmaterial zeigen sich verschiedene Muster, wie Akteure auf den wahrgenommenen Rechtfertigungsbedarf reagieren. Das Antizipieren einer mangelnden Akzeptanz von Wiedereingliederungsaktivitäten kann wie bereits erwähnt dazu veranlassen, auf bestimmte Maßnahmen im Vornherein zu verzichten. Angesichts einer zweifelhaften Akzeptanz kann es zweitens zu Kompromisslösungen kommen: in gewissen Fällen werden die Maßnahmen zwar offiziell implementiert, in der Praxis aber nur teilweise umgesetzt. Drittens versuchen Akteurinnen, Akzeptanz herzustellen, indem sie explizite Rechtfertigungen formulieren (vgl. Kap. 6) oder eine erwartete Kritik über (symbolische) Gegenleistungen, wie z. B. spezielle Aufmerksamkeiten oder kleinere Geschenke besänftigen. Die ersten beiden Strategien führen dazu, dass Eingliederungsmaßnahmen nicht oder nicht vollständig umgesetzt werden können, während die dritte Strategie mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist.

Das vorliegende Kapitel ist einer detaillierten Betrachtung der im Material vorgefundenen Wiedereingliederungsmaßnahmen gewidmet. Ich analysiere, inwiefern deren Umsetzbarkeit von den Arbeitsbedingungen und den Formen der Arbeitsorganisation beeinflusst wird (Abschn. 7.2). Anschließend setze ich die Resultate in Bezug zu den arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen der Entgrenzung, Selbstorganisation, indirekten Steuerung und Vermarktlichung sowie der Standardisierung und der Leistungs- und Kostenkontrolle (Abschn. 7.3). Zunächst seien die häufigsten Tätigkeiten der Betroffenen, sowie ihre Arbeitsbedingungen kurz charakterisiert (Abschn. 7.1).

1 Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen

1.1 Tätigkeiten im „Innendienst“

Sieben betroffene Beschäftigte sind in diversen Dienstleistungstätigkeiten innerhalb der Versicherungen beschäftigt. Es handelt sich mehrheitlich um Funktionen mit administrativem Charakter. Im Vergleich zum Außendienst, bei dem der direkte Kundenkontakt im Fokus steht, gelten sie zwar als „Backoffice“-Tätigkeiten, doch haben fast alle in irgendeiner Form und mit einer gewissen Regelmäßigkeit Kontakt mit Kundinnen und sind dabei mit Belastungen konfrontiert, die aus der Erforschung der interaktiven Dienstleistungsarbeit bekannt sind (Wharton 2016). Besonders Bereiche, die mit der Bearbeitung von Unfällen, Invalidität oder Todesfällen zu tun haben, gelten innerhalb der Versicherungen als beanspruchend, weil Emotionsarbeit gefordert ist, wenn man weinende, unter Schock stehende Kunden am Telefon beraten muss.

Die Abteilungen der Interviewten sind von Kostendruck geprägt, der sich in einer knappen Personalplanung niederschlägt. Beide Versicherungen haben in den letzten Jahrzehnten im Zuge von Umstrukturierungen und Sparmaßnahmen Personalkapazitäten abgebaut. Im Rahmen der Umstrukturierungen wurden zudem Stellenprofile verändert, was in gewissen Fällen zu einer Vervielfältigung der Aufgaben führte. Mitarbeitende, die früher vor allem administrativ tätig waren, müssen zum Beispiel vermehrt auch Kundenanfragen beantworten.

Die Abteilungen, in denen die Beschäftigten des Samples arbeiten, sind in unterschiedlichem Maß von Zeitdruck geprägt. Besonders ausgeprägt ist der Zeitdruck in Abteilungen, die von Versicherten gemeldete Schadenfälle bearbeiten. Für die Bearbeitung von Schadenfällen gelten zum Teil Vorgabegeschwindigkeiten. Eine Abteilung der Komfortia, die so genannte Bagatellschäden bearbeitet, konfrontiert ihre Beschäftigten regelmäßig mit einem Vergleich des individuellen Postkorbstands der einzelnen Teammitglieder. Die Mitarbeitenden sehen also nicht nur, wie viele ausstehende Aufgaben sie selbst noch erledigen müssen, sondern werden auch über den Stand ihrer Kollegen informiert. Über diese Maßnahme wird Zeitdruck in gewissem Sinn künstlich hergestellt, um die Beschäftigten zu schnellem Arbeiten anzuhalten. In einer Abteilung der Celestia, die Schadenfälle spezialisiert bearbeitet, wird das Team dagegen halbjährlich darüber informiert, wie viele „Arbeitstage“ es als Kollektiv gegenüber der Zielvorgabe im „Rückstand“ ist.

1.2 Verkaufs- und Kundenberater im Versicherungsaußendienst

Vier betroffene Beschäftigte sind als Kundenberater tätig. Diese gelten in den Unternehmen als besonders anfällig für Erschöpfungsdepressionen. Vor allem in der Komfortia wird dies von vielen Interviewten hervorgehoben. Die Kundenberater sind zuständig für die Akquise und Beratung von Kundinnen, mit dem Ziel, Versicherungspolicen abzuschließen. Wie Robin Leidner (1991) in ihrer Studie zur interaktiven Dienstleistungsarbeit zeigte, wird das Verkaufen von Versicherungen im Gegensatz zu anderen Verkaufstätigkeiten als aggressive, männliche Handlung gerahmt. Auch in den untersuchten Versicherungsunternehmen ist diese Tätigkeit bis heute eine Männerdomäne geblieben. Je nach Organisationsmodell verfügen Kundenberater über ein eigenes Kundenportfolio, das sie in jahrelanger Arbeit aufbauen und pflegen. Ihre Tätigkeit beinhaltet das telefonische Abarbeiten von Kundenkontakten, die Kundenakquise über persönliche und berufliche Netzwerke, sowie Treffen und Besuche bei Kundinnen. Die Berater sind viel unterwegs und können ihre Arbeitstage relativ autonom strukturieren. Umgekehrt müssen sie ausgedehnte Arbeitszeiten in Kauf nehmen, die häufig in die Abendstunden hineinreichen. Die Trennung von Geschäftlichem und Privatem wird in der Arbeit oft verwischt.

Die Arbeit der Kundenberater ist geprägt durch die ergebnisorientierte Steuerung (Menz und Nies 2015). Das Unternehmen gibt jährlich quantitative Ziele vor, wie viele Versicherungen welcher Kategorien zu verkaufen sind. Diese werden in Ziele für die Agenturen und schließlich in Zielvorgaben für die einzelnen Kundenberater übersetzt. Kundenberater werden daran gemessen, inwiefern sie diesen Vorgaben entsprechen. Der Leistungsvertrag macht ein weiteres Spezifikum ihrer Arbeit aus. Als „Garantie“ erhalten sie einen tiefen Grundlohn und darüber hinaus Provisionen auf abgeschlossene Geschäfte und Zuschläge für das Erreichen von Zielvorgaben.Footnote 1 Vom Gesamtlohn müssen auch die hohen Spesen gedeckt werden, die sich aus Fahrkosten oder Restaurantbesuchen mit Kunden ergeben, die man als Kundenberater einzuladen pflegt. Die über den Grundlohn hinausgehenden Lohnbestandteile werden erst nach Jahresende ausbezahlt. Sie können vorbezogen werden, müssen dem Unternehmen aber zurückgezahlt werden, falls man die Beträge nicht erwirtschaftet. Daraus ergibt sich eine potenzielle Schuldenproblematik. Im Fall länger andauernder Misserfolge entsteht ein Teufelskreis, wenn das Gehalt für die nötigen Auslagen nicht ausreicht, weil dann auch wieder das Geld fehlt, um in neue Kundinnen zu „investieren“. Durch ihren Leistungsvertrag sind Kundenberater mit Einkommensunsicherheit konfrontiert und einem beständigen Wettbewerb ausgesetzt.

Um Verkaufserfolge wird in den Versicherungsagenturen geradezu ein Kult praktiziert. Durch die monatliche oder gar wöchentliche Überprüfung des Leistungsstands und die interne Veröffentlichung der individuellen Verkaufszahlen wird der interne Wettbewerb zwischen den Kundenberatern angeheizt. In gewissen Agenturen werden wöchentliche Rankings der Berater publiziert. Verkaufserfolge werden darüber hinaus im Gesamtunternehmen zelebriert. Es gibt jährlich stattfindende Feiern und Preisverleihungen, bei denen die „Top Five“ der erfolgreichsten Berater prämiert werden. Aus dem Erfolgskult leitet sich eine informelle Statusordnung der Kundenberater ab. Die erfolgreichsten Verkäufer genießen einen Star-Status und spezielle Privilegien. Arbeitsaufwand und Erfolg gelten in der Tätigkeit als weitgehend entkoppelt. Die Tätigkeit der Kundenberater erfordert keine formalen Qualifikationen und wird daher oft von Quereinsteigern ausgeübt, denen sie die Gelegenheit verspricht, bedeutend mehr zu verdienen als in ihren angestammten Tätigkeiten.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Anforderungen an die Kundenberater stark verändert. Angesichts der stärkeren Profitorientierung gerät die Kundenbeziehung aus dem Fokus, wodurch die traditionell auf die Befriedigung der Kundenbedürfnisse ausgerichtete Berufsethik unter Druck kommt (Menz und Nies 2015, S. 250 ff.). Zudem wurde die Tätigkeit zunehmend standardisiert. So gibt es neben quantitativen Verkaufszielen nun auch Vorgaben, nach welchem Schema ein Beratungsgespräch abzulaufen hat und wie lange es dauern soll. Darüber hinaus sind Kundenberater dazu aufgefordert, Beratungsgespräche zu dokumentieren, um Daten für das Unternehmen zu generieren. Dadurch ist der administrative Aufwand enorm gewachsen und die Kontrolle wurde intensiviert. Hinzu kommt eine steigende Komplexität, die dem zunehmenden Einsatz von Software-Applikationen geschuldet ist, von denen sich besonders ältere Berater überfordert fühlen.

1.3 IT-Abteilungen

Zwei betroffene Beschäftigte sind in IT-Abteilungen tätig. Die Arbeitsbedingungen der IT-Abteilungen unterscheiden sich deutlich von anderen Dienstleistungstätigkeiten, gerade auch im Hinblick auf die Möglichkeiten für berufliche Wiedereingliederungen, weshalb sie hier separat dargestellt werden. Es zeigen sich Charakteristika, die aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur IT-Branche bekannt sind. Nach der ersten Phase der so genannten New Economy stellte sich ab den 2000er Jahren in vielen Bereichen der IT-Branche eine Arbeitsrealität ein, die durch eine zunehmende Industrialisierung und Vermarktlichung und damit einhergehende Verluste an Autonomie für die Beschäftigten geprägt ist (Kämpf 2015, S. 141 ff.). Neben der Einführung von kennzahlenbasierten, ergebnisorientierten Steuerungsprinzipien haben Zeit- und Kostendruck zugenommen und Personalkapazitäten wurden verringert. Wie in anderen Dienstleistungstätigkeiten wurden Organisationsprinzipien des Lean Management eingeführt, die auf eine Optimierung der Prozesse abzielen und für die Beschäftigten mit einer Leistungsverdichtung verbunden sind (Carter et al. 2013). Diese werden im Bereich der Softwareentwicklung oft mit „agilen“ Methoden kombiniert, die auf Selbstorganisation und Zusammenarbeit im Team setzen (Pfeiffer al. 2014).

Die Bereiche, in denen die beiden Betroffenen arbeiten, sind für die Entwicklung bzw. den Betrieb von IT-Systemen und Software-Applikationen für interne und externe Kundinnen zuständig. Gemeinsam ist den Abteilungen, dass die Beschäftigten einen starken intrinsischen Leistungsanspruch sowie eine hohe Bereitschaft mitbringen, sich in der Arbeit zu engagieren. Die hohen Leistungsansprüche des Teams tragen zum Leistungsdruck bei. Gleichzeitig sind die Abteilungen durch hohen Zeitdruck und mangelnde Personalkapazitäten gekennzeichnet. Vollzeitarbeit ist die Norm. Da IT-Systeme in der Versicherung über Nacht umgestellt werden müssen, werden von Beschäftigten außerdem Zusatzeinsätze in der Nacht oder am Wochenende erwartet.

1.4 „Einfacharbeit“ in der industriellen Produktion

Bezüglich sozialwissenschaftlicher Verortung als Gegenpol zur qualifizierten Wissensarbeit, für die die IT als Paradebeispiel gilt, lässt sich die so genannte industrielle „Einfacharbeit“ einordnen. Als „Einfacharbeit“ werden Tätigkeiten bezeichnet, die keinerlei formale Qualifikationen voraussetzen (Abel et al. 2014, S. 15). Im Industriebetrieb gibt es einige Tätigkeiten, in denen vor allem Arbeiterinnen ohne Berufsausbildung angestellt sind. Es handelt sich zum Teil um Arbeiten am Fließband, aber auch um handwerkliches Geschick erfordernde manuelle Tätigkeiten oder um die Bedienung von Maschinen in Gruppenarbeit. Die Beschäftigten in der industriellen Einfacharbeit sind nach der Darstellung der Interviewten des Industriebetriebs am stärksten von psychischen Erkrankungen betroffen.

Die Beschäftigten sind klassischen, für die Industriearbeit bekannten Belastungen ausgesetzt, wie Schicht- und Nachtarbeit, Monotonie, Lärm, Arbeit in Zugluft oder fensterlosen Räumen. Aufgrund des hohen Anteils repetitiver Serienarbeiten haben viele Abteilungen im Betrieb das Prinzip der job rotation eingeführt. Dennoch führt die einseitige physische Belastung zu körperlichen Abnutzungserscheinungen und einer hohen Zahl Langzeitkrankgeschriebener. Der Betrieb hat langjährige Erfahrung mit der Einrichtung von Schonarbeitsplätzen. Diese werden in der Regel nur vorübergehend zur Verfügung gestellt. Bei länger andauernden gesundheitlichen Einschränkungen ist ein Wechsel auf einen weniger beanspruchenden Arbeitsplatz möglich. Zwischen den unterschiedlichen Arbeitsplätzen gibt es eine Anforderungshierarchie. Als anspruchsvoll gelten handwerkliches Geschick erfordernde manuelle Arbeiten sowie die Gruppenarbeit an Maschinen, wo der Takt vorgegeben ist und man sich als Gruppe koordinieren muss. Interne Wechsel auf schonendere Arbeitsplätze sind mit einer Lohneinbuße verbunden. Deshalb kommt es vor, dass Beschäftigte ihre Arbeit unter Schmerzmitteln verrichten, um trotz körperlicher Abnutzung an ihrem besser bezahlten Arbeitsplatz bleiben zu können. Da die Löhne in geringqualifizierten Tätigkeiten tief sind, fällt bereits eine kleine Lohneinbuße stark ins Gewicht. Die hohen physischen Belastungen schlagen sich – so die Ansicht einiger Interviewter – auch auf die Psyche der Beschäftigten nieder. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung sieht sich der Betrieb mit einer Zunahme psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit unter den Beschäftigten in Jobs ohne formale Qualifikationsanforderungen konfrontiert.

2 Strategien und Strukturen der Wiedereingliederung

Im Folgenden diskutiere ich verschiedene Maßnahmen, die psychisch erkrankten Beschäftigten den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit erleichtern, bzw. verhindern, dass überhaupt eine Krankschreibung nötig wird. Zudem analysiere ich, wie die Umsetzbarkeit dieser Maßnahmen durch Formen der Arbeitsorganisation beeinflusst wird.

2.1 Spielräume für Krankheits- und Belastungsmanagement

Mit einer Krankheit auf längere Dauer zu leben und sich im Alltag einzurichten, bringt für die Betroffenen in der Formulierung von Juliet Corbin und Anselm Strauss (1985) Managementaufgaben mit sich, deren Bewältigung Arbeit bedeutet. Corbin und Strauss unterscheiden verschiedene Arten solcher Arbeit: trajectory bzw. illness-related work bezieht sich auf die Bewältigung von Krankheitssymptomen, den Umgang mit Krisen im Krankheitsverlauf und die Einhaltung der ärztlich verordneten Behandlungen. Kranke, die sich nicht in einer Klinik befinden, müssen zudem ihren Alltag bewältigen, also everyday life work leisten.Footnote 2 Für die Beschäftigten des Samples, die sich im Prozess der Wiedereingliederung befinden, sind beide Arten von Arbeit relevant. Auch wenn sie wieder (teil-)arbeitsfähig sind, sind sie weiterhin von Krankheitssymptomen betroffen und in der Regel geht auch die medizinische Behandlung weiter. Trajectory bzw. illness-related work ist also mit der Erwerbsarbeit im Unternehmen in Einklang zu bringen. Die Bewältigung der Arbeitsaufgaben am Arbeitsplatz wird mit dem beruflichen Wiedereinstieg zu einem Teil des everyday life work, das es unter den veränderten Voraussetzungen des beeinträchtigten Gesundheitszustands zu erledigen gilt.

Nur weil jemand aus ärztlicher Sicht wieder arbeitsfähig ist, heißt das nicht, dass er oder sie die Anforderungen der Arbeitsstelle wieder im vollen Umfang erfüllen kann. Die Bewältigung des Arbeitsalltags kann vermehrte Ruhepausen erforderlich machen, deren Akzeptanz von Seiten der Kolleginnen und Vorgesetzten nicht immer gegeben ist (Charmaz 2010, S. 13). In die Erwerbsarbeit zurückkehrende Beschäftigte müssen also nicht nur fortbestehende Krankheitssymptome oder -folgen bewältigen, sondern darauf achten, dass diese sie beim Erbringen der geforderten Arbeitsleistung so wenig wie möglich behindern. Darüber hinaus müssen sie einen Umgang mit den verstärkten Belastungen finden, denen sie durch die Wiederaufnahme der Arbeit ausgesetzt sind. Die Spielräume, die für das so verstandene Krankheits- und Belastungsmanagement bestehen, hängen von den Formen der Arbeitsorganisation ab. Von Bedeutung ist zum Beispiel, ob es Möglichkeiten gibt, Schwankungen im Arbeitsvermögen abzufedern, indem man sich phasenweise weniger einbringt oder gewisse Leistungsstandards oder die bereichsüblichen Arbeitszeiten nicht einhält.

Die Spielräume des Krankheits- und Belastungsmanagements variieren je nach Form der Arbeitsorganisation, die den Beschäftigten unterschiedlich viel Autonomie gewähren bzw. mehr oder weniger zeitliche Puffer lassen. Im Industriebetrieb ist der zeitliche Rhythmus vieler Arbeitsplätze durch Automaten oder Gruppenarbeit vorgegeben.Footnote 3 Ein Abteilungsleiter erklärt:

der Automat gibt den Takt an. Und wenn jemand nicht hinterher kommt mit Störungen Beheben, tun sie sich untereinander ein bisschen helfen.

Seine Abteilung eignet sich aus diesem Grund schlecht zur Beschäftigung von Personen, die psychisch angeschlagen sind, wie er anhand eines Beispiels erzählt:

du kannst nicht eine Person, der es psychisch ... so schlecht geht, wie es dieser Person ging, von einem Arbeitsplatz, wo jemand eine Einzelarbeit, für SICH Arbeit machen kann, in eine Abteilung reingeben, wo er in eine Maschinenabteilung kommt, wo es LAUT ist, wo es den ganzen Tag WWÜÜÜ, so macht, dann muss sie sich in der Gruppe arrangieren können, sie muss vor- und nachgeben können, sie kann sich nicht in den Vordergrund stellen, sie hat auch ... man muss, man muss miteinander arbeiten, muss sich unterstützen, so reingeben.

Der Arbeitsrhythmus an der Maschine und in der Gruppe erzeugen eine Dynamik, in die sich die Beschäftigten einfügen müssen. Es bleibt wenig Raum, nach den eigenen Bedürfnissen Pausen einzulegen oder langsamer zu arbeiten. Dies ist im Rahmen der „Einfacharbeit“ im Industriebetrieb nur in „Einzelarbeit“, wie z. B. der Qualitätskontrolle, möglich. Demgegenüber wird in den Abteilungen der Versicherungen, die Schadenfälle bearbeiten, die Arbeit zwar individuell verrichtet und ist weniger durchgetaktet. Der zeitliche Druck, Kundenanfragen in vorgegebener Frist zu bearbeiten, lässt jedoch ebenfalls wenig Raum für zeitliche Puffer, in denen mit reduziertem Einsatz gearbeitet werden kann.

Die interviewten Kundenberater und IT-Spezialisten verfügen grundsätzlich über mehr Autonomie in der zeitlichen Strukturierung ihrer Arbeit. Kundenberater arbeiten weitgehend auf sich allein gestellt. Die ergebnisorientierte Steuerung lässt ihnen offen, wann, wo und wie viel sie arbeiten. Wenn es ihnen gelingt, trotz Krankheitssymptome genug zu verkaufen, stellt ein schwankendes Arbeitsvermögen kein Problem dar. In einem Fall des Samples trifft dies zu. Die psychische Erkrankung eines Kundenberaters fällt über längere Zeit niemandem im Betrieb auf (vgl. Abschn. 5.2.2). In anderen Fällen schlagen sich psychische Krisen jedoch sehr schnell darin nieder, dass Kundenberater überhaupt nichts mehr verkaufen. Ein BGM-Berater berichtet über einen solchen Fall:

Ja, dadurch dass er ja Homeoffice gemacht hat, hat man das [seine Krankheit] gar nicht bemerkt, oder. Man hat einfach plötzlich festgestellt, hey du, die Zahlen, die stimmen nicht mehr. Da kommt ja gar nichts mehr.

Die „Zahlen“ stellen hier ein Instrument der unmittelbaren Leistungskontrolle dar, über das Schwankungen des Arbeitsvermögens quasi in Echtzeit nachverfolgt werden können und sich in der Form von verfehlten Ertragszielen niederschlagen. In diesem Fall schränkt die ergebnisorientierte Steuerung die Spielräume für ein schwankendes Arbeitsvermögen drastisch ein.

In den IT-Abteilungen und gewissen administrativen Abteilungen der Versicherungen besitzen die Beschäftigten ebenfalls Spielräume in der zeitlichen Strukturierung ihrer Arbeit. Diese werden aber mitunter durch den starken Zeitdruck eingeschränkt oder durch periodische Schwankungen des Arbeitsvolumens, die im Zusammenhang mit Jahresabschlüssen stehen. Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1) beschreibt eine Situation, in der er kurz vor Jahresabschluss Änderungen an einem IT-System umsetzen sollte, die ihm aber nicht gelangen. Sein Scheitern ist für ihn ein Zeichen, dass er die negativen Auswirkungen seiner Krankheitssymptome auf die Arbeit nicht mehr unter Kontrolle hat und wird für ihn zum Anlass, sich krankschreiben zu lassen.

Und das sind dann schon Momente, also ich ... ich habe zwei Mal dieses System zurückgestellt, das ist mir seit Jahren nicht mehr passiert. Ehrlich. Und es ist meistens etwas, wo man sagen muss, die Vorbereitung ist nicht gut gewesen, man hat gewisse Sachen übersehen, ja, es hat seinen Grund, weil im Normalfall geht man durch einen Change hindurch und ... und das neue System läuft. ((haut auf den Tisch)) Ja, es tut auch weh. Also muss es jetzt eigentlich wirklich, ich habe dort einen hohen Anspruch an mich. Und mir hat das absolut weh getan. Ich habe zwei Mal im Prinzip irgendso um elf gesagt, hey Junge, jetzt musst du, für mich ist jetzt einfach ... finito. Jetzt abstellen, retour, ich sehe es einfach nicht mehr.

Simon Rohner beschreibt, wie er an einer Aufgabe, die ihm sonst problemlos gelingt, gescheitert ist. Erklärend fügt er hinzu, dass er einen „hohen Anspruch“ an sich hat. Die geschilderte Situation ist jedoch nicht nur seinen hohen Ansprüchen an sich geschuldet, sondern auch im organisationalen Kontext zu betrachten: Er befindet sich in einem Spezialeinsatz am späten Abend, den er zusätzlich zu seinem Vollzeitpensum bewältigen soll. Die geringe Fehlertoleranz steht im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt vor Jahresende, an den eine „frozen zone“ anschließt, eine Phase, in der möglichst keine Änderungen an IT-Systemen mehr vorgenommen werden sollen. Dass er seine Fehler als so fatal erachtet, hat also mit diesen organisationsspezifischen Rhythmen und Strukturen zu tun, die im aktuellen Moment wenig Spielraum für Fehler bzw. ein schwankendes Konzentrationsvermögen zulassen.

Im betrieblichen Gesundheitsmanagement lassen sich Ansätze zur Verbesserung der Möglichkeiten zum Krankheits- und Belastungsmanagement ausmachen. In der Celestia wird in Führungs- und Mitarbeiterschulungen das so genannte „80-20-Prinzip“ propagiert. Als Methode des Zeitmanagements soll es helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, Aufgaben nicht perfektionistisch anzugehen, sondern auch einmal etwas abzuschließen, wenn nur 80 % des gewünschten Resultats erreicht sind. Die BGM-Leiterin räumt ein, dass dieses Prinzip nicht für alle Beschäftigten umsetzbar ist, gerade wenn von Vorgesetzten eine hundertprozentige Leistungserfüllung erwartet wird. Das Beispiel stützt die von Nick Kratzer und Wolfgang Dunkel (2011) formulierte These, dass Gesundheits- und Leistungspolitik in Unternehmen entkoppelt erfolgen, wodurch die Effektivität von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung eingeschränkt wird. Die Interventionen zur Gesundheitsförderung setzen zudem auf der individuellen Ebene an und sind bezüglich ihres Nutzens für ein besseres Krankheits- und Belastungsmanagement eher als begrenzt einzuschätzen. Mehr Gewicht haben Interventionen des Managements, die der Reduktion von Belastungen oder der Ermöglichung von zeitlichen Puffern dienen. Mehrere Vorgesetzte des Samples berichten, dass sie durch eine an die individuelle Situation angepasste Arbeitszuteilung informelle Möglichkeiten zum Krankheits- und Belastungsmanagement schaffen. Dies ist aber wiederum nur in Arbeitsbereichen möglich, in denen Aufgabenprofile hinreichend flexibel definiert sind (vgl. Abschn. 7.2.4).

2.2 Organisation der Abwesenheit

Psychische Erkrankungen führen in vielen Fällen zu längeren Krankschreibungen. Betriebe müssen in dieser Zeit einen Umgang mit dem Ausfall der betroffenen Arbeitskräfte finden. Das Fehlen einer Arbeitskraft führt zu organisatorischen Herausforderungen. Meist kann die Arbeit der Erkrankten nicht einfach liegen bleiben. So müssen Aufträge fertiggestellt und Kundenanfragen fristgerecht bearbeitet werden. Die Arbeit der betroffenen Beschäftigten wird in den meisten Fällen auf die am Arbeitsplatz verbleibenden Mitarbeitenden verteilt. Das vorübergehende Anstellen einer Vertretung wird nicht in Betracht gezogen. Als Begründung verweisen Vorgesetzte darauf, dass man nicht wisse, wann die betroffene Person zurückkehrt. Zudem argumentieren einige Interviewte, dass die Rekrutierung einer Stellvertretung ein erster Schritt wäre, die erkrankte Arbeitskraft dauerhaft zu ersetzen. Das Verzichten auf eine Stellvertretung wird entsprechend mit dem Wunsch der Erkrankten begründet, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Außerdem sind die erkrankten Beschäftigten noch im Personalbudget aufgeführt, obwohl ihre Löhne – zumindest in den beiden Versicherungen – über die Krankentaggeldversicherung gedeckt sind. In den beiden Versicherungsunternehmen wird die Rekrutierung von Aushilfskräften durch den Stellenplan verunmöglicht, der eine fixe Obergrenze an Vollzeitäquivalenten pro Abteilung festlegt. Dies ist vor allem in größeren Unternehmen ein übliches betriebliches Format (Nadai et al. 2019, S. 153).

Je nach Steuerungsmodus verfügen Vorgesetzte über die Möglichkeit, die Auslastung ihres Bereichs zu regulieren. Vor allem im Industriebetrieb werden solche Möglichkeiten benannt: hier können Abteilungsleiter bei Personalmangel entscheiden, dass sie weniger Aufträge annehmen. Ein Abteilungsleiter erinnert sich an den Langzeitausfall einer Mitarbeiterin: „man hat dann einfach hier in Kauf genommen, dass halt irgendwie ab und zu eine Arbeit weniger gemacht gewesen ist oder respektive eine Maschine weniger gelaufen ist“. In vielen betrachteten Organisationseinheiten, vor allem in den Versicherungen, gibt es diese Möglichkeit nicht. Das Leistungsvolumen ist durch das Management vorgegeben und kann durch Team- oder Bereichsleiterinnen nicht an den effektiven Personalbestand angepasst werden. Dies führt dazu, dass beim Ausfall eines Teammitglieds dessen Arbeitspensum von den verbleibenden Mitarbeiterinnen erledigt werden muss. Eine Krankschreibung verursacht somit eine Mehrbelastung der am Arbeitsplatz verbleibenden Arbeitskräfte. Krankgeschriebene, die sich dessen bewusst sind, stehen unter Druck, rasch an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, um ihren Kollegen nicht zur Last zu fallen. Gleichzeitig kann sich aus der Mehrbelastung durch den Ausfall einer Arbeitskraft eine Kettenreaktion entwickeln, die weitere überlastungsbedingte Ausfälle zur Folge hat, wie ein Interviewter erklärt:

wenn jetzt ich zum Beispiel ausfalle, haben ja dann wieder meine Arbeitskollegen im Prinzip ja eine höhere Belastung, das ist ja ... das ist ja im Prinzip so eine Art Teufelskreis, dann komme ich wieder zum Wiedereingliedern, aber dafür lüpfts dann jemand anderen, weil der dann eben auch monatelang eine Doppelbelastung gehabt hat.

Angesichts des beschriebenen drohenden Teufelskreises haben Vorgesetzte ein Interesse, ihre Teams nicht zu stark zu beanspruchen. Sie befinden sich im Dilemma zwischen der Sorge für die Beschäftigten und dem Druck, die Leistungsvorgaben zu erfüllen. Der Leiter einer IT-Abteilung spricht diesbezüglich von einer „Zerreißprobe“.

wir sind als Team eigentlich schon vorgängig komplett überlastet gewesen und es ist nicht eine neue Situation gewesen, es ist einfach, es hat sich NOCH mehr verschärft. Ich habe das probiert, bei uns innerhalb ... der Organisation weiter zu eskalieren, aber, das ist nicht verstanden worden. Und das ist dann mehr eine Zerreißprobe dann für mich persönlich gewesen, ... dass wir nicht mehr entsprechend haben liefern können.

Der Ausfall eines Mitarbeiters führt angesichts des ohnehin bestehenden Mangels an Personal zu einer Verschärfung der Überlastung seines Teams. Seine Versuche, beim Management Mittel zur Bewältigung der Lage zu beantragen, scheitern. Die Situation, nicht mehr den Vorgaben entsprechend „liefern“ zu können, erlebt er als große Belastung. Vorgesetzte haben die Verantwortung für das Erreichen der Leistungsvorgaben ihrer Teams und stehen insofern gegenüber dem höheren Management unter Legitimationsdruck. Dieser Druck zeigt sich deutlich im folgenden Zitat der Leiterin einer Abteilung, die Schadenfälle bearbeitet:

Der Vorgesetzte von uns hat auch relativ viel Verständnis, das kann man ihm auch mal erklären, also wenn er sagt, du, hast du gesehen, die Zahlen sind wieder gestiegen, also man, man sieht anhand von den Zahlen, also an der Anzahl Schadenfälle, oder, respektive von den Durchlaufzeiten von diesen Schadenfällen, sieht man ja, wenn sie dann, wenn wir länger BRAUCHEN, um die zu bearbeiten, kommt er dann jeweils schon und sagt, du, die Durchlaufzeiten haben zugenommen und dann sage ich jeweils auch, du, wundere dich nicht, ich habe einen weniger, oder.

Die Leiterin der für Schadenfälle zuständigen Abteilung erläutert die Leistungskontrolle durch ihren Vorgesetzten: Die Leistung ihres Teams bemisst sich am Stand der noch zu bearbeitenden Fälle bzw. an der Geschwindigkeit der Fallbearbeitung. Fehlt ein Teammitglied, so steigt der Stand der zu bearbeitenden Fälle wie auch die Kennzahl der Bearbeitungsdauer an. Die Formulierung, dass ihr Vorgesetzter für diese Situation „Verständnis“ aufbringt, klingt zwar positiv, verdeutlicht aber, dass die Abteilungsleiterin unter dem Druck steht, die Leistungsverschlechterung zu erklären und zu verantworten. Das Beispiel belegt, wie Formate der Leistungssteuerung dazu beitragen, dass Personalausfälle für Führungskräfte zum Problem werden, indem sie zu Rechtfertigungsbedarf gegenüber höheren Vorgesetzten führen.

Wenn Krankheitsausfälle für Linienvorgesetzte bedeuten, dass sie sich vor ihren Vorgesetzen für das Verfehlen von Leistungszielen rechtfertigen und gleichzeitig eine Überlastung ihres Teams in Kauf nehmen müssen, ist mit einer sinkenden Toleranz für solche Fehlzeiten zu rechnen. Die zitierte Abteilungsleiterin argumentiert im Fall eines Beschäftigten, der aufgrund einer Depression wiederholt ausfällt, die regelmäßig entstehenden Mehrbelastungen seien „dem Team“ nicht „zuzumuten“. Der Druck, ein krankheitsbedingt eingeschränktes Arbeitsvermögen zu plausibilisieren, ist unter den beschriebenen Bedingungen groß (vgl. Abschn. 5.3.1). In einem solchen Kontext steigt auch der Rechtfertigungsbedarf weiterer Eingliederungsmaßnahmen. Wenn bereits der Ausfall eines Kollegen zu einer Mehrbelastung des Teams geführt hat, ist dessen Toleranz für weitere Maßnahmen, wie z. B. die Anpassung von Aufgaben beim Wiedereinstieg, begrenzter. Zumindest von sich aus werden Vorgesetzte unter diesen Umständen wenig gewogen sein, solche Maßnahmen zu initiieren.

Nicht in allen Abteilungen wird die Arbeit der Krankgeschriebenen einfach auf das restliche Team verteilt. Gewisse Bereiche der Versicherung Celestia und des Industriebetriebs haben in Formate zur Abfederung krankheitsbedingter Leistungsausfälle investiert. Der Industriebetrieb betreibt einen internen Personalverleih: Abteilungen, die zu einem Zeitpunkt wenig Aufträge haben, leihen ihre Beschäftigten an Abteilungen mit personellen Unterkapazitäten. Dies ist jedoch nur in Tätigkeiten mit ähnlichen Aufgaben oder schneller Einarbeitungszeit möglich. Eine Sachbearbeiterin der Celestia erwähnt einen internen Pool von Mitarbeitenden, die für Stellvertretungen zur Verfügung stehen. In den beiden Versicherungen werden darüber hinaus Ad-hoc-Stellvertretungslösungen erwähnt. Diese haben jedoch meist Ausnahmecharakter und hängen von Zufällen und der Willkür von Vorgesetzten ab. Während des Langzeitausfalls des Kundenberaters Erich Müller beauftragt der Agenturleiter Paul Conradi einen Stellvertreter mit der Betreuung von dessen Kunden:

Und dort habe ich jetzt Glück gehabt, dass ich ... mit dem Leiter Innendienst Kapazität habe, wo der im Prinzip reaktiv diese Kunden hat betreuen können.

Die Ernennung eines Stellvertreters ist nach der Aussage Paul Conradis dem Zufall geschuldet, dass er gerade über personelle Ressourcen verfügte. Eigentlich handelt es sich beim ernannten Stellvertreter um den ehemaligen Leiter des Innendiensts der Agentur, der seinen Posten nach einer Umstrukturierung verloren hatte. Anstatt ihn zu entlassen, beschloss Paul Conradi, ihn für diverse administrative, zuarbeitende Funktionen weiterzubeschäftigen. In diesem Fall handelte Paul Conradi im Interesse, Erich Müller den Wiedereinstieg zu erleichtern. Eine längere Abwesenheit ist nämlich im Falle der Kundenberater weniger für die Kollegen, sondern primär für den krankgeschriebenen Kundenberater selbst problematisch, weil er Kundinnen aus seinem Portfolio verliert, die in dieser Zeit zu anderen Beratern wechseln.

In einem anderen Fall kann ein Vorgesetzter die Spezialaufträge einer krankgeschriebenen Sachbearbeiterin an eine andere Agentur delegieren, da innerhalb der eigenen Agentur niemand die erforderlichen Kompetenzen besitzt:

ich habe meinen Kollegen von [A-Stadt], der hat einen Mitarbeiter und dann haben wir die Telefone von ihr dorthin umleiten können, er hat den Postkorb von ihr elektronisch angeschaut und hat diese ... diese Ware gemacht. Auch jetzt noch, die Tage, wo sie nicht da ist. Aber der ist natürlich irgendwann dann auch am Anschlag, oder, und, den muss man dann auch pflegen, oder, ich habe dann dem auch regelmäßig irgendein Geschenk hochgeschickt oder irgendetwas gemacht, oder, so ein bisschen emotional ins Boot hineinholen.

Die Stellvertretungslösung wird durch die Kooperation des Kollegen in der anderen Agentur ermöglicht, der aus gutem Willen zusätzliche Arbeiten übernimmt. Um sich für den Gefallen erkenntlich zu zeigen, verfolgt der Vorgesetzte die Strategie der symbolischen Gegenleistungen, indem er ihm kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten zukommen lässt. Die beschriebenen Ad-hoc-Stellvertretungen sind im Vergleich zu den institutionalisierten Stellvertretungslösungen wesentlich instabiler. Sie hängen von zufällig vorhandenen Ressourcen, sozialen Beziehungen und der Willkür von Vorgesetzten ab. Aufgrund ihres Ausnahmecharakters können sie leicht als unangemessen und ungerecht kritisiert werden.

In den Versicherungen gibt es Akteurinnen, die sich dafür einsetzen, vermehrt in Formate zur personellen Abfederung von Krankheitsausfällen zu investieren. Diese Vorschläge sind jedoch intern umkämpft. Die BGM-Leiterin der Celestia setzt sich für ein Modell ein, bei dem Pensionierte für kurze Krankheitsstellvertretungen ins Unternehmen zurückgeholt werden können und finanzielle Mittel für ihren Einsatz zur Verfügung stehen. Paul Conradi, Agenturleiter in der Komfortia, lehnt dagegen fixe Stellvertretungsangebote ab, weil er davon ausgeht, dass dies bei den Beschäftigten den Anreiz zur Arbeit zurückzukehren, abschwächen würde. Festzuhalten ist, dass institutionalisierte Formen, die Stellvertretungen garantieren, die Mehrbelastung der verbleibenden Kolleginnen verringern würden. Verringert würde dadurch auch der Rechtfertigungsdruck anschließender Eingliederungsmaßnahmen.

2.3 Stufenweiser Wiedereinstieg

Die stufenweise Wiedereingliederung, auch als therapeutisches Teilzeitpensum bezeichnet, ist in den drei Unternehmen und auch darüber hinaus eine der gängigsten Wiedereingliederungsmaßnahmen bei psychisch erkrankten Beschäftigten (McDowell und Fossey 2014; Voswinkel 2017c; Windscheid 2019b). Die Idee besteht darin, dass die Erkrankten zunächst nur mit einem sehr kleinen Pensum wieder in ihre Arbeit einsteigen, welches in Wochen- oder Monatsschritten gesteigert wird, bis sie ihr früheres Arbeitspensum wieder erreicht haben. Das Vorgehen ist abgestützt durch Therapeutinnen und ärztlich ausgestellte Teilarbeitsfähigkeiten. Es beruht auf der Annahme, dass die erkrankten Beschäftigten schrittweise den Anforderungen ihrer Arbeit wieder ausgesetzt werden und sich langsam an diese gewöhnen, bis sie wieder fähig sind, ihr früheres Pensum zu bewältigen. Eine Personalverantwortliche erläutert das Vorgehen:

was sicher ein Vorteil ist in der Komfortia, ist, dass man ... wenn jemand krank gewesen ist, dass wir sagen bei der Integration, dass jemand auch wirklich Teilzeit zurück kommen kann. Es gibt ja viele Arbeitgeber, die sagen, ja nur 50 oder 100, gleich wieder 100 und wir merken einfach, dass die Leute dann sehr stark überfordert sind, weil wenn man dann zwei drei Monate ausgefallen ist und dann von einem Tag auf den anderen wieder 100 Prozent arbeiten muss, ist das auch sehr eine große psychische Belastung im Sinn von, hey, ich muss wieder, morgen muss ich wieder VOLL 100 Prozent leisten, ich weiß gar nicht, ob ich das schaffe. Und ... wir fangen zum Teil wirklich so mit 20 Prozent an und tun dann mit dem Arzt zusammen besprechen, wie können wir steigern.

Die drei Unternehmen befürworten zudem einen möglichst raschen Wiedereinstieg im Teilzeitpensum. Die zitierte Personalverantwortliche führt weiter aus:

wir WOLLEN, dass jemand möglichst schnell wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt, aber ... er darf mit ganz tiefem Pensum anfangen.

Mit dem Fördern eines frühen Wiedereinstiegs entsprechen die Unternehmen den sozialpolitischen Empfehlungen zur beruflichen Wiedereingliederung psychisch Erkrankter (OCED 2012; 2014). Ein früher Wiedereinstieg soll den langfristigen Verlust des Arbeitsvermögens verhindern und die Beziehung zwischen Beschäftigten und Betrieb aufrechterhalten.Footnote 4 Dabei soll auch der Betrieb Schritt für Schritt wieder von ihrer Arbeitskraft profitieren. Aus therapeutischer Sicht gilt Arbeit der Rehabilitation als zuträglich, weshalb auch die behandelnden Psychologen und Ärztinnen eine frühe Rückkehr in Teilzeit an den Arbeitsplatz befürworten. Arbeit soll eine Tagesstruktur geben, die soziale Integration fördern und für Sinnstiftung sorgen. Daher gilt sie als Faktor der Resilienz und „Selbstheilung“ (Engelbach und Haubl 2017).

Im Datenmaterial der vorliegenden Studie zeigt sich zum einen, dass die stufenweise Wiedereingliederung nicht in allen Arbeitsbereichen gleich gut umsetzbar ist und zum anderen, dass ein reduziertes Arbeitspensum nicht in jedem Fall mit einer reduzierten Arbeitsbelastung gleichzusetzen ist. Die Idee, dass Arbeit in wohldosiertem Maß zur Rehabilitation beiträgt, geht von der Vorstellung eines idealen Jobs aus, dem die Arbeitsrealität in den meisten Fällen des Samples nicht entspricht. Wie Ida Seing et al. (2015) festhalten, ist das Konzept eines early return to work insbesondere in Bereichen mit einer hoher Arbeitsintensität fragwürdig.

Da Arbeit in Kleinstpensen, die auf mehrere Tage verteilt werden, nicht den üblichen Beschäftigungsverhältnissen der untersuchten Betriebe entspricht, bedeutet die Umsetzung eines therapeutischen Teilzeitpensums, dass den Betroffenen Aufgaben zugeteilt werden müssen, die sich innerhalb von zwei Stunden erledigen lassen. Eine Personalverantwortliche erklärt:

schlussendlich ist es, wenn man mit 20 Prozent anfängt, ist das, mal ankommen, Computer anschalten, das Mail anschauen und dann ist die Zeit schon wieder um, oder?

In den administrativen Bereichen und Backoffice-Tätigkeiten der Versicherungen lassen sich solche Arbeiten in der Regel leicht organisieren. Die wiederkehrenden Beschäftigten erhalten ein an ihr reduziertes Pensum angepasstes Aufgabenpaket zugeteilt oder sie werden für spezifische, als einfach geltende Zusatztätigkeiten eingesetzt, wie zum Beispiel das Sortieren von Post in einer für die Bearbeitung von Schadenfällen zuständigen Abteilung. Eine Vorgesetzte berichtet:

Am Anfang ist es nur Post Sortieren gewesen, also, elektronisch Post Sortieren, am Anfang nichts anderes, aber die sind schon dankbar gewesen, dass sie überhaupt das am Anfang haben machen können.

Im Industriebetrieb werden Beschäftigte, die in kleinen Teilzeitpensen an den Arbeitsplatz zurückkehren, typischerweise in der Qualitätskontrolle eingesetzt – eine Arbeit, die sich individuell und zeitlich losgelöst von den verketteten Produktionsabläufen des Betriebs erledigen lässt.

Die Organisation von Arbeiten in Kleinstpensen hängt davon ab, ob a) angefangene Arbeiten bei Arbeitsschluss an Kolleginnen weitergegeben werden können, b) Leistungsvorgaben flexibel an die Situation angepasst werden können, c) ob sich Arbeitsbelastungen über die Anwesenheitszeit tatsächlich regulieren lassen und d) ob Teilzeitarbeit als normal und legitim angesehen wird. Herausforderungen ergeben sich in den IT-Abteilungen, dem Außendienst und in gewissen Abteilungen des Industriebetriebs. Bezüglich der Weitergabe angefangener Arbeiten bei verfrühtem Arbeitsschluss (a) bemerkt ein Abteilungsleiter des Industriebetriebs, dies sei „Blödsinn, auch von der Produktivität her.“ Wenn eine Maschine einmal läuft, kann der Produktionsvorgang nicht gestoppt werden. Als Abteilungsleiter müsste er jemanden als Ablösung einteilen, den er aber dann in der Zeit vor der Ablösung nirgendwo sinnvoll einsetzen kann. Das Beispiel veranschaulicht, dass die Möglichkeiten zur Einrichtung eines Teilzeitpensums von den Formaten der Arbeitsplanung und -zuteilung abhängen. Wenn diese kein Teilzeitpensum vorsehen, kann ein reduziertes Pensum die Produktivität beeinträchtigen. In einem solchen Fall besteht die einzige Möglichkeit, ein therapeutisches Teilzeitpensum umzusetzen, darin, auf einen institutionalisierten Schonarbeitsplatz zu wechseln. Dies bedeutet aber, die eigene Abteilung und damit das gewohnte soziale Umfeld zu verlassen und eine Tätigkeit auszuführen, die der eigenen Qualifikation ggf. nicht entspricht.

Im Versicherungsaußendienst ist es nicht üblich, Leistungsvorgaben anzupassen (b): die quantitativen Verkaufsziele sind fest vorgegeben. Damit zusammenhängend lässt sich die Arbeitsbelastung nicht über die Anwesenheitszeit regulieren (c). Der Leiter einer Agentur schildert das Problem folgendermaßen:

das Problem ist einfach, ein AußendienstlerFootnote 5 kann pro Woche vielleicht drei Stunden arbeiten. Wenn er es schafft, dass er die besten Verträge unterschreibt in diesen drei Stunden, verdient er sich DUMM und DÄMLICH. Oder? ABER er kann auch 50 Stunden arbeiten. Also, Stundenansatz ist KEIN THEMA. Oder. Weil das Problem ist, ... selten, es sind selten Themen, dass ... Arbeitszeit. Es ist das Thema vom Stress per se.

Im Job des Kundenberaters ergibt ein therapeutisches Teilzeitpensum – so die Meinung des Agenturleiters – keinen Sinn, weil der Leistungsdruck unabhängig von der Arbeitszeit ist. Zwei Personalverantwortliche erwähnen demgegenüber Zusatzarbeiten, die Kundenberatern in der Wiedereingliederung zugeteilt werden, die außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenprofils liegen, wie Bilder aufhängen in neuen Gebäuden, E-Mails oder Briefe verschicken für eine Werbeaktion. Diese haben allerdings eher den Charakter von Beschäftigungsmaßnahmen und erfüllen nicht die Funktion eines langsamen Wiederaufbaus der Belastbarkeit im eigentlich ausgeübten Beruf. Die Formate der Arbeitsorganisation, wie zum Beispiel die Systeme der Leistungssteuerung beeinflussen also die Umsetzbarkeit eines therapeutischen Teilzeitpensums.

Nicht zuletzt hängt es davon ab, wie verbreitet und akzeptiert Teilzeitarbeit in einer Abteilung ist, ob sich ein therapeutisches Teilzeitpensum umsetzen lässt (d). Der Vorgesetzte einer Software-Abteilung, in der Vollzeitarbeit die Regel ist, berichtet, dass es organisatorisch unproblematisch sei, Arbeiten zusammenzustellen, die sich innerhalb von wenigen Arbeitsstunden erledigen lassen. Simon Rohner aus dem Fallbeispiel 5.1 steigt offiziell mit einem Teilzeitpensum wieder ein. Er erlebt dieses jedoch als rechtfertigungsbedürftig und auch sein Teamleiter spricht davon, dass das Team es „akzeptiert“ habe, was darauf hindeutet, dass diese Akzeptanz nicht selbstverständlich ist. Während der Teamleiter die Akzeptanz der Kollegen durch die Botschaft, dass es sich um eine „Win-win“ Situation handelt, herzustellen versucht, entscheidet sich der Betroffene für eine Kompromisslösung. Ein konsequentes Festhalten an den reduzierten Arbeitszeiten stellt sich für ihn in der praktischen Umsetzung als schwierig heraus, weshalb er die Maßnahme nur teilweise umsetzt (vgl. Abschn. 5.4.1). Zum Interviewzeitpunkt arbeitet er bereits wieder 80 %, kann dieses Pensum nach eigener Aussage aber nicht einhalten:

es tönt ja so lustig, Sie arbeiten 80 Prozent, eigentlich arbeite ich sehr unterschiedlich, also ich habe jetzt letzte Woche 130 gearbeitet, vorletzte Woche etwa 90, ... ich kann gar nicht genau 80 arbeiten. Also das ist jetzt etwas, wenn ich eine Woche PikettFootnote 6 übernehme. Das ist jetzt eben etwas. Ich meine, ich habe schon einen Chef, ich könnte meinem Chef einfach sagen, hey, ich glaube nicht, dass es gut ist für mich. Und dann, ich bin fast sicher, er würde sich dessen annehmen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, wenn ich jetzt wieder komme und sage, hey, ich kann meine Pikett-Woche nicht machen. Was MUSS er machen, er muss sich einen anderen im Team suchen und sagen, hey, kannst du für den Simon Pikett machen. Macht jetzt aber gerade für GAR keinen Spaß. Also so gesehen probiere ich natürlich schon so, dass ich so etwas nicht abgeben muss.

Simon Rohner beschreibt in diesem Zitat, dass er sein aktuelles Teilzeitpensum von mittlerweile 80 % flexibel handhabt, je nachdem wie sehr seine Arbeitskraft im Team gefragt ist. Die notorisch mangelnden Personalkapazitäten sowie die Selbstverständlichkeit der Bereitschaft zu zusätzlichen Arbeitseinsätzen führen dazu, dass er eher mehr arbeitet als eigentlich vereinbart. Simon Rohner ist sich zwar des Verständnisses seines Vorgesetzten gewiss, dennoch betrachtet er es als eine Frage der Kollegialität gegenüber seinem Team, sich für Pikett-Dienste zur Verfügung zu stellen. Das Arbeitsumfeld Simon Rohners zeigt exemplarisch, dass ein vorübergehendes Teilzeitpensum schwierig einzuhalten ist, wenn vom gesamten Team ein permanent hoher Arbeitseinsatz verlangt wird. Ein früher Wiedereinstieg mit reduziertem Pensum führt hier also dazu, dass sich die Beschäftigten früh wieder an den hohen Leistungsanforderungen orientieren müssen (Vossen et al. 2017; Gonon 2019).

Im unmittelbaren Anschluss an das obige Zitat führt Simon Rohner aus, was es für ihn bedeutete, den Pikett-Dienst zu übernehmen:

Und die Pikett-Woche, ich muss sagen, ich habe jetzt nicht einmal eine schlimme gehabt, aber ich habe schon gespürt, das bringt mich ins Rotieren, weil ich MUSS ((haut auf den Tisch)) am Morgen um sieben hier sein, ich bin am Abend um fünf noch hier, für mich heißt das, ich gehe zu Hause am Morgen um sechs und ich komme am Abend um sechs nach Hause. Doch. Das ist dann für mich schon eine Woche, in der ich, ich kann eigentlich schon mal die zeitliche Präsenz nicht zurückfahren. Die muss ich bringen. Im Minimum. Und ich habe es auch gespürt. Ich habe klar gespürt, Montag, Dienstag, Mittwoch, ich bin durch die Woche hindurch ... jeden Tag ein bisschen unruhiger gewesen.

Das Fehlen der Möglichkeit, seine „zeitliche Präsenz zurückzufahren“, die eigentlich durch das therapeutische Teilzeitpensum garantiert sein sollte, bedeutet für Simon Rohner ein erschwertes Krankheits- und Belastungsmanagement. Er spürt nach eigener Aussage, wie er „ins Rotieren“ kommt, also die Kontrolle verliert und jeden Tag „ein bisschen unruhiger“ wird. Der Nutzen eines frühen Wiedereinstiegs über ein vermeintliches Teilzeitpensum ist in so einer Situation fraglich. Primär profitiert der Betrieb davon, der wieder über die Arbeitskraft des Erkrankten verfügt.

Sowohl für die praktische Organisierbarkeit eines Teilzeitpensums als auch für den entstehenden Rechtfertigungsbedarf spielt es eine Rolle, ob Teilzeitarbeit in einem Unternehmen oder einer Abteilung an sich üblich ist. In den Versicherungen wird Teilzeitarbeit als fortschrittliches Beschäftigungsmodell gefördert. Dennoch gilt für gewisse Funktionen, dass man nur in Vollzeit ernsthaft mitarbeiten kann. Der IT-Mitarbeiter Lars Flury erwähnt zwar, dass einige, vorwiegend weibliche Mitarbeiterinnen in seiner Abteilung Teilzeit arbeiten. Für ihn scheint das Teilzeitpensum während seines Wiedereinstiegs trotzdem nichts Selbstverständliches gewesen zu sein. Im Interview formuliert er, er habe sich „diese Freiheit herausgenommen“, es „durchgezogen“ und nicht einmal seinen Vorgesetzten oder das HR konsultiert. Dies erweckt den Eindruck, als hätten der Vorgesetzte und das HR nach seinem Empfinden in dieser Frage ein Mitspracherecht gehabt. Vor dem Hintergrund, dass das Teilzeitpensum durch das Format einer ärztlich bescheinigten Teilarbeitsfähigkeit abgestützt ist, mögen diese Formulierungen erstaunen. Sie verdeutlichen aber umgekehrt die implizite Erwartung, in dieser Funktion Vollzeit zu arbeiten und verweisen auf den Rechtfertigungsbedarf, den ein gedrosseltes Arbeitsengagement – auch aus der Sicht der Betroffenen – erzeugt. Lars Flury erklärt seinen Wunsch, Vollzeit zu arbeiten, auch mit seinem persönlichen Charakter:

und ... ich glaube es kommt immer ein bisschen auf den Typ an, ich bin halt jemand, ich bin gern involviert, ich bin jeweils gern auf dem Laufenden und DAS habe ich schon gemerkt, wenn du halt nicht mehr 100 Prozent da bist, nur schon wenn du einen Tag, zwei fehlst, 80, oder ja, nur schon 80 Prozent, einen Tag nicht arbeitest, du bekommst nicht mehr alles mit, es geht etliches an dir vorbei, es läuft nicht mehr alles, ja, ... du bist einfach nicht mehr gleich informiert.

Aus diesen Beschreibungen geht hervor, dass die Vorliebe für Vollzeitarbeit durch die Arbeitsrealität der nach „agilen“ Prinzipien organisierten Abteilung, wenn nicht geprägt, so zumindest zusätzlich verstärkt wird: Die schnellen Arbeitszyklen erzeugen eine hohe Arbeitsdichte und führen dazu, dass man an jedem Tag, an dem man abwesend ist, für den Arbeitsprozess wesentliche Schritte verpasst und damit auch an Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten in einem durch die hierarchielosen Mitarbeitenden selbstorganisierten Projekt einbüßt. An diesem Beispiel zeigt sich, dass eine Firma Teilzeitarbeit zwar fördern kann, es letztlich aber von den abteilungs- und funktionsspezifischen Formen der Arbeitsorganisation und Leistungssteuerung abhängt, inwiefern ein Teilzeitpensum – und damit im Zusammenhang – ein (zeitweilig) gedrosseltes Arbeitsengagement als legitim erscheinen.

2.4 Anpassung von Aufgaben

Die Wiedereingliederung über ein stufenweise gesteigertes Teilzeitpensum ist eine der gängigsten Maßnahmen zur Reintegration psychisch erkrankter Mitarbeitender. Wie Voswinkel (2017c, S. 279) bemerkt, geraten angesichts des Fokus auf den stufenweisen Wiedereinstieg „nachhaltigere“ Maßnahmen, wie die Anpassung von Arbeitsaufgaben tendenziell aus dem Blick. Die Anpassung von Arbeitsplätzen und -aufgaben an die Fähigkeiten und Bedürfnisse von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen gilt seit der Bewegung für die Rechte von Menschen mit Behinderungen als angemessenste Methode der Arbeitsintegration (Foster und Wass 2013, S. 706).Footnote 7 Mit Anpassungen sind sowohl Anpassungen der materiellen Infrastruktur am Arbeitsort gemeint als auch Anpassungen von Stellenprofilen, Arbeitszeiten und Arbeitsabläufen, die es den Betroffenen erleichtern, ihre Arbeit zu erledigen.

Studien zur Umsetzung von Wiedereingliederungsmaßnahmen in Unternehmen kommen zum Schluss, dass Arbeitsbedingungen dabei wenig thematisiert oder in Frage gestellt werden (Voswinkel 2017c, S. 275; Nadai et al. 2019, S. 105; Seing et al. 2015). Dies zeigt sich auch im Datenmaterial der vorliegenden Studie. Dauerhafte Anpassungen von Arbeitsaufgaben, mit dem Ziel, psychische Belastungen zu reduzieren, erfolgen nur in zwei der insgesamt 15 analysierten Fallverläufe. Der Verzicht auf Anpassungen wird oft mit den „privaten“ Ursachen der Erkrankung begründet (vgl. Abschn. 6.2.3) – oder die Möglichkeit, dass die Arbeit einen Einfluss auf die psychische Verfassung hat, kommt erst gar nicht zur Sprache.

Vorübergehende Anpassungen von Aufgaben werden im Sample in gewissen Abteilungen vorgenommen. Es handelt sich um explizit auf die Zeit der Wiedereingliederung begrenzte Maßnahmen. In der Regel bestehen sie darin, dass die Beschäftigten von Aufgaben befreit werden, die als besonders belastend oder stressig gelten. Die Angestellten in den für Schadenfälle zuständigen Abteilungen der Versicherungen wurden beispielsweise in der Zeit ihrer Wiedereingliederung von der Auflage entbunden, Todesfälle zu bearbeiten, um die psychische Belastung der Tätigkeit zu reduzieren. Einigen wurde zudem freigestellt, ob und wie viel sie sich zur Beantwortung von Kundenanrufen zur Verfügung stellen. Eine Mitarbeiterin erzählt, dass sie während ihrer Wiedereingliederung keinen eigenen Bestand an Fällen bearbeiten musste, sondern ihren Kolleginnen zugearbeitet hat.

Die Möglichkeit zu solchen Anpassungen hängt zum einen davon ab, wie flexibel das Aufgabenprofil definiert ist. Wenig Flexibilität besteht im Jobprofil der Kundenberater: Abweichungen von den quantitativen Leistungszielen und den Vorgaben zur Gesprächsführung und -dokumentation sind hier offiziell nicht möglich, obwohl es in der Praxis Ausnahmen gibt. Auch in vielen Abteilungen des Industriebetriebs sind flexible Anpassungen von Jobprofilen nicht möglich, insbesondere wenn der Arbeitstakt durch Automaten vorgegeben ist. In gewissen Abteilungen wurde zur Vermeidung von einseitigen Beanspruchungen durch repetitive Arbeit das Prinzip der job rotation eingeführt. Eigentlich als gesundheitsförderndes Instrument vorgesehen kann es umgekehrt dazu führen, dass Anforderungsprofile insgesamt komplexer werden, was sich wiederum nachteilig auf Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen auswirken kann (Foster und Wass 2013, S. 714).

Inwiefern die Spielräume zur Anpassung von Aufgaben da, wo sie bestehen, auch ausgenutzt werden, hängt – insbesondere in Anbetracht des Fehlens gesetzlicher und betrieblicher Vorgaben in der Schweiz – von den einzelnen Vorgesetzten ab. Diese haben in der Entscheidung über Eingliederungsmaßnahmen deren Wirkung auf die Kollegen und damit verbunden die (wahrgenommene) Gerechtigkeit der Anpassungen im Blick. Teamkolleginnen sind laut Colella (2001) und Colella et al. (2004) wichtige Stakeholder im Prozess der Wiedereingliederung. Denn sie müssen unter Umständen in der Umsetzung von Maßnahmen kooperieren, wie z. B. Aufgaben mit den Betroffenen tauschen. Zudem können sie negativ auf Wiedereingliederungsmaßnahmen reagieren, falls sie diese als unfair wahrnehmen. Die wahrgenommene Gerechtigkeit der getroffenen Maßnahmen erscheint daher als zentral für das Gelingen des Wiedereingliederungsprozesses. Die Leiterin einer Bestandsverwaltungsabteilung der Versicherung Celestia berichtet, dass sie einem Mitarbeiter, von dem sie vermutet, dass es ihm psychisch nicht gut geht, die weniger aufwändige Betreuung von Generalagenturen anstatt des Brokerbereichs zuteilte, um ihm die Arbeit „einfacher“ zu gestalten. Den Brokerbereich teilt sie dagegen einem anderen Mitarbeiter zu. Sie begründet:

Also ich habe nicht ALLE Möglichkeiten, aber gewisse habe ich, das auch zu organisieren in meinem Team, so wie ich das für richtig empfinde, und... ich denke ein bisschen ein Mittragen und ihn Unterstützen von mir und jetzt vom ganzen Team gehört dazu.

Neben ihrer Verantwortung, den Mitarbeiter zu „unterstützen“ spricht die Vorgesetzte die Rolle des Teams an, das die Maßnahme „mittragen“ muss. Die Anpassung des Jobprofils kann bedeuten, dass als stressig und belastend geltende Aufgaben von anderen Teammitgliedern erledigt werden müssen. Mehrere Vorgesetzte erwähnen die Sorge, dass die Anpassung von Arbeitsaufgaben vom Team als einseitige Bevorzugung kritisiert und in Frage gestellt werden könnte. Generell ist eine Anpassung umso rechtfertigungsbedürftiger, je weniger flexibel das Aufgabenprofil im Allgemeinen gehandhabt wird und je größer der Leistungsdruck und der interne Wettbewerb zwischen den Mitarbeitenden sind. Paul Conradi, der Vorgesetzte des Kundenberaters Erich Müller, stellt diesem für die Zeit seiner Wiedereingliederung einen Kollegen zur Seite, der für ihn administrative Aufgaben übernimmt.Footnote 8 Dieses in seiner Versicherungsagentur präzedenzlose Arrangement stellt er im Interview als zeitlich begrenzte Ausnahmereglung darFootnote 9:

Aber das ist natürlich eine limitierte Auflage und jetzt muss ich auch langsam dann eingreifen, weil, ... sonst heißt es natürlich, ist aber schon komisch, also der andere kriegt natürlich Unterstützung und ICH kriege nichts, eine Ungerechtigkeit.

Paul Conradi nimmt mit dieser Vermutung die Kritik der Kollegen des Betroffenen am Eingliederungsarrangement vorweg. Die Entlastung von administrativen Arbeiten erscheint ihnen, so glaubt er, als „ungerecht“. Ausgehend vom wahrgenommenen Rechtfertigungsbedarf will er die Maßnahme nur zeitlich begrenzt umsetzen, was sich als Kompromisslösung beschreiben lässt.

Die Gerechtigkeit gegenüber der restlichen Belegschaft wird auch in anderen Fällen als Hindernis für Arbeitsplatzanpassungen angeführt. Ähnlich beschreibt es der Personalchef des Industriebetriebs:

wenn es zu LANGE geht, oder, nachher gibt es noch so ein bisschen Spannungen zwischen den Gesunden und denen, die Langzeitkrankheiten haben, die wir mit Prozenten, kleinen Prozentschritten zu integrieren anfangen, und da müssen wir eine Balance haben zwischen dem und das ist ... RECHT schwierig, dass die Gesunden, die, die wirklich fit sind und das machen, NICHT demotiviert werden

Wie im Zitat des Personalchefs zum Ausdruck kommt, erachten einige Vorgesetzte des Samples die aus der Perspektive der Beschäftigten wahrgenommene Gleichbehandlung als Ressource zur Führung und Motivation ihrer Mitarbeitenden. Gerade bei psychisch Erkrankten, deren gesundheitliche Einschränkung für das Umfeld nicht gut wahrnehmbar ist, ist davon auszugehen, dass Ansprüche an Gleichbehandlung schnell wieder ins Spiel kommen. Die wahrgenommene Gerechtigkeit kann sich aber auch auf eine statusangemessene Behandlung beziehen. Im Versicherungsaußendienst, in dem eine ausdifferenzierte, informelle Statusordnung herrscht und einem Verkäufer je nach seinen Erfolgen Privilegien zugestanden werden, stellt die Anpassung des Aufgabenprofils eines erkrankten Mitarbeiters eine empfindliche Störung dieses Anerkennungssystems dar. Der Agenturleiter Paul Conradi führt aus:

Jetzt taucht plötzlich die Figur Müller irgendwo auf. Eigentlich schlechter als der Mittlere, […] aber mit dem Potenzial. Aber mit der Aufmerksamkeit wie der Beste. Oder? Und hier müssen Sie aufpassen, oder, das Mittelfeld macht aus, wie gut Ihre Truppe ist. Das Mittelfeld entscheidet immer.

Die für den erkrankten Mitarbeiter arrangierten Anpassungen werden im Versicherungsaußendienst – so die Interpretation Paul Conradis – unter der Kategorie einer speziellen „Aufmerksamkeit“ registriert, die eigentlich nur für die „besten“ Mitarbeiter als angemessen gilt, wogegen Erich Müller, zwar durch seine früheren Erfolge zu den Mitarbeitern mit „Potenzial“ zählt, aber durch seine Leistungen zum Zeitpunkt, auf den sich das Zitat bezieht, „schlechter als der Mittlere“ ist. Für Paul Conradi ist dies eine problematische Konstellation, da das Einhalten der Anerkennungsordnung aus seiner Sicht ein wesentliches Element ist, seine Mitarbeiter zu motivieren. Mit solchen Überlegungen begründet der zitierte Vorgesetzte, weshalb er Anpassungen der Arbeitsaufgaben im Sinne einer Kompromisslösung – nur für kurze Zeit, eben als „limitierte Auflage“, gewährt.

Neben der Flexibilität der Aufgabenprofile und der Haltung der Vorgesetzten spielt schließlich auch die Haltung der betroffenen Beschäftigten eine Rolle, die wie der eingangs von Kap. 7 zitierte Personalverantwortliche festhält, „Erleichterungen“ oftmals selbst nicht wollen, um der damit verbundenen Stigmatisierung als weniger leistungsfähig zu entgehen. Auf Anpassungen, die rein organisatorisch möglich wären, wird bisweilen verzichtet, weil damit ein berufliches Zurücktreten assoziiert wird. Yves Meier, der Vorgesetzte von Simon Rohner beschreibt ausführlich, welche Möglichkeiten es zur Anpassung von Aufgabenprofilen gäbe:

Ja, es gibt dadurch, dass man einfach komplexere Aufgaben wegnimmt oder nicht gibt, gibt es da schon Möglichkeiten und (1) es gibt auch Themen, die jetzt mehr mit Stress belastet sind oder Kunden, die ... ich sage jetzt, ein bisschen ungemütlicher sind oder direkter sind ... die problematischer sind, dort kann man schon SICHER steuern. Oder man kann dann Themen, die ... die jetzt intern anfallen, könnte man vorziehen oder DIE so einer Person geben. Es GIBT Möglichkeiten, das zu steuern. ... Oder dann auch von (3) von direkt dem Kundenkontakt so zurückziehen, dass dann das jemand anderes übernimmt, dass man nicht mehr zuvorderst im Wind steht, also diese Möglichkeiten gibt es.

Trotz dieser Möglichkeiten wurde im Fall seines Mitarbeiters Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1) nichts dergleichen unternommen: „Verantwortungen, das haben wir diskutiert, hat er persönlich auch gefunden, müssen wir nicht wegnehmen.“ Simon Rohner selbst verweist zur Begründung auf die „privaten“ Ursachen seiner Erkrankung:

Aber wahnsinnig viel gemacht, außer dass ich eigentlich mein Pensum reduziert habe, haben wir eigentlich nicht. Das ist schon. Also ich denke MIT ein Grund ist schon das, wenn jetzt eigentlich die Ursachen bei mir hauptsächlich hier gewesen wären, die Belastung durch die Firma, dann wäre es mit Sicherheit ein Thema gewesen, ein bisschen zu schauen, ob wir dann nicht auch ein bisschen Sachen wegnehmen müssen, die belasten, oder.

Für den Verzicht auf Arbeitsplatzanpassungen scheint aber auch die durch Zeit- und Leistungsdruck geprägte Arbeitsrealität der Abteilung eine zentrale Rolle zu spielen. In Anbetracht der chronischen Überlastung aufgrund der personellen Unterkapazitäten würden Anpassungen vermutlich Kritik hervorrufen. Simon Rohners dezidiert geäußerter Verzicht auf „Sonderbehandlungen“ lässt sich auch im Kontext des in der Abteilung ausgeprägten Kollegialitätsprinzips verstehen, im Sinne des Wunsches, das Team nicht im Stich zu lassen. Anpassungen von Aufgaben wären mit dieser Haltung schwierig zu vereinbaren. Chronische Arbeitsüberlastung eines Teams kann also die Anpassung von Arbeitsaufgaben in legitimatorischer Hinsicht erschweren. Das in beiden IT-Abteilungen übliche Kultivieren von Höchstleistungen führt dazu, dass es den Betroffenen selbst schwer fällt, sich von Aufgaben zurückzuziehen, wie Lars Flury berichtet. Für die Phase des Wiedereinstiegs konnte er zwar Aufgaben aus dem „Tagesgeschäft“ abgeben, dennoch führt er gewisse Dinge noch weiter, weil er sich immer noch verantwortlich fühlt.

2.5 „Trainingsarbeitsplätze“ und „einfache“ Arbeiten

Im Gegensatz zur Anpassung von Aufgabenprofilen handelt es sich bei so genannten „Trainings-“, „Integrations-“ oder „Schonarbeitsplätzen“ um eigens für die Wiedereingliederung von erkrankten Beschäftigten eingerichtete Stellen. Diese werden nur vorübergehend besetzt, um wieder für neu auftretende Fälle zur Verfügung zu stehen. Damit diese Arbeitsplätze von verschiedenen Personen besetzt werden können, muss in ihrer Gestaltung vorweggenommen sein, welche Aspekte der Arbeit belasten und wie diese zu reduzieren sind. Der Industriebetrieb, dessen Belegschaft auch stark von körperlichen Abnutzungserscheinungen betroffen ist, verfügt über eine ganze Infrastruktur an Arbeitsplätzen, an denen körperlich schonende Tätigkeiten ohne Zeitdruck erledigt werden können. Die Idee ist, dass die Betroffenen nach einiger Zeit in der schonenden Arbeit wieder an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehren.

Der in der Versicherung Komfortia geläufige Ausdruck des „Trainingsarbeitsplatzes“ suggeriert, dass man in einem geschützten Arbeitsumfeld seine Arbeitsfähigkeit „trainieren“ soll, um dann wieder den Belastungen der „normalen“ Arbeit standzuhalten. Auch im Bereich der Dienstleistungsarbeit gelten „einfache“ Tätigkeiten als geeignet für die Wiedereingliederung von erkrankten Beschäftigten. Gerda Rensch, die Leiterin einer Abteilung, in der ein Trainingsarbeitsplatz angeboten wird, argumentiert mit der kurzen Einarbeitungszeit der Tätigkeit:

Und dadurch, dass wir im Service-Team eine Arbeit haben, die, sage ich jetzt, innerhalb von kurzer Zeit gut erlernt werden kann, also jemand, der von Anfang an 100 Prozent zu uns kommt, also 100 Prozent Pensum, kann innerhalb von vier Wochen auf diese Arbeit eigentlich eingearbeitet werden, das sind dann am Anfang halt sehr intensive vier Wochen, aber diese Person ist eigentlich nach vier Wochen in der Lage selbständig dann zu arbeiten, also diese Fälle zu registrieren, zu triagieren und teilweise auch schon Bagatellfälle zu bearbeiten. Und das ist eigentlich auch das Ziel, eben, dass jemand auch relativ SCHNELL selbständig arbeiten kann, selbständig etwas machen KANN

Die Tätigkeit an sich beschreibt sie als „einfach“ und „repetitiv“:

es ist eine EINFACHERE Arbeit, was aber nicht heißt, dass sie nicht wichtig ist, es ist eine sehr wichtige Arbeit, es ist eine einfache Arbeit und eine repetitive Arbeit, das ermöglicht das relativ rasche Integrieren von so einer Person.

Das standardisierte Bearbeiten von Bagatellschadenfällen setzt laut Gerda Rensch wenig Vorwissen voraus und gilt aufgrund seines repetitiven Charakters als einfach. Die Annahme, dass gerade Beschäftigte nach psychischen Erkrankungen eine einfache und repetitive Arbeit brauchen, ist in den drei Unternehmen verbreitet. Angesichts des Trends zur qualifizierten Wissensarbeit hegt die BGM-Leiterin der Celestia gar die Befürchtung, dass die für psychisch angeschlagene Mitarbeitende besonders geeigneten Arbeiten im Verschwinden begriffen sind. Die Bevorzugung repetitiver Arbeiten mag für einige Fälle zutreffen, doch ist ihre Verallgemeinerung unzulässig. Ein Interviewter, der nach einem psychischen Zusammenbruch auf einer Wiedereingliederungsstelle mit einfachen Routinearbeiten eingesetzt und anschließend in die feste Belegschaft übernommen wurde, deutet an, dass er die Zuteilung dieser monotonen, repetitiven Arbeiten als Herabsetzung seiner Fähigkeiten empfand, zumal er vorher in einer spezialisierten Abteilung gearbeitet hat und über ein entsprechendes Fachwissen verfügt. Repetitive Tätigkeiten können psychisch genauso belastend sein wie komplexe, nicht-repetitive Arbeiten und sogar Gratifikationskrisen auslösen (Siegrist 2013).

Gerade wenn man die Unterschiedlichkeit der Einschränkungen bedenkt, die gesundheitliche Probleme mit sich bringen können, lässt sich der Einsatz in repetitiven Arbeiten nicht mit der besonderen Eignung begründen. Ein Grund dafür liegt mitunter in der organisationalen Eigenlogik des Angebots von Trainingsarbeitsplätzen. Repetitive Arbeiten setzen in der Regel kurze Einarbeitungszeiten voraus. Angesichts der begrenzten Dauer der Einsätze auf Trainingsarbeitsplätzen (in der Regel sechs bis zwölf Monate)Footnote 10 wollen die Abteilungen nicht zu viel in die Einarbeitung investieren, um noch von der Arbeitsleistung der zu Integrierenden profitieren zu können. Dieses Motiv ist umso ausgeprägter, wenn das Angebot eines Trainingsarbeitsplatzes auch aus finanziellen Gründen erfolgt, wie es in der Abteilung von Gerda Rensch der Fall ist. Gerda Rensch führt aus:

in der heutigen Zeit, in der man immer wieder mit Kostensparen konfrontiert ist und immer wieder gedrückt wird, was die Kosten anbelangt, ist das natürlich für mich auch eine Win-Situation, wenn ich sagen kann, ich habe eine Person mehr bei mir im Team, klar, es ist befristet, ich kann profitieren von ihr, ABER sie kostet mich nichts.

Einsätze auf den Trainingsarbeitsplätzen werden durch die IV oder eine spezielle Kostenstelle des Unternehmens finanziert. Dies schafft für Abteilungen, die über wenig Mittel verfügen, einen finanziellen Anreiz, einen Trainingsarbeitsplatz anzubieten.

2.6 Maßnahmen mit einem „Endpunkt“

Die bisher diskutierten Wiedereingliederungsmaßnahmen – das therapeutische Teilzeitpensum, Anpassungen von Arbeitsaufgaben und die Besetzung von so genannten Trainingsarbeitsplätzen sind nur als vorübergehende Maßnahmen vorgesehen, mit dem Gedanken, dass die betroffenen Beschäftigten in absehbarer Frist an ihrem angestammten Arbeitsplatz wieder im vollen Umfang einsetzbar sind. Dies trifft für alle Anpassungen zu, die außerhalb des im Rahmen eines von manchen Vorgesetzten tolerierten oder sogar unterstützten informell praktizierten Krankheits- und Belastungsmanagement stattfinden (Abschn. 7.2.1). Eine Personalverantwortliche formuliert ausdrücklich, dass ein Ende der Wiedereingliederungsmaßnahmen erwünscht ist:

darum sage ich, ist es auch, auch wichtig, dass das VERBINDLICH ist und dass man einen gewissen ... ENDPUNKT hat von solchen Begleitungen und auch sagt, hey schau, es ist, also wir geben dir diese Chance, aber wir haben einen Plan und dieser Plan sagt, am 1. Dezember fängst du an, wieder mit, mit 30 Prozent, am 1. Februar 50, am 1. April 70 und spätestens ab 1. Juni musst du wieder 100 Prozent, weil sonst haben wir dann wirklich ein Problem. Also es muss auch, es darf nicht so eine never ending story geben.

Ab dem besagten „Endpunkt“ soll von der gesundheitlichen Einschränkung am Arbeitsplatz nichts mehr spürbar sein. Ob die betroffenen Beschäftigten in absehbarer Frist – spätestens nach Auslaufen der Krankentaggeldzahlungen nach maximal zwei Jahren – wieder den Anforderungen ihrer Stelle genügen können bzw. wollen, ist jedoch in einigen Fällen unklar.

Langfristige Maßnahmen zur Belastungsreduktion beschränken sich in den Unternehmen des Samples in der Regel auf die Reduktion des Beschäftigungsgrads der Betroffenen. In Bezug auf den betrieblichen Umgang mit unzureichender Arbeitsleistung unterschieden Nadai und Maeder (2006, S. 14) drei Kategorien von „cooling techniques“: diese können erstens die betroffene Person adressieren (z. B. ein Coaching), zweitens den Kontext (z. B. die Anpassung von Arbeitsaufgaben) und drittens den organisationalen Status der Person (z. B. eine Herabstufung oder Frühpensionierung). Die einzige langfristige Maßnahme im Datenmaterial betrifft also den Status der betroffenen Beschäftigten und besteht in einer dauerhaften Pensenreduktion, oder in den Worten von Voswinkel (2017c, S. 286), die „gesundheitsorientierte Anpassung des Arbeitnehmers an die Bedingungen des Arbeitsplatzes“. Die Kosten dieser Maßnahme werden von den Beschäftigten getragen, die mit einem geringeren Einkommen leben müssen (Nadai et al. 2019, S. 151).

Vorgesetzte, die ihren Beschäftigten eine Pensenreduktion als gesundheitsfördernde Maßnahme vorschlagen, fordern diese gezielt dazu auf, zu überlegen, was ihnen ihre Gesundheit „wert“ sei. Der Leiter einer Versicherungsagentur erinnert sich, einer Mitarbeiterin gesagt zu haben, vielleicht sei „die Freizeit auch ein bisschen mehr wert als ein paar Franken Geld“. Ähnlich äußert sich der Produktionsleiter des Industriebetriebs in einer Sitzung des Gesundheitsmanagements in Bezug auf Beschäftigte, die sich weigern, an einen schonenderen Arbeitsplatz zu wechseln, weil sie dort weniger verdienen: „Für ihn sei wirklich die relevante Frage, was einem wichtiger ist, die Gesundheit oder das Einkommen.“ (Feldnotizen).

Dauerhafte Änderungen der Arbeitsaufgaben oder das Einrichten individuell zugeschnittener Arbeitsplätze gelten als unwirtschaftlich, es sei denn sie werden durch spezielle Subventionen wie eine (Teil-)Rente der IV gedeckt, die es ermöglicht, den Betroffenen einen reduzierten Lohn zu bezahlen (Nadai et al. 2019, S. 141). Gesundheitliche Schwankungen des Arbeitsvermögens werden in den drei Betrieben – in unterschiedlichem Ausmaß – als unvorhersehbare Einzelfälle behandelt. Dies trifft selbst in Abteilungen zu, die wie der Versicherungsaußendienst innerhalb der Organisation für ihre Anfälligkeit für Erschöpfungserkrankungen berüchtigt sind. Im Industriebetrieb ist in der Arbeitsplanung zumindest ein gewisser Prozentsatz an Arbeitsausfällen berücksichtigt. Darüber hinaus wurde für besonders belastende Tätigkeiten, eine so genannte „Bogenkarriere“ entwickelt. Das bedeutet, dass alternde Beschäftigte in weniger beanspruchenden Tätigkeit eingesetzt werden können. Allerdings ist dieser Wechsel ähnlich wie bei der Pensenreduktion mit einem tieferen Einkommen verbunden. In der Versicherung Komfortia liefen zum Zeitpunkt der Datenerhebung Diskussionen über die Möglichkeit, das rigide Stellenprofil der Kundenberater im Außendienst flexibler handzuhaben. Diese wurden jedoch v. a. mit Bezug auf das von der Personalabteilung priorisierte Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geführt und bezogen sich auf die Einführung von Teilzeitbeschäftigungsmodellen.

Neben den betrieblichen Einrichtungen zur Antizipation gesundheitlich bedingter Schwankungen im Arbeitsvermögen bestehen darüber hinaus informelle Praktiken, die ein langfristiges Management von Belastungen und Beanspruchungen bezwecken und über die Möglichkeiten zur Weiterbeschäftigung von Mitarbeitenden mit gesundheitlichen Einschränkungen geschaffen werden sollen. In der Celestia gibt es eine Logistikabteilung, die den Ruf einer informellen Integrationsabteilung für Mitarbeitende mit diversen Leistungsproblemen hat. Solche informellen Praktiken können jedoch, wenn sie nicht institutionalisiert sind, leicht geändert und unterbunden werden. Zudem sind sie in hohem Maß abhängig von einzelnen Vorgesetzten und drohen zu verschwinden, wenn diese die Organisation verlassen.

3 Wiedereingliederung im Spiegel arbeitssoziologischer Diagnosen

In Abschn. 2.2 wurde die Idee ausgeführt, dass die Formen der Arbeitsorganisation einen Einfluss auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Inklusion von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen haben. In einer nach wie vor stark auf Erwerbsarbeit zentrierten Gesellschaft kommt der Teilhabe am Arbeitsmarkt große Bedeutung für die Inklusion zu. Mit dem Aufkommen der post-fordistischen Arbeitsorganisation haben diese Teilhabemöglichkeiten nach Foster und Wass (2013) abgenommen. In einer Analyse von Gerichtsfällen zur Umsetzung von Wiedereingliederungsmaßnahmen in Großbritannien identifizieren Foster und Wass folgende Merkmale der Arbeitsorganisation als problematisch für die berufliche Reintegration: die zunehmende Aufgabenkomplexität, die Standardisierung von Aufgabenprofilen, Gruppenarbeit und die Verkettung von Produktionsabläufen sowie die Einführung von Gruppenzielen. Die arbeitssoziologische Forschung zeigt, dass die Entwicklungen der Arbeitswelt komplex und widersprüchlich sind und sich schwer unter einem Nenner fassen lassen (Moldaschl 2010). Die Zuschreibung geringerer Eingliederungsmöglichkeiten im Post-Fordismus bzw. größerer Möglichkeiten in einer fordistischen Arbeitsorganisation erscheint daher als vereinfachend.

Im vorherigen Kapitel habe ich diskutiert, welche Formate der Arbeitsorganisation sich in den untersuchten Unternehmen auf das Potential zur Inklusion psychisch erkrankter Beschäftigter auswirken – entweder direkt, indem sie die Umsetzbarkeit von Eingliederungsmaßnahmen beeinflussen, oder indirekt, indem sie zur Rechtfertigungsbedürftigkeit dieser Maßnahmen beitragen. Im Folgenden soll es darum gehen, welcher Stellenwert diesen Formaten gemäss arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen zukommt und was sich daraus in Bezug auf das Inklusionspotential der zeitgenössischen Arbeitswelt ableiten lässt.

Je nach Kontext der Steuerungs- und Rationalisierungsformen der Arbeitsorganisation sind Wiedereingliederungsmaßnahmen schwieriger umsetzbar, weil sie einerseits Rechtfertigungsbedarf erzeugen und andererseits mit organisatorischen Prinzipien in einen Konflikt geraten. Als relevant für die Wiedereingliederung erweisen sich gemäß der bisherigen Analyse die folgenden Aspekte: Es kommt erstens auf die Möglichkeiten zur autonomen Gestaltung des Arbeitstakts, der zeitlichen Rhythmen und der Arbeitsintensität im Arbeitsprozess an. Zweitens spielt die Möglichkeit, das Arbeits- bzw. Auftragsvolumen an die Anzahl der arbeitsfähigen Beschäftigten anzupassen, eine Rolle für die Akzeptanz und Umsetzbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen. Drittens hängen die Möglichkeiten zur Wiedereingliederung davon ab, wie flexibel bzw. rigide ein Arbeitsprofil gehandhabt wird (vgl. Foster und Wass 2013, S. 714) und viertens ist die Legitimität von Teilzeitarbeit relevant. Fünftens wirkt sich die Komplexität von Aufgabenprofilen auf die Möglichkeiten zur Reintegration aus (ebenda). Sechstens ist die Möglichkeit, Arbeitsbelastungen über An- und Abwesenheit am Arbeitsplatz zu regulieren von Bedeutung, sowie siebtens die Flexibilität bzw. Rigidität von Leistungsvorgaben. Im Folgenden diskutiere ich, inwiefern die besagten Inklusionsbarrieren durch die Entwicklungsdynamiken in der Arbeitswelt verstärkt oder abgeschwächt werden.

Die jüngeren Wandlungstendenzen der Formate zur Rationalisierung des Arbeitsprozesses werden in der Arbeitssoziologie mit den Konzepten des (Post-)Taylorismus und (Post-)Fordismus beschrieben. Es handelt sich um verschiedene Lösungen des Problems der „Transformation“ von Arbeitskraft in Arbeitsleistung. Das „Transformationsproblem“ liegt in der unbestimmten, kreativen Natur des menschlichen Arbeitsvermögens begründet, das untrennbar mit der Person der Arbeitenden verbunden ist (Deutschmann 2008, S. 17). Die Verwertung der individuellen Arbeitskraft ist zum Zeitpunkt, zu dem der Arbeitsvertrag abgeschlossen wird, qualitativ unbestimmt, weil sie von der Mitwirkung der Arbeitenden abhängt. Das Grundproblem der betrieblichen Organisation von Arbeit bezieht sich auf den Versuch, die Art und Weise dieser Mitwirkung zu steuern (Marrs 2018, S. 473).

Als arbeitssoziologische Zeitdiagnosen dominieren in der deutschsprachigen Debatte seit einiger Zeit die Begriffe Entgrenzung, Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit (Kleemann et al. 2019). In der angelsächsischen Diskussion werden ähnliche Entwicklungen unter den Stichworten Post-Fordismus und Lean Management diskutiert (Beynon 2015). Damit sind nicht nur Modelle der wirtschaftlichen Produktion und Arbeitsorganisation verbunden, sondern auch der gesamtgesellschaftlichen Organisation von Arbeit und der sozialen Absicherung. Gemeinsam ist den Diagnosen, dass sie eine Abkehr von den talyoristischen bzw. fordistischen Managementprinzipien – zumindest teilweise – feststellen. Letztere gelten als geprägt durch hoch arbeitsteilige Produktionsabläufe, repetitive Tätigkeiten ohne Autonomiespielräume und einen hohen Grad an Standardisierung. Mit der Abwendung von diesen Prinzipien wurden flachere Hierarchien und ein partizipativer Managementstil eingeführt, der auf die Nutzung „subjektiver“ Potenziale und die Kapazitäten zur Selbstorganisation abzielt, wie z. B. die Einführung von Gruppenarbeit in der industriellen Produktion. Gleichzeitig wurde eine Dezentralisierung der Organisationen festgestellt, die den Organisationseinheiten mehr Kompetenzen verlieh, diese aber auch einer stärkeren Bewertung anhand marktorientierter Kennzahlen unterzog. Darüber hinaus kam es zu einer Flexibilisierung der Beschäftigungsbeziehung durch Projektarbeit und die Auslagerung von Arbeiten. Wurde mit dieser Form der Arbeitsorganisation zunächst die Hoffnung auf Autonomiezugewinne verbunden, stellen skeptische Diagnosen stattdessen eine Zunahme der Arbeitsintensität und Kontrolle fest (Beynon 2015) und beschrieben die damit einhergehenden Zwänge als Paradox der „fremdorganisierten Selbstorganisation“ (Pongratz und Voß 1997).

3.1 Entgrenzte Erwerbsarbeit

Eine prominente Zeitdiagnose in der deutschsprachigen Arbeitssoziologie lautet Entgrenzung (Minssen 2000). Der Begriff bezieht sich auf die „Erosion der Grenzen“ zwischen Erwerbsarbeit und privater Lebenswelt, „Person“ und Arbeitskraft, sowie Organisation und Markt (Kratzer 2017, S. 116) und diagnostiziert die Tendenz zu einem ganzheitlicheren Zugriff des Managements auf die Ressourcen der Arbeitskraft. Das Wort Entgrenzung unterschlägt, wie kritisch festgestellt wird, dass die Auflösung bestehender „Grenzen“ mit der Ziehung neuer Grenzen bzw. Grenzverschiebungen einhergeht (Bosch 2000, S. 251; Kleemann et al. 2019, S. 81). Da ich Konzepte, die sich auf Grenzverschiebungen innerhalb der Organisation und der betrieblichen Steuerungsformen beziehen, weiter unten diskutiere (Abschn. 7.3.2 und 7.3.3), stehen hier primär Grenzverschiebungen im Verhältnis von Erwerbsarbeit und privater Lebenswelt im Fokus. Diese ergaben sich in den letzten Jahrzehnten aus der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten, die zu einer Aufweichung der früher klarer gezogenen Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und der Zeit, in der keine Erwerbsarbeit geleistet wird, geführt haben.

Zustande kam diese Flexibilisierung zum einen durch die Einführung von Arbeitszeitmodellen wie Gleitzeit, Jahresarbeitszeit oder Vertrauensarbeitszeit (Haipeter et al. 2002), zum anderen durch örtlich flexible Arbeitsformen wie das Homeoffice. Als Formate der Regulierung der Arbeitsgestaltung führen diese einerseits zu einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit außerberuflichen Verpflichtungen, insbesondere der Care-Arbeit. Indem sie Arbeitszeiten und Arbeitsorte zu einem stärkeren Grad der Entscheidung der Beschäftigten überlassen, ermöglichen sie zugleich eine Ausweitung der Arbeitszeit, weil potenziell jederzeit und überall gearbeitet werden kann. Dies kann dazu führen, dass die Prioritäten, die in der Erwerbsarbeit gelten, in das Privatleben hineinreichen und letzteres diesen untergeordnet wird, wie Arlie Hochschild (1997) es mit ihrer Diagnose des when work becomes home and home becomes work auf den Punkt brachte. Hinsichtlich Autonomiegewinne und Gesundheitsförderlichkeit ist die Flexibilisierung der Arbeitszeiten und -orte deshalb als ambivalent zu beurteilen ist. Autonomiegewinne sind zwar möglich, jedoch nur, wenn die Rahmenbedingungen es erlauben, Spielräume auch nach den außerberuflichen Prioritäten zu nutzen. Ansonsten droht die Tendenz zur Ausuferung der Arbeitszeit (Lott 2014). Die Entgrenzung von Arbeitszeiten und -orten wird durch den zunehmenden Einsatz von Technologien der digitalen „Konnektivität“ befördert (Nowak et al. 2019; Mullan und Wajcman 2019). So führen diese tendenziell dazu, dass noch mehr gearbeitet wird. Unabhängig von den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sind so genannte „mobile“ Berufe wie z. B. derjenige der Kundenberater in den Versicherungen, in denen Dienstreisen ein zentraler Bestandteil der Tätigkeit sind, per Definition von „Entgrenzung“ von Arbeitszeit und privater Zeit betroffen (Nies et al. 2017).

Flexible Arbeitszeiten, Gleitzeit und Jahresarbeitszeit sind in den beiden Versicherungsunternehmen weit verbreitet. Auch Homeoffice wird, bereits vor der Covid-19-Pandemie, als zeitgemäße Arbeitsform unterstützt, die unter anderem eine bessere Vereinbarkeit der Erwerbsarbeit mit dem Privatleben ermöglichen soll. Die so verstandene „Entgrenzung“ der Erwerbsarbeit ist für die Durchführbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen als ambivalent zu beurteilen. Die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wann man mit der Arbeit beginnt, vergrößert die Spielräume zur Gestaltung von Arbeitsrhythmen und deren Anpassung an das krankheitsbedingt schwankende Arbeitsvermögen. Auch die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, kann für das Management von Krankheitssymptomen förderlich sein. Laut der Einschätzung einer BGM-Verantwortlichen können sich Homeoffice und flexible Arbeitszeiten zudem aber auch nachteilig auf die Situation von Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen auswirken: diese sind ihrer Meinung nach stärker auf ein stabiles soziales Umfeld angewiesen, das durch den vermehrten Gebrauch von Homeoffice wegzufallen droht.

Wenn die Rahmenbedingungen es nicht zulassen, die flexiblen Arbeitszeiten und -orte nach den eigenen Prioritäten zu nutzen – zum Beispiel aufgrund von Termindruck oder einer generell erwarteten hohen Einsatzbereitschaft – führen flexible Arbeitsmodelle zu einer tendenziellen Ausweitung der Arbeitszeit. In diesem Fall erschweren flexible Arbeitsmodelle die Umsetzung von Wiedereingliederungsmaßnahmen. Wenn das Team unter starkem Zeitdruck steht und keine fixen Arbeitszeiten definiert sind, ist es für die Betroffenen schwieriger, ein therapeutisches Teilzeitpensum einzuhalten und zu rechtfertigen. Entgrenzte Arbeitszeiten und -orte erschweren also die Einrichtung, Rechtfertigung und damit Aufrechterhaltung der Schonräume, die es für die Rehabilitation braucht und die explizit als Zeit, in der keine Erwerbsarbeit geleistet wird, definiert sind. Wenn grundsätzlich immer und überall gearbeitet werden könnte, lässt sich zudem die Arbeitsbelastung nicht einfach über die An- bzw. Abwesenheit vom Arbeitsplatz steuern. Grundsätzlich erfordern diese Arbeitsmodelle stärkere Abgrenzungsleistungen von den Beschäftigten, die für die psychisch erkrankten Mitarbeitenden zu einer zusätzlichen Belastung werden können.

3.2 Selbstorganisierte Arbeitsprozesse

Die Selbstorganisation bzw. Selbststeuerung durch die Beschäftigten ist ein häufig diskutiertes Charakteristikum post-taylorfordistischer Arbeitsverhältnisse. Sie gilt als Modus der Rationalisierung des Arbeitsprozesses, der auf der Nutzung von Eigeninitiative und Kreativität der Arbeitskräfte beruht – was im Taylorfordismus nicht als Ressource, sondern als störendes Element angesehen wurde. Der Analyse von Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) zufolge regte die ästhetisch motivierte „Künstlerkritik“ an der kapitalistischen Arbeitsorganisation beeinflusst durch die 1968er-Bewegung einen Wandel der Managementkonzepte an. Die Transformation von Arbeitskraft in Arbeitsleistung sollte nicht mehr durch eine rationalisierte, hierarchische und engmaschig überwachte Arbeitsorganisation erfolgen, sondern durch die Förderung des autonomen, selbstverantwortlichen, kreativen und flexiblen Handelns. Diesem Ideal entspricht das Managementformat der projektförmigen und durch die Arbeitskräfte selbstgesteuerten Arbeitsprozesse.

Zwar gibt es auch unter dem Prinzip der Selbstorganisation Vorgaben des Managements, aber diese beziehen sich auf grobe Rahmenbedingungen oder gewünschte Ergebnisse und die Beschäftigten entscheiden selbst über die Umsetzung des Arbeitsprozesses, d. h. was sie in welcher Reihenfolge mit welchen Methoden tun. Zudem kümmern sie sich selbständig um die Organisation der eigenen Arbeit, etwa die Anpassung ihrer Arbeitszeit an das Arbeitsaufkommen, die Organisation der Zusammenarbeit mit Partnerinnen und sogar die Weiterentwicklung von Kompetenzen (Kratzer und Dunkel 2013, S. 46).

Funktionierte hochqualifizierte Arbeit schon immer zu einem gewissen Grad selbstorganisiert, so ist dieses Organisationsprinzip heute laut der arbeitssoziologischen Diagnose in einem größeren Spektrum von Tätigkeiten verbreitet. Selbstorganisation wird trotz der steigenden Gestaltungsspielräume als ambivalent bewertet. So kann sie für die Arbeitskräfte zwar eine Zunahme von Autonomie bedeuten, oft aber auch gesteigerte Leistungsanforderungen und Belastungen (Kleemann 2019, S. 83). In der angelsächsischen Debatte wird Selbstorganisation explizit als Teil des Lean Management-Ansatzes analysiert, der auf die Beteiligung der Beschäftigten tieferer Hierarchiestufen an der Entscheidungs- und Lösungsfindung und auf Gruppenarbeit setzt und damit auf Effizienzgewinne abzielt (Carter et al. 2011, 2013; Beynon 2015). Im Kontext des Lean Management-Ansatzes treten die negativen Konsequenzen für die Beschäftigten deutlich hervor: Selbstorganisation verstärkt unter diesen Umständen die Arbeitsintensität und führt zu einer „umfassendere[n] betriebliche[n] Vernutzung von Arbeitskraft“ (Kleemann et al. 2019, S. 84).

Spielräume, Arbeitsabläufe autonom zu gestalten, führen prinzipiell zu besseren Möglichkeiten, den Arbeitstakt selbst zu regulieren – diese fehlen an den Arbeitsplätzen im Industriebetrieb, in denen die technischen Produktionsanlagen den Arbeitsrhythmus vorgeben. Die diesbezüglichen Spielräume wirken sich erheblich auf das Potential zum Management von Krankheits- und Erschöpfungssymptomen aus. Im Kontext hoher Leistungsansprüche kann Selbstorganisation jedoch auch problematische Konsequenzen für die Durchführbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen haben. Diese bestehen sowohl dann, wenn die Beschäftigten ihre Arbeit komplett individuell organisieren, als auch wenn Selbstorganisation auf der Ebene einer Gruppe stattfindet. Unter dem Prinzip der Selbstorganisation haben die Beschäftigten eine größere Verantwortung für die Gestaltung von Arbeitsabläufen und damit auch für deren Gelingen. Gerade wenn sie sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, besteht die Gefahr, dass sie zu wenig Ruhezeiten einplanen, was sich sowohl negativ auf das Krankheits- und Belastungsmanagement als auch auf die Umsetzbarkeit von Eingliederungsmaßnahmen wie die Einhaltung eines therapeutischen Teilzeitpensums auswirkt. Dieses Verhalten wird in der Literatur u. a. unter dem Stichwort der interessierten Selbstgefährdung (Krause et al. 2012) analysiert, wobei zu bedenken ist, dass die Erwartungen des Managements oder Teams hier ebenfalls eine zentrale Rolle spielen, die den selbstausbeuterischen Tendenzen der Beschäftigten Grenzen setzen oder umgekehrt diese befördern und von ihnen profitieren. Besteht allgemein eine hohe Identifikation der Belegschaft mit der Arbeit, erhöht dies den Rechtfertigungsbedarf eingeschränkter Leistungsfähigkeit und kann die Betroffenen dazu verleiten, möglichst rasch wieder voll an den Arbeitsplatz zurückzukehren, um damit ihre eigene Identifikation mit der Arbeit zum Ausdruck zu bringen.

Erfolgt die Selbststeuerung auf der Ebene der Gruppe, können sich zusätzliche Dynamiken ergeben, die sich negativ auf die Durchführbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen und das Management von Krankheitssymptomen auswirken. Zum einen wird der Arbeitsrhythmus im Wesentlichen durch die Gruppe definiert, für die das Management von Krankheits- und Erschöpfungssymptomen einzelner Mitglieder nicht zwangsläufig Priorität hat. Selbstorganisation ist unter anderem mit dem Abbau von Hierarchien verbunden. Laut der BGM-Leiterin einer Versicherung kann dies problematisch sein, weil sich unter diesen Bedingungen niemand für Mitarbeitende mit psychischen Problemen verantwortlich fühlt. Die Vorgesetzten des Unternehmens werden in regelmäßigen Führungsschulungen für die Anzeichen psychischer Erkrankungen sensibilisiert und dabei auf ihre Verantwortung hingewiesen, die Belastungen ihrer Mitarbeitenden sowie allfällige Krankheitsanzeichen im Auge zu behalten.

Bei einer längeren Krankheitsabwesenheit kann die Dynamik der Gruppenarbeit die Betroffenen zu einer möglichst raschen Rückkehr an den Arbeitsplatz und zur schnellen Wiederaufnahme des vollen Pensums unter Druck setzen. Eine rasche Rückkehr kann nämlich einerseits als solidarisches Verhalten gegenüber der Gruppe interpretiert werden, andererseits birgt eine längere Abwesenheit für die Betroffenen das Risiko, dass die Gruppe wesentliche Entscheidungen ohne sie trifft und sie dadurch ihre informelle berufliche und soziale Position im Team und das daran gekoppelte Mitspracherecht verlieren – wie es vom IT-Mitarbeiter Lars Flury beschrieben wird. Besonders problematisch wirkt sich das Prinzip der Selbstorganisation in der Gruppe zudem aus, wenn die Gruppe vom Management Zielvorgaben erhält, an deren Erfüllung sich die Leistungsbeurteilung ausrichtet (Foster und Wass 2013). Dies senkt generell die Toleranz für krankheitsbedingte Einschränkungen der Leistungsfähigkeit einzelner Teammitglieder und kann die Durchführung von Wiedereingliederungsmaßnahmen verunmöglichen.

Selbstorganisation auf Teamebene ist besonders prominent in den so genannten agilen Arbeits- und Organisationsmodellen, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung einen Managementtrend darstellten und von einem der beiden Versicherungsunternehmen in einigen Abteilungen eingeführt wurden. In der arbeitssoziologischen Diskussion werden agile Organisationsprinzipien als Chance auf eine partizipativere Gestaltung von Arbeit (Boes et al. 2018) und explizit als mögliches Werkzeug des Belastungsmanagements (Pfeiffer et al. 2014) thematisiert. Empirische Studien kommen aber zum Schluss, dass sich einerseits Machtstrukturen durch dieses Format der Arbeitsorganisation nicht überwinden lassen (Hodgson und Briand 2013) und andererseits die mit agilen Methoden verbundenen Hoffnungen sich nur einlösen lassen, wenn zugleich auf kennzahlenorientierte Steuerung verzichtet wird und wenn ausreichend Personal- sowie Zeitressourcen zur Verfügung gestellt werden (Pfeiffer et al. 2014, S. 129).

3.3 Indirekte Steuerung und Vermarktlichung

Das Format der Selbstorganisation wird teilweise mit demjenigen der ergebnisorientierten bzw. indirekten Steuerung verbunden, also der Vorgabe von Ergebniszielen durch das Management. Insofern das Arbeitsverhalten nicht über Vorgaben zum Arbeitsprozess, sondern über die Kommunikation erwarteter Resultate gesteuert wird, spricht man hierbei von indirekter Steuerung. In der Arbeitssoziologie wird diese Steuerungsform mit der „Vermarktlichung“ und Dezentralisierung der Arbeitsorganisation in Verbindung gebracht. Mit „Vermarktlichung“ ist gemeint, dass die operativen Prozesse in Betrieben enger an ihren Markterfolg gekoppelt werden (Kratzer und Dunkel 2013, S. 45). Vermarktlichung zeigt sich in der größeren Intensität der auch früher schon existierenden Praktik, Ergebnisziele zu formulieren und Prozesse entlang von Vorgaben und Kennzahlen zu bewerten. Kennzahlen orientieren sich dabei nicht zwingend am realistisch Machbaren, sondern an den aus Shareholder-Sicht gewünschten Renditen und strategischen Zielen. Eine Facette der Vermarktlichung besteht nach Sauer (2010, S. 553) darin, dass sich das Unternehmen „Markt- und Konkurrenzmechanismen in der internen Organisation zum Vorbild“ nimmt. Bereiche werden dezentral als Cost- und Profitcenter organisiert und anhand ihrer erzielten Ergebnisse beurteilt, stehen also unter dem beständigen Druck, sich zu bewähren. Der Markt wird nach Sauer (2010, S. 554) zum „Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen“ gemacht. Marktanforderungen werden in abstrakte Zielvorgaben übersetzt und verleihen den Vorgaben der Steuerung den Schein „realer Notwendigkeit“. „Insofern ist mit der Bekanntgabe von Kennziffern die Erwartung beständiger Optimierung verbunden. Was sich als lapidares Maßverhältnis präsentiert, enthält Markteinschätzungen, Gewinnerwartungen und Kostengrenzen, die als konkrete Leistungsanforderungen fungieren. Kennziffern werden nicht mehr als Herrschaftswissen des Managements betrachtet, vielmehr sollen mittels ihrer Verbreitung die Beschäftigten aktiviert werden.“ (ebd., S. 555). Mit indirekter Steuerung werden gesundheitliche und insbesondere psychische Belastungen assoziiert (Kratzer und Dunkel 2013; Menz und Nies 2015).

Die Dezentralisierung der Unternehmensführung und die Einführung von marktlichen Prinzipien in der Organisation trifft im Sample auf die Organisation des Versicherungsaußendienstes zu. In einem der beiden Versicherungsunternehmen ist der Außendienst an selbständige Agenturen, also an Subunternehmen ausgelagert. Im anderen funktionieren die Agenturen innerhalb der Firma bezüglich Gewinnerwirtschaftung wie eigenständige Unternehmen. Die Steuerung erfolgt sowohl auf der Ebene der Agenturen als auch für die einzelnen Verkäufer über die Vorgabe von Verkaufszielen sowie ein provisionsbasiertes Lohnsystem. Dies führt zu kontinuierlichem Leistungsdruck und einer entsprechend geringen Toleranz für Schwankungen im Arbeitsvermögen. Der Raum für das Management von Krankheitssymptomen ist insofern gering, weil sich Ruhepausen unmittelbar in der Erfolgsbilanz und letztlich auch in den ausgezahlten Provisionen niederschlagen. Ähnlich problematisch sind die Möglichkeiten zur Umsetzung von Wiedereingliederungsmaßnahmen: Da Arbeitsaufwand und Erfolg nahezu entkoppelt sind, nützt ein therapeutisches Teilzeitpensum für die Rehabilitation wenig. Zudem wirken sich auch Fehltage unmittelbar als verpasste Geschäfte aus, gefährden die Zielerreichung und verringern die Provisionen. Die Neigung zur „Krankheitsverleugnung“ (Kocyba und Voswinkel 2007) ist unter diesen Bedingungen entsprechend groß. Falls es doch zu einer längeren Krankschreibung kommt, erzeugen dieselben Rahmenbedingungen den Anreiz, so rasch wie möglich wieder voll zu arbeiten, was wiederum zu einer Verkürzung der Rehabilitationszeit führt.

3.4 Standardisierung, Leistungs- und Kostenkontrolle

Wird Post-Taylorfordismus zwar zum einen mit einer Erweiterung des Aufgabenspektrums und einer stärkeren Überantwortung von Kontrolle an die Beschäftigten assoziiert, werden gleichzeitig Tendenzen zu einer stärkeren Standardisierung und Bürokratisierung festgestellt. Dies zeigt sich auch am Beispiel der indirekten Steuerung: den Beschäftigten werden einerseits mehr Freiräume in der Umsetzung des Arbeitsprozesses zugestanden, andererseits führt die Übersetzung von „Marktanforderungen“ in Zielvorgaben zu einer Bürokratisierung auf der Ebene der Ziele. Die erwünschten Ergebnisse werden genau beziffert und den Arbeitskräften zentral vorgegeben. Die Tendenz zur Standardisierung zeigt sich auch in der Definition von Aufgabenprofilen, die zwar in gewissen Fällen tatsächlich erweitert, aber wenig flexibel gehandhabt werden, was zur Diagnose einer Neo-Taylorisierung veranlasste (Crowley et al. 2010). Mit Lean Management-Konzepten wurde darüber hinaus in vielen Bereichen nicht nur die Arbeitsintensität, sondern auch die Leistungskontrolle intensiviert. Gerade in gewissen Bereichen des Dienstleistungssektors wird außerdem anstelle einer Erweiterung eine zunehmende Fragmentierung von Aufgaben festgestellt, weshalb auch schon Bosch (2000, S. 254) von einer Retaylorisierung spricht. Für die Beschäftigten führen diese Entwicklungen vermehrt zu körperlichen und psychischen Beschwerden und Stress (Carter et al. 2011, 2013).

In den Versicherungen wurden entsprechende Forminvestitionen in Kontrollinstrumente in den Bereichen des Innendiensts, aber auch im Außendienst vorgenommen. Die engmaschige Leistungskontrolle im Innendienst, die Bewertung der Beschäftigten nach ihrem individuellen „Postkorbstand“ und der Geschwindigkeit der Fallbearbeitung führen zu einem beständigem, gleichsam künstlich verstärkten Zeitdruck und erschweren es, die Arbeit nach eigenen Rhythmen zu gestalten. Auch Arbeitsabläufe im Außendienst waren in den letzten Jahren von einer zunehmenden Standardisierung betroffen. Neben quantitativen Zielvorgaben gilt es für die Kundenberater neuerdings auch qualitative Vorgaben, z. B. zum Ablauf eines Beratungsgesprächs, zu berücksichtigen und im Anschluss diesen Ablauf schriftlich zu dokumentieren. Dies führt zum einen zum Wegfallen von Ermessensspielräumen, zum anderen zu einer Mehrbelastung und steigender Aufgabenkomplexität. Die digitale Dokumentationsarbeit hält die Kundenberater – nach eigenem Empfinden – von der eigentlichen Verkaufsarbeit ab. Die Dokumentationsplattformen „könntest du [mit Daten] füttern und füttern und du hast zuletzt kein Geld verdient“, so ein Kundenberater. Die vermehrte Dokumentationsarbeit führt in einen Widerspruch zur indirekten Steuerung, nach der das Hauptziel der Berater darin besteht, möglichst viele Versicherungen zu verkaufen. Durch die vermehrten administrativen Aufgaben fehlt ihnen die nötige Zeit für die Erreichung ihrer Verkaufsziele (Menz und Nies 2015, S. 237). Darüber hinaus führt die Handhabung digitaler Plattformen zu einer größeren Aufgabenkomplexität. Außerdem verringern die vom Management beabsichtigten Effizienzgewinne durch Standardisierung den Spielraum, auf individuelle Kundenwünsche einzugehen (Kleemann et al. 2019, S. 74).

Die Standardisierung und Intensivierung der Leistungskontrolle führen einerseits zu einer steigenden Arbeitsintensität und Aufgabenkomplexität, die bei Beschäftigten, die ohnehin psychische Belastungen erleiden, dazu beitragen, dass sie ihre Arbeit nicht mehr bewältigen können. Bei zusätzlich schwindenden Ermessensspielräumen kann diese Entwicklung auch dazu führen, dass die Beschäftigten keinen Sinn mehr in der Arbeit sehen, die Arbeit also keine positive rehabilitative Wirkung auf die psychische Gesundheit entfalten kann, sondern eher negative Wirkungen auf das psychische Wohlbefinden zu erwarten sind.Footnote 11 Andererseits ist die Standardisierung problematisch im Hinblick auf die Anpassung von Arbeitsprofilen. Je rigider Arbeitsprofile gehandhabt werden, desto schwieriger sind Anpassungen zu rechtfertigen und organisatorisch umzusetzen.

Die Standardisierung von Aufgabenprofilen in Kombination mit einer Erweiterung des Aufgabenspektrums kann die Möglichkeiten des Krankheits- und Belastungsmanagements beeinträchtigen (Foster und Wass 2013). Dies trifft im Industriebetrieb gerade auch bei der eigentlich als gesundheits- und autonomieförderlich intendierten Maßnahme der job rotation zu. Job rotation erhöht insbesondere bei körperlichen Einschränkungen die Wahrscheinlichkeit, dass man eine der verschiedenen Tätigkeiten nicht ausüben kann. Aber auch bei psychischen Beschwerden kann der Einsatz an verschiedenen Arbeitsplätzen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Beschäftigte die Bedingungen an einem dieser unterschiedlichen Arbeitsplätze nicht vertragen. Ein Vorgesetzter berichtet vom Beispiel einer Mitarbeiterin, die er neu zusätzlich an einem Arbeitsplatz in einem fensterlosen Raum mit Maschinenlärm einsetzen wollte. Ab diesem Moment fiel sie aufgrund von psychischen Problemen aus, obwohl sie die Arbeit an ihrem vorherigen Arbeitsplatz problemlos hätte erledigen können. Es lässt sich vermuten, dass für sie das Krankheits- und Symptommanagement an diesem Arbeitsplatz nicht mehr funktionierte, weshalb sie es vorzog, sich krankschreiben zu lassen.

Mit der „Lean Production-Welle“ verschärfte sich laut Dieter Sauer (2010, S. 554) auch der Kostendruck. Im Datenmaterial zeigt sich dies im Format der Kostendeckelung bei den Personalausgaben. Selbst wenn zusätzliche Personalausgaben, die sich aus Langzeitkrankheitsfällen ergeben, durch die Zahlungen der Krankentaggelder gedeckt sind, verhindern organisatorische Mechanismen wie eine maximale Anzahl an Vollzeitäquivalenten, die für jede Organisationseinheit definiert sind, dass eine temporäre Ersatzkraft rekrutiert wird. Dies führt wiederum dazu, dass Stellvertretungen bei Langzeitabwesenheiten schwieriger umzusetzen sind, was den Druck auf die verbleibende Belegschaft, aber auch auf die krankgeschriebenen Beschäftigten erhöht.

4 Zwischenfazit: Arbeitsorganisation, Eingliederung und Rechtfertigung

Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, wirken sich die Formate der Arbeitsorganisation darauf aus, ob und wie Eingliederungsmaßnahmen in Unternehmen umsetzbar sind. Sie beeinflussen auf der einen Seite, wie gut sich Maßnahmen organisatorisch umsetzen lassen. Eine niederschwellige, aber für den Eingliederungsprozess zentrale Strategie ist das Krankheits- und Belastungsmanagement. Dieses beruht auf der alltäglichen Regulierung von Krankheitssymptomen und ist abhängig vom Spielraum, Belastungen im Alltag zu bewältigen. Unter Umständen lässt es sich durch die Betroffenen individuell umsetzen, ohne dass betriebliche Maßnahmen nötig sind. Relevant für das Krankheits- und Belastungsmanagement ist, ob die Arbeitszeiten und der Arbeitstakt von den Beschäftigten autonom gestaltet werden können, ob sie z. B. flexibel Pausen einlegen können – eine Bedingung, die bereits in Abschn. 2.2 als Faktor einer inklusiven Arbeitsorganisation angesprochen wurde. Zudem ist von Bedeutung, ob sich Arbeitsbelastungen in einem Job regulieren lassen, wie etwa über die An- und Abwesenheit am Arbeitsplatz. Letzteres wirkt sich nicht nur auf die Möglichkeiten des Krankheits- und Belastungsmanagements aus, sondern auch darauf, ob eine stufenweise Wiedereingliederung, bei der die Arbeitsbelastung langsam gesteigert wird, überhaupt sinnvoll ist. Die organisatorische Umsetzbarkeit von Eingliederungsmaßnahmen im engeren Sinn – der stufenweisen Wiedereingliederung sowie der Anpassung von Aufgaben – hängt außerdem davon ab, wie flexibel Aufgabenprofile definiert sind: Können Aufgaben zusammengestellt werden, die sich innerhalb eines kleinen Pensums erledigen lassen und die dennoch einen sinnvollen Beitrag zur Produktion ermöglichen? Ist es möglich, bestimmte Anforderungen und Tätigkeiten aus einem Aufgabenprofil zu entfernen? Es kommt also auch auf die ebenfalls in Abschn. 2.2 angesprochene Aufgabenkomplexität an sowie die offiziell oder informell praktizierte Flexibilität, Stellenprofile an Beschäftigte anzupassen.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Formen der Arbeitsorganisation, in welchem Ausmaß ein eingeschränktes Arbeitsvermögen und Eingliederungsmaßnahmen Rechtfertigungsbedarf erzeugen. Eingliederungsmaßnahmen bedeuten in den meisten Fällen eine Abweichung von den für die anderen Beschäftigten üblichen Pflichten und Leistungsvorgaben. Sie können dazu führen, dass Mehraufwand für das Team oder eine andere Abteilung anfällt. Die Durchführung von Eingliederungsmaßnahmen wirft deshalb Fragen der Gerechtigkeit auf, die für stigmatisierte Krankheitsbilder wie psychische Erkrankungen umso drängender sind (Colella 2001). Verschiedene Merkmale der Arbeitsorganisation wirken sich darauf aus, wie groß der Rechtfertigungsbedarf von Eingliederungsaktivitäten ausfällt. Es beginnt mit der Art und Weise wie die Arbeit während der Krankheitsabwesenheit eines Teammitglieds organisiert wird. Wenn der Ausfall einer Arbeitskraft zu einer Mehrbelastung des Teams führt und Vorgesetzten die Erfüllung ihres Leistungsauftrags erschwert, ist mit einer sinkenden Toleranz zu rechnen. Dies kann dazu führen, dass eine weiterhin eingeschränkte Arbeitsfähigkeit während des Wiedereinstiegs am Arbeitsplatz umso plausibilisierungsbedürftiger wird, und zwar gerade bei psychischen Erkrankungen, die für das Umfeld nicht an eindeutigen Symptomen erkennbar sind. Für die Betroffenen kann sich daraus ein Druck ergeben, möglichst rasch wieder an die Arbeit zurückzukehren und ihr volles Pensum zu bewältigen. Der Druck ist verschärft, wenn die personellen Ressourcen knapp sind und die Leistungserwartungen in einer Abteilung bereits ohne den Krankheitsausfall als hoch empfunden werden. Eine ähnliche Dynamik ergibt sich in Bereichen, in denen ein hoher Leistungsdruck besteht und Teilzeitarbeit nicht üblich ist. Für einen stufenweisen Wiedereinstieg in die Arbeit, bei dem jemand, dem man äußerlich nichts ansieht, jeweils früher als die anderen Feierabend machen kann, ist dann mit weniger Verständnis zu rechnen. Die Akzeptanz, mit der Anpassungen von Arbeitsaufgaben aufgenommen werden, hängt damit zusammen, wie flexibel Arbeitsprofile und Leistungsvorgaben definiert sind und in der Praxis gehandhabt werden. Wenn Aufgabenprofile generell rigide gehandhabt werden, führt die Anpassung von Aufgaben an gesundheitliche Einschränkungen von Beschäftigten zu erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Generell gilt, dass Eingliederungsmaßnahmen, die nicht auf einem institutionalisierten Angebot beruhen, in stärkerem Maß kritikanfällig und damit rechtfertigungsbedürftig sind.

Abb. 7.1 zeigt in leicht abgewandelter Form noch einmal das integrative Diagramm aus Abschn. 4.6. Der von Kap. 5 bis zu dieser Stelle dargelegte Argumentationszusammenhang ist darin grafisch dargestellt. Vom Kontext der Arbeitsorganisation (Kasten oben links) gehen drei Pfeile aus: Die Arbeitsorganisation wirkt sich, wie in diesem Kapitel beschrieben, erstens auf die organisatorische Umsetzbarkeit von Eingliederungsmaßnahmen aus und zweitens auf den entstehenden Rechtfertigungsbedarf. Drittens kann die Arbeitsorganisation auch einen Einfluss darauf haben, nach welchen Kriterien Eingliederungsmaßnahmen gerechtfertigt werden, wie ich bereits in Kap. 6 ausgeführt habe.

Abb. 7.1
figure 1

Arbeitsorganisation und Rechtfertigungsbedarf

Die betrieblichen Akteurinnen reagieren mit verschiedenen Strategien auf den wahrgenommenen Rechtfertigungsbedarf. Sie versuchen zum einen, die getroffene Eingliederungsmaßnahmen weniger kritikanfällig zu machen, also den Rechtfertigungsbedarf zu reduzieren (Kasten oben rechts). Eine im empirischen Material vorgefundene Strategie zielt auf die Herstellung von Akzeptanz, indem Kollegen, die im Zusammenhang mit Eingliederungsmaßnahmen Mehrarbeit leisten müssen, (symbolische) Gegenleistungen, z. B. kleinere Geschenke, angeboten werden. In gewissen Fällen wird gänzlich auf bestimmte Maßnahmen verzichtet, mit der Begründung, dass diese vom betrieblichen Umfeld nicht akzeptiert werden würden. Eine andere Strategie lässt sich als Kompromiss beschreiben: Maßnahmen werden nur teilweise umgesetzt. Die Strategie der teilweisen Umsetzung von Maßnahmen kann darin bestehen, dass die Betroffenen ihr mit den Ärztinnen abgesprochenes Teilzeitpensum nur dann in Anspruch nehmen, wenn die Arbeitsauslastung des gesamten Teams nicht zu hoch ist.

Als weitere Reaktion ist das Äußern expliziter Rechtfertigungen zu nennen (Kasten in der Mitte). Häufig argumentieren betriebliche Akteurinnen mit dem kooperativen Verhalten von Betroffenen, um zu begründen, dass ein gewisser Aufwand zur Reintegration vertretbar ist. In Arbeitsbereichen, die durch einen hohen Leistungsdruck geprägt sind, zum Beispiel aufgrund einer engmaschigen Leistungskontrolle oder als komplex geltender Aufgaben, wird zudem mit der weiterhin zu erwartenden Leistungsfähigkeit der Betroffenen argumentiert. Wenn einzelne Mitarbeitende oder ganze Teams über ihre monetär ausgedrückten Beiträge zum Unternehmenserfolg bewertet werden, wie es im Versicherungsaußendienst der Fall ist, kann zudem der Verkaufserfolg eines Mitarbeiters als Rechtfertigung dafür dienen, dass sich eine Wiedereingliederung in seinem Fall auszahlt (vgl. dazu Kap. 6).

Aus den beschriebenen Rechtfertigungsmustern ergeben sich Handlungsanforderungen an die Betroffenen (Kasten unten Mitte). Wenn sie eine Wiedereingliederung wünschen, ist es für sie von Vorteil, sich im Umgang mit dem Betrieb möglichst kooperativ, sowie weiterhin leistungsbereit und -fähig zu präsentieren. Daraus, wie auch aus den Strategien zur Reduktion des Rechtfertigungsbedarfs, ergeben sich mitunter für die Rehabilitation dysfunktionale Dynamiken: Um den Rechtfertigungsbedarf gering zu halten oder um die eigene Leistungsfähigkeit zu beweisen, wird zuweilen ein zu rascher Wiedereinstieg in die Arbeit angestrebt oder auf unterstützende Maßnahmen, wie z. B. die Anpassung von Arbeitsplätzen verzichtet.

Bezugnehmend auf die These, dass das Potenzial zur Integration gesundheitlich eingeschränkter Menschen unter den Bedingungen post-fordistischer bzw. post-tayloristischer Arbeitsverhältnisse abgenommen hat, wurden die Beobachtungen der Studie in Abschn. 7.3 mit verschiedenen arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen in Verbindung gebracht. Die Auswirkung „entgrenzter“ Arbeitsverhältnisse, in denen Arbeitszeiten und -orte nicht mehr klar definiert sind, muss vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse als ambivalent beurteilt werden. Flexible Arbeitszeiten und -orte erlauben es mitunter, Arbeitsrhythmen und Pausen autonomer zu gestalten und können damit gute Bedingungen für das Krankheits- und Belastungsmanagement schaffen. Wenn immer und überall gearbeitet werden könnte, kann dies das Belastungsmanagement umgekehrt auch erschweren, da die Arbeitsbelastung nicht mehr über die An- und Abwesenheit vom Arbeitsplatz gesteuert werden kann. Die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben kann darüber hinaus die entlastende Wirkung eines vorübergehenden Teilzeitpensums unterwandern. Grundsätzlich zu überdenken ist vor diesem Hintergrund die Idee, dass (psychische) Beanspruchungen durch die Erwerbsarbeit allein durch physische Anwesenheit am Arbeitsplatz reguliert werden können. Gewisse Arbeitsumfelder sind per se belastend und stressig, unabhängig vom offiziell definierten Arbeitspensum. Die Idee, dass eine bloße Reduktion der Anwesenheit am Arbeitsplatz zu einer Entlastung führt, geht von einer tayloristischen Arbeitswelt aus, in der Arbeitszeit, Leistung und Beanspruchung gleichgesetzt werden können. Wenn Arbeitsaufwand und Erfolg, wie zum Beispiel unter den Bedingungen der indirekten Steuerung, entkoppelt sind, nützt ein therapeutisches Teilzeitpensum für die Rehabilitation wenig. Grundsätzlich erfordern flexible Arbeitszeiten und -orte darüber hinaus stärkere Abgrenzungsleistungen von den Beschäftigten, die gerade für psychisch erkrankte Mitarbeitende zu einer zusätzlichen Belastung werden können.

Das Prinzip der Selbstorganisation kann ähnlich ambivalente Auswirkungen auf das Potenzial zur Umsetzung von Reintegrationsmaßnahmen haben. Zum einen ist von einer erhöhten Autonomie in der Gestaltung des Arbeitsprozesses auszugehen, was Spielräume für das Krankheits- und Belastungsmanagement vergrößert. Zum anderen kann mit dem Prinzip der Selbstorganisation eine starke Identifikation mit der Erwerbsarbeit einhergehen. Dies birgt die Gefahr, dass Beschäftigte im Wiedereingliederungsprozess die vereinbarten Schonräume und -zeiten freiwillig weniger nutzen als vorgesehen ist. Findet die Selbstorganisation auf der Ebene von Gruppen statt, ist zudem das Krankheits- und Belastungsmanagement erschwert, weil der Arbeitstakt durch die Gruppe bestimmt wird. Die Beanspruchung von Schonräumen ist unter diesen Bedingungen zusätzlich mit den Leistungserwartungen und Ansprüchen der Arbeitsgruppe zu vereinbaren, was ebenfalls dazu führen kann, dass Eingliederungsmaßnahmen nur halbherzig umgesetzt werden.

Die Umsetzung eines temporären Teilzeitpensums oder die Anpassung von Arbeitsaufgaben ist erst recht erschwert, wenn das Prinzip der indirekten Steuerung hinzukommt. In diesem Fall müssen die Beschäftigten vom Management vorgegebene Ziele erreichen. Für erkrankte Arbeitskräfte heißt dies, dass sich Fehltage unmittelbar als verpasste Chancen auf die Zielerreichung auswirken. Wenn zudem Ziele auf Gruppenebene erreicht werden müssen, gefährden Krankheitsabwesenheiten den Erfolg des gesamten Teams. In einem solchen Kontext haben die Betroffenen ein starkes Interesse, ihre Abwesenheiten vom Arbeitsplatz möglichst kurz zu halten und rasch wieder voll für ihre Arbeit zur Verfügung zu stehen.

Die als „neo-tayloristische“ Entwicklungstendenz beschriebene Standardisierung von Tätigkeiten und Intensivierung der Leistungskontrolle führen in einigen Arbeitsbereichen zu einer steigenden Arbeitsintensität und Aufgabenkomplexität. Für Beschäftigte mit psychischen Belastungen kann es unter diesen Umständen schwieriger werden, ihre Arbeitsaufgaben zu bewältigen. Die rigide Standardisierung von Arbeitsprofilen hat zudem zur Folge, dass die Anpassung von Arbeitsaufgaben schwieriger umzusetzen ist und höheren Rechtfertigungsbedarf im Unternehmen erzeugt.

Festzuhalten ist mit Hinblick auf die These einer erschwerten Reintegration unter den Bedingungen des Post-Taylorfordismus, dass verschiedene Entwicklungstendenzen, die mit diesem Konzept assoziiert werden, unterschiedliche und teils ambivalente Auswirkungen auf das Potenzial zur Wiedereingliederung haben.