Die bisherige Analyse legte den Fokus auf diejenigen Beschäftigten des Samples, deren Arbeitsunfähigkeit durch eine ärztliche Krankschreibung attestiert und mit einem längeren Ausfall am Arbeitsplatz verbunden war. Aufgrund des Stigmas kann man davon ausgehen, dass ein Teil der Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen diese am Arbeitsplatz nicht offenlegen (vgl. Abschn. 2.3.4). Wegen der Vermittlung des Feldzugangs durch das BGM habe ich im Rahmen meiner Forschung nur Zugang zu Personen erhalten, deren Erkrankungen im Betrieb bekannt sind. Dies stellt eine Einschränkung dieser Studie dar. Gleichzeitig hat sich bei der Datenerhebung aber gezeigt, dass das BGM in den beiden Versicherungsunternehmen auch Beschäftigte unter dem BGM-internen Label der „psychischen Probleme“ begleitet, die nicht krankgeschrieben wurden und keine solche Diagnose offengelegt haben. Bezüglich der Frage nach betrieblichen Deutungsmustern hinsichtlich psychischer Erkrankungen von Beschäftigten ist dies ein interessanter Befund: die Zuschreibung psychischer Gesundheitsprobleme erfolgt mitunter auch ohne die Grundlage einer ärztlichen Diagnose und Krankschreibung. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, wie es zu einer Begleitung von Krankheitsfällen ohne Krankschreibung kommt, welche Konsequenzen sich für die Betroffenen und die Betriebe ergeben und welche Bedeutung diese Art von Begleitung aus der Perspektive der Arbeitgeber hat. Inwiefern unterscheiden sich die Deutungsprozesse und Begründungslogiken bezüglich Personalmaßnahmen von den Fällen, in denen eine Krankschreibung vorliegt? In den folgenden Abschnitten lege ich anhand des Fallbeispiels von Bernhard Aebischer dar, wie es zu einer Kategorisierung eines Beschäftigten als „psychischer“ Fall ohne offizielle Krankschreibung kommen kann.

1 Das Fallbeispiel Bernhard Aebischers

Bernhard Aebischer ist zum Interviewzeitpunkt 47 Jahre alt und arbeitet als Kundenberater in einer Versicherung.Footnote 1 Ungefähr ein Jahr vor dem Interview hatte er – in eigenen Worten – einen „schlechten“ Start ins Kalenderjahr. Schon davor hat er „die Zahlen nicht gebracht“ und wurde von seinen Vorgesetzten zu Gesprächen vorgeladen, in denen seine mangelnde Leistung Thema war. Als Kundenberater wird seine Leistung umfassend quantifiziert und an Zielvorgaben gemessen (vgl. Abschn. 7.1.2). Der direkte Vorgesetzte Hannes Roth erinnert sich, dass Bernhard Aebischers Leistung auch in anderer Hinsicht nicht befriedigte: so hielt er sich nicht an die Standards der Gesprächsführung, erfasste Kundendaten nicht wie vorgeschrieben und hatte zu wenig Kundentermine. Gegen die Anforderung, Daten zu erfassen, wehrte er sich mit der Begründung, dass ihm dies produktive Zeit stehle.

Beide, der Beschäftigte und der direkte Vorgesetzte, bringen die Leistungsverschlechterung mit einem Führungswechsel in Verbindung. Bernhard Aebischer war zuvor direkt dem Generalagenten unterstellt gewesen und hat nach dessen Pensionierung in ein Team gewechselt, das von Hannes Roth geführt wird, aber zugleich der Leitung eines übergeordneten Vorgesetzten, Felix Rüefli, untersteht. Mit diesem hat Bernhard Aebischer Jahre zuvor auf der gleichen Hierarchieebene zusammengearbeitet. Bernhard Aebischer kritisiert im Interview den Führungsstil dieses Vorgesetzten. Der direkte Vorgesetzte Hannes Roth wurde von Felix Rüefli informiert, dass Bernhard Aebischer bereits früher mit Leistungsschwankungen aufgefallen war, die sich in „Hochs und Tiefs“ äußerten und dass er diesbezüglich „Betreuung“ benötigte. Der Blick des Vorgesetzten Hannes Roth scheint also durch die Wahrnehmung des übergeordneten Vorgesetzten geprägt.

Zum Zeitpunkt ein Jahr vor dem Interview schreibt Bernhard Aebischer so schlechte Zahlen, dass es laut Hannes Roth „finanziell einen Einfluss hat“. Gemeinsam mit Felix Rüefli lädt er ihn zu einem Gespräch vor, mit dem ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden soll. Ein Maßnahmenplan ist „parat“: Vorgesehen ist eine auf drei Monate angelegte „Zielvereinbarung“, welche dieselben Ziele enthält, an denen die Arbeit der Kundenberater ohnehin gemessen wird. Mit einer individuellen schriftlichen Vereinbarung wird jedoch der Druck auf den Beschäftigten erhöht, weil mit ihrer Nichterfüllung weitere Konsequenzen verbunden sind.Footnote 2 Laut Hannes Roth soll sie als „Warnschuss“ dienen.

Bernhard Aebischer erinnert sich, dass seine Vorgesetzten ihn im Gespräch auf die „schlechten Zahlen“ ansprechen, er sich jedoch weigert, mit ihnen „über Zahlen zu diskutieren“. Als sie ihn über die geplanten Maßnahmen unterrichten, teilt er ihnen bildhaft ausgeschmückt seine Überforderung mit:

habe ich gesagt, ich bin an einem Punkt angelangt, mit diesen vielen Veränderungen, die ihr machen wollt, die für mich momentan nicht ... tragbar sind. Es geht irgendwie nicht. Ich checke die Abläufe zum Teil nicht mehr ... oder ... du wirst nachlässig und das kann es irgendwie nicht sein. ... Und dann hat man das gemerkt, ... also gemerkt, nein, man hat es nicht gemerkt, ich habe es gesagt, es IST so. Und ich habe ganz klar gesagt, ich fühle mich, ... wie ein kleines Mädchen (1) an einer stark befahrenen Hauptstraße (3) auf der linken Seite mein Teddy, auf der anderen Seite im Straßengraben liegt mein Ball, den ich verloren habe, und irgendwie möchte ich diesen Ball wieder und stehe hier an dieser Straße und ich weiß nicht wie ich das machen soll, oder. Und ich ... ich brauche niemanden, der mir jetzt hier (1) quasi einen Stoß gibt, von hinten, oder, dass ich vom nächsten ... Lastwagenzug erfasst werde, (1) und dann ist das für sie eigentlich ziemlich klar gewesen, jetzt ist gar nicht mehr gut, ... wir müssen dem genauer nachgehen, und dann ist das ganze Case Management ins Spiel gekommen.

Bernhard Aebischer bringt in dem Gespräch vor allem seine Defizite zur Sprache: er kann den an ihn gerichteten Erwartungen nicht mehr Folge leisten, weil sie ihn überfordern. Er vergleicht sich mit einem kleinen Mädchen, das sein gewohntes Spiel nicht mehr spielen kann, weil es sich in einer unwirtlichen, existenzbedrohenden Umgebung befindet. Dieser Vergleich erscheint gerade in der männlich geprägten und auf Leistung getrimmten Sphäre des Versicherungsaußendienstes als dramatisches Eingeständnis von Schwäche. Implizit enthält das gewählte Bild eine Schuldzuweisung an das Unternehmen. Das Problem liegt nämlich im Kontext, der feindlich gesinnten Umgebung von Lastwagenzügen und der Hand, die einem den letzten Stoß in den Rücken versetzen will. Im Interviewverlauf berichtet Bernhard Aebischer wiederholt und ausführlich von den problematischen strukturellen Bedingungen im Versicherungsaußendienst (vgl. Abschn. 10.1) und beschwört das Ideal einer menschlicheren Kundenberatung und eines an den Bedürfnissen der Kundinnen orientierten Dienstleistungsethos, das im Gegensatz zum heute dominierenden Streben nach einer maximalen Anzahl an Versicherungsabschlüssen steht (Menz und Nies 2015; Holtgrewe und Voswinkel 2002). Für ihn selbst besitzt sein Eingeständnis in der Tat den Charakter eines Vorwurfs. Er erklärt im Interview, die Wut über den unmenschlichen Führungsstil des höheren Vorgesetzten und dessen fehlende Sensibilität dafür, dass es ihm nicht gut geht, hätten sich über längere Zeit angestaut. Mit Befriedigung stellt er fest, dass die Vorgesetzten nun endlich erkennen, dass „etwas nicht stimmt“.

Hannes Roth nimmt die Äußerung seines Mitarbeiters aber nicht primär als Vorwurf, sondern als manifestes Eingeständnis von Schwäche auf. Er leitet daraus ab, dass es Bernhard Aebischer gesundheitlich nicht gut geht. Nach seiner Darstellung hat Bernhard Aebischer „eröffnet“, „dass er überfordert ist, dass er nicht weiterkommt, dass er Hilfe braucht“. Das Eingeständnis von Überforderung hat für die Vorgesetzten direkte Konsequenzen. Es führt laut Hannes Roth dazu, dass „in dem Bereich, in dem wir gewollt hätten, keine Maßnahmen getroffen worden sind“, dass also auf das Disziplinarverfahren verzichtet wird. Stattdessen bringen die Vorgesetzten in Hannes Roths Worten das „Care System“ „zum Laufen “, indem sie das BGM einschalten. Bernhard Aebischers Anspruch einer nicht selbstverschuldeten Schwäche wird somit institutionell Rechnung getragen, indem sie als gesundheitlich bedingt gerahmt und als BGM-relevant eingestuft wird. Er wird zu einem Fall, der unter dem Aspekt von „Care“ anstelle von Leistung betrachtet werden muss.

Bald darauf meldet sich ein BGM-Mitarbeiter bei Bernhard Aebischer und bietet ihm eine persönliche Begleitung an. Er wird so zu einem BGM-Fall. Eine weitere Medikalisierung seiner Probleme lehnt er jedoch ab. Er erinnert sich an die Fragen: „Nimmst du einen Psychologen, nimmst du einen Psychiater, bist du krank?“, und stellt es als seine aktive Entscheidung dar, „nicht krank machen“ zu wollen, um die „Nähe zum Betrieb“ nicht zu verlieren. Eigentlich würde ihm die Krankenrolle Entlastung bringen. Demgegenüber scheint aber die mit ihr verbundene Stigmatisierung schwergewichtiger. Die Einordnung als krank hätte ihn noch mehr geschwächt, hält er im Interview fest. Er habe für eine „stärkende“ Maßnahme optiert. Eine ärztlich bestätigte Diagnose ist aus der Sicht des BGMs in der Komfortia keine Voraussetzung für eine BGM-Begleitung. Hannes Roth beschreibt den Zustand seines Mitarbeiters in vagen Begriffen als psychisches Problem: es handle sich um eine psychische Blockade, die überwunden werden muss. An anderer Stelle sagt er: „im Kopf oben funktioniert [es] nicht mehr.“ Hannes Roth unterstellt damit eine in medizinischer oder psychologischer Perspektive objektiv feststellbare Funktionsstörung, ohne jemals einen ärztlich autorisierten Beleg für ein Gesundheitsproblem eingefordert zu haben. Die Definition als psychische Überforderung stellt in diesem Fall eine Art Minimalkonsens der Beteiligten über die Problematik dar, also eine Definition mit der alle einverstanden sein können, mit der sie aber eigentlich unterschiedliche und unvereinbare Ansichten über den Hintergrund des Problems verbinden.

Aus diesen Gesprächen ergeben sich nach Hannes Roth „Begleitungen“. In wöchentlichen Einzelgesprächen mit Bernhard Aebischer unterstützt er ihn in der Einhaltung der vorgegebenen Arbeitsabläufe. Zudem begleitet er ihn zu Kundenterminen. Außerdem erhält Bernhard Aebischer ein internes Telefoncoaching, um seine Wirkung auf Kunden zu testen. Hier zeigt sich nach seiner Erinnerung, dass es nicht an Bernhard Aebischers mangelnden Arbeitstechniken gelegen hat, sondern dass vorwiegend „die Psyche nicht mitgespielt“ habe.

Der zuständige BGM-Verantwortliche Felix Siegrist vermittelt Bernhard Aebischer ein Resilienztraining, das dieser äußerst positiv bewertet: er habe dort seine Stärken, wiederentdeckt, die er – „eingezwängt“ in das enge „Schema“ seines Jobs – vernachlässigt habe. Felix Siegrist scheint sich in seiner Deutung des Falls sehr sicher: er sieht die Problematik in Bernhard Aebischers „Frustration“ angesichts des erhöhten Drucks im Versicherungsaußendienst und seinem Leiden unter der „zahlenorientierten“, „unsensiblen“ Führung. Dies habe zu einer Verunsicherung und damit zu einer Leistungsverschlechterung geführt. In der Begleitung sei sein Ziel gewesen, die Frustration zu lindern, ihm dabei zu helfen, „großzügiger darüber hinwegzugehen“, „Distanz“ zu gewinnen und den „ruppigen Führungsstil“ hinzunehmen, sich nicht als „Opfer“ zu sehen sowie eine mögliche berufliche Umorientierung zu fördern.

Nach einigen Monaten heben Hannes Roth und Felix Rüefli die informelle Schonfrist auf und wechseln zurück ins Register des Disziplinarverfahrens. Im Interview begründet Hannes Roth diesen Schritt damit, dass Bernhard Aebischer gesagt habe, „er habe wieder den Anschluss gefunden“ und es gehe ihm „psychisch besser“. Mit einer erneuten Zielvereinbarung habe man ihm „die Richtung zeigen [wollen], wo soll es für ihn weitergehen, was soll er noch priorisieren“. Bernhard Aebischer selbst ordnet diese Wendung anders ein: er führt den Wechsel darauf zurück, dass er sich in einer firmeninternen Umfrage kritisch über seine Agentur geäußert und dadurch das Wohlwollen seiner Vorgesetzten verloren habe.

Die Zielvereinbarung, der Bernhard Aebischer in den folgenden drei Monaten genügen muss, enthält nach seiner Erinnerung sieben „Leistungsziele“, die Verkaufszahlen und Verhalten betreffen. Besonders geht Bernhard Aebischer auf ein „Loyalitätsziel“ ein, das er als „Maulkorb“ bezeichnet und mit der Kritik in Verbindung bringt, die er in der Umfrage formuliert hat. So muss er künftig Äußerungen in internen Umfragen von seinem direkten Vorgesetzten genehmigen lassen.

Nach seiner Wahrnehmung erfüllt Bernhard Aebischer die Ziele der Vereinbarung und übertrifft manche sogar. Auch Hannes Roth bewertet seine Leistungen als befriedigend. Trotzdem kündigt er an, man werde Bernhard Aebischer im Anschluss eine weitere Zielvereinbarung auferlegen. Er begründet dies im Interview damit, dass ihm eine solche Vereinbarung dabei helfe, längerfristig besser auf seine Ziele zu fokussieren. Zudem handle es sich dabei um „erfüllbare“ Ziele, die man erreichen könne, „wenn man den Willen zeigt“.

Übertragen in die Begrifflichkeit des Rechtfertigungshandelns stellt Bernhard Aebischer mit dem Geltendmachen seiner Überforderung die Angemessenheit der von seinen Vorgesetzten durchgeführten „Prüfung“ und des durch sie hervorgehobenen „Wertes“ in Frage. Angesichts seiner angeschlagenen psychischen Verfassung, so fordert er, kann es nicht um seinen über Verkaufszahlen ausgedrückten Wert als Mitarbeiter gehen, sondern vielmehr um den Wert der durchgeführten Personalmaßnahmen und damit letztlich um die „Größe“ des Arbeitgebers (Nadai et al. 2019, S. 18). Als unangemessen erscheint ein Disziplinarverfahren bei Beschäftigten mit (psychischen) Gesundheitsproblemen (vgl. Kap. 9), als angemessener dagegen eine Begleitung durch das Gesundheitsmanagement. Zudem veranschaulicht das Fallbeispiel, wie die Natur des Problems zwischen den Beteiligten ausgehandelt wird (vgl. Abschn. 8.2).

2 Psychische Probleme als betriebliche Kategorie

2.1 Die Zuschreibung psychischer Probleme

Medizinische Laien spielen in der Zuschreibung psychischer Probleme oft eine wichtige Rolle – auch für solche, die später durch eine ärztliche Diagnose bestätigt werden: „It is not always psychiatry or the ‚psy professions‘ that labels people as mad or mentally ill, they usually rubber stamp (and specifically medicalize) decisions which have been made already in the lay arena by family, friends, neighbours or colleagues.“ (Spandler und Anderson 2015, S. 17) Die Zuschreibung psychischer Probleme jenseits medizinischer Diagnosen kann in gewissen Fällen auch durch die Betroffenen selbst angestoßen werden, wie im Fall Bernhard Aebischers, auch wenn dies von ihm nicht zwingend beabsichtigt wurde. In anderen Fällen des Datenmaterials wird sie durch Mitarbeitende des BGM oder durch direkte Vorgesetzte veranlasst.

Eine Zuschreibung psychischer Probleme durch das BGM ist vor allem in den beiden Versicherungsunternehmen wahrscheinlich, weil diese die Zuständigkeit des BGM sehr weit fassen. In der Komfortia können nicht nur kranke Beschäftigte das Angebot zur Beratung und Begleitung nutzen, sondern auch Mitarbeitende mit diversen Problemstellungen. Die BGM-Leiterin führt aus:

wir tun nicht nur Mitarbeiter begleiten, die krank sind, sondern ... unsere Tür ist offen für alle. Wir haben dann am Anfang auch gesagt, ah jetzt kommt wieder einer mit Eheproblemen, oder, der hat DAS, oder so, oder? Wo wir dann irgendwann sagen, mein Gott, oder? Aber schlussendlich, der Effekt davon ist, dass er sich nicht wohl fühlt, dass er fehlt am Arbeitsplatz, dass er schlechte Stimmung verbreitet, dass er traurig ist, was auch IMMER, oder? Und das möchten wir eigentlich vermeiden, also ist, wir nehmen alles. Man kann kommen mit was man will.

Diese offene Definition der Zuständigkeit für alle möglichen Probleme von Beschäftigten wird im Zitat mit der Zielsetzung des BGM begründet, die darin liegt, unabhängig von der Natur der Probleme ihre negativen Auswirkungen auf die Arbeit im Betrieb so klein wie möglich zu halten. Auch in der Celestia ist die Zuständigkeit weit gefasst. Hier sind BGM-Verantwortliche auch für die Intervention bei Konflikten, sexueller Belästigung oder Mobbingfällen zuständig. Die breite Zuständigkeit der betrieblichen Fachstelle für die Gesundheit der Mitarbeitenden führt dazu, dass eine breite Palette unterschiedlicher Probleme potenziell mit medizinischen Ursachen in Verbindung gebracht wird.

Die Einordnung als psychisches Gesundheitsproblem geschieht, wie das Beispiel Bernhard Aebischers zeigt, in mehreren Schritten. Von ihm selbst wurde diese Einordnung zwar angestoßen, sie war aber nicht eindeutig intendiert. Er selbst wollte mit seiner „Überforderung“ auf problematische Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Die Kategorisierung seines Falls als „gesundheitlich“ relevant erfolgte dann durch die Vorgesetzten, als diese das BGM als zuständige Fachstelle einschalteten. Eine Einordnung als „psychischer“ Fall geschah in einem weiteren Schritt durch den zuständigen BGM-Verantwortlichen, der das Problem entsprechend einschätzte und im BGM-System erfasste.

Das Geltendmachen gesundheitlicher Probleme kann aus der Perspektive der betrieblichen Akteurinnen das Erreichen verschiedener Handlungsanliegen begünstigen. Zum einen können gesundheitliche Probleme als Grundlage für die Kritik an den Arbeitsbedingungen herangezogen werden (vgl. Kap. 10). Von Beschäftigten können sie auch mit der Absicht ins Feld geführt werden, vom Unternehmen eine andere Behandlung zu verlangen, wie z. B. sich disziplinarischen Maßnahmen zu entziehen (Zanoni 2011). Darüber können konkrete, vermutete Krankheitsbilder oder durch Laien gestellte Diagnosen Erklärungen für ein bestimmtes Verhalten liefern. Letzteres trifft zu für das Beispiel von Kilian Balmer.

Kilian Balmer ist ein Sachbearbeiter in einer Versicherung. Aufgrund eines Konflikts mit seinem Bürokollegen, der sich auf das Arbeitsklima des gesamten Teams auswirkt, wird das BGM eingeschaltet. In der Aufarbeitung des Konflikts dominiert die Interpretation, dass die Probleme von Kilian Balmer ausgehen, obwohl die Vorgesetzte Svenja Olesch rückblickend feststellt, dass auch dessen ehemaliger Bürokollege „gewisse Schwierigkeiten“ habe, „mit Sachen umzugehen“. Man habe jedoch gemerkt, dass Kilian Balmer „speziell reagiert“ und schnell gestresst war. Um den Konflikt zu entschärfen, erhalten Kilian Balmer und sein Kollege getrennte Arbeitsplätze. Aber auch danach fühlen sich Teammitglieder durch Kilian Balmer gestört. Vorgeworfen wird ihm sein lautes Sprechen und seine Art, Mitarbeitende in unpassenden Momenten mit Fragen in Beschlag zu nehmen. Gemeinsam mit der BGM-Verantwortlichen gelangt Svenja Olesch zur Einschätzung, dass Kilian Balmer von einem nicht-diagnostizierten Asperger-Syndrom betroffen sei. Diese Laiendiagnose hat für Svenja Oleschs Beurteilung des Mitarbeiters eine entscheidende Bedeutung:

es ist gut, das Verständnis zu haben, warum ... das anders ist, nicht böswillig, sondern einfach ... die Gehirnstrukturen ... das Nervensystem oder was auch immer, die Neuronen funktionieren SO und nicht anders. Und ... der Mensch KANN nicht anders. Und wenn man das VERSTEHT, dann geht es besser.

Die Erklärung der Problematik über eine letztlich biochemische Ebene entlastet Kilian Balmer von der Schuld für das als unangebracht kritisierte Verhalten und erleichtert es der Vorgesetzten, dieses als objektive Gegebenheit hinzunehmen. Wie Michael Dellwing (2010, S. 51) in seiner Beschreibung der „performativen Leistung“ einer Erklärung über psychische Störungen hervorhebt, liefert die Zuschreibung psychischer Probleme einen „account“ der störenden Situation „jenseits von Motiven“. Die Person wird von ihrer Handlung „getrennt“, sie kann also nicht im vollen Sinn für sie verantwortlich gemacht werden. Svenja Olesch überlegt sich ausgehend von der Vermutung eines Asperger-Syndroms, was für eine Art Begleitung Kilian Balmer „braucht“. Sie führt regelmäßige Einzelbesprechungen mit ihm ein, um ihn gezielter bei der Stressbewältigung zu unterstützen. Die Unterstellung einer spezifischen psychischen Funktionsstörung legitimiert aus der Sicht der Vorgesetzten diesen Mehraufwand. Zugleich entlastet diese Erklärung davon, weiter auf der Teamebene nach möglichen Konfliktursachen zu suchen.

Die Zuschreibung psychischer Probleme jenseits ärztlicher Diagnosen kann mehr oder weniger offen erfolgen, wie im Fall Bernhard Aebischers. Sie kann aber auch verdeckt bleiben, also nur unter BGM-Verantwortlichen und Vorgesetzten diskutiert werden, wie in Kilian Balmers Fall. Die BGM-Verantwortliche erklärt, dass man diesen nicht stigmatisieren wollte. Um jedoch Gewinne aus der Laiendiagnose ziehen zu können, kann es nötig sein, diese auf eine möglichst vage Art dennoch an die Betroffenen oder deren Umfeld zu kommunizieren. Svenja Olesch informiert das Team mit Kilian Balmers Einverständnis darüber, dass dieser „spezielle Eigenschaften“ habe und „dass Konstanz wichtig ist, dass Stresssituationen entstehen, sobald eine Veränderung passiert“. Nach ihrer Wahrnehmung ist das Team „erleichtert“ und bringt Kilian Balmers zuvor als störend empfundenen Verhaltensweisen nun mehr Toleranz entgegen.

Je offener die Zuschreibung eines psychischen Problems oder gar einer psychischen Diagnose kommuniziert wird, desto mehr Zugzwänge zur Plausibilisierung können sich ergeben. Zum einen stellt sich das Problem der Beweisführung, dass es sich tatsächlich um eine psychische Symptomatik handelt. Zum anderen muss es als annehmbar erscheinen, dass trotz der vermuteten psychischen Problematik keine ärztliche Behandlung beansprucht wird. Diese beiden Erklärungszwänge sind einander entgegengesetzt und können in Widersprüche führen, die es auszubalancieren gilt.

Zunächst zur Frage, wie psychische Probleme überhaupt geltend gemacht werden, wenn sie nicht ärztlich bestätigt wurden: Eine Technik besteht darin, Verhaltensweisen von Personen direkt mit Symptomen oder Syndromen, die für bestimmte psychische Diagnosen typisch sind, in Verbindung zu bringen. Diese Technik stützt sich auf gesellschaftliches Alltags- und Laienwissen zu psychischen Erkrankungen (Castel et al. 1982). Sehr deutlich zeigt sich diese Taktik im Datenmaterial zum Fall von Kilian Balmer. Sowohl die Vorgesetzte als auch die BGM-Verantwortliche äußern in den Interviews Beschreibungen, die die Diagnose eines Asperger-Syndroms plausibilisieren. Die BGM-Verantwortliche betont, Kilian Balmer arbeite „nach wie vor gut im Zahlenbereich“, dafür hapere es „auf der sozialen Ebene“. Sie beruft sich damit auf das Phänomen der Inselbegabung bei gleichzeitigem Handicap im Sozialen. Die Vorgesetzte Svenja Olesch betont, dass dieser „sehr sorgfältig“ arbeite, aber überfordert sei, sobald es über Routineaufgaben hinausgeht. Der Laiendiagnose verleihen die beiden zudem mit dem Verweis auf autorisiertes Fachwissen Gewicht: sie haben sich „eingelesen“ und haben sich sogar von einer „Fachperson“ informell beraten lassen.

Weniger elaboriert ist die Zuschreibung der psychischen Probleme im Fall von Bernhard Aebischer. Der Vorgesetzte stellt in seiner Fallschilderung wiederholt Bezüge zu Laienvorstellungen zu psychischen Störungen her, jedoch ohne diese mit dem Hinweis auf Expertenwissen zu untermauern. Er erwähnt, dass Bernhard Aebischer unter „starken Stimmungsschwankungen“ leide und „Hochs und Tiefs“ durchlebe. Sehr pauschal wirken die Bemerkungen, dass es teilweise „im Kopf“ nicht richtig „funktioniert“ und die „Psyche nicht mitgespielt“ habe. Hier erscheint es, als sei dem Vorgesetzten selbst nicht ganz klar, inwiefern sein Mitarbeiter von psychischen Problemen betroffen ist. Vielmehr erwecken seine Formulierungen den Eindruck, als ziehe er angesichts der Einordnung des Falls durch das BGM wie auch angesichts meines Interesses als Interviewerin allgemein verbreitete Kategorien und Klischees psychischer Erkrankungen als Interpretationsfolien heran, um der Kategorisierung als psychisches Gesundheitsproblem einen Sinn abzugewinnen.

Um die Einordnung der jeweiligen Beschäftigten als Fälle mit psychischen Problemen plausibel erscheinen zu lassen, bedienen sich die Interviewten einer weiteren Technik. Diese besteht darin, das Verhalten des Betroffenen als anormal herauszustellen. Die typischen rhetorischen Formen wurden von Dorothy Smith (1976) als „cutting out operations“ bezeichnet. Diese beruhen darauf, das Verhalten einer Person zu beschreiben und mit einem Verhalten zu kontrastieren, das man für die jeweilige soziale Situation als normales, regelkonformes Verhalten postuliert. Das Verhalten der Person wird dabei nicht als bewusste bzw. beabsichtigte Abweichung von der postulierten Verhaltensregel dargestellt, sondern als ein Verhalten, das in scheinbarer Unkenntnis dieser für die anderen selbstverständlichen Verhaltensregeln erfolgt. Beispiele in Svenja Oleschs Darstellung beziehen sich auf Beschreibungen von Verhaltensweisen, mit denen Kilian Balmer seine Arbeitskolleginnen unbeabsichtigt störte: er sprach „zu laut“ – schien sich also nicht bewusst zu sein, dass man im Büro mit gedämpfter Lautstärke spricht. Zudem stellt er Fragen zu unpassenden Augenblicken, was darauf hindeutet, dass er sich der sozialen Regeln für den richtigen Moment nicht bewusst war. Außerdem fiel Svenja Olesch auf, dass Kilian Balmer „schnell gestresst“ war, seine Reaktion folglich nicht den normalen Maßstäben einer Stressreaktion entsprach. In ihrer Darstellung geht sie nicht auf mögliche Gründe für den Stress Kilian Balmers ein, die seine Reaktion als nachvollziehbar hätten erscheinen lassen, wie etwa Details zum Konflikt mit dem Arbeitskollegen oder Zeitdruck bei der Arbeit. Nach Smith (1976, S. 38) ist ebendiese Dekontextualisierung von Verhaltensweisen charakteristisch für die rhetorischen Formen, mit denen einer Person psychische Probleme attestiert werden. Das Verhalten der Person wird nicht aus dem Kontext einer sozialen Situation heraus erklärt, sondern über eine in ihr liegende, vermutete medizinische Ursache.

Erfolgt die Zuschreibung psychischer Gesundheitsprobleme mehr oder weniger offen, so ergibt sich für die Betroffenen die Frage, warum sie sich nicht in ärztliche Abklärung oder Behandlung begeben. Bernhard Aebischer erinnert sich an die Frage: „Nimmst du einen Psychologen, nimmst du einen Psychiater, bist du krank?“, und er sieht es als seine eigene Entscheidung, darauf zu verzichten und eine weitere Medikalisierung abzuwenden. In einem anderen Fall stellt der Betroffene körperliche Probleme in den Vordergrund, von denen er zugleich betroffen ist. Da eine Krankheitszuschreibung durch Laien oftmals eine professionelle Abklärung und Feststellung einer psychischen Krankheit vorbereitet, kann die Laien-Medikalisierung aber auch in eine Krankschreibung und ärztliche Medikalisierung einmünden (Barnes 2008; Smith 1976). Aus Arbeitgebersicht hat die Laien-Medikalisierung den Vorteil, dass sie keinen Arbeitsausfall mit sich bringt. Aus der Sicht der Betroffenen besteht der Hauptvorteil darin, dass sie weniger stigmatisierend ist, weil sie oft verdeckt erfolgt oder abgemildert, also nicht im Sinne einer direkten Krankheitszuschreibung, formuliert wird.

Wie der Fall von Bernhard Aebischer zeigt, kann die Zuschreibung psychischer Probleme für das Management gelegen kommen, weil so eine Kritik an Arbeitsbedingungen und Führungsentscheidungen auf die individuelle Schwäche einzelner Beschäftigter abgewälzt und entschärft werden kann. Probleme lassen sich damit nicht in den Arbeitsbedingungen oder der Arbeitsorganisation, sondern in der einzelnen Arbeitskraft verorten (vgl. Abschn. 10.1). Auf diese Weise kann die Verantwortung für eine gesundheitsgerechtere Gestaltung der Arbeit abgewiesen werden (Voswinkel 2017c).

2.2 Erschöpft, schwierig und labil: betriebliche Kategorien und Diskurse

Die Einordnung als „psychischer“ Fall, wie sie in den beschriebenen Beispielen erfolgt, geschieht vor dem Hintergrund von Kategorien, die in den jeweiligen Unternehmen verankert sind. Das BGM verfügt nicht nur über ein Repertoire an Eingliederungspraktiken, sondern auch eine sozio-kognitive Instrumentierung (Diaz-Bone 2009, S. 187), also institutionalisierte Kategoriensysteme, die den Blick der betrieblichen Akteurinnen prägen. Kategorien psychischer Problemsituationen finden sich in den Begriffen, mit denen das BGM arbeitet, sie schlagen sich aber auch in den Wahrnehmungskategorien der Vorgesetzten nieder. Sie werden verbreitet über BGM-Sitzungen und Schulungen für Führungskräfte.

In der Versicherung Komfortia ist das Thema der psychischen Erkrankungen zum Zeitpunkt der Datenerhebung im BGM und der Personalabteilung stark präsent und im BGM-Kategoriensystem verankert. BGM-Fälle werden nach der Art des vorliegenden „Diagnosetyps“ kategorisiert. „Psyche“ fungiert als eigenständige Problemkategorie neben „Arbeitssituation“, „Krebsneubildung“, „Privatsituation“, „Herz“, „Verdauung“ und Weiterem. Zwischen Krankheitsdiagnosen und anderen Problemkategorien wird also kein kategorieller Unterschied gemacht. In der BGM-Statistik werden die Fälle nach den genannten Kategorien aufgeschlüsselt. Der Diagnosetyp „Psyche“ war zum Zeitpunkt der Datenerhebung eine der häufigsten Kategorien von BGM-Fällen. Die Kategorie „Psyche“ wies zudem den höchsten Anteil an Fällen ohne Arbeitsunfähigkeit auf. Das bedeutet, dass die BGM-Verantwortlichen regelmäßig Fälle in der internen Fallbearbeitung als „psychisch“ erfassen, bei denen keine ärztliche Krankschreibung und vermutlich auch keine medizinische Diagnose vorliegt.

Die BGM-Statistik der Versicherung Celestia differenziert nicht zwischen Krankheitsdiagnosen. Sie unterscheidet lediglich zwischen den Kategorien „Krankheit/Unfall“, „Konflikte“ und „andere Themen“. Eine formale Kategorisierung als „psychischer“ Fall kommt somit nicht vor. Wie der in Abschn. 8.2.1 diskutierte Fall Kilian Balmers zeigt, ist eine informelle Kategorisierung als psychischer Problemfall jedoch auch ohne Krankschreibung und offizielle Diagnose möglich.

Das BGM gibt zwar Verfahrensregeln zum Umgang mit Krankheiten und Leistungsproblemen von Beschäftigten vor. In ihrer konkreten Anwendung sind diese jedoch interpretationsbedürftig. Hier spielen Diskurse als „kollektive Denkordnungen und Zukunftserwartungen“ eine wichtige Rolle (Diaz-Bone 2017, S. 98). Wie sich im Datenmaterial zeigt, fließen sozialpolitische und gesellschaftliche Debatten in die betrieblichen Diskurse des BGM mit ein. In den drei untersuchten Unternehmen ist der BGM-Diskurs durch unterschiedliche Problemfiguren geprägt: in der Komfortia ist es die Figur der Erschöpfung, in der Celestia diejenige der „schwierigen“ Mitarbeitenden und im Industriebetrieb sind es die „labilen“ Mitarbeitenden.

Psychische Erschöpfung ist als Thema in den Interviews mit BGM- und HR-Verantwortlichen in der Komfortia stark präsent. Die BGM-Leiterin geht so weit, Burnouts als wünschenswert zu bezeichnen, weil sie Überlastungen sichtbar werden lassen, bevor sich die Gesundheit der Betroffenen gravierend verschlechtert:

Und wir sagen jetzt auch, wenn wir VIELE Burnout-Fälle haben, sind wir eigentlich glücklich, weil das sind ja dann nicht die, die krank sind, die Tragischen, oder? Aber wir haben einen, der Erschöpfungssyndrome -symptome zeigt, und von der Statistik her ist das einer mehr und je mehr wir eigentlich haben, desto früher kümmert sich jemand um seine Erschöpfung und wird dann eigentlich auch nicht ... Erschöpfungsdepression oder so, und ... das ist eigentlich bei uns auch nicht mehr so ein Tabu, das darf man sein.

Die (statistische) Sichtbarmachung von Burnouts führt aus ihrer Sicht dazu, dass das Thema im Unternehmen Gewicht erhält und dass dementsprechend auch vom Management Mittel zur Verfügung gestellt werden, die Problematik der Überbeanspruchung anzugehen. Auf Verfahrensebene sind in der Komfortia bereits mehrere Forminvestitionen erfolgt, die auf die Bewältigung psychischer Problemsituationen abzielen, wie etwa die feste Kooperation mit einer psychiatrischen Klinik, die Beschäftigten des Unternehmens innert zehn Tagen einen Therapietermin garantiert (vgl. Abschn. 5.2.2). Für die Kosten des therapeutischen Erstgesprächs kommt das Unternehmen auf.

Auch in der Celestia ist das Thema der psychischen Erschöpfung präsent. Beispielsweise enthält das Raster zur Mitarbeiterbeurteilung eine Frage zur Belastungssituation der Beschäftigten, die laut der Aussage der BGM-Leiterin dazu zwingen soll, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. In den Interviews mit BGM-Verantwortlichen, den BGM-Dokumenten wie auch im Sensibilisierungs-Workshop für Führungskräfte, bei dem ich teilnehmend beobachtet habe, taucht zudem eine Figur auf, die als „schwieriger Mitarbeiter“ charakterisiert wird. Die BGM-Leiterin erwähnt im Interview:

ein großer Teil der psychischen Erkrankungen sind auch in den Phasen, in denen es ihnen gut geht, ... ja einfach nicht die lässigen Typen, auf Deutsch gesagt. Sondern es sind so ein bisschen die, ja, die schwierigen Mitarbeiter, oder, und hinter einem schwierigen Mitarbeiter steht ja vielmals eine psychische Erkrankung

Im selben Interview erwähnt die BGM-Leiterin eine Studie zur Wahrnehmung psychischer Gesundheitsprobleme durch Führungskräfte, die im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen durchgeführt wurde und in der sozialpolitischen Diskussion zu psychisch bedingter Erwerbsunfähigkeit in der Schweiz viel Beachtung fand. Die Studie mit dem Titel „‚Schwierige‘ Mitarbeiter“ von Niklas Baer et al. (2011) postuliert, dass psychische Erkrankungen oft gar nicht zu Absenzen führen, sondern von Führungskräften vor allem als Leistungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten wahrgenommen werden. Obwohl damit nicht gesagt ist, dass hinter jedem „schwierigen“ Verhalten eine psychische Störung steht, zeigt sich in der Celestia eine Assoziation des Themas psychischer Erkrankungen mit dem Problem von Verhaltensauffälligkeiten. Die Leiterin des BGM erwähnt, dass sie Führungskräfte in Schulungen auf den richtigen Umgang mit solchen Mitarbeitenden hinweist. Im Sensibilisierungsworkshop für Führungskräfte, bei dem ich teilnehmend beobachtet habe, bringt der Moderator einer kleinen Diskussionsrunde die Figur der schwierigen Mitarbeitenden als möglichen „Belastungsfaktor“ für ein Team auf:

Als weitere Belastung habe eine Gruppe die Situation angesprochen, wenn man einen „Stinkstiefel“ im Team habe. Lustigerweise komme dieser Punkt häufig, nur der Ausdruck variiere, so sei es manchmal auch der „Miesepeter“ (Aussage des Moderators gemäß Feldnotizen)

Auch die BGM-Leiterin greift den Punkt in der Schlussdiskussion der Veranstaltung auf. Sie empfiehlt, frühzeitig das BGM einzuschalten und professionelle Hilfe zu suchen. Die empfohlene frühzeitige Reaktion ist nicht nur durch das Ziel einer frühen Behandlung motiviert, sondern auch durch die für eine Kündigung nötige Vorlaufzeit. „Schwierige“ Mitarbeitende stehen nämlich nicht nur im Verdacht, psychisch erkrankt zu sein, sie werden auch, wie im Beispiel aus der Führungsschulung an der Formulierung „Stinkstiefel“ oder „Miesepeter“ ersichtlich wird, als psychische Belastung für ihre Umgebung gehandelt. Die BGM-Leiterin erklärt im Interview:

das ist natürlich eine Riesenbelastung für ein restliches Team, oder, und dort ist dann wirklich halt die Frage, wie fest sind die, können wir die tragen, und in welchem Ausmaß und wie fest geht man auch da hinein, dass man sagt, hey, jetzt musst du einfach in eine Behandlung, oder sonst müssen wir wirklich irgendwie eine Kündigung machen.

Obwohl das deklarierte Ziel eigentlich in der langfristigen Integration psychisch erkrankter Beschäftigter besteht, räumt sie ein, dass in gewissen Fällen das „schwierige“ Verhalten für das Team nicht mehr „tragbar“ ist und deshalb eine Kündigung angestrebt wird. Ausgeblendet bleibt in der Figur der „schwierigen“ Mitarbeitenden, dass die Wahrnehmung von Verhaltensweisen als „schwierig“ kontext- und standpunktabhängig ist. Weitere von der BGM-Leiterin genannte Beispiele machen deutlich, dass die Kategorie der „schwierigen“ Mitarbeitenden schnell aufkommt, wenn Vorgesetzte bei Beschäftigten Leistungsprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten feststellen und sich im Umgang damit überfordert fühlen. Die Definition von Verhaltensauffälligkeiten ist weit gefasst. Sie hängt davon ab, was andere als störend empfinden, aber auch, was aus der Sicht der Organisation als Abweichung auffällt. Das Auftauchen der Figur der „schwierigen“ Mitarbeitenden in einem der Unternehmen des Samples verweist darauf, dass sich analytische Figuren aus dem sozialpolitischen Expertendiskurs auf die „Regierungstechniken“ bzw. die „Gouvernementalität“ der Unternehmen auswirken können (Schmidt-Wellenburg 2017).

Im Industriebetrieb gibt es keine statistische Auswertung zum Anteil der BGM-Fälle mit psychischem Hintergrund. In den Interviews und der teilnehmenden Beobachtung einer BGM-Sitzung sowie den betrieblichen Dokumenten ist jedoch ein Diskurs zur Zunahme psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit auszumachen, ebenso wie eine Charakteristik „typischer“ Fälle. Beklagt wird eine Zunahme psychischer Erkrankungen bei jüngeren Beschäftigten. Ebenso wird die Betroffenheit älterer Mitarbeitender festgehalten, die aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden, vor allem im Zusammenhang mit Abnutzungserscheinungen durch einseitige Belastungen in der Fabrikarbeit, auch psychische Probleme entwickeln. Zudem sind in der Wahrnehmung der Interviewten und Diskussionsteilnehmenden an einer BGM-Sitzung vor allem geringqualifizierte Beschäftigte betroffen, die etwa 30 % der Belegschaft ausmachen. Im Protokoll dieser BGM-Sitzung ist festgehalten:

Arbeitsbedingte Stress-Symptome und sogar Burnout sind vermehrt zu erkennen (Ermüdung, Leistungsabnahme, Leistungsschwankungen, Nachlassen der Konzentration, Unzufriedenheit, Schlaflosigkeit, Resignation, Depression, Arbeitsfehler, etc.) Durch ein hohes Arbeitstempo, Termindruck, Arbeitsunterbrechungen und zum Teil auch durch die klimatischen Bedingungen (Lärm, Hitze, Feuchtigkeit, Durchzug) in den Abteilungen können diese Symptome ausgelöst werden.

Wie im Protokoll ersichtlich wird, enthält der Problemdiskurs Begriffe aus der sozialpolitischen Debatte, die durch die BGM-Expertinnen in die Diskussion eingebracht werden. Direkt im Anschluss an die zitierte Stelle wird im Protokoll auf eine medial viel beachtete Statistik zur Zunahme von Stress bei der Schweizer Erwerbsbevölkerung verwiesen und eine Verbindung zu den im eigenen Betrieb festgestellten Symptomatiken hergestellt:

1'300'000 Arbeitnehmende in der Schweiz sind nach eigenen Aussagen am Arbeitsplatz häufig oder sehr häufig gestresst (+30% in den letzten 10 Jahren!) Die Auswirkungen davon sind Motivationsverlust, Arbeitsunzufriedenheit, Leistungsabfall und Senkung der persönlichen Belastungsgrenze.

Mit den Begriffen Burnout, Arbeitsunzufriedenheit, Depression und ihrer Rückführung auf ein zunehmendes Arbeitstempo, Termindruck und Arbeitsunterbrechungen greift das Protokoll zentrale Begriffe aus der gesellschaftlichen Diskussion um arbeitsbedingte psychische Belastungen auf und knüpft die im Betrieb dominante Problemwahrnehmung einer „gesunkenen Belastungsgrenze“ daran an. Der Befund einer gesunkenen Belastbarkeit wird im Industriebetrieb im Zusammenhang mit der Beobachtung geäußert, dass vor allem ungelernte Beschäftigte sich vermehrt weigern, Änderungen in ihren Arbeitsaufgaben zu akzeptieren, schneller erschöpft sind und empfindlich auf Aufforderungen oder als gesundheitsfördernd intendierte Maßnahmen des Arbeitgebers reagieren. Der Personalchef macht darin eine zunehmende „Labilität“ der Beschäftigten aus. Im Interview äußert er sich folgendermaßen:

wenn es eben in die psychische Labilität hineingeht, und DAS ist schon noch eine riesige Herausforderung. Und ... wir WISSEN noch nicht genau, wie das weitergehen soll, weil man muss noch das Problem ein bisschen von Anfang an anschauen, wir haben (1) ja, ich sage, einmal in den 90er Jahren VIELE Personen angestellt, die eigentlich keine Berufsausbildung haben, die hier jetzt diesen Job bekommen haben, die diese Serienarbeiten gemacht HABEN, und jetzt sind wir immer mehr am Modernisieren. Und diese Personen bringen wir eigentlich nicht auf diese modernen Produktionsautomaten. Und jetzt kommen ein bisschen Existenzängste auch hinein.

Mit der Formulierung, man müsse das „Problem ein bisschen von Anfang an anschauen“ stellt er den Befund einer gesteigerten „Labilität“ der Beschäftigten in einen gesellschaftlichen Kontext – greift also nicht auf medizinische, sondern soziologische Erklärungen zurück. Die Labilität sieht er vor allem bei den Beschäftigten ohne Berufsausbildung als Problem, weil diese angesichts bevorstehender Automatisierungswellen in „Existenzängste“ geraten. Die Formulierung „diese Personen bringen wir eigentlich nicht auf diese modernen Produktionsautomaten“ lässt offen, ob Automatisierungen direkte Entlassungen zur Folge haben werden oder ob es die Beschäftigten selbst sind, die nicht bereit sind, sich auf die gestiegenen Anforderungen an modernen Produktionsanlagen einzulassen und fortzubilden. Mangelnde Flexibilität, niedrige Belastbarkeit und psychische Labilität werden in den BGM-Diskussionen in einen engen Zusammenhang gebracht. Psychische Labilität wird darüber hinaus mit Unzuverlässigkeit assoziiert. In den Diskussionszusammenhängen zeigt sich eine Gegenüberstellung der „labilen“ Ungelernten, die Gefahr laufen, zu „Sozialfällen“ zu werden und der „Berufsleute“, die über „ein anderes Verantwortungsbewusstsein“ verfügen und eher bereit sind, neue Aufgaben zu übernehmen und sich im Krankheitsfall stärker um den Wiedereinstieg am Arbeitsplatz bemühen (Zitate aus der BGM-Sitzung gemäß Feldnotizen).

„Psychische Labilität“ wird in den BGM-Diskussionen im Industriebetrieb als Kurzformel für komplexe soziale Probleme verwendet, von denen Arbeitnehmende ohne formale Berufsausbildung besonders betroffen sind. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren im Industriebetrieb Forminvestitionen geplant, wie die Einführung eines Workshops für Führungskräfte zur Sensibilisierung für die Symptome psychischer Erkrankungen bei Beschäftigten und ein Kurs für die Beschäftigten zum Umgang mit chronischen Schmerzen.

Es ist davon auszugehen, dass die beschriebenen „Typen“ von Problemfällen – die „Erschöpften“, die „schwierigen Mitarbeiter“ und die „Labilen“ – den Aufmerksamkeitsfokus der BGM-Verantwortlichen lenken. Vermutlich haben sie auch in der Vermittlung von Fällen betroffener Beschäftigter für die vorliegende Studie eine Rolle gespielt. So ist es vielleicht kein Zufall, dass in der Komfortia einige „erschöpfte“ Kundenberater ins Sample gelangten und in der Celestia das Beispiel eines „schwierigen“ Mitarbeiters.

Die Kategorisierung als „psychisch“ kann als eine Art Blackbox für eine Vielfalt komplexerer Probleme betrieblicher oder gesellschaftlicher Natur dienen. Auch Dodier (1993, S. 164 ff.) stellt fest, dass das Label psychischer Probleme es in Betrieben ermöglicht, situativ Konflikte zu bearbeiten oder zu entschärfen. Anstatt die Mitarbeitervertretung oder eine andere schlichtende Stelle einzubeziehen, wird ein Problem unter gesundheitlichem Register abgehandelt und individualisiert.