Wie Kap. 3 gezeigt hat, erwuchs aus der Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts ein reflexionstheoretisches Konzept doppelter Autonomie, das sich in Interdisziplinaritätsdiskursen der Indifferenz (Ehrlich), der sachlichen Hierarchie als Dominanz entweder der Jurisprudenz (Kantorowicz) oder der Soziologie (Marx, Durkheim, Tönnies) niederschlug, aber auch schon Ansätze stärker responsiven Denkens zu Tage förderte (Weber, Geiger). Während die von der Autonomisierung der Rechtswissenschaft geprägten Diskurse die Frage nach deren gesellschaftlicher Praxis auf die Soziologie externalisierten – die gerade dadurch ihrerseits an Autonomie gewann –, mündete die neue Autonomie der Soziologie als Erfahrungswissenschaft überraschend schnell in die Auslagerung der rechtstheoretischen Praxisbezüge (Weber) oder blieb theoriegeschichtlich ohne nachhaltigen Einfluss (Geiger). Die Gründungsphase der Rechtssoziologie, das sollte in den bisherigen Überlegungen deutlich geworden sein, war deshalb geprägt von einer Gemengelage widersprüchlicher Reflexionsdiskurse, aus der sich keine Identität des interdisziplinären Feldes bilden konnte. Gleichwohl ließen sich erste Ansätze eines responsiven Interdisziplinaritätskonzepts erkennen.

Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der Frage, wie diese frühen Impulse von der Soziologie später aufgegriffen wurden. Sie sollen die Vermutung stützen, dass die geschilderten Ansätze in den Jahrzehnten nach 1945 fortgesetzt wurden. Das gilt insbesondere für Helmut Schelsky und Niklas Luhmann, die sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen der weiteren Entwicklung einer Reflexionstheorie der Responsivität nicht konsequent gewidmet haben. Die Rechtssoziologie hat am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sich später zeigen wird, unter anderem vor dem Hintergrund dieses nachhaltig unklaren Verhältnisses zwischen Theorie- und Praxisdiskursen an Profil verloren. In dieser Schwächephase der (rechts-) soziologischen Theorie, so muss man annehmen, liegt zumindest eine der „Plausibilitätsbedingungen“ für den im zweiten Kapitel beschriebenen institutionellen Niedergang des Feldes.

Die folgende Darstellung setzt in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik ein, als die Soziologie sich an den Universitäten neu formierte und die Rechtssoziologie als akademisches Feld Gestalt anzunehmen begann. Mit Blick auf die internationale Situation und die Rechtssoziologie in anderen Ländern ergeben sich zum Teil anders gelagerte Befunde. Dazu wird in Kap. 6 etwas mehr zu sagen sein. Hier wird zunächst nur die generelle Aussage vertreten, dass die im Folgenden erörterten Entwicklungen auf dem Gebiet der soziologischen Theorie des Rechts zwar gewisse Entsprechungen auch in anderen Regionen und Rechtskulturen haben könnten, dass in ihrem Kern auf Grund der Entwicklung soziologischer Theorien aber die deutschsprachige Rechtssoziologie einen eigenständig zu rekonstruierenden Weg beschritten hat.

Diese Formierungsphase ist zunächst geprägt von der Suche nach einem Umgang mit der persönlichen wie disziplinären Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus, die in der Soziologie insgesamt ebenso wie in der Rechtssoziologie ihre Spuren hinterlassen hatte. Soziologen wie Juristen waren zwischen 1933 und 1945 im Allgemeinen und auf dem Gebiet der Rechtssoziologie im Besonderen im Sinne der NS-Ideologie aktiv gewesen (Rottleuthner 1989). Zwar hatten viele Rechtssoziologen das Land ins Exil verlassen, so etwa Hugo Sinzheimer, Ernst Fraenkel, Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Theodor Geiger, Arthur Nußbaum, oder Ernst E. Hirsch, um nur einige zu erwähnen. Andere freilich blieben und auch die Rechtssoziologie kam nicht vollständig zum Erliegen, sondern wurde von damals namhaften Wissenschaftlern in gewissem Umfang weiter betrieben (zur Rolle der allgemeinen Soziologie im Nationalsozialismus vgl. Dyk und Schauer 2010; Klingemann 1996; Weyer 1984(a, b), 1986; Christ und Suderland 2014; zur Justiz im NS vor allem Fieberg 1989; Hirsch 1984; Dreier 1989.). Die Jahre 1934 und 1935 waren durch eine kurze Periode der Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz gekennzeichnet, in welcher der Versuch unternommen wurde, mit Hilfe neuer rechtsphilosophischer Begründungen der Verwaltungs- und Politikwissenschaft die Rechtswissenschaft stärker in den Dienst des NS-Staates zu stellen (Klingemann 1996, 224). Hubert Rottleuthner hat dies als einen Effekt des Rechtshegelianismus beschrieben (Rottleuthner 1989). Eine Nähe zwischen der Rechtssoziologie und dem NS-Staat deutete sich auch in dem letztlich erfolglosen, aber systematisch aufschlussreichen Versuch an, die Deutsche Gesellschaft für Soziologie in die nationalsozialistische Akademie für Deutsches Recht zu integrieren. Diese Nähe manifestierte sich auch in Gestalt einzelner prominenter Wissenschaftler, etwa des Juristen und Soziologen Franz Wilhelm Jerusalem und seines Schülers Reinhard Höhn, die beide in Jena tätig waren, oder von Max Rumpf in Nürnberg. Sie verstanden sich zumindest in gewisser Weise als Rechtssoziologen, auch wenn sie im Nationalsozialismus keine rechtssoziologische Forschung im engeren Sinne betrieben (Rottleuthner 1989). Rottleuthner erklärt die relativ geringe Affinität der Rechtssoziologen zum NS mit einer gewissen Inkompatibilität zwischen Rechtssoziologie und totalitärer Terrorherrschaft sowie dem tendenziell delegitimierenden Effekt empirischer Forschung gegenüber Staat und Recht (ebd., 320). Allerdings gab es Spuren rechtssoziologischen Denkens und Forschens in einigen Nachbardisziplinen, etwa der politischen Planungs- und Verwaltungswissenschaft und insbesondere einer damals prominenten Variante nationalsozialistischer Agrarsoziologie, die technologische Modernisierung und rationale Planung zu verbinden suchte. Solche Ansätze wurden in Leipzig (zum Beispiel von Karl-Heinz Pfeffer und Gunther Ipsen), Erlangen, Köln, und Heidelberg vertreten. Deren Steuerungsmodell koinzidierte auch mit lebhaften Interessen an Industriesoziologie und Demographie, etwa bei Karl Valentin Müller (Klingemann 1996, 290 ff.). Für die Rechtssoziologie nach 1945 war darüber hinaus eine weitere Episode folgenreich: Als junger Student publizierte 1934 Helmut Schelsky, der nach dem Krieg ein erfolgreicher und für die Rechtssoziologie relevanter Soziologe wurde, im Geiste der NS-Ideologie ein Pamphlet „Sozialistische Lebenshaltung“ (Schelsky 1934). Er hat dies später öffentlich bedauert und von persönlicher Schuld gesprochen (Schelsky 1981, 32). Gleichwohl trugen die daraus gegen ihn erhobenen Vorwürfe auch zu seinem Rückzug aus der Universität Bielefeld 1973 und zur Verlagerung seiner rechtssoziologischen Aktivitäten an die Universität Münster bei (Luhmann 1995 (a)).

Alles in allem attestiert Rottleuthner (1989) der Rechtssoziologie im Nationalsozialismus eine eher randständige Rolle. Die Soziologie im Nationalsozialismus befasste sich, wie oben angedeutet, nicht in nennenswertem Umfang mit dem Recht bzw. der Rechtssoziologie und entwickelte weder eine institutionalisierte Rechtssoziologie noch entsprechende Reflexionstheorien. Die Institutionalisierung der Rechtssoziologie wurde erst nach 1945 in Angriff genommen. Auch die Reflexionstheorien der Nachkriegszeit knüpften an den vor 1933 erreichten Diskussionsstand an. Damit standen sie vor der Aufgabe, die Probleme des interdisziplinären Selbstverständnisses zu bearbeiten, die sich, wie wir gesehen haben, seit den Anfängen des Faches Soziologie zu einem ernsthaften Hindernis für dessen weitere Entwicklung aufgestaut hatten.

Im Rückblick auf die Entwicklung nach 1945 wird im Folgenden sichtbar werden, dass in der allgemeinen Soziologie der 1950er bis 1970er Jahre ebenso wie in der Rechtssoziologie jener Zeit die zuvor dargestellten responsiven Ansätze der Gründungsphase im Anschluss an Theodor Geiger und Max Weber zwar aufgegriffen, aber nicht systematisch weiter verfolgt wurden. Insbesondere die reflexionstheoretische Abstinenz der ansonsten ambitionierten und leistungsfähigen soziologischen Systemtheorie resultierte, wie zu zeigen sein wird, seit den 1970er Jahren aus einer Konfiguration sich wechselseitig blockierender Interdisziplinaritätsdiskurse. Der seit dem darauffolgenden Jahrzehnt zu beobachtende Abschied der Soziologie vom Recht wurde von derartigen reflexionstheoretischen Schwierigkeiten, wenn schon nicht unmittelbar verursacht, so doch wesentlich befördert. Die Rechtssoziologie beschrieb sich selbst seit den 1980er Jahren als ein gescheitertes Projekt. Sie verharrt dabei bis heute vielfach im Paradigma der Rezeption, attribuiert das Scheitern also auf Abnahmeprobleme in ihrer Umwelt. Ein responsiver, auf einem angemessenen Praxis-Modell basierender Interdisziplinaritätsdiskurs innerhalb der Soziologie ist, wie man heute feststellen muss, noch nicht nachhaltig in Gang gekommen. Das Projekt einer responsiven Rechtssoziologie ist insofern noch nicht abgeschlossen. Es wird heute – eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte – im Wesentlichen von der juristischen Rechtstheorie betreut. Dieser Gedankengang wird im Folgenden in zwei Schritten ausgearbeitet.

Erstens fand die von Weber und Geiger aufgeworfene Frage nach einem responsiven Konzept interdisziplinärer Rechtssoziologie seit den späten 1950er Jahren eine neue Form in dem von Helmut Schelsky entworfenen Programm einer „transzendentalen Theorie“. Dieses enthielt den Verweis auf eine theorie-intern aufscheinende und von der Theorie zu integrierende außerwissenschaftliche Praxis, die gleichsam zum Motor theoretisch-begrifflicher Arbeit wird. Schelsky – und das macht ihn rechtssoziologisch relevant – erblickte im Recht die zentrale Institution, die zwischen den Ansprüchen von Individuen und den Strukturen moderner Vergesellschaftung vermittelt. Deshalb wurden für ihn die (praktischen) Forderungen der Rechtstheorie für die Soziologie unmittelbar relevant. So weitsichtig und innovativ Schelskys Ansatz war, blieb er doch für die weitere Entwicklung des Faches folgenlos. Dazu trugen nicht nur wissenschaftspolitische Umstände und Schelskys zornige Abkehr von der Soziologie bei, sondern auch die soziologisch später wenig anschlussfähige Institutionentheorie, die sich gegenüber anderen Paradigmen nicht behauptet hat (Abschn. 4.1).

Zweitens blieb Niklas Luhmann, der sich als Jurist und Soziologe über viele Jahrzehnte mit rechtssoziologisch relevanten Fragen beschäftigte, mit Blick auf responsive Konzepte von Interdisziplinarität auffällig ambivalent. Zwar lassen sich in Luhmanns Werk zahlreiche Ansatzpunkte für eine responsive Reflexionstheorie erkennen. An entscheidenden Punkten der Theorieentwicklung hielt er sich in dieser Hinsicht jedoch bedeckt. Er legte das theoretische Fundament mit einer umfassenden soziologischen Theorie des Rechts, vollzog aber an historisch entscheidender Stelle eine Wende zu einem starken Autonomie-Konzept der Soziologie, das die Ansatzpunkte responsiver Interdisziplinarität für lange Zeit verdeckte. Erst mit posthum veröffentlichten Analysen sind diese wieder deutlicher erkennbar geworden. Die Monographie „Kontingenz und Recht“ (Luhmann 2013) wurde zu Luhmanns Lebzeiten nicht publiziert. Statt dessen blieb es bei verstreuten Hinweisen auf eine Soziologie „aus der Insassenperspektive des Rechts“ (Guibentif und Luhmann 2000) (Abschn. 4.2). Die soziologische Systemtheorie in der Nachfolge Luhmanns zurrt dann die asymmetrische Perspektive eines soziologischen Autonomiediskurses fest. Die anspruchsvolle soziologische Theorie verabschiedet sich damit in gewisser Weise vom Recht (Abschn. 4.3).

Im Folgenden sollen die Konturen einer responsiven Rechtssoziologie in den Arbeiten Helmut Schelskys und Niklas Luhmanns nachgezeichnet werden. Diese Rekonstruktion mündet in die Frage nach den möglichen Ursachen für das offenkundige Erlahmen dieser Theorieanstrengungen im Rahmen der soziologischen Systemtheorie. Diese hat, wie sich zeigen lassen wird, das Projekt der Rechtssoziologie in sonst nicht erreichter Weise vorangetrieben, sich dann aber, ungefähr seit 1972, sowohl vom Gegenstand Recht als auch von allen reflexionstheoretischen Ansätzen einer responsiven Interdisziplinarität verabschiedet. Diese Abwendung, so die These am Ende dieses Kapitels, ist aus der spezifischen Konfiguration reflexionstheoretischer Diskurse der Rechtssoziologie zu Beginn der 1970er Jahre zu erklären, die im fünften Kapitel näher ausgeleuchtet wird.

4.1 Responsivität als Programm: Die „transzendentale Theorie“ der Soziologie und die Rechtssoziologie bei Helmut Schelsky

Helmut Schelsky hat als außerordentlich einflussreicher Soziologe in den 1950er und 1960er Jahren die soziologischen Fachdiskussionen in vieler Hinsicht mitgeprägt. Seine Studien zur Familiensoziologie, die Analysen der „skeptischen Generation“ und seine Arbeiten zur Soziologie der Institutionen waren wesentliche Beiträge zur Soziologie der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Spätere Phasen und das Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn waren dagegen überschattet von hochschul- und fakultätspolitischen Auseinandersetzungen an der Universität Bielefeld, in deren Gefolge er sich in polemischem Affekt von der Soziologie als ganzer abwandte. Sein Beitrag zur Reflexionstheorie der Rechtssoziologie ist in seinem Inhalt ebenso wie seiner weitgehenden Folgenlosigkeit vor dem Hintergrund dieser Biographie und ihrer Einbettung in die wissenschaftliche Landschaft der Nachkriegssoziologie zu verstehen. Schelskys Werk stellt im Rahmen unserer Überlegungen im Anschluss and Weber und Geiger nicht bloß ein Beispiel für ein responsives Interdisziplinaritätsmodell der Soziologie allgemein und darauf aufbauend für das Konzept einer responsiven Rechtssoziologie dar. Es markiert darüber hinaus eine erste verpasste Weichenstellung auf dem Weg zu einer responsiven Rechtssoziologie. Die Literatur zu Schelskys Werk ist ausufernd, meist geprägt von dem Motiv, die anthropologischen und institutionentheoretischen Ansätze Schelsky wiederzubeleben. Lediglich stellvertretend seien genannt Baier (1986), Kaulbach und Krawietz (1978), Gallus (2013), Gutmann und Weischer (2017), Kempf (2012), Weinberger und Krawietz (1985), Pohlmann (1980), Schäfer (2015). In jüngerer Zeit sind theoretische Neubewertungen zu beobachten, an die sich unsere Überlegungen anschließen lassen (Wöhrle 2015, 2022).

1959 hatte Schelsky vor dem Hintergrund einer Kontroverse über Vertreter der NS-Soziologie auf Lehrstühlen bundesrepublikanischer Universitäten (Ipsen, Pfeffer, Müller, bzw. Freyer als lehrender Emeritus) einen Vortrag auf dem 14. Deutschen Soziologentag in Berlin zugesagt, letztlich aber nicht gehalten. Dessen wesentlichen Inhalt veröffentlichte er in „Ortsbestimmungen der deutschen Soziologie“ (1959). Der Text legt die Grundzüge seiner Wissenschaftssoziologie der Soziologie offen. Er ist deshalb eine wichtige Quelle für unser Anliegen einer historisch informierten Wissenschaftssoziologie der Rechtssoziologie. Programmatisch wendet er sich sowohl gegen die Asymmetrie einer „praktischen Nützlichkeit der Soziologie“ (Schelsky 1959, 7) als auch gegen diejenige einer Auflösung des Gegenstandsbezugs durch „abstrakte Reflexion“ (ebd., 8), das heißt im Rahmen unserer Terminologie vor allem gegen asymmetrische reflexionstheoretische Konzepte. Sowohl die dominante Semantik der Nützlichkeit als auch der im Autonomiedenken verankerte Primat wissenschaftlicher Beobachtung (symbolisiert im Begriff der „abstrakten Reflexion“) erscheinen Schelsky als unzureichend. Eine über diese komplementären Einseitigkeiten hinausweisende Reflexionstheorie ist für ihn damals nicht in Sicht. Die Geistes- und Sozialwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sieht er in einer „nachideologischen Epoche“ (ebd., 12 ff.). Die Soziologie habe sich bereits vor 1933 thematisch und konzeptionell erschöpft, „die Melodien waren durchgespielt, die Fronten im Erstarren“ (ebd., 37). Neben den wegen ihres jungen Alters nicht Belasteten und den von den Nationalsozialisten verdrängten, aber in Deutschland gebliebenen Etablierten, seien es vor allem die aus dem Exil zurückgekehrten Soziologen sowie diejenigen, die dem nationalsozialistischen Gedankengut „paktiert haben und paktieren mußten“ (ebd., 40), die nun als „antagonistische Gruppen von Gelehrten gemeinsam das Fach Soziologie in Deutschland tragen müssen.“ (ebd., 42) Beide sind dem „nachideologischen Vakuum“ (ebd., 43) ausgesetzt und stehen vor der Aufgabe, die Stellung des Faches als Wissenschaft zu bestimmen.

Orientierung bietet in dieser Lage die Kooperation von Soziologie und sozialer Praxis. (ebd., 62) Sie ermöglicht eine Synthese von wissenschaftlicher Beschreibung „des Ganzen“ einerseits und begrifflicher „Analyse der systematischen Beobachtung, ja letztlich [des] Experiment[s]“ (ebd.). und verspricht so, das erwähnte Vakuum zu füllen. Für die Soziologie folgt daraus, „daß der Versuch, von der Grundlage methodisch-empirisch erarbeiteter Untersuchungen her die Beschreibung des ‚Ganzen‘ der Gesellschaft … zu unternehmen, die diese aufeinander angewiesenen Erfahrungensarten am gerechtesten vereinende und in sich aufhebende Konzeption einer ‚Soziologie als ‚Erfahrungswissenschaft‘ darstellt“ (ebd.).

In dieser Passage wird, ohne dass Schelsky sich explizit darauf bezieht, die Position der sogenannten „Empirischen Soziologie“ erkennbar, vor deren Hintergrund das frühe Werk Schelskys gerade auch wegen markanter wissenschaftssoziologischer Differenzen zu verstehen ist. Die Empirische Soziologie entstand mehr als ein allgemeines Programm einer „geistigen Bewegung“ (Kruse 2006, 170) denn als soziologische Schule. Sie stand im Spannungsfeld dreier soziologischer Richtungen, die mit den Namen Schelsky in Dortmund, René König und Erwin Scheuch in Köln sowie Theodor W. Adorno in Frankfurt verbunden sind (Schäfer 2015). Die Standpunkte dieser Autoren waren selbstverständlich keineswegs einheitlich, im Gegenteil, Dahrendorf beschrieb sie als ein „höchst vulkanisches Gelände“ (Schäfer 2015) etwa in den Jahren 1959 bis 1961, als dann die Tübinger Arbeitstagung den „Positivismusstreit“ eröffnete. Neben allen Kontroversen zwischen diesen Positionen verband sie jedoch die Überzeugung, Soziologie als sich neu etablierende Wissenschaft habe eine praktische Aufgabe zu erfüllen (Kruse 2006; Weischer 2004). König als Vertreter des Exils vertrat die Auffassung einer inkrementell verfahrenden, aus der Empirie heraus theoretische Einsicht und gesellschaftlich-politisches Engagement gleichermaßen hervorbringenden Wissenschaft. Scheuch als bürgerlicher Querkopf, der sich als „Methodenspezialist …, aber auch inhaltlich als Soziologe der sozialen Schichtung, von Freizeit und Konsum sowie der Soziologie des Wählens“ einen Namen gemacht hatte (Scheuch 1996), beschrieb sich selbst als Wissenschaftler mit gleichzeitigem starkem Engagement in politischen Fragen (ebd., 224, auch Scheuch 2000, 61). In vergleichbarer Weise repräsentierte die Frankfurter Schule den Gedanken von Aufklärung als der zentralen Aufgabe der Wissenschaft Soziologie. Hinter dieser Gemeinsamkeit der ansonsten von Divergenzen geprägten Positionen steckte, so Volker Kruse, die „Katastrophenerfahrung“ im Nationalsozialismus (Kruse 2006, 146, Fn. 1 m. w. N.).

Die Strömung der Empirischen Soziologie entstand im Kontext der genannten Positionen einerseits in Abgrenzung zur Historischen Soziologie (Alfred Weber) und zur Formalen Soziologie (Leopold von Wiese), aber ebenso auch zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Denn Soziologie sollte für die empirischen Soziologen mehr sein als reine Wissenschaft, wie Kruse sagt (Kruse 2006, 146). Diese Forderung wies für die Rechtssoziologie schon über die von Kantorowicz bezogene Position hinaus und schrieb ihr eine wesentlich aktivere Rolle in Relation zur Umwelt und damit auch zur Rechtswissenschaft zu. Beweggrund für diese offensive Haltung war die im historischen Vergleich nunmehr deutlich hervortretende Autonomisierung der Soziologie. Der Parsonssche Strukturfunktionalismus als damals dominante Theorie plus die Methodologie des empirisch-analytischen Paradigmas, also das Versprechen einer objektiven Wissenschaft verbanden sich mit dem Trauma des Nationalsozialismus zu dem Anspruch, die neue autonome Wissenschaft der Soziologie in den Dienst der historisch notwendigen gesellschaftlichen Aufklärung zu stellen.

Die Reflexionstheorie dieser Strömung zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Soziologie als ideologiefreie empirische Wissenschaft bringt inkrementell eine neue allgemeine Theorie der Gesellschaft hervor. Dadurch ermöglicht sie eine „zielgenaue sozialtechnische Steuerung der Gesellschaft und ihrer Praxisfelder“ (Kruse 2006. 152). Sie ist „eine demokratische Wissenschaft, wogegen eine geisteswissenschaftliche Soziologie bzw. geschichts- und sozialphilosophische Systeme den Faschismus und Nationalsozialismus begünstigen.“ (ebd.). Empirische Soziologie ist angewandte Aufklärung insofern, als sie mit empirischer Forschung soziale Missstände erkennen und die Steuerungsinstrumente zu deren Überwindung bereitstellt. Soziologie als „Funktionswissenschaft der Planung und Lenkung“ (Schelsky 1959, 15) ermöglicht Wissenschaft und Praxis als Engagement „… dazu beizutragen, dass das Vernünftige wirklich wird“ (Dahrendorf 1967, 27 f.).

Dieser Impetus der Empirischen Soziologie war mit Ende der 1960er Jahre erschöpft. Von einer antipositivistischen Wende in der Wissenschaftstheorie begleitet, schlugen die aus der gesellschaftspolitischen Verbindung von engagierter Wissenschaft und politischem Protest hervorgegangene politische Überschätzung der Soziologie und die aus dem Wirklichkeitskontakt resultierende Enttäuschung der Protestgeneration in eine Krise und den raschen Niedergang der Empirischen Soziologie um. Sie zog sich von ihrem wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch umfassenden Anspruch auf das Feld der empirischen Sozialforschung zurück. (Kruse 2006, 164 f.)

Schelsky teilte das Interesse der empirischen Soziologen an praktischer Wirksamkeit. Trotz dieser gemeinsamen Wurzel verfolgte er jedoch anders als die übrigen Vertreter der Empirischen Soziologie in „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie“ (Schelsky 1959) den Anspruch einer allgemeinen Wissenschaftssoziologie, in welche die skizzierten Merkmale autonomer Wissenschaft und gesellschaftlich-praktischer Aufklärung systematisch integriert werden können. Insbesondere gegenüber König hielt Schelsky ausdrücklich an der Möglichkeit und Notwendigkeit einer „kritischen Theorie des Sozialen“ (ebd., 95) fest, die er zwecks begrifflicher Klarheit – und in Abgrenzung des Kantischen Kritik-Begriffs gegen denjenigen der „Frankfurter Schule – als Transzendentale Theorie der Gesellschaft (ebd., 95 ff.) bezeichnete (dazu einige knappe Bemerkungen bei Krawietz 1985, eine Einordnung aus philosophischer Sicht gibt Gerhardt 1979). Sie ist mehr und Anderes als Wissenssoziologie und „überschreitet … das soziologische Denken selbst“ (Schelsky 1959, 97), indem sie einen außer-soziologischen Standpunkt integriert: „Allerdings muß eine transzendentale Theorie der Soziologie, will sie reflexionskritisch die Prinzipien des soziologischen Denkens in ihrer Gesamtheit betrachten, einen Standpunkt und ein Denkprinzip ihrerseits gewinnen, die außerhalb der als Soziologie definierten Sinnebene liegen; sie muß sich sozusagen vom soziologischen Denken selbst befreien können, um dies zu analysieren.“ (ebd., 98).

Schelsky entwirft hier eine Reflexionstheorie der Soziologie, in welcher, um unsere Terminologie in Anschlag zu bringen, die Praxis mitspricht. Das „Außen“ als gesellschaftliche Umwelt der Wissenschaft wird intern relevant. Damit ist ganz im Sinne Kaldeweys (Kaldewey 2013) neben dem Diskurs der wissenschaftlichen Autonomie ein wissenschaftlicher Praxisdiskurs etabliert. Diesen bestimmt Schelsky 1959 inhaltlich, nämlich als „Freiheit des Menschen von der Gesellschaft“ (Schelsky 1959, 99). Der Praxisdiskurs ist hier, mit anderen Worten, noch stark geprägt von der anthropologischen Grundanlage der Theorie und trägt insofern noch stark proto-soziologische Züge. Aber – und das begründeten den außergewöhnlichen Stellenwert dieser Reflexionstheorie – das Verhältnis von Soziologie und Praxis ist hier zum ersten Mal symmetrisch und in unserem Sinne responsiv angelegt. Es ist durch eine grundlegende Balance bestimmt, in welcher die Umwelt in Gestalt des wissenschaftlichen Praxisdiskurses mitsprechen kann.

Auch wenn der Praxisbegriff noch anthropologisch fundiert ist, fällt doch auf, dass die Praxis (als Umwelt der Soziologie) auch andere Wissenschaften umfasst, darunter vor allem die „Sollens- und Praxiswissenschaften“ (ebd., 124). Die Beziehung von Soziologie und Normwissenschaften wird folglich als „arbeitsteiliges und kooperatives System“ (ebd., 125) verstanden, in welchem die Soziologie gewissermaßen für den Realitätskontakt sorgt. Im Sinne der Weberschen Unterscheidung hat sie dabei zum einen die Aufgabe, als Erfahrungswissenschaft die Mittel für (politisch oder normativ) gesetzte Ziele zu analysieren. Zum anderen aber hat sie, über Weber hinausgehend, die Funktion, empirische Grenzen für diese Verwirklichung dieser Ziele zu identifizieren. „Dann sind nicht die Ziele, sondern die Grenzen des sozialen Handelns der legitime Gegenstand der gegenwärtigen Soziologie.“ (ebd., 126) Das heißt aber nichts anderes, als die Ziele der Praxis (der Umwelt) ernst zu nehmen und zum Prüfungsgegenstand im Rahmen der Realitätsanalyse zu machen. Das „Außen“, zu dem auch andere Wissenschaften gehören, wird in diesem symmetrischen wissenschaftssoziologischen Modell unmittelbar intern – im soziologischen Diskurs – relevant.

Damit ist in „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie“ die Programmatik einer responsiven Soziologie im Allgemeinen angelegt. Deren Bedeutung für die Rechtssoziologie wird zwanzig Jahre später in Schelskys rückblickenden Betrachtungen „Soziologie – wie ich sie verstand und verstehe“ (Schelsky 1980, 7–33) deutlich. Luhmann weist im Interview mit Pierre Guibentif darauf hin, dass Schelsky erst spät – im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse and Planung und Steuerung – das Recht für seine Soziologie entdeckt hat (Guibentif und Luhmann 2000, 243). Auf reflexionstheoretischer Ebene verknüpft Schelsky das Recht tatsächlich erst 1980 mit der transzendentalen Theorie der Gesellschaft. Eingebunden in eine autobiographische Darstellung erklärt er seine Außenseiterposition bzw. Frontstellung gegen die „‚festgefügte‘ professionalisierte Soziologie der gegenwärtigen bundesdeutschen Hochschulen“ (Schelsky 1980, 16) aus seiner gegen das herrschende Theorieverständnis gerichteten, einerseits empirischen, andererseits praktisch orientierten Haltung. Vor allem interpretiert die transzendentale Theorie der Gesellschaft nunmehr explizit als eine die Grenzen der Soziologie überschreitende. Was mit der Figur des Transzendierens gemeint sein könne, das habe er, so Schelsky, in der früheren Schrift „durchaus unklar beantwortet“ (ebd., 20). Sie lediglich als einen Verweis auf Philosophie aufzufassen, greife zu kurz. Sie ziele ebenso auf „das Handeln und Existieren des Menschen selbst“ … „auf die Praxis des Lebens“ (ebd.). Unter Hinweis auf Kant und Gehlen heißt es dann: „Die Notwendigkeit des Handelns geht weiter als die Möglichkeit des Erkennens“ (ebd., 21). Diese Notwendigkeit des Handelns müsse deshalb als „das eigentliche Apriori aller Sozialwissenschaften“ anerkannt werden.

Nach Schelskys Bekunden in dem Aufsatz von 1980 liegt bereits in der Forderung nach einer „transzendentalen Theorie der Gesellschaft“ der Ansatz zu seiner späteren „Abwendung von der fachsoziologisch gebundenen Soziologie“ (ebd.). Er beschreibt diese Abwendung als doppelte Bewegung. Zum einen stellt sie eine Reflexion auf das „Ganze“ der Wissenschaften dar, gegen den Monopolanspruch der Philosophie und deshalb konsequent weitergedacht als „Wendung zur Interdisziplinarität“ (ebd., 22). Zum anderen charakterisiert er sie als Verpflichtung zur Verwirklichung wissenschaftlicher Folgerungen in der Praxis. Als Leiter der Sozialforschungsstelle Dortmund (1960–1970) habe er wissenschaftliche Forschung für die Praxis betrieben, welche aber von dieser wegen ihrer wissenschaftlichen Komplexität nicht immer angenommen worden sei. Er habe, so Schelsky, nicht „parteilicher Bestätigungsgutachter“ werden wollen, was ja derzeit – also 1980 – doch üblich sei (ebd., 23). Als Lösung erschien in den sechziger Jahren das Konzept der wissenschaftlichen Planung, die auf allen Ebenen direkt in die Politik eingelagert werden sollte (ebd.). „… am spektakulärsten hat sich diese Planungseuphorie wohl in den zentralen Planungsstäben Ehmkes im Bundeskanzleramt unter Brandt oder in der rheinland-pfälzischen Landesregierung unter Kohl niedergeschlagen und jeweils ihr Debakel erlebt“ (ebd.).

Für Schelsky war die Gründungsplanung der Universität Bielefeld eines der wichtigsten Beispiele eigener Aktivitäten auf diesem Gebiet (ebd., 24 ff.). Die Universität Bielefeld markiert so gleichsam den institutionellen Ort der oben angesprochenen Einheit von Interdisziplinarität und Praxis. Ohne das Verständnis der Gründungsgeschichte der Universität Bielefeld, so Schelsky, seien seine rechtssoziologischen Abhandlungen nicht verständlich. „Institutionen“ fungierten damals als interdisziplinäres Brückenkonzept, das zwar keine einheitliche, disziplinenübergreifende Theorie, wohl aber „Gedankenverkehr“ untereinander ermöglicht habe (ebd.). Die entscheidende wissenschaftliche Wende in seinem Verhältnis zu Interdisziplinarität und Praxis seit 1965 habe sich, so Schelsky, darin vollzogen, „daß ich meine soziologische Auseinandersetzung mit dem Recht und der Rechtswissenschaft zum Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit machte.“ (ebd., 25).

Das Recht, so Schelsky, sei ihm in der Spannung zwischen Subjektivität und institutionellem Zwang „zur letzten zu vertretenden geistigen Position geworden.“ (ebd., 26) Es verkörpert für ihn jene Form der Praxis, welche subjektive Freiheit und sozialen Zwang versöhnt (ebd., 27). Vor diesem Hintergrund stehen diejenigen Beiträge in dem Band, die sich mit seiner Rechtstheorie einerseits und mit den damals aktuellen Trends in der Rechtssoziologie an deutschen Hochschulen befassen (Schelsky 1980). Die Rechtssoziologie war somit der systematische Anker von Schelskys soziologischer Reflexionstheorie. Gleichzeitig war sie eingebettet in seine außerwissenschaftlichen (meta-wissenschaftlichen, wie er sagt) politischen Aktivitäten. „Nicht nur das Höchste, sondern das existenziell Notwendigste, was das Fach ‚Soziologie‘ erreichen kann und muß, besteht darin, den Rechtsstaat als Vorbedingung ihrer freien Erkenntnis zu sichern und dauernd zu erneuern.“ (ebd., 30) Der normative Überschuss dieser Äußerung ist unverkennbar und steht einer nüchternen rechts- wie wissenschaftssoziologischen Analyse im Wege. Gleichwohl erkennt man dahinter den engen Zusammenhang von soziologischer Theorie des Rechts und wissenschaftlichem Praxisdiskurs.

Der Soziologie seiner Zeit attestiert Schelsky dabei ein fundamentales Versagen „in der Erkenntnis des Rechts.“ (Schelsky 1978, 77) Während Arnold Gehlen das Recht zugunsten der Institutionen aus der Theorie eliminiert habe, vernachlässige Ralf Dahrendorf es zugunsten des Machtinteresses. Dahrendorf, der über Marx hinaus von einer Mehrzahl von Klassen ausgeht, die aus einer Mehrzahl von Herrschaftsverbänden resultiert, überspiele, so Schelsky, mit dieser Hypostasierung von Herrschaftsverbänden bereits Webers Unterscheidung von Macht und Herrschaft. Herrschaft, das wisse man seit Hobbes, sei eben Macht plus Recht. Durch seine Präferenz für Konflikttheorie sei Dahrendorf zum Vertreter einer „rechtsfremden, ja rechtsverachtenden soziologisch-politischen Theorie“ geworden (ebd., 84). Interessiert habe er sich lediglich für Richter beziehungsweise Juristen als Beispiel für Funktionseliten. Er habe damit eine „Juristensoziologie ohne Recht“ betrieben (ebd., 85). Schelsky kritisiert dann Dahrendorfs Schrift vor allem im Hinblick auf die darin enthaltenen Analysen von „Klassenjustiz“, die er als Quelle und Ursprung einer „Diffamierungssoziologie der Justiz“ bezeichnet, „die dann von Kaupen, Rasehorn und vielen anderen fortgeführt wurde“ (ebd., 86). Bei Jürgen Habermas kritisiert Schelsky die Ausblendung des Rechts zugunsten der Politik als Moral und wirft ihm eine institutionenkritische Haltung vor, die mit der Betonung kleingruppenförmiger und informaler Formen der Vergesellschaftung grundlegende gesellschaftliche Strukturen verfehle. In „Erkenntnis und Interesse“ (Habermas 1968) sieht er folgerichtig die „universale Ermächtigung, die der gesinnungsreflektierenden Sozialgestaltung des Richters und aller anderen Juristen gegenüber ihrer Gesetzesbindung in den rechtsideologischen Theorien und Ausbildungskonzepten von Bremen, Frankfurt, Hannover usw. zugeschrieben wird.“ (Schelsky 1978, 89) Niklas Luhmann schließlich hält er die Vereinseitigung des Rechts zum gesellschaftlichen Steuerungsmechanismus vor. Luhmann vernachlässige „die dem handelnden Subjekt zugewandte Seite des Rechts, seine die Person bestätigenden und ihre Identität und Autonomie sichernde Aufgabe“ (ebd., 91). Ein zweiter Vorwurf betrifft die Abstraktionshöhe der Luhmannschen Theorie, die als bewusste Abwendung von Praxis und Handlungsbezug interpretiert wird (ebd., 93). Deshalb könne Luhmanns soziologische Theorie auch für praktizierende Juristen nicht von Wert sein (ebd.). Diese Kritik an zeitgenössischen Soziologien wird man in weiten Teilen aus der damaligen Sicht als berechtigt bezeichnen dürfen. Einzig Luhmanns Theorie wurde nach dem Erscheinen von Schelsky Schrift und nach dessen Tod im Jahr 1984 noch weiterentwickelt. Ob sie in der Gesamtschau eine responsive Rechtssoziologie bietet, wird der Gegenstand der Untersuchungen im folgenden Abschnitt sein.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Schelsky eine rechtssoziologische Reflexionstheorie in den begrifflichen Grundlagen entwickelte, mit welcher die bei Weber und Geiger vorbereiteten Ansätze eines responsiven, symmetrischen Interdisziplinaritätsdiskurses erste Konturen gewannen. Man erkennt einen programmatischen Ansatz von Interdisziplinarität, der das Thema der Reflexionstheorien, wie es unseren Überlegungen zugrunde liegt, jedenfalls im Kern mit vorbereitet. Zwar bleibt Schelskys Praxisbegriff auf Grund der Orientierung an der Sozialanthropologie noch soziologisch unterentwickelt und normativ eingefärbt. Ein wissenschaftssoziologischer Zugang über kommunikative Strukturen und eine wissenschaftliche Semantik der Praxis stehen ihm noch nicht zur Verfügung. Insofern bietet das Konzept in gewisser Weise eine zu stark ontologisierende Sichtweise. Allerdings lässt sich, das sollten die vorstehenden Überlegungen verständlich gemacht haben, in Schelskys Werk ein ernstzunehmender Ansatzpunkt für reflexionstheoretische Überlegungen finden. Schelsky hat solche Überlegungen nicht fortgesetzt. Die Soziologie nach ihm hat andere Wege eingeschlagen.

4.2 Responsivität oder Rezeption: Die Ambivalenz der Reflexionstheorie bei Niklas Luhmann

Niklas Luhmanns Œuvre zeichnet sich durch eine lange Liste von Publikationen auf dem Gebiet der Rechtssoziologie aus (vgl. die Bibliographie im Niklas-Luhmann-Archiv, https://niklas-luhmann-archiv.de/person/nl-bibliographie). Sein Interesse an einer soziologischen Theorie des Rechts zieht sich durch alle Phasen seines Schaffens. Die Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten reichen – um nur einige Meilensteine zu nennen – von der Rechtstheorie in „Grundrechte als Institution“ (Luhmann 1965), einer allgemeinen Verfahrenstheorie in „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969), der Normentheorie und Positivierung des Rechts in „Rechtssoziologie“ (Luhmann 1972), einer Kritik des Rechtskonsequentialismus in „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ (Luhmann 1974), der Systemtheorie des Rechts in „Das Recht der Gesellschaft“ (Luhmann 1993) und der Theorie der Form in „Die Rückgabe des zwölften Kamels“ (Luhmann 2000). Neben den eben genannten Werken gehört auch eine überwältigend große Zahl von Zeitschriftenaufsätzen, von denen eine kleine Sammlung in „Ausdifferenzierung des Rechts“ (Luhmann 1981) zu finden ist, zu den vielfältigen Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Rechtssoziologie. In dieser sehr reichhaltigen Literatur lassen sich die Leitmotive und zentralen Themenkomplexe von Luhmanns rechtssoziologischem Werk über die Jahrzehnte zwischen 1965 und 1993 in mindestens vier Komplexen zusammenfassen:

Erstens hat sich Luhmann stets mit der Möglichkeit einer soziologischen Theorie des Rechts beschäftigt. Lange vor der autopoietischen Wende nahm dieses Interesse die Form einer Theorie der Normen an, die später durch eine allgemeine Theorie der Gesellschaft erweitert und ergänzt wurde. Der Übergang zwischen diesen beiden Phasen wird durch das letzte Kapitel, das 1983 der zweiten Auflage der Rechtssoziologie hinzugefügt wurde, deutlich markiert. Die soziologische Theorie des Rechts ist seit jeher weitgehend von der Rolle des positiven Rechts in der funktional differenzierten Gesellschaft geprägt. Eine entsprechende Reflexionstheorie hat Luhmann jedoch zu Lebzeiten nicht vorgelegt. Zweitens hat sich Luhmann in vielen Debatten mit der Rechtswissenschaft und verschiedenen Stimmen in der Rechtstheorie schon früh mit der Gerechtigkeitstheorie aus soziologischer Sicht, vor allem mit der Funktion der Gerechtigkeitssemantik beschäftigt. Gunther Teubner (2008) hat dieses Thema später aufgegriffen. Drittens hat sich Luhmann über all die Jahre hinweg kritisch mit der Debatte um Folgenorientierung im Recht auseinandergesetzt. Eine solche Orientierung an Folgen, so argumentierte er, kollidiere mit der zeitlichen Struktur des Rechts, die in der Stabilisierung von Erwartungen und nicht in deren Anpassung liege. Ein viertes Leitmotiv schließlich manifestiert sich in der Frage nach Paradoxien im Recht und den Strukturierungsprozessen, die sich aus der Reaktion des Rechts auf Paradoxien ergeben. Dieses Thema taucht erst spät im Zusammenhang mit der Formtheorie auf, obwohl der Grundgedanke schon viel früher, etwa in Luhmanns Beiträgen zur Rechtstheorie und Dogmatik, angelegt war.

Im Unterschied zu den meisten zeitgenössischen soziologischen Theoretikern entwickelte Luhmann seit den 1960er Jahren eine außerordentlich breit ausgearbeitete soziologische Theorie des Rechts mit allen inhaltlichen Komponenten einer allgemeinen Rechtssoziologie. Diese kann deshalb einen begründeten Anspruch darauf erheben, die Rechtssoziologie mit anspruchsvoller und den Gegenstand in seiner Breite erfassender soziologischer Theorie auszustatten. Darüber hinaus beschäftigten ihn immer wieder auch Ansätze einer symmetrischen Reflexionstheorie, die er jedoch zu Gunsten des Autonomiediskurses nachrangig behandelte. Während also die rechtssoziologische Theorie in Luhmanns Werk einigermaßen breit entfaltet wird, bleiben deren wissenschaftssoziologische Implikationen durchweg ambivalent. Diese Ambivalenz zieht sich durch die Werkgeschichte hindurch. Negativer Kulminationspunkt ist die Nichtveröffentlichung von „Kontingenz und Recht“, das 1971/1972 abgeschlossen war. Diese Entwicklung, die im Folgenden dargestellt wird, beeinflusste wesentlich das Schicksal der Rechtssoziologie in der deutschsprachigen Soziologie.

Die folgenden Darlegungen vorwegnehmend, kann man sagen: Bis zur „Rechtssoziologie“ (Luhmann 1972) befasste Luhmann sich mit dem Recht im Wesentlichen aus zwei Blickwinkeln. Man erkennt zunächst die Perspektive einer rechtswissenschaftlich fundierten, aber zunehmend soziologisierten Rechtstheorie, die in der Jurisprudenz anschlussfähig zu sein beanspruchte und zugleich auch Ihre Probleme von dort bezog. Das galt für „Grundrechte als Institution“ und war auch in der „Rechtssoziologie“ noch erkennbar – wenn auch nur in Randbemerkungen (Abschn. 4.2.1). Das dort ab der zweiten Auflage 1983 hinzugefügte Schlusskapitel markiert schon deutlicher die zweite Perspektive, nämlich diejenige der soziologischen Autonomie. Die Soziologie beobachtet nun von außen, ohne Rücksicht auf die Relevanzen im Recht und in der Jurisprudenz. Diese Position dominierte alle späteren Schriften zum Recht (Abschn. 4.2.2). Während diese externe rechtssoziologische Beobachtung aus der Perspektive der autonomen Soziologie in eine – bis heute grundlegende – soziologische Analyse des Rechts mündete, blieben die reflexionstheoretischen Beiträge verstreut und beschränkten sich auf Andeutungen (Abschn. 4.2.3). Die reflexionstheoretische Perspektive der Autonomie konsolidierte sich und verdrängte die responsiven Ansätze (Abschn. 4.2.4). Auffällig ist jedoch der Umstand, dass gerade die späteren Schriften Luhmanns von Hinweisen durchzogen sind, in denen ein Versprechen responsiver Interdisziplinarität zum Ausdruck kommt (Abschn. 4.2.5), das jedoch explizit unerfüllt bleibet. Die gegenstandstheoretischen Analysen von „Das Recht der Gesellschaft“ (Luhmann 1993) legen davon beredtes Zeugnis ab (Abschn. 4.2.6). Gleichzeitig enthalten sie etliche Belege für das reflexionstheoretische Potenzial seiner Rechtssoziologie (Abschn. 4.2.7).

Wenn man vor diesem Hintergrund nach Weichenstellungen in Luhmanns Konzept der Interdisziplinarität sucht, wird man werkgeschichtlich – jedenfalls was die Rechtssoziologie anbelangt –, auf die Zeit etwa Anfang der 1970er Jahre aufmerksam. Das soll im Folgenden etwas ausführlicher dargelegt werden. Die systemtheoretische Rechtssoziologie jener Epoche enthielt, wie man sehen wird, erhebliches reflexionstheoretisches Potenzial im Hinblick auf ein responsives Modell von Interdisziplinarität. Aus welchen Gründen dieses Potenzial ungenutzt blieb, wird Gegenstand der Untersuchungen im anschließenden fünften Kapitel sein.

4.2.1 Rechtswissenschaftlich motivierte soziologische Theorie

Luhmanns Werk gründet insgesamt in der Auseinandersetzung mit dem Recht. Dabei orientiert es sich anfangs noch stark an juristischen Fragestellungen. Zunehmend tritt aber die Soziologie als autonome Disziplin in den Vordergrund. Sie löst die Rechtswissenschaft ab und bezieht einen eigenständigen wissenschaftlichen Standpunkt. Das 1965 erschienene „Grundrechte als Institution“ (Luhmann 1965) stellt in diesem Zusammenhang, obwohl als Beitrag zur politischen Soziologie untertitelt, eine frühe Abhandlung zur soziologischen Theorie des Rechts als Aufklärungsangebot für die juristische Dogmatik dar. Ansätze eines responsiven Modells der Interdisziplinarität finden sich in dem Werk, wenngleich in sehr versteckter Form, nämlich eingebettet in ein Konzept der Rezeption von Soziologie durch die Staats- und Verfassungstheorie. Zwischen Soziologie und Rechtsdogmatik liegt der für das Rezeptions-Modell charakteristische Hiatus. Geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen „dogmatischer Auslegung und funktionaler Sozialwissenschaft“ (ebd., 9) stellt auf dieser Grundlage die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Verfassungstheorie und Soziologie einen fruchtbaren Boden für eine neue Staatswissenschaft dar, die sich nicht gegenüber den damals florierenden Sozialwissenschaften isoliert. Gleichzeitig ist trotz des prägenden reflexionstheoretischen Paradigmas der Rezeption schon in diesem frühen Text davon die Rede, den „vorwärts stürmenden Sozialwissenschaften [fehle] der Kontakt mit jenem Erbgut an Kenntnissen und Erfahrungen, das bei uns in Gestalt von Dogmen und Verfassungsartikeln gepflegt … wird“ (ebd., 9 f.) Zum Beispiel, so Luhmann, hätte die funktionale Soziologie am Fall des Staatsnotstandes erkennen können, dass der „‚Bestand‘ eines sozialen Systems kein scharfes, deduktiv ergiebiges Kriterium ist, und sich damit eine lange, unfruchtbare Diskussion ersparen können.“ (ebd., 10). Der Versuch, „den Trenngraben zuzuschaufeln“ erscheine deshalb als lohnend. (ebd.). Hier wird also beiläufig die Möglichkeit angedeutet, auf beiden Seiten aus den Fragestellungen und Themen der jeweiligen Umwelt Ertrag zu schöpfen.

Im Zentrum des Interesses steht jedoch die soziologische Analyse der Funktion der Grundrechte. Als Institution stellen diese nicht nur einen Normkomplex, sondern vor allem auch einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen dar, welcher der soziologischen Analyse zugänglich ist (ebd., 13). Aus dieser Perspektive wird erkennbar, dass die Grundrechte insbesondere der Erhaltung differenzierter „Kommunikationsordnungen“ dienen (ebd., 25). Eine Kritik der traditionellen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft in den juristischen Grundrechtstheorien sowie die daraus resultierende Skizze der modernen Gesellschaft als funktional differenzierter Ordnung im zweiten Kapitel des Buches münden in die These, dass in dieser modernen Gesellschaft angesichts hochgradiger Individualisierung, also der gerade die Verschiedenheit der Individuen betonenden Selbstbeschreibung, die „Institutionalisierung des Individualismus“ (ebd., 49), soziale Institutionen hervorruft, in welcher die „Gleichzeitigkeit eines hochgetriebenen Persönlichkeitsindividualismus und eines weithin unpersönlichen Verhaltens“ (ebd., 51) rechtlich ermöglicht und begrifflich einbettet werden. Die Grundrechte stabilisieren eine solche differenzierte Sozialstruktur. Sie integrieren divergierende Geltungsansprüche funktional differenzierter gesellschaftlicher Systeme. Die Beispiele von Würde, Freiheit, Kommunikationsrechten, Eigentum, Beruf, politischem Wahlrecht und Gleichheit vor dem Gesetz erhellen jeweils im Detail die These der Grundrechtsfunktion vor dem Hintergrund der Theorie sozialer Differenzierung. Grundrechte schützen vier Kommunikationssphären gegenüber Entdifferenzierung, insbesondere Politisierung. Das sind Persönlichkeit, Generalisierung von Verhaltenserwartungen, wirtschaftliche Bedarfsdeckung und verbindliche Problementscheidung (ebd., 189). Offensichtlich werden hier bereits einige der später als Funktionssysteme bezeichneten Bereiche angesprochen. Dabei grenzt Luhmann sich, wie auch später in der „Rechtssoziologie“ (Luhmann 1972) von den rechtssoziologischen Vorläufern Durkheim und Weber ab, um eine umfassende Theorie zu gewinnen, welche den Zusammenhang von Recht und Gesellschaftsstruktur klären kann (Luhmann 1965, 188). In Anlehnung an Parsons, der diesen Zusammenhang – darin Schelsky durchaus ähnlich – als eine „Differenz des Menschseins und der Systembildung oder, …, als ‚Transzendenz‘ des Menschen“ (ebd., 192) formuliert hatte, deutet Luhmann diese „Transzendenz“ nun als Innen/Außen-Unterscheidung. Als solche ermöglicht sie eine soziologisch griffige Beschreibung der Beziehungen zwischen Personen und sozialen Systemen (ebd., 193 ff.) Die Funktion der Grundrechte beruht auf der Autonomie der unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme. Deren wachsende Interdependenzen befördern die Institutionalisierung von Grundrechten, welche die Gesamtheit der einzelnen Schutzgüter vor einer „Einbeziehung in den Machtkreislauf des politischen Systems bewahren“ (ebd., 200).

Das Schlusskapitel widmet sich der reflexionstheoretischen Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Grundrechtsdogmatik. Diese Frage erscheint durchgängig in Gestalt eines Rezeptionsproblems der juristischen Dogmatik. Es geht ausschließlich darum, ob die Rechtswissenschaft mit Hilfe der soziologischen Außenbeobachtung ihren Horizont erweitern und eine „rationale Entscheidungstechnik“ (ebd., 208) entwickeln kann. Dies sei, so Luhmann etwa in Form entscheidungswissenschaftlich informierter Modelle denkbar, wie sie etwa in der Nationalökonomie oder der Politischen Wissenschaft seinerzeit bereits Einzug gehalten hätten. „Die juristische Dogmatik hätte es demnach ähnlich wie die reine Wirtschaftswissenschaft oder die politisch-strategische Theorie mit Kalkülmodellen des Entscheidens zu tun, die ihre Problemgesichtspunkte und Daten letztlich von der Soziologie beziehen“ (ebd., 204). Reflexionstheoretisch aufschlussreich ist die Bemerkung, dies bedeute nicht die Einebnung des Unterschieds zwischen den Disziplinen, sondern erfordere „Möglichkeiten der Übersetzung von einer Welt in die andere, Möglichkeiten der Transformation von Problemstellungen und Resultaten“ (ebd., 205). Deshalb stelle sich allein die Frage, „ob die Grundrechtsdogmatik in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu einem solchen Gedankenaustausch bereit und gerüstet ist“ (ebd.). Grundlegende Schwierigkeiten sieht Luhmann in dogmatischen Festlegungen auf das Verständnis von Grundrechten als Schutzrechten. Die seinerzeit tonangebende Interpretation von Grundrechten als subjektiven Rechten verstelle den Blick auf deren soziale Funktion (ebd., 209). Tatsächlich hat sich die Grundrechtsdogmatik sich in den folgenden Jahrzehnten vom Individualrechtsschutz weg und auf den Gedanken der Verfassung als institutioneller Ordnung hinbewegt, etwa in Gestalt des Drittwirkungsgedankens, des Konzepts der Schutzpflicht oder der Betonung grundrechtsrelevanter Funktionen von Organisation und Verfahren, etwa in Form der Betroffenenbeteiligung (Bora 1994 (a), (b)) und sich insofern stärker an erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert.

Man erkennt in diesen Schlussbemerkungen also sehr deutlich das reflexionstheoretische Paradigma der Rezeption soziologischen Wissens durch die Rechtswissenschaft. Die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Wissenstransfers werden sorgsam abgewogen, wobei dann insbesondere konzeptionelle Innovationen der Rechtsdogmatik sichtbar werden, die sich aus der Rezeption soziologischer Theorie ergeben. Hierin liegt zweifellos auch eine interdisziplinäre Stärke des Textes. Sie wird konterkariert durch dessen reflexionstheoretische Einseitigkeit, die sich bereits in den Prämissen der Fragestellung bemerkbar macht. Rückwirkungen rechtsdogmatischer Problemlagen auf die soziologische Theorie werden nicht für denkbar gehalten, trotz der oben zitierten einleitenden Bemerkungen. Sie tauchen in der Argumentation nur am Rande auf, etwa wenn mögliche Konsequenzen aus Rezeptionsschwierigkeiten für den (soziologischen!) Begriff der Latenz angesprochen werden. Hier habe die Soziologie noch keine wesentlichen Fortschritte erzielt, heißt es beiläufig. Man müsse sich fragen, „ob funktionswichtige Handlungen durch Kenntnis der Funktion ihre Attraktivität oder Motivierbarkeit einbüßen“ (ebd., 211). Aus der Perspektive einer responsiven Rechtssoziologie wäre hier einer von vielen denkbaren Punkten, an denen soziologische Untersuchungen ansetzen könnten.

Bereits die rechtssoziologische Frühschrift „Grundrechte als Institution“ enthält also, so kann man das Ergebnis der Überlegungen zusammenfassen, viele materiale Analysen, die zu einem soziologischen Verständnis der Grundrechte wesentlich Neues beitragen. Die später erst entstehende Verfassungssoziologie wird hier in ihren Grundlagen vorbereitet. Ganz dominant und unhinterfragt prägt jedoch das reflexionstheoretische Modell der Rezeption alle Überlegungen zur Frage der Interdisziplinarität. Interdisziplinarität wird einzig aus der Perspektive der nunmehr autonomen Soziologie auf das Bezugsproblem der Rezeption hin gedacht. Funktionale Äquivalente dazu werden nicht in Betracht gezogen. Gegenläufige Bemerkungen in der Einleitung und am Schluss bleiben Marginalien. Responsivität als Muster einer Reflexionstheorie liegt nicht im Bereich des Möglichen.

Als Zwischenresultat kann festgehalten werden, dass uns in der Frühschrift „Grundrechte als Institution“ im Ansatz bereits eine juristisch motivierte soziologische Theorie des Rechts begegnet. Im Vordergrund steht dabei schon die Perspektive einer Soziologie, welche den Autonomieanspruch gegenüber der Rechtswissenschaft betont. Die Rezeption soziologischen Wissens durch die Rechtsdogmatik wird deshalb notwendigerweise zur zentralen Herausforderung. Das Werk ist mit Blick auf das Verständnis von Interdisziplinarität vom reflexionstheoretischen Diskurs soziologischer Autonomie geprägt.

Interessant für unsere Frage nach responsiven Beziehungen zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie ist auch der 1969 erschienene Band „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969). Er ist nicht den rechtssoziologischen Schriften im engeren Sinne zuzurechnen, sondern enthält eine allgemeine Funktionsanalyse verschiedener Typen von Verfahren im Kontext von Recht und Politik. Der Text selbst bietet keine Überlegungen zur Interdisziplinarität, stellt jedoch ein frühes Beispiel für die Möglichkeit responsiver Kopplungen dar. De facto benutzt er nämlich ein in der Rechtswissenschaft verwurzeltes Verständnis von Akzeptanz als Grundlage der soziologischen Verfahrenstheorie, gehört also zu der eingangs erwähnten ersten Perspektive einer durch juristische Fragestellungen motivierten soziologischen Theorie. Er benutzt überdies, wie es Max Weber schon praktiziert hatte, juristische Begriffe für die soziologische Analyse. Damit wäre im Ansatz ein Beispiel für die in unserem Verständnis von Responsivität angelegte Form von Interdisziplinarität gegeben. Allerdings hat Luhmann daraus kein reflexionstheoretisches Kapital geschlagen.

In der Rechtsdogmatik tauchte der Begriff der Akzeptanz schon früh vor allem im Zusammenhang mit empirischer bzw. faktischer Geltung, Wirksamkeit, Durchsetzbarkeit oder Haltbarkeit von Entscheidungen auf, seien sie legislatorischer, judikativer oder administrativer Natur. Die empirische Geltung setzte dabei nicht die Zustimmung der Betroffenen voraus, sondern vor allem das Fehlen von nennenswertem Widerstand bei grundsätzlicher Ablehnung. Die Rechtspraxis kommt für das Erzeugen wirksamer Rechtsentscheidungen mit einer spezifischen, einigermaßen sparsamen Form von empirischer Anerkennung aus (vgl. dazu Bora 2023). Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ schließt begrifflich an diese in der Rechtsdogmatik vertretene Position an und stellt den eben beschriebenen Zusammenhang von Legitimation und Akzeptanz in den Vordergrund. Legitimität wird verstanden als „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen“ (Luhmann 1969, 28). Dabei unterscheidet Luhmann zwischen dem „Akzeptieren von Entscheidungsprämissen und dem Akzeptieren von Entscheidungen selbst.“ (ebd., 31, Hervorh. i. O). Akzeptieren bedeutet nicht Überzeugung oder inhaltliche Rechtfertigung, sondern die „Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen.“ (ebd., 32, Hervorh. i. O). Luhmann versteht darunter das motivlose, lernbereite Sich-Einstellen aller Betroffenen auf die Entscheidung. Akzeptanz bedeutet, „daß Betroffene aus welchen Gründen auch immer die Entscheidung als Prämisse ihres eigenen Verhaltens übernehmen und ihre Erwartungen entsprechend umstrukturieren“ (Luhmann 1972, 33), das heißt also, dass sie bereit sind, mit Lernen auf die Entscheidung zu reagieren, auch und gerade dann, wenn diese ihren Erwartungen nicht entspricht.

Hier ist, mit anderen Worten, eine ausgeprägte konzeptionelle Beziehung zu den oben erwähnten rechtsdogmatischen Positionen erkennbar, von denen die Soziologie – im Weberschen Sinne – Gebrauch macht. Dass dies die Debattenlage in der Soziologie nicht nachhaltig beeinflusst hat, liegt weniger an der auch hier schwierigen Rezeption in der Jurisprudenz als vielmehr am völligen Fehlen angemessener Rezeption in der Soziologie (vgl. Bora 2023). Luhmann selbst hat diese Entwicklung eher befördert. Denn er hat eine an die Verfahrenstheorie anknüpfende, praktische Fragen aufgreifende Wendung der soziologischen Reflexionstheorie nicht im Blick gehabt.

4.2.2 „Soziologie mit mehr Recht“? Verborgene reflexionstheoretische Ansätze um 1970

In dem 1972 erschienenen Buch „Rechtssoziologie“ wird Luhmanns Position mit Blick auf die eben erwähnten Grundbegrifflichkeiten erstmals systematisch und an den klassischen Problemen der Rechtssoziologie orientiert ausgearbeitet. Später bezeichnete er diese Position als evolutionstheoretisch geprägt, im Gegensatz zu seiner systemtheoretischen Orientierung seit den 1980er Jahren (Guibentif und Luhmann 2000, 230). Die Normtheorie ist die Grundlage, auf der das Recht als Struktur der Gesellschaft aufgefasst werden kann. Positives Recht und konditionale Programmierung stehen im Zentrum der Argumentation; sie treten als Formen in einer funktional differenzierten Moderne auf. Schließlich thematisiert das Buch den Zusammenhang von Recht und sozialem Wandel, und zwar in einer grundlegenden  Auseinandersetzung mit Steuerungstheorien. Diese Theorietypen waren bereits Ende der 1960er Jahre in eine Krise geraten. Ohne den Begriff zu verwenden, nimmt Luhmann in dem entsprechenden Kapitel der Rechtssoziologie viele Aspekte einer Diskussion vorweg, die später unter der Überschrift „Governance“ geführt werden sollte. Gleiches gilt für die relativ frühe Bezugnahme auf den Begriff „Weltgesellschaft“.

In der Einleitung wird Luhmanns Anspruch deutlich, erstmals eine soziologische Theorie des Rechts vorzustellen, welche ihren Namen verdient, also tatsächlich in soziologischer Theorie gründet. Klassische (rechts-)soziologische Texte hatten dieses Ziel verfehlt, wie wir in Ansätzen bereits gesehen haben. Zwei Gründe sprechen nach Luhmann für ein Versagen der klassischen Rechtssoziologie, nämlich zum einen das Fehlen eines begrifflichen Gerüsts für die „elementaren Prozesse der Rechtsbildung, de[n] Sinn des Sollens, die Funktion des Rechts als Komponente der Struktur sozialer Systeme“ (Luhmann 1972, 25), zum anderen das Fehlen einer Gesellschaftstheorie. Diese Schwächen beruhen wesentlich auf der seit dem 19. Jahrhundert vertretenen Vorstellung von Gesellschaft als eines aus Teilen bestehendem Ganzen. Simmel und Weber haben vor diesem Hintergrund den Gesellschaftsbegriff in Richtung eines Geflechts von Beziehungen zwischen Menschen reduziert und deshalb, wie Luhmann argumentiert, nicht zu Aussagen über das umfassende Sozialsystem Gesellschaft gefunden. Auch Geigers Rechtssoziologie ist, so Luhmann, als Ausdruck dieser Problemlage zu interpretieren (ebd., 26).

Der Rechtssoziologie fehlt es seinerzeit, also 1972, an einer Theorie des Rechts, wie Luhmann sagt. Die in der Aufschwungsphase der 1960er Jahre entstandenen zahlreichen empirischen Forschungen lassen sich nach seiner Auffassung nur durch einen theoretisch-begrifflichen „Wiedereinbau des Rechts“ in die Rechtssoziologie integrieren. Dabei muss man vom erreichten Stand der Wissenschaft in der Soziologie ausgehen und kann deshalb nicht nahtlos an die rechtssoziologischen Klassiker anknüpfen, die in methodischer, begrifflicher und systematischer Hinsicht den Standards des 19. Jahrhunderts verpflichtet waren. (ebd., 8). Die klassischen Ansätze der Rechtssoziologie sind vor allem durch drei Prämissen gekennzeichnet. Zum einen werden Recht als normativer und Gesellschaft als faktischer Handlungszusammenhang unterschieden. Sie sind voneinander abhängig und diese Abhängigkeit lässt sich zum zweiten als evolutionär wandelbar verstehen. Aus diesem Grund sind empirische Hypothesen über den Zusammenhang möglich (zum Folgenden Luhmann 1972, 9–23). Marx versteht zum Beispiel Wandel im Sinne höherer Variabilität, allerdings mit einem verengten Blick auf die Ökonomie. Gleiches gilt für Henry Sumner Maine, der zwar die Abkopplung des Vertrages von sozialen Strukturen betont, aber die bestehenden sozialstrukturellen Gegebenheiten neutralisiert. Das erkennt dann erst Durkheim mit den nichtvertraglichen Grundlagen des Vertrags, der jedoch das zweistufige Evolutionsmodell hypostasiert. In ähnlicher Weise richtet auch Max Weber sein Augenmerk lediglich auf Teilbereiche der evolutionären Veränderung. Sein Rationalitätsbegriff ist zu eng an den Handlungsbegriff gekoppelt. Parsons schlägt dann eine Synthese von Durkheim und Weber vor, was einerseits überrascht, weil ja Durkheim auf die objektive Realität von Normen, Weber hingegen auf den subjektiven Sinn als theoretisches Letztelement baut. Parsons interpretiert aber die Objektivität von Normgefügen als Lösung für das in der radikalen Subjektivität des Sinns liegende Problem doppelter Kontingenz, freilich um den Preis der Überbetonung von Normativität in der Gesellschaftstheorie. Strukturen sind für Parsons prinzipiell normativ. Dabei übersieht er kognitive Strukturen und präsentiert im Kontrast zu den früheren „unterentwickelten“ Rechtssoziologien nunmehr eine „überentwickelte Rechtssoziologie …, die mit der Theorie sozialer Systeme zusammenfällt.“ (ebd., 21).

Die klassischen Soziologien bestimmten damit zwar das Recht aus dem Bezug zur Gesellschaft, verstanden diese Beziehung evolutionär und beschrieben das Recht als bedingendes und bedingtes Element dieses evolutionären Prozesses, weshalb es sich im Laufe der Entwicklung auf höhere Komplexität einstellt. Diese Gemeinsamkeiten blieben aber zu sehr implizit, um Theoriebildung anzuregen. Deshalb blieb auch die wesentliche evolutionäre Errungenschaft des 19. Jahrhunderts nicht angemessen behandelt, nämlich die Positivität des Rechts. „Die Positivismus-Debatte blieb den Juristen überlassen und in deren Händen unvermeidlich auf die rechtsimmanente Problematik der legitimierenden Grundlagen des positiven Rechts beschränkt“ (ebd., 24).

Erst die neuere Systemtheorie und die Evolutionstheorie, so Luhmann, eröffnen die Möglichkeit, Rechtsbildung und Rechtsveränderung sowie die Positivität des modernen Rechts soziologisch zu begreifen. Dazu muss man zunächst die „Tatsache des Sollens“ (ebd., 28) soziologisch analysieren. Genau hierin besteht eine wesentliche Innovation von Luhmanns Rechtssoziologie, die im Übrigen – anders als noch wenige Jahre zuvor „Grundrechte als Institution“ (Luhmann 1965) – gerade keine soziologisierte Jurisprudenz mehr anstrebt, sondern, wie bereits angedeutet, eine anspruchsvolle Soziologie und damit einen soziologischen Autonomiediskurs pflegt.

Die „Rechtssoziologie“ stellt damit den begrifflich-konzeptionellen Kern der systemtheoretischen Rechtssoziologie dar. Als soziologische Theorie des Rechts entfaltet die sie die grundlegenden Begriffe der Norm, des Rechts, der Positivierung und weiterer fundamentaler Aspekte des Rechts. Man könnte deshalb in diesem Werk, das nach Luhmanns Worten (Luhmann Interview Guibentif 2000) als eine „Soziologie aus der Insassenperspektive“ der Juristen gedacht war, Chancen einer responsiven Rechtssoziologie vermuten. In der Tat finden sich in dem Text zahlreiche Hinweise auf soziologisch relevante juristische Problemlagen, also gleichsam gegenstandstheoretische Belege für die Möglichkeit responsiver Beziehungen. Diese werden jedoch gerade nicht als solche aufgegriffen, sondern viel mehr aus einer zunehmend strenger operierenden Außenbeobachtung heraus als soziologisch nicht behandelbar betrachtet. Noch vor der endgültigen Ausformung der autopoietischen Systemtheorie registriert man damit in der Rechtssoziologie gewissermaßen als vorwegnehmende Maßnahme das konsequente Beharren auf Autonomie und die Abschottung gegenüber der juristischen Umwelt.

Dabei bieten sich in der „Rechtssoziologie“ gleich in mehrerlei Hinsicht auf der Gegenstandsseite Themen an, die responsive Interdisziplinarität unmittelbar nahelegen. Dies sind neben den oben bereits erwähnten Aspekten der empirischen Geltung und der Akzeptanz unter anderem etwa Fragen der rechtlichen Gestaltung, Planung oder Steuerung, der Folgenorientierung und damit zusammenhängend der Lernfähigkeit des Rechts, außerdem der Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlicher Partizipation in rechtlich geregelten Verfahren, um nur einige Punkte zu nennen. An diesen Stellen greift in der „Rechtssoziologie“ ausschließlich die Außenbeobachtung mit dem Ziel der soziologischen Korrektur von juristischen Eigenbeobachtungen, sozusagen die Aufklärung über Irrtümer in der Selbstbeschreibung des Gegenstandes. Diese soziologische Aufklärung trifft sachlich zu, bleibt allerdings reflexionstheoretisch unvollständig. Denn sie ignoriert die Problemlagen, welche auf der Gegenstandsseite – in der Selbstbeschreibung des Rechts, in dessen Wissenschaft mit anderen Worten – die soziologisch als unzureichend empfundenen Beschreibungen motivieren. Eine responsive Sensibilität der Soziologie für diese Problemlagen, eine „Mitsprache der Umwelt“ in dieser Hinsicht, könnte die Aufmerksamkeit auf funktional äquivalente Problemlösungen richten, die aus der Soziologie an die Praxis zurückgespielt werden könnten. Die soziologische Beobachtung des Rechts in der „Rechtssoziologie“ bleibt, soweit sie diesen Schritt nicht geht, schon auf der Gegenstandsseite einem asymmetrischen reflexionstheoretischen Autonomiemodell verhaftet und verschenkt damit die Chancen responsiver Interdisziplinarität.

Im Folgenden greifen wir fünf Themenkomplexe heraus, an denen die eben skizzierte Zurückhaltung der Systemtheorie exemplarisch sichtbar wird. Sie zeigen auf der gegenstandstheoretischen Ebene reflexionstheoretische Anschlussmöglichkeiten an, in denen ein ungenutztes Potenzial der systemtheoretischen Rechtssoziologie liegt.

4.2.2.1 Positivierung, Geltung und reflexive Normierung

Die soziologische Rekonstruktion des Sollens setzt bei der Tatsache der Komplexität und der daran sich entzündenden doppelten Kontinenz sozialer Beziehungen an, zu deren Bewältigen Erwartungs-Erwartungen beitragen. Erwartungen treten, so Luhmann im Anschluss an Johan Galtung und Vilhelm Aubert, nach dem jeweils mitkommunizierten, antizipierten Modus der Reaktion im Enttäuschungsfalle auf. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden, erstens kognitives, zu Erwartungsmodifikation und Lernen bereites und zweitens normatives, also kontrafaktisch stabilisiertes Erwarten (Luhmann 1972, 42 ff.). In der enttäuschungsfesten, kontrafaktisch stabilen Erwartung liegt die Quelle jeder Normativität. Diese kann damit soziologisch erklärt werden und muss nicht mehr, wie in den juristischen und philosophischen Rechts- und Normtheorien als gegeben vorausgesetzt werden. Die normtheoretische Grundlegung ermöglicht differenzierte Beschreibungen vielfältiger Formen von Normgenese. Sie ermöglicht, quasi beiläufig und implizit auch die Vorstellung multipler normativer Ordnungen weit unterhalb dessen, was später als legal pluralism diskutiert wird. Recht ist – damit knüpft Luhmann an Weber an – nur eines von mehreren Normgefügen (neben Sitte und Konvention). Als solches leistet es eine kongruente Generalisierung kontrafaktisch stabilen Erwartens (ebd., 99) in allen Sinndimensionen, die je für sich genommen nicht von sich aus zur Deckung kommen, sondern sich „behindern und stören.“ (ebd., 95) Damit stellt es „keine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung“ dar (ebd., 100). Recht wird vor diesem Hintergrund als gesellschaftliche Struktur verstanden, die auf der kongruenten Generalisierung differenter Erwartungszusammenhänge (Person, Rolle, Programm, Wert) in normativen Verhaltenserwartungen beruht (ebd., 105).

Daran anschließend werden die Grundzüge einer gesellschaftstheoretischen Fundierung der Rechtssoziologie ausgearbeitet. Die evolutionäre Entwicklung von Gesellschaft und Recht vom archaischen Recht über die vorneuzeitlichen Hochkulturen führt schließlich zur Positivierung des Rechts in der Neuzeit (ebd., 190 ff.) Die sich durchsetzende funktionale Differenzierung steigert die Möglichkeiten der Strukturbildung, etwa auch für die Gesetzgebung. „Die wesentliche Folge ist eine Überproduktion an Möglichkeiten“, die Selektionen nach sich ziehen (ebd., 191). Das erhöht zugleich den Bedarf an kongruenter Generalisierung. Zwar war positives Recht schon immer bekannt, nämlich als nachrangiges, gewissermaßen minderwertiges Recht. Aus der Übernahme (teils unter Missverständnissen und Ausblendung des antiken Kontextes) vorliegender Formen (kaiserliche Gesetzgebung, Legeshierarchie, christliche Überformung antiken Naturrechts) ergab sich in der frühen Neuzeit die Möglichkeit der Rechtsetzung. Diese trat zunächst nicht als Rechtsänderung, sondern lediglich als dauernd prekäre und oftmals kontrafaktische Bestätigung „alter“ Rechte in Erscheinung. In der späteren Umkehr dieses Gedankens – nämlich der grundsätzlichen Nichtbindung des Gesetzgebers an seine früheren Willensakte – liegt die Möglichkeit der vollständigen Positivierung. Dazu erforderlich ist die Trennung von Person und Rolle (ebd., 199). Ungehorsam und legitimes Begehren einer Rechtsänderung müssen weiterhin unterschieden und letzteres als Politik ausdifferenziert werden. Zu alledem musste aber noch der exponentielle Zuwachs von Entscheidungsproblemen treten, den erst die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zu produzieren in der Lage war (ebd., 201). Dabei kommt neuen, in der tradierten rechtlichen Systematik nicht vorgesehenen Rechtsgebieten eine wichtige Rolle zu, etwa dem öffentlichen Recht, dem Arbeits- oder Wohnungsrecht. Solche Rechtsgebiete bilden den Nährboden der „Vollpositivierung des Rechts“ (ebd.)., die sich im 19. Jahrhundert in der Einrichtung rechtsstaatlich organisierter Gesetzgebung (im Kontrast zum lediglich fallweise ausgeübten Recht des Monarchen) bemerkbar macht.

Mit der Einrichtung von Gesetzgebungsverfahren wächst die Einsicht, dass nicht alles in der Gesellschaft vorhandene Recht in die Form eines allgemeinen Gesetzes gegossen werden kann, da „die programmierenden Festlegungen des Gesetzgebers den Sinn des geltenden Rechts nicht vollständig fixieren können.“ (ebd., 202). Als Kompensationen für dieses Manko kommen die alten externen „Quellen“ infrage, im 20. Jahrhundert zunehmend aber auch Richterrecht.

Positives Recht verwirklicht somit „gesteigerte Selektivität“ angesichts eines nahezu grenzenlos gewordenen Horizonts an Selektionsmöglichkeiten. Es gilt nicht, weil es durch höherrangige Normen legitimiert ist, sondern „weil seine Selektivität die Funktion der Kongruentsetzung erfüllt“ (ebd., 203), weil also das Recht mit Sanktionen, Verfahren und Programmen die in den drei Sinndimensionen jeweils möglichen, unterschiedlichen Generalisierungen miteinander kompatibel macht.

Daraus ergibt sich ein Hinweis auf die Bedeutung von Konsistenz der Strukturen im Rechtssystem, die im Hinblick auf die weitere Theorieentwicklung als Frage der Limitation und Reflexion (vgl. oben Abschn. 2.2.1). beschrieben werden kann. Denn Positivierung und Geltung hängen eng zusammen. In der Sprache des Rechts sind sie im Begriff der „Rechtsquelle“ gekoppelt, in der Sprache der Soziologie in der Funktionsnotwendigkeit der Limitation und in der – aus Operation und Beobachtung resultierenden – Reflexion.

Die Soziologie spricht nicht von „Rechtsquelle“, da der Begriff Entstehung und Geltung einer Norm amalgamiert. Soziologisch fallen beide Aspekte jedoch auseinander. Entstehungsursachen sind hoch komplex und regelmäßig in Verursachungsketten verwoben, die man analytisch und empirisch kaum auflösen kann. Recht bildet sich allgemein in der Gesellschaft. Die gesetzgeberische Entscheidung selektiert daraus geltendes Recht. (ebd., 208) Damit wird das Konzept der Rechtsquelle durch einen auf Zurechnung anstatt auf Kausalität beruhenden empirischen Geltungsbegriff ersetzt (ebd.). Diese Zurechnung bezieht sich auf einen „variablen Faktor“, nämlich auf eine Entscheidung (ebd.). Diese, im „aktuell laufenden Rechtserleben“ sich vollziehende Zurechnung auf ein variables Ereignis bildet den Kern der Positivität des Rechts. Sie stellt einen bei jeder Operation mitlaufenden Horizont der Rechtskommunikation dar. Diese Figur kann gleichsam spiegelbildlich zum Zukunftshorizont jeder Kommunikation verstanden werden, nämlich als mitlaufender Vergangenheitshorizont. Dabei wird das als vergangen kommunizierte Ereignis mit Kontingenz ausgestattet – es hätte auch anders sein können. Aus der gegenwärtigen, konkreten Gegebenheit des Vergangen als Zurechnungspunkt ergibt sich die Geltung. Und damit ist die grundsätzliche Änderbarkeit des Gegebenen als Möglichkeit stets gegenwärtig. „Positives Recht lässt sich somit durch Kontingenzbewusstsein charakterisieren: es schließt andere Möglichkeiten zwar aus, eliminiert sie damit aber nicht aus dem Horizont des Rechtserlebens, sondern hält sie als mögliche Themen für Rechtsgeltung präsent“ (ebd., 209 f.). Positivität erstreckt sich auf alle Sinndimension des Rechts. Deshalb muss Kongruenz auf angemessene Weise erzeugt werden (ebd., 210 ff.), in der Zeitdimension als zeitlich unterschiedliches (oft widersprüchliches) Recht, in der Sachdimension als unbegrenzte Zahl juridifizierbarer Themen und in der Sozialdimension als unbegrenzte Zahl adressierbarer Personen. Diese hohe Komplexität in allen Sinndimensionen erzwingt eine hohe Generalisierung. Kongruenz ist dann nur noch möglich durch mehr Indifferenz gegen vorher oder nachher geltendes gegenteiliges Recht sowie durch Reflexivität der Normierung, also das Normieren der Normsetzung, beispielsweise in Gestalt einer Hierarchie, wie sie unter anderem in der Stellung der Verfassung als reflexiver Normierung zum Ausdruck kommt. Was in der „Rechtssoziologie“ als reflexive Normierung bezeichnet wird, fällt einige Zeit später mit der Weiterentwicklung der Systemtheorie unter den allgemeinen Begriff der Selbstreferenz.

Diese Selbstreferenzialität des Gegenstandes hat weitreichende reflexionstheoretische Implikationen. Denn sie wirft zugleich die Frage auf, mit Hilfe welcher Rechtsbegrifflichkeiten „eine allgemeine Rechtstheorie mit der Rechtssoziologie verbunden werden müßte“ (ebd., 214). Worin, so fragt Luhmann, besteht die Identität der rechtlichen Normierung? Es gilt zu klären, „welche Sinngehalte … unabdingbar sind, damit es um rechtliche Normierung rechtlicher Normierung und nicht etwa um Forschen, Lehren, Reden oder Moralisieren über Recht handelt“ (ebd., Hervorh. i. O.). Reflexive Mechanismen sind generell notwendig, um das erreichte gesellschaftliche Komplexitätsniveau zu halten. Aus diesem Grund sind „Rückgriffe auf vorreflexive Ordnungsvorstellungen illusionär“ (ebd., 216), also auf Moral oder Natur. Die Verbindung von Geltung und Positivität verweist in diesem Sinne auf ein ausgearbeitetes Konzept autonomer (später: autopoietischer) Schließung des Gegenstandes.

Diese gegenstandsseitige Schließung findet ihre Entsprechung in der Selbstbeschreibung der Soziologie als Beobachtungstheorie, also in deren Reflexionstheorie. Denn die eben genannte Frage nach der Identität rechtlicher Normierung, also der Selbstreferenz des Rechts, wird an eine Rechtstheorie verwiesen, deren Aufgabe folgerichtig in der Ausarbeitung soziologisch gehaltvoller und entsprechend anschlussfähiger juristischer Reflexionsbegriffe bestünde. Die dort zu klärenden Fragen müssen, so Luhmann ausdrücklich, im Rahmen der Rechtssoziologie offen gelassen werden (ebd., 215). Die mit dieser beiläufigen Randbemerkung vollzogene Unterscheidung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie ist bedeutsam für das Verständnis der Theorieentwicklung. Sie weist der Rechtssoziologie die Rolle der externen Beobachterin zu, während in einer soziologisch anschlussfähigen Rechtstheorie grundsätzlich Umweltprobleme in Gestalt normativer Fragen artikuliert werden könnten. Mit einer solchen Aufgabenteilung – Rechtssoziologie versus Rechtstheorie – folgt die „Rechtssoziologie“ dem Programm der Autonomisierung, hält dabei jedoch die Option einer soziologischen Rechtstheorie immerhin offen. Wir werden später sehen, wie Luhmann diese Option mit „Kontingenz und Recht“ (Luhmann 2013) gewählt und zugleich verworfen hat.

4.2.2.2 Verfahrensdifferenzierung

In inhaltlicher Hinsicht lassen die weiteren Überlegungen zur Positivität des Rechts schließlich mit den Stichworten des Verfahrens und der Entdifferenzierung weitere Themen als Einfallstore für Umweltprobleme sichtbar werden, wenn die Bedingungen und Folgeprobleme der Positivierung untersucht werden, die sich vor allem mit Hilfe reflexiver Mechanismen vollzogen hat.

Zu den Mechanismen der Positivierung zählt zunächst die Einrichtung von Verfahren und von physischer Erzwingbarkeit (ebd., 218 ff.), die unter anderem mit der Trennung von Recht und Moral einher gehen. Wir hatten oben im Zusammenhang mit „Legitimation durch Verfahren“ schon auf die Anschlussfähigkeit des Themas für interdisziplinäre Praxisdiskurse hingewiesen und ebenso auf die Vernachlässigung dieses Aspekts in der systemtheoretischen Rechtssoziologie. Gleiches wäre auch hier anzumerken.

Weiterhin spielt konditionale Programmierung als Kontingenzbewältigung eine entscheidende Rolle bei der Positivierung des Rechts, und zwar im Zusammenhang von Kontingenz des Verhaltens und Kontingenz der Sanktion (ebd., 229 ff.) Die Funktion der Konditionierung liegt in der Steigerung tragbarer Unsicherheit. Ein weiterer Vorteil ist die Erhöhung von Variationsmöglichkeiten. Man kann auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite variieren. Schließlich entlastet die Technisierbarkeit der Norm, die ein quasi automatisches Operieren insinuiert, vom aktuellen „Mitvollzug sinnhafter Verweisungen“ (ebd., 230). Dadurch bleibt die Normanwendung auf einen spezifischen Weltausschnitt begrenzbar. Dies verschafft Entlastung von Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit für die Folgen. Konditionale Programmierung erlaubt weiterhin eine geringere Kontrolldichte wegen der generalisierten Programmformulierung. Sie macht allerdings die Normierung der Unabhängigkeit von Gerichten notwendig (ebd., 233).

Mit der Unabhängigkeit der Gerichte geht die Differenzierung der Entscheidungsprogramme einher. Sie betrifft einerseits die Trennung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, also von allgemeinem Gesetz und konkreter Fallentscheidung. Weniger offensichtlich und in der Rechtstheorie nicht unter dieser Überschrift thematisiert, liegt zugleich die Unterscheidung von gebundenem und nicht gebundenem Entscheiden (ebd., 234 ff.), von Verfügung bzw. Nichtverfügung über die Entscheidungsprämissen zugrunde. Gerichte binden sich, anders als der Gesetzgeber, durch ihr Entscheiden gleichzeitig für zukünftige Fälle. Darin liegt zugleich ein normatives Element, die Erwartung nämlich, im Wiederholungsfalle dieselbe Erwartung zu formulieren. Rechtsänderung gelingt Gerichten nur apokryph, nämlich durch subtile Formen der Modifikation. Positivität des Rechts erfordert jedoch Variation, und das heißt Lernen, ohne die operative Lernunwilligkeit des Rechts zu gefährden (ebd., 238). Für den Rechtsänderungsprozess bedarf es einer zusätzlichen Prämisse über mögliche Rechtsnormen, wenn der Prozess nicht völlig uferlos werden soll. Diese Voraussetzung wird durch die Unterscheidung von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung erfüllt. Der Rechtsetzungsprozess mit seiner Form des programmierenden Entscheidens übernimmt deshalb auch Folgenverantwortung (ebd., 241).

Reflexionstheoretisch interessant sind  einige marginale Schlussbemerkungen zum Komplex der Verfahrensdifferenzierungen. Hier weist Luhmann auf damals aktuelle Bestrebungen zur Entdifferenzierung der Verfahren hin, wie man sie sowohl in Überlegungen zur richterlichen Folgenorientierung als auch in Forderungen nach Bürgerbeteiligung in Verwaltungsverfahren beobachten konnte (zu diesen Komplexen vgl. auch Band 2, Kap. 11 bis 13 und Bora 1999). Entdifferenzierung zwischen den beiden Prozessen ist also denkbar und macht sich in Versuchen bemerkbar, Richter zu „Sozio-Therapeuten“ umzudefinieren. Zu Recht besteht Luhmann darauf, dass solche Bemühungen stark kontraintuitive Wirkungen entfalten, weil „Problemlösungen nicht beliebig kombiniert werden können und Verschiebungen im Bereich der Systemdifferenzierung daher Konsequenzen haben werden“ (Luhmann 1972, 242). Gleichzeitig belässt die Systemtheorie es auch hier bei der distanzierten soziologischen Beobachtung, bei der externen Erklärung struktureller Probleme, ohne sich der Frage zu widmen, welche rechtsinternen Herausforderungen denn zu den entdifferenzierenden Formen geführt haben und welche funktional äquivalenten Lösungsformen im Recht sich gegebenenfalls aus soziologischer Sicht für diese Bezugsprobleme anbieten könnten. Wieder finden wir damit in einem reflexionstheoretisch interessanten Fall nur eine Randbemerkung. Tatsächlich liefen die damals aktuellen rechtspolitischen Debatten auf eine weitreichende Entdifferenzierung hinaus, mit teils dramatischen Folgen. Sie boten reichhaltiges Potenzial für eine responsive Rechtssoziologie, die sich die Fragen der Praxis zu eigen machen könnte, um soziologisch gehaltvolle Antworten zu generieren. Die eben erwähnten Kapitel des zweiten Bandes werden sich mit diesem Zusammenhang befassen.

4.2.2.3 Rechtsdurchsetzung

Risiken und Folgeprobleme der Positivität werden vor allem in der Steigerung von Risiken, in Missbrauch, Willkür, damit in überbordende Kontinenz sichtbar und semantisch im Begriff des Rechtsstaats eingefangen (Luhmann 1972, 251 ff.). Weiterhin gewinnt die Unmöglichkeit für jeden Einzelnen, das Recht insgesamt zu kennen, an gesellschaftlicher Bedeutung. Das gilt selbst für Fachleute. Eine notwendige und rationale Unkenntnis des kompletten Rechtsbestandes ist allerdings erträglich, solange unterstellt werden kann, dass „alles Recht aufgeschrieben und irgendwie bei Bedarf feststellbar ist“ (ebd., 254). Daraus resultieren im Alltag eine weitgehende Trivialisierung des Rechts und mit dieser einhergehend eine Zunahme außerstaatlichen Rechts. Dieses leistet die kongruente Generalisierung nur in Teilbereichen der Gesellschaft, dergestalt, dass es nur dort als generalisierte Erwartung behandelt wird.

Auch der Begriff der Legitimität wird durch die Positivierung des Rechts grundlegend verändert. (ebd., 259 ff.) und seit dem 19. Jahrhundert als faktische Überzeugung von der Gültigkeit des Rechts neu formuliert. Wie fragil diese Konstruktion ist, erkennt man an Webers Figur rational-legaler Legitimität, die das Problem bezeichnet, aber nicht klärt, welche sozialen Mechanismen es sollten lösen können (ebd., 259 Fn. 103). In angemessener Theoriesprache stellt sich das Problem als eines der Erwartung von Erwartungen und der Institutionalisierung dieser Erwartungserwartungen dar. Diese Institutionalisierung fordert zusätzlich den Modus kognitiven Erwartens, also des Lernens. Legitimität bezeichnet dann koordinierte Lernprozesse und die „Unterstellbarkeit des Akzeptierens“ (ebd., 261). „Legitim sind Entscheidungen, bei denen man unterstellen kann, daß beliebige Dritte normativ erwarten, daß die Betroffenen sich kognitiv auf das einstellen, was die Entscheidenden als normative Erwartungen mitteilen“ (ebd.).

Aus diesen Überlegungen, die an die Argumentation in „Legitimation durch Verfahren“ anknüpfen, ergibt sich das Problem der Durchsetzung positiven Rechts, also des Kontrasts von Legitimität und Wirksamkeit (ebd., 268 ff.) Reichhaltige soziologische Analysen zu klassischen rechtssoziologischen Themen belegen auch in diesem Zusammenhang die herausragende Stellung der systemtheoretischen Rechtssoziologie. Gegenstandstheoretisch werden praktisch alle relevanten Fragenkomplexe der klassischen Rechtssoziologie angesprochen, von denen nur einige zu nennen sind, nämlich Rechtskenntnis (knowledge and opinion about law) und Erzwingungsstab, soziale Schicht und Zugang zum Recht, oder die Selektivität der Rechtsdurchsetzung, insbesondere im polizeilichen Handeln.

Erneut stößt man im Rahmen dieser Überlegungen auf ein obiter dictum mit möglichen reflexionstheoretischen Implikationen, nämlich bei der soziologischen Analyse des Problems rechtstechnischer Instrumente der Rechtsdurchsetzung (ebd., 281 f.) Da Motivationsstrukturen auch von der Rechtsform abhängen, die für die Durchsetzung gewählt wird, legen juristische Konzepte oftmals die Institution der Grundrechte in Gestalt subjektiver Rechte zur Lösung dieses Problems nahe. Soziologisch ist dies, wie Luhmann überzeugend darlegt, wenig plausibel, da auch die Grundrechte auf das Durchsetzungsproblem weiterverweisen. Damit bedürfte es auf höherem normativem Niveau nochmals spezifischer Durchsetzungsinstitute, etwa unabhängiger Organisationen. Die soziologische Analyse erhellt damit ein weiteres Mal aus der Außenperspektive die in der rechtlichen Binnenwahrnehmung verborgenen Schwierigkeiten. Aus der Beobachterposition kann sie sehen, was das Recht nicht sieht, weshalb nämlich bestimmte Lösungen sich als wenig viabel erweisen. Umso attraktiver erschiene jedoch für eine responsive Rechtssoziologie der darüber hinausgehende Schritt einer Suche nach funktional äquivalenten Lösungsmöglichkeiten, die rechtsintern anschlussfähig sein könnten. Die knappen vergleichenden Hinweise auf Geldstabilität und Pressefreiheit, die Luhmann gibt (ebd., 282) zeigen, dass er die Frage im Blick hat, beantworten diese aber gerade nicht. Vielmehr könnte man sich eine – im Sinne des Grundrechte-Buches – an rechtswissenschaftliche Dogmatik, richterliche Rechtsfortbildung und die juristischen Verfassungslehren anschließende soziologisch gehaltvolle Argumentation vorstellen, mit welcher die Probleme des Gegenstandsbereichs dann soziologisch instruktiv gemacht und als solche behandelt werden könnten. Auch an diesen inhaltlich äußerst interessanten Überlegungen erweist sich die auffällige Zurückhaltung der systemtheoretischen Rechtssoziologie gegenüber responsiven Fragestellungen, welche die externen Perspektiven intern relevant machen könnten.

4.2.2.4 Gesetzesfolgenabschätzung

Neben der Frage, wie Recht in der Gesellschaft, also gleichsam nach außen, durchgesetzt werden kann, stellt sich auch die komplementäre Frage der Kontrolle im Inneren des Rechts. Diese Kontrolle tritt im Recht als „kritische Überprüfung von Entscheidungsprozessen“ auf „mit dem Ziele eines ändernden Eingriffs für den Fall, daß der Entscheidungsprozeß in seinem Verlauf, seinem Ergebnis oder seinen Folgen den Gesichtspunkten der Kontrolle nicht entspricht.“ (ebd., 282 ff.) Dafür gibt es einerseits eigens eingerichtete Strukturen und Rollen, etwa im hierarchischen Aufbau der Justiz. Neben diesen, teils aufwendigen Mechanismen, spielen andererseits auch subtile Vorkehrungen „im unmittelbaren Interaktionskontext des rechtlichen Entscheidungsprozesses“ eine Rolle (ebd., 285 ff.). Dazu zählen vor allem die hermeneutische Kontrolle durch Dialog, also die argumentative Auseinandersetzung über Auslegungsfragen, weiterhin die professionelle Kontrolle durch Orientierung an Bezugsgruppen und schließlich die politische Kontrolle. Letztere taucht in der Sprache des Rechts kaum oder gar nicht auf, allenfalls als Rechtspolitik in Gestalt von Argumenten de lege ferenda. Politische Kontrolle beurteilt Entscheidungen nicht im Hinblick auf deren Richtigkeit, sondern orientiert sich an den Entscheidungsfolgen. Für diesen Zweck eignet sich jedoch die dem positiven Recht inhärente Form konditionaler Programmierung nicht. Die bloße Richtigkeitsprüfung garantiert nicht die Passung des konkreten Rechts in eine umfassende gesetzgeberische Verantwortung. Hierfür, so die Diagnose, fehlen derzeit, also 1972, die institutionellen Lösungen. Weder die Rechtspflege noch die Verwaltung verfügen über die Mittel einer umfassenden Gesetzesfolgenprüfung. Allenfalls Lobbyisten, so Luhmann, verzeichneten hier Erfolge (ebd., 292). Praktikable Wege seien nicht in Sicht. Immerhin könne man an ein „Amt für Gesetzgebung“ denken, welches die Folgen der Gesetzesanwendung aufarbeiten und in die Politik zurückspeisen könne (ebd.).

Auch hier stoßen wir auf reflexionstheoretisch fruchtbare Analysen, gepaart mit mageren Andeutungen im Hinblick auf mögliche rechtlich resonanzfähige Lösungswege. Dass in den folgenden Jahrzehnten sich aus der einigermaßen breiten Bewegung der „Technikfolgenabschätzung“ auch analoge Überlegungen zur „Gesetzesfolgenabschätzung“ entwickeln würden (Bora 2003; Böhret und Konzendorf 2001, 2004; Mölders 2009), war nicht absehbar. Gleichwohl hätten sich auf der Basis rechtssoziologischer Theorie weitergehende Anstöße geradezu aufgedrängt. Die soziologische Systemtheorie hat an dieser Stelle ihr Potenzial angesichts reichhaltiger materialer Analysen des Rechts nicht vollständig ausgeschöpft, ein rechtssoziologisches Potenzial mit anderen Worten, das nach soziologischer Rechtstheorie verlangt, um eine responsive Rechtssoziologie zu erreichen.

4.2.2.5 Gesellschaftsgestaltung

Beim Thema „Sozialer Wandel durch positives Recht“ sind in besonderem Maße Außenbezüge im Sinne eines Praxisdiskurses erkennbar. Die evolutionstheoretische Sichtweise auf die Positivierung des Rechts schließt insbesondere „die Frage nach einem geplanten gesellschaftlichen Wandel … keineswegs aus, sondern gibt ihr gerade bestimmte Konturen jenseits aller klassischen Vorstellungen von Zweckrationalität“ (Luhmann 1972, 296). Systemplanung, um die es dabei geht, kann sich, so Luhmann, an System-Umwelt-Beziehungen und innerhalb dieser an der stabilisierenden Funktion einzelner Mechanismen orientieren. Die „Kategorien des Rechtsdenkens“ haben diese Funktion, es fehlt aber noch eine angemessene Theorie zur Beschreibung des Verhältnisses von Recht und sozialem Wandel (ebd., 297 f.). Dazu entfaltet Luhmann in der Rechtssoziologie umfangreiche steuerungstheoretische Überlegungen, die angesichts weltgesellschaftlicher Entwicklungen auf weitreichende Umbauten innerhalb des Rechts hinweisen. In der Gesamtschau bleibt Luhmanns wissenschaftssoziologische Position hier im Wesentlichen auf den Nachweis autonomer (soziologischer) Erkenntnisproduktion bezogen, die sich gegenüber den internen Relevanzen der Reflexionstheorien des Rechts eher zurückhaltend zeigt.

Mit Blick auf die Bedingungen eines steuerbaren sozialen Wandels hängt die Steuerungsfähigkeit des Rechts davon ab, dass die Interdependenzen innerhalb der Gesellschaft nicht zu vielfältig, also zu komplex werden. Recht kann sozialen Wandel nur bewirken, solange es ihm gelingt, mit spezifischen Interventionen spezifische Wirkungen zu erzielen. Es muss dafür Interdependenzunterbrechungen geben. Die zentrale Frage ist, „ob und wie Rechtsbegriffe in der Lage sein können, unvermeidlich hohe gesellschaftliche Interdependenzen zu reflektieren und in Entscheidungsprozesse zu übersetzen.“ (ebd., 325). Die Frage, ob eine Handlung einen Systemzustand zielgerichtet verändern kann, wurde bei Parsons, Mayhew und Podgórecki thematisiert, aber nicht gelöst (ebd., 305 f.), da es diesen Autoren an einer allgemeinen Soziologie mit angemessenen Begrifflichkeiten für die gesellschaftlichen Strukturen fehlte, welche die rechtliche Gestaltbarkeit von Gesellschaft erklären. Für eine solche Erklärung bedarf es eines angemessenen Verständnisses von Leistungsbeziehungen zwischen dem Recht und anderen Sozialsystemen, weiterhin eines Verständnisses von Multifunktionalität, das Steuerungsprobleme und nicht intendierte Effekte verstehbar macht (nämlich als Ausfall einzelner Funktionen bei Erhaltung anderer, ebd., 310 f.), sodann einer genaueren Bestimmung von Rationalitätstypen, unter denen nur der Modus zweckrationalen Handelns für Planung und Steuerung eingesetzt werden könne sowie schließlich sowie der Differenzierung von einfachen und organisierten Sozialsystemen, die jeweils nach Maßgabe eigener Strukturen operieren, über die Fähigkeit der Selbststeuerung verfügen und deshalb gegenüber Umweltveränderungen relativ invariant bleiben können. Rechtliche Gestaltung, so die Konsequenz dieser Überlegungen, kann nicht nach dem Muster von Befehl und Gehorsam verstanden werden (ebd., 324), eine Erkenntnis, auf die spätere Governance-Theorien zurückgegriffen haben, meist ohne Bezug zur systemtheoretischen Rechtssoziologie (vgl. Band 2, Kap. 2).

Die aus diesen Überlegungen resultierende Frage nach der Fähigkeit rechtlicher Kategorien, solche gesellschaftliche Komplexität mit den damit verbundenen Interdependenzen zu erfassen, führt zur Diskussion charakteristischer „Normierungsstile“ des positiven Rechts (ebd., 326 ff.), die zwar als rechtsdogmatische Abstraktionsleistungen entstanden sind, ihre gesellschaftliche Leistungsfähigkeit aber in Gestalt erhöhter Komplexität und Variabilität erwiesen haben. Zu derartigen Errungenschaften zählen beispielsweise die Figur des Vertrags (ebd., 327 ff., dazu bereits vorher ebd., 60, Fn. 90), des subjektiven Rechts oder auch grundrechtliche Prinzipien wie Freiheit oder Gleichheit. Trotz ihrer rechtlichen Komplexität kranken alle diese Mechanismen aber an einem übergroßen Komplexitätsgefälle zwischen der gesellschaftlichen Umwelt und den Möglichkeiten rechtlicher Planung und Steuerung. Die Komplexität der Umwelt kann, so Luhmann, nicht „mit der Maschinerie der Rechtsänderungen integriert werden“ (ebd., 331). Insbesondere politische Interessen können, „trotz aller Bemühungen um ‚Interessenjurisprudenz‘, nicht zureichend generalisiert werden“ (ebd.). Die „‚soziologische Jurisprudenz‘ wird deshalb von der Soziologie kaum Unterstützung erhalten können. Die soziologische Analyse ergibt vielmehr einen faktischen Fehlbestand an kategorialen Steuerungsmitteln, der, wenn überhaupt, nur in sehr viel abstrakteren rechtstheoretischen Begriffslagen aufgefüllt werden kann“ (ebd., 332).

Im Ergebnis hat Recht seine Komplexität vor allem in zweierlei Hinsicht gesteigert: als Zunahme der Zahl von Entscheidungen und als zunehmende Verschiedenartigkeit der Entscheidungen (ebd.). Die innere Interdependenz des Rechts blieb alles in allem niedrig. Und nur dadurch konnte die „Verklammerung des Rechts mit einer immer komplexer werdenden Umwelt“ aufrecht erhalten werden (ebd.). „Mit dieser Art des Ausweichens setzte sich das Recht jedoch zunehmend außerstande, hochgradig interdependente Sozialverhältnisse adäquat abzubilden, geschweige denn planerisch vorzuzeichnen.“ (ebd.).

Reflexionstheoretisch interessant ist die Tatsache, dass sich hier eine empirische These über die Möglichkeiten rechtlicher Regulierung versteckt. Diese These ist keineswegs unumstritten geblieben. In gewisser Weise reagiert die spätere Theorie des reflexiven Rechts (Teubner und Willke 1984) darauf, ebenso wie unterschiedlichste Überlegungen zum lernenden Recht, aus denen sich empirisch andere Diagnosen ergeben, als Luhmann sie vorschlug. (vgl. unten Kap. 6, auch Bora 1999, dort Kap. 8, und Mölders 2011). Reflexionstheoretisch gibt diese gegenstandsseitige Kopplung von Recht und komplexen Sozialbeziehungen unmittelbaren Anlass für weitere Fragen nach den Implikationen solcher Konzepte für die Modellierung von Interdisziplinarität. Wir kommen im sechsten Kapitel darauf zurück.

Der letztgenannte Aspekt des lernenden Rechts scheint in Luhmanns „Rechtssoziologie“ gegen Schluss in den Überlegungen zum Recht in der Weltgesellschaft auf (Luhmann 1972, 333–343). Funktionale Differenzierung überlagert und entwertet insgesamt regionale Referenzen. Die Politik ist auf diese Entwicklung nicht eingestellt. „Solange es keinen Weltstaat gibt, fehlt dem System der Weltgesellschaft ein Moment, das die alteuropäische Tradition für wesentliche gehalten hatte und das vor allem von Talcott Parsons auch heute noch als konstitutives Moment des Gesellschaftsbegriffs angesehen wird: die Eigenschaft eines handlungsfähigen sozialen Körpers, einer ‚Kollektivität‘“ (ebd., 337). Luhmann diagnostiziert vor diesem Hintergrund die „Nichtjustifizierbarkeit der großen Probleme unseres Zeitalters“ (ebd., 338). Politik und Recht sind auf weltgesellschaftliche Entwicklungen nicht eingestellt. Ihr Operationsmodus „lernunwilliger, kontrafaktischer Erwartungen durch bloße Entscheidung … ist ein viel zu riskanter, unglaublicher, voraussetzungsvoller Vorgang, als dass man auf einer neu gebildeten Systemebene einfach damit beginnen könnte“ (ebd., 338). Auch das Recht selbst ist in seinen Strukturen nicht auf Weltrecht eingestellt. Daraus folgt nicht die Ablösung normativer durch kognitive Erwartungsstile, auch nicht das Verschwinden von Staat oder Recht (ebd., 340) Luhmann prognostiziert jedoch eine Veränderung des Rechts mit Blick auf kognitive Erwartungsstile, nämlich über Positivität einerseits und auf die Art, wie kongruente Generalisierung von Erwartungen erzeugt wird. Positivität führt dann auch nach seiner Auffassung zum Einbau von Lernfähigkeit ins Recht, die allerdings mit der rechtlich codierten Nichtbeliebigkeit von Problemlösungen kombiniert wird (ebd., 341). Die Entwicklung wird damit stark von der „Problemlösungsfähigkeit“ des Rechts abhängen (ebd.). Bei der Kongruenz von Erwartungen könnte sich das Gewicht auf die Sachdimension verlagern. „Das Recht nähme die Form von normierten Verhaltensmodellen an, die zur Lösung bekannter Probleme entworfen, in Geltung gesetzt, erprobt und nach Maßgabe von Erfahrungen verändert werden. Die Normativität hätte nur noch die Funktion, die Konstanz des Erwartens zu sichern, solange und soweit sie sinnvoll erscheint. Die moralische und ideologische Begründung des Rechts würde ersetzt werden durch funktionale Kritik.“ (ebd., 342).

Das hat insgesamt Folgen für das soziologische Verständnis von Recht, Zeit und Planung (ebd., 343–353). Positivität wird nämlich erst möglich, sobald man Gegenwart als „Konsequenz der Zukunft“ (ebd., 345) begreift, also in Kategorien des Entscheidens denkt. „Gegenwart ist dann nicht mehr nur Sinnerfüllung im unmittelbaren Erleben; vielmehr findet sich die Gegenwart unter die Anforderung gestellt, durch geeignete Selektionsverfahren jene Vergangenheiten zu schaffen, die künftig brauchbar sein werden. Man lebt deshalb im Entwurf und in Ausführung von Plänen.“ (ebd., 347). Damit wird auch das Recht von der Orientierung an Vergangenem abgelöst und auf Zukunft eingestellt. Allerdings wirkt die Vergangenheit als status quo und komplexer Interdependenzrahmen in die Selektion von Zukünften hinein. Was geplant wird, sind nunmehr weniger konkrete Handlungen als vielmehr Handlungszusammenhänge, also Systeme (ebd., 351). Der Modus, in dem das geschieht, ist das Setzen von Entscheidungsprämissen. Damit wird das vorwiegend politische Moment der Folgenorientierung nicht auf der Ebene der einzelnen Rechtsnorm eingeführt, sondern über die Positivität des Rechts innerhalb der Art und Weise, wie Recht sich ändert. So gewinnt der Modus kognitiver Erwartung, des „lernenden Rechts“ an Bedeutung – ohne dass dies in jedem Fall unmittelbar auf eine Folgenorientierung in den Normsätzen oder im richterlichen Entscheiden hinausliefe.

Wir finden somit gerade in diesen abschließenden Bemerkungen reflexionstheoretisch wirkmächtige Themen der Gegenstandstheorie, die in der „Rechtssoziologie“ teils ausführlich erörtert, dabei aber allesamt der soziologischen Außenbeobachtung verhaftet bleiben. Ob und welche Formen des lernenden Rechts sich etwa im Wandel vom hoheitlichen zum kooperativen Staat, in zunehmender Temporalisierung der Normgeltung und in der oben angerissenen Problematik entdifferenzierter Verfahren bilden, welche Folgen sie – in ihrer je konkreten Empirie ebenso wie in den Begrifflichkeiten und Dogmatiken des Rechts – auslösen und wie darauf mit rechtlichen Mitteln gegebenenfalls reagiert werden könnte, könnte auf der Grundlage dieser rechtssoziologischen Bemerkungen zum Gegenstand tiefergreifender Untersuchungen werden (vgl. etwa Bora 1999). Vergleichbares gilt für Fragen der gesellschaftlichen Steuerung, des geplanten Wandels durch Recht, ebenso wie für die komplexen Kopplungsbeziehungen zwischen Recht und Politik (vgl. nur Paul et al. 2017).

Zusammenfasend kann nach diesem Überblick Folgendes gesagt werden: Mit der „Rechtssoziologie“ liegt Anfang der 1970er Jahre eine an die Klassiker anschließende, allgemeine und grundlegende rechtssoziologische Theorie vor. Sie erschließt den Gegenstand „Recht“ in einer für die Soziologie neuen und bis heute kaum wieder erreichten Tiefe. Mit Blick auf die Frage nach einem Modell der Interdisziplinarität eröffnet sie, wie die erörterten Beispiele zeigen sollten, an etlichen Stellen immerhin reflexionstheoretische Anknüpfungsmöglichkeiten, ohne diese jedoch weiter auszuschöpfen. Das liegt jedoch erklärtermaßen nicht in der Absicht der „Rechtssoziologie“, wie an etlichen Stellen explizit deutlich gemacht wird, an denen auf die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung zwischen der Rechtssoziologie und einer noch auszuformulierenden soziologischen Rechtstheorie hingewiesen wird. Eine solche Rechtstheorie, die sich mit den Möglichkeiten responsiver Interdisziplinarität auseinandersetzen könnte, hat Luhmann zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Allerdings hat er sich mit dem Thema in einem Text befasst, der ebenfalls etwa 1972 geschrieben und erst 2013 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, nämlich „Kontingenz und Recht“ (Luhmann 2013).

4.2.3 Reflexionstheoretischer Praxis-Diskurs als Leerstelle

Wie wir in „Grundrechte als Institution“ und in der „Rechtssoziologie“ gesehen haben, finden sich bei Luhmann von Anfang an Hinweise auf das Desiderat einer soziologisch informierten Rechtstheorie, mit der die Reflexionstheorie des Rechts innerhalb der Soziologie relevant werden kann. In der „Rechtssoziologie“ gibt es, wie gezeigt, einige beiläufige Bemerkungen dazu. Auch wenn diese inhaltlich unterbestimmt bleiben, so zeigen sie doch, dass Luhmann parallel zur Rechtssoziologie immer auch eine auf die Praxis des Rechts und deren Reflexion zielende soziologische Rechtstheorie für wichtig gehalten hat. Er selbst hat zu einer solchen soziologisch informierten Rechtstheorie zunächst nur wenige Beiträge beigesteuert, also jedenfalls öffentlich nicht umfangreich rechtstheoretisch gearbeitet. Damit schien Luhmanns Rechtssoziologie lange Zeit eine relevante Lücke aufzuweisen. Seit einigen Jahren liegt aus dem Nachlass „Kontingenz und Recht“ vor (Luhmann 2013), das 1971/72 entstanden ist und diese Lücke erstmals in einiger Ausführlichkeit schließt. Es handelt sich, wenn man so will, um das seit den 1970er Jahren fehlende rechtstheoretische Komplement zu Luhmanns Rechtssoziologie.

Für unsere Argumentation ist „Kontingenz und Recht“ vor allem in wissenschaftssoziologischer Hinsicht aufschlussreich. Das Werk enthält – in weiterem Umfang als die „Rechtssoziologie“ – einen reflexionstheoretischen Ansatz, welcher das Potenzial des theoretischen Konzepts, zugleich aber auch verpasste Chancen der Systemtheorie im Hinblick auf das Konzept der interdisziplinären Kooperation deutlich werden lässt. Die Rechtstheorie wird in diesem Text als Vermittlerin zwischen der Soziologie einerseits und den Theorien der juristischen Entscheidungsfindung andererseits verstanden, als ein Ort für Responsivität gewissermaßen. Die grundlegende Idee besteht darin, Probleme der rechtlichen Entscheidungsfindung auf systemische Probleme zurückzuführen.

Einer weithin in wissenschaftlicher „Isolierung“ lebenden Rechtswissenschaft (Luhmann 2013, 9) bietet die Soziologie zwei Begrifflichkeiten zum Kontakt an, nämlich System und Entscheidung. Beide treffen in der Rechtswissenschaft noch auf Schwierigkeiten, ermöglichen aber doch eine Rechtstheorie als „Theorie eines Entscheidungen treffenden Systems …, die sich allerdings von der Exegese normativer oder dogmatischer Entscheidungsprämissen“ abhebt (ebd., 22). Die Systemtheorie kann den Entscheidungstheorien „Problemformeln und begrenzende Bedingungen des Möglichen“ anbieten, während die Entscheidungstheorie von da aus zu konkreten Fallkonstellationen vordringen kann (ebd., 24). Das erinnert einerseits an Schelskys oben beschriebene Ergänzung der Weberschen Zweck-Mittel-Formel, steht aber doch unter der Prämisse eines reflexionstheoretischen Modells der Rezeption soziologischen Wissens durch die Rechtswissenschaft. Der Begriffsapparat der Rechtswissenschaft muss den Zugang zu den Beiträgen anderer Disziplinen ermöglichen, wie es einleitend heißt (ebd., 10). Der (soziologisch informierten) Rechtstheorie fällt dabei die Aufgabe zu, „zwischen systemtheoretischen Ansätzen, hauptsächlich der Soziologie, und Entscheidungstheorien zu vermitteln. Sie wird dies leisten können in dem Maße, als es ihr gelingt, Entscheidungsprobleme auf Systemprobleme zurückzuführen und damit die abgeleitete Kontingenz von Rechtsnormen und Geltungen, Dogmatiken und Jurisprudentien zu erhellen“ (ebd., 25).

Auf der Grundlage dieser Programmatik vertieft der erste Teil des Buches in enger Anlehnung an die „Rechtssoziologie“ zunächst einmal deren Begrifflichkeiten und stellt die Theorie auf den Grundbegriff der Erwartung ein. Normatives Erwarten wird, wie schon in der „Rechtssoziologie“ über kontrafaktische Stabilisierung definiert (ebd., 76 ff.). Rechtssicherheit wird unter dieser Voraussetzung als Kontingenzproblem formuliert. Recht kann Kontingenz nicht verhindern, zwingt sie aber „in die Form abweichenden Verhaltens“ (ebd., 85). Recht umfasst konformes und deviantes Verhalten, also „Recht“ und „Unrecht“, entfaltet allerdings eine Präferenz für die Seite des Rechts. Das stimmt nicht nur mit zahlreichen Forschungen zu abweichendem Verhalten überein, sondern weist zugleich auf Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperation am Problem der „Rechtsschäden“ hin (ebd., 93). Hinter dem ungewohnten Begriff des Rechtsschadens verbergen sich Phänomene rechtlicher Fehlsteuerung, nichtintendierte Effekte von Rechtsänderungen. Wir werden an Beispielen im Band 2 zu zeigen versuchen, dass und wie eine systemtheoretische Rechtssoziologie in concreto die Rechtsfragen aufgreifen kann, welche tatsächlich zu solchen dysfunktionalen Effekten führen können (Band 2, Kap. 11–13).

Der Begriff der Geltung, verstanden als „Nichtkontingenz normativer Erwartungserwartungen“ (ebd., 105 f.), übernimmt vor diesem Hintergrund die Aufgabe der Kontingenzregulierung. Aus der strukturtheoretischen Perspektive der Soziologie erkannt man, dass dieses Problem nicht durch eine „reine Bekräftigung der Normativität als Normativität“ gelöst werden kann, sondern nach einer faktischen Fundierung verlangt. Diese wurde rechtstheoretisch über lange Zeit in Konzepten der Normhierarchie gesucht, die mit zunehmender Positivierung des Rechts nicht mehr überzeugen. Deshalb wird das Geltungsproblem mehr und mehr in ein Entscheidungsproblem verwandelt, also in eine Frage, über die man sich zu verständigen hat (ebd., 115).

Mit dieser Umstellung des Geltungsproblems auf Verständigung gerät Kommunikation als Basiselement des Sozialen in den Blick. Wenn Verhalten als kontingent erlebt wird, wird „Kommunikation über Kommunikation nötig“ (ebd., 117). In dieser hier nur implizit vollzogenen Orientierung auf Kommunikation erkennt man die sich in der soziologischen Systemtheorie wenig später insgesamt abzeichnende kommunikationstheoretische Wende, die zugleich das Konzept der Autopoiese einführen wird. Im Kontext der Rechtstheorie sind diese weit reichenden Umbauten noch nicht verwirklicht, gewinnen aber zunehmenden Einfluss auf die Argumentation. Sollen und Geltung werden nun ausdrücklich als „symbolisch verkürzte, stärker abgehobene und dadurch leistungsfähigere Metakommunikation“ bezeichnet (ebd., 119).

Auch die Positivität des Rechts erhält eine deutliche kommunikationstheoretische Komponente, etwa wenn darauf abgehoben wird, dass sie gegen Moralisierungen der Kommunikation schützt (ebd., 152, ff.). Gleichzeitig rekonstruieren Prinzipien wie insbesondere das Prinzip der Gerechtigkeit Kontingenz in einer Weise, dass das Recht mit moralischen Gesichtspunkten kompatibel bleibt (ebd., 154). Die Rechtstheorie kann zwar zur inhaltlichen Bestimmung von Gerechtigkeit nichts beitragen, verhilft jedoch zu einem besseren Verständnis der Form, in welcher Gerechtigkeit auftritt, nämlich in der Moderne vorwiegend als Gleichheit. Die rechtstheoretische Formanalyse macht sichtbar, dass Ungleichheit – obwohl im Gleichheitsprinzip dispräferiert – eine Voraussetzung jeder Systembildung ist. Systeme (auch hierin liegt ein Vorgriff auf die kommunikationstheoretische, autopoietische Systemtheorie) entstehen durch Differenz, also die Kommunikation von Ungleichheit. Eben deshalb erlaubt die Rechtstheorie es, Gerechtigkeit als Gleichheit im Sinne eines Reflexionsgesichtspunkts zu verstehen, der Begründungszwänge für Ungleichheit konstituiert. Gerechtigkeit, so das Ergebnis der systemtheoretischen Analyse, ist kein Wert, kein Legitimationsprinzip, sondern ein Reflexionsprinzip, das es dem Recht ermöglicht, sich selbst im Hinblick auf seine Mechanismen der Kontingenzregulierung zu beobachten.

Am Ende des ersten Teils von „Kontingenz und Recht“, so kann man kurz zusammenfassen, wird in direkter Fortsetzung, Ergänzung und Vertiefung der zuvor in der „Rechtssoziologie“ entwickelten Begrifflichkeiten eine soziologische Beschreibung des Rechts aus der Außenperspektive angeboten. Sie wird als systemtheoretische explizit benannt und der rechtsinternen Entscheidungsperspektive gegenübergestellt. Aus der systemtheoretischen Sicht ist die Argumentation also – was Reflexionstheorie und Interdisziplinarität betrifft – nicht über den zuvor erreichten Stand hinausgelangt. Das verspricht, wie einleitend bemerkt, erst die Kombination der system- und der entscheidungstheoretischen Perspektive.

Diesem Vorhaben widmet sich der zweite Teil von „Kontingenz und Recht“. Die Dimension der Aufgabe und ihre reflexionstheoretische Bedeutung werden in den programmatischen Vorbemerkungen zum zweiten Teil in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht. Die bisherigen Überlegungen, so heißt es dort nämlich, führen zu der Frage, „ob und wie das Recht auf einem für die jeweilige Gesellschaft adäquaten Abstraktionsniveau Kontingenz zu regulieren vermag“ (ebd., 175). Mit dieser programmatischen, den zweiten Teil von „Kontingenz und Recht“ einleitenden Bemerkung ist reflexionstheoretisch im Hinblick auf mögliche Konzepte von Interdisziplinarität ein entscheidender Punkt angesprochen. Denn es stellt sich die Frage, wie man das genannte Kriterium der Adäquanz operationalisieren kann. Wie lässt sich Adäquanz mit Blick auf das Recht und seine Umwelt konzeptionell fassen? Dies gelingt allein durch einen Abgleich von Innen und Außen, durch ein Urteil über die Angemessenheit des Innen mit Blick auf das Außen. Ein solches Urteil setzt die Übernahme der Außenperspektive voraus, da die die Angemessenheit sich sub specie der dort benutzten Relevanzen ermitteln lässt. In diesem Fall spricht die Umwelt mit – und sei es auch über den Umweg einer beide Seiten beobachtenden Soziologie. Diese kann nur von einer Adäquanz der Rechtsbegriffe sprechen, solange sie die Umweltperspektive mit einzunehmen in der Lage ist, also die rechtsinternen Problemlagen irgendwie soziologisch mit beobachtet. Die Sozialadäquanz des Rechts soziologisch zu behaupten, setzt also gleichzeitig die Rechtsadäquanz soziologischer Beobachtung mit voraus. Das würde mit Blick auf das Recht eine soziologische Rechtstheorie erfordern, innerhalb derer Relevanzen des Gegenstandsbereichs Recht soziologisch relevant werden könnten, um auf dieser Grundlage dann aus der reflexionstheoretischen Beobachtungsperspektive über die Angemessenheit der internen Relevanzen befinden zu können. Responsivität, so wie sie in unserem Zusammenhang eingeführt worden ist, stellt vor diesem Hintergrund insofern ganz ausdrücklich die Aufgabe für den zweiten Teil von „Kontingenz und Recht“ dar.

In der Tat begibt sich die Argumentation zunächst auf diesen Weg. Sie wird, wie es wenig später heißt, aus einer Perspektive vorgetragen, „die es erlaubt, das Binnenverhältnis zwischen normativer Struktur und Entscheidungsfindung im Hinblick auf das Verhältnis von Rechtsordnung und Umwelt zu problematisieren.“ (ebd., 180) Diese reflexionstheoretische Position ist für unsere Fragestellung interessant, weil sie für die Rolle der Umwelt sensibel zu sein scheint. Insofern könnte sie das erwähnte asymmetrische Modell zumindest auf den ersten Blick bis zu einem gewissen Grad in Richtung einer symmetrischen Konzeption erweitern.

Allerdings werden, wie nun zu zeigen ist, Luhmanns Überlegungen im Weiteren diesem Anspruch allenfalls in Teilen gerecht. An strategisch wichtigen Stellen entscheidet er sich, wie schon in der „Rechtssoziologie“, für reflexionstheoretisch autonome Schließung und gegenstandstheoretische Selbstbeschränkung. Defizit-Diagnosen im Hinblick auf die damalige Rechtswissenschaft verdeutlichen die Notwendigkeit einer konzeptionellen Synthese von System- und Entscheidungstheorie. Deren Ausarbeitung verharrt aber im Programmatisch-Abstrakten und kommt weder zu einer an konkreten Themen entfalteten responsiven Rechtssoziologie noch zu einer entsprechenden wissenschaftssoziologischen Reflexion. Das Werk, das die Rechtssoziologie rechtstheoretisch ergänzen sollte, bleibt, wie wir sehen werden, in eher abstrakten Andeutungen stecken.

Die Erörterungen des zweiten Teils beginnen mit der Identifikation einzelner Mechanismen der Kontingenzregulierung. Dazu zählt etwa die interne Bestimmung von Relevanz im Recht (ebd., 191 ff.) Sie macht deutlich, dass Recht als System seine Grenzen selbst bestimmt, indem es allein festlegt, was rechtlich bedeutsam ist. Nur das Recht regelt alle denkbaren Rechtskonflikte. Es behandelt deshalb sich selbst als vollständig und garantiert, dass jedes Rechtsproblem tatsächlich entschieden wird. Diese Selbstregulierung erscheint in der Sprache des Rechts als Justizverweigerungsverbot (ebd., 197).

Innerhalb dieses mit einer starken Konsistenzorientierung operierenden Systems gewinnt die Form des „Falles“ in mehrfacher Hinsicht eine herausgehobene Bedeutung. Zum einen repräsentieren Fälle die Umwelt im System und reduzieren damit zugleich die Umweltkomplexität, indem sie nur rechtsintern brauchbare Informationen enthalten. Weiterhin kappen sie alle weiteren „Konstitutionsbedingungen und Kausalverkettungen“ (ebd., 206), die, in welcher Weise auch immer, in der Umwelt des Rechts eine Rolle spielen könnten, rechtlich aber irrelevant sind. Wenn Fälle so einerseits Kontingenz erzeugen, strukturieren sie diese gleichzeitig, weil sie Wiederholbarkeit und Konsistenz anzeigen, thematische Fokussierung, aber auch Lernfähigkeit und Toleranz gegenüber einer recht hohen Quote des Vergessens ermöglichen (ebd., 211) und selbst Entscheidungshilfe leisten (ebd., 209).

Die Überlegungen münden in eine erste Defizit-Diagnose. Die Rechtswissenschaft hat, so Luhmann diese praktische Leistung der Form „Fall“ bislang nicht angemessen gewürdigt und nur in der Form des „Fallrechts“ aufgegriffen. Dessen Kasuistik übersieht jedoch die weitreichende kommunikative Bedeutung der Fall-Form. Sie scheitert insbesondere an der Aufgabe, Gesetzgebung angemessen zu bestimmen (ebd., 213). Denn für die dort auftretenden Anforderungen erzeugt gerade die Rechtsform des Falles keine hinreichend strukturierte Komplexität. Hinter dieser Defizit-Diagnose steht das Paradigma der mangelhaften Rezeption soziologischen Wissens durch die Rechtswissenschaft, welche für die unbestrittenen interdisziplinären Kooperationsschwierigkeiten verantwortlich zeichnet.

Weitere Rezeptionsmängel werden der Jurisprudenz in Bezug auf die Themen Technisierung, Schematisierung und Dogmatisierung des Rechts bescheinigt. In Bezug auf die Umwelt ermöglicht die Form des Falles Mechanismen der Technisierung und Schematisierung, die die Umwelt „possibilisieren“, wie Luhmann sagt (ebd., 225). Kontingenz lässt sich im Verkehr mit der Umwelt gut regulieren, soweit „Rechtsgedanken relativ kontextfrei verwendbar sind“ (ebd., 215), also insbesondere auf die in einfachen Sozialsystemen wie etwa Interaktionen häufig verwendete Indexikalität zu Gunsten höherer Abstraktion verzichten. Recht operiert in diesem Sinne transsituativ. Es macht vielfältige und unterschiedliche Ereignisse in seiner Umwelt zu möglichen Gegenständen einer routinisierten und schematisierten Entscheidungsfindung. Mit Hilfe dieser Technisierung und Schematisierung werden in der Umwelt „nach den Relevanzbedingungen des Rechtssystems umfassend und systematisch alle Ereignisse relevant, aber nur in der schwachen Form eines möglichen Gegenstandes schematisch operierender Entscheidungen“ (ebd., 225, Hervorh. i. O.). Die Form des Falles spielt hierbei eine wichtige Rolle, da das Recht aus den Konflikten in seiner Umwelt mit Hilfe dieser Form Informationsmaterial generiert, welches mit anderen – vergangenen und zukünftigen – Fällen durch das Postulat gleicher Entscheidung verknüpft wird. Den „ursprünglich-subjektive[n] Sinn des Rechtslebens“, also die Sinnstrukturen der Umwelt verfehlen die Operationen des Rechts notwendigerweise (ebd., 235). Sie ersetzen ihn durch eigene Sinnstrukturen, nämlich durch technisierte und schematisierte Entscheidungen in der Sprache des Rechts.

Vor diesem Hintergrund kann Dogmatik als Mittel zur Erhöhung des Freiheitsgrades im Umgang mit Texten wie mit Erfahrungen, also zum reflektierten Umgang mit Materialien und Terminologien verstanden werden (ebd., 239 f.). Während Normen das Material sind, dienen Terminologien der Reflexion von Normen. Das Rechtsmaterial muss sich vom konkreten Fall lösen und kontextfrei verwendbar sein, wie schon angedeutet wurde, um Entscheidungen anhand einer Norm in einer Vielzahl von Fällen zu ermöglichen. Um dies zu ermöglichen, fungiert Dogmatik gerade nicht als starres Lehrgebäude unverrückbarer Interpretationsgrundsätze. Sie ermöglicht vielmehr die Steigerung der Flexibilität im Umgang mit den Rechtsmaterialien, da sie kontextbezogen argumentiert und so ein differenziertes Muster möglicher Argumente für unbegrenzt viele Anwendungssituationen bereitstellt. Sie ermöglicht es, so Luhmann, die Textinterpretation „aus der kritischen Distanz einer zweiten Schicht von Überlegungen, Gründen und Verhältnisabwägungen analytischer Kontrolle und selektiver Akzentuierung und Umakzentuierung zu unterwerfen“ ebd., 239).

Um Flexibilität und auch Gleichförmigkeit im Umgang mit Rechtsmaterialien zu erreichen, regeln Prinzipien, wie z. B. Gerechtigkeit und Gleichheit, die dogmatische Struktur des Rechts. Weil die Dogmatik für jeden denkbaren Fall Lösungen auf Vorrat halten muss, braucht sie mehr Begründungen als tatsächlich in der Praxis abgerufen werden. Der Überkomplexität dieser Aufgabe begegnet sie mit Hilfe des Prinzips der Gerechtigkeit, das hier ermöglichende und limitierende Wirkung zugleich entfaltet. Als Prinzip ermöglicht Gerechtigkeit (auch in der modernen Gestalt von Gerechtigkeit als Gleichheit) keine einfache Deduktion von Entscheidungen. Deshalb kommt dem Entscheiden hier eine besondere Rolle zu. Es muss im Einzelfall festlegen, in welcher Hinsicht etwas als gleich oder ungleich zu verstehen ist und daraus Gründe für Gleich- oder Ungleichbehandlung ableiten. „Für die Festlegung von Hinsichten dienen Begriffe als Kategorien, für die Festlegung von Gründen dienen sie als Werte“ (ebd., 246, Hervorh. i. O.).

Die Folgen dogmatischer Strukturen des Rechts sind vor allem im Auseinanderfallen alltäglicher und rechtlicher Vorstellungen von Gleichheit zu beobachten (zahlreiche Beispiele ebd., 250 f.). Lösungen für daraus entstehende Probleme im Recht bieten sich durch die Differenzierung von Fallentscheidung und dogmatischen Strukturen. Das Recht nutzt die Differenz zwischen Fällen und dogmatischen Reflexionen, um System-Umwelt-Beziehungen in einer Form zu gestalten, die eine angemessene Komplexität zulässt. Eine solche (umwelt-) adäquate Komplexität des Rechtssystems beruht auf der Zahl der zu treffenden Entscheidungen, deren Verschiedenartigkeit und den Interdependenzen zwischen den im System beobachteten Entscheidungen (ebd., 253 ff., 257).

Wir treffen hier auf eine zweite Defizit-Diagnose, allerdings mit weiterreichenden reflexionstheoretischen Implikationen. Das Recht und seine Dogmatik, so Luhmanns These, haben bislang keine sehr hohe Interdependenz in diesem Sinne erreicht. Nach außen steht dem die bereits erwähnte Kasuistik im Wege, ebenso die Konditionalprogrammierung der einzelnen Entscheidungen. Im Inneren ist das Recht durch „primitive Organisationsformen“ geprägt, die gleichfalls ein niedriges Interdependenzniveau zur Folge haben (ebd., 261). „Bei zu hohen gesellschaftlichen Interdependenzen verzichtet die Dogmatik mithin auf umweltadäquate systeminterne Komplexität. Die Konsequenz eines solchen Desengagements in Gerechtigkeit ist, daß soziale Planung heute als Vorgang außerhalb des Rechts konzipiert wird“ (ebd., 263). Ob die Rechtsdogmatik jedoch in einer Weise konzipiert werden kann, die diesen unvermeidlichen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen könnte, erscheint nach Luhmanns Worten zweifelhaft (ebd., 265 f.). Die reflexionstheoretischen Implikationen dieser Sichtweise erschließen sich erst auf den zweiten Blick. Denn in den genannten Situationen hoher Umweltkomplexität beobachtet man, so Luhmann, in der Selbstbeschreibung des Rechts ein gewisses Desengagement und gleichzeitig die Externalisierung des Reflexionsproblems auf politische Planung, auf welche die Steuerungs-Problematik gewissermaßen abgeschoben wird. Dieses Desengagement kann, wie oben erläutert, als Folge der Positivität des Rechts und der damit zusammenhängenden Differenzierung von Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungsverfahren begriffen werden.

Diese Interpretation ist allerdings erhellend im Hinblick auf Luhmanns reflexionstheoretische Position. Soweit er von der Externalisierung von Problemen auf die Umwelt in der Rechtstheorie spricht, erscheint dies bei näherer Betrachtung zweifelhaft. Denn die juristische Rechtstheorie ist ebenso wie die Dogmatik stark mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit befasst und beteiligt sich an Debatten über Normbildung, Gesetzgebung, Rechtspolitik, also an all den Themen, die nach Luhmann in die politische Planung externalisiert werden. Insofern widerspricht die empirische Situation der Beschreibung Luhmanns. Diese nimmt damit – ähnlich wie es bereits in der „Rechtssoziologie“ zu beobachten war – gegenstandstheoretische Festlegungen zugleich für die Reflexionstheorie in Anspruch, indem sie Fragen der gesellschaftlichen Gestaltung nicht nur aus dem Recht, sondern auch aus dessen soziologischer Theorie verbannt.

Man könnte versucht sein, einer solchen empirischen Beobachtung unter Verweis auf den historischen Kontext mit der Behauptung widersprechen, dass die juristische Rechtstheorie lange Zeit stärker „positivistisch“ eingestellt war und sich von Fragen der Gerechtigkeit tendenziell fernhielt, die an die praktische Philosophie delegiert wurden. Insofern, so könnte man argumentieren, habe Luhmann 1972 allein auf seine zeitgenössische Situation Bezug genommen und gar keine systematische Sichtweise vertreten. Dem kann man die prominente Rolle der „Radbruchschen Formel“ in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis nach 1945 entgegenhalten und an Varianten des kritischen Rechtsdenkens, an deliberative Ansätze in der Staats- und Demokratietheorie im Verfassungsrecht erinnern, um nur ganz wenige Aspekte zu nennen. Solche Beispiele machen deutlich, wie stark sich juristisches Denken tatsächlich mit Fragen der Gerechtigkeit beschäftigt, anders als Luhmann es in der zitierten Passage unterstellt. Seine Diagnose des rechtstheoretischen Desengagements in Gestaltungs- und Steuerungsfragen scheint daher eher seinen wissenschaftssoziologischen Vorannahmen als der empirischen Situation in der Rechtstheorie geschuldet zu sein.

Wenn man fragt, warum Luhmanns Argumentation eine derartige Wendung nimmt, könnte eine Erklärung vielleicht darin liegen, dass er sein soziologisches reflexionstheoretisches Modell im Gegenstand der juristischen Rechtstheorie hypostasiert. Sollte dies zutreffen, würde dies bedeuten, dass er mehr über seine eigene Reflexionstheorie als über zeitgenössische Trends in der Rechtswissenschaft spricht. Darüber hinaus könnte man annehmen, dass die zugrunde liegende Wissenschaftssoziologie auch seine soziologische Rechtstheorie prägt. Diese Wissenschaftssoziologie ist durch ein asymmetrisches Verhältnis zwischen soziologischer Beobachtung und den reflexiven Theorien des Fachgebiets gekennzeichnet. Die empirisch wenig plausible Externalisierungs-Beschreibung könnte so in einer dahinter liegenden Reflexionstheorie begründet sein. So gesehen, erkennen wir auch in „Kontingenz und Recht“ ein asymmetrisches Modell, das die Probleme der Umwelt, d. h. in den reflexiven Theorien des Rechts, nur zögerlich als relevante Probleme für die soziologische Theorie aufnimmt.

Aus den beiden genannten Defizit-Diagnosen – der soziologischen Unangemessenheit der Fall-Dogmatik sowie der Externalisierung von Steuerungs-Reflexion auf politische Planung – resultiert in „Kontinenz und Recht“ sodann eine Umformulierung der im Text selbst gestellten Aufgabe, die unsere Deutung unterstützt. Sie stellt eine Kapitulation vor den reflexionstheoretischen Herausforderungen dar. Mit den bisherigen Analysen, so heißt es nämlich an dieser entscheidenden Stelle, liegen „die eigentlichen Schwierigkeiten noch vor uns, nämlich im Zugang zu Detailfragen des Rechtslebens und im Übergang von systemtheoretischen zu entscheidungstheoretisch brauchbaren Konzepten“ (ebd., 267, Hervorh. von mir, A.B.). Insofern sind die Praxis der rechtlichen Entscheidungsfindung und ihre Folgen für die Umwelt in der Tat Themen einer soziologischen Theorie des Rechts an dieser systematisch entscheidenden Stelle. Die Systemtheorie nimmt sich dieser Herausforderungen ausdrücklich nicht an, wenn im folgenden Satz sofort der Anspruch auf die Darstellung von Details verneint und die weitere Konturierung begrifflicher Möglichkeiten zur zukünftigen Aufgabe erklärt wird. Die Konstruktion der Details könne „natürlich… nicht an dieser Stelle geleistet werden“, heißt es (ebd.). Das ist inhaltlich unbegründet und drückt nichts weniger aus als die Weigerung, diesen Argumentationsweg weiter zu verfolgen, der nach dem bisherigen Gang der Darstellung sehr wohl nahegelegen hätte. An dieser Stelle verabschiedet sich also die rechtstheoretische Argumentation von der Möglichkeit responsiver Reaktionen auf rechtsinterne Fragen.

Statt dessen bleibt es beim Versprechen der „Ausarbeitung von Problemstellungen für konkretere Verwendung“ (ebd., 268), vor deren Hintergrund sich dann gegebenenfalls Rechtsprobleme entscheidungsnäher untersuchen lassen. Dieses Vorgehen wird an zwei Beispielen exemplifiziert, nämlich am Regel-Ausnahme-Schema und an der Kategorie der Alternative. Beide Male verharrt der Text in der externen Beobachtungsperspektive.

Prinzipien operieren im Recht als Schemata der Bearbeitung von Regel und Ausnahme. Sie stabilisieren dabei die Reaktionen auf Umweltkomplexität, ohne diese komplett außer Kraft zu setzen, indem sie es erlauben, Regeln so zu formulieren, dass diese in einer unbestimmten Zahl von Fällen ihr Gegenteil als Ausnahme zulassen. Damit ermöglichen sie die „Kodifikation parajuristischer Normbildungen“ (ebd., 275 f.), verbinden also die Möglichkeiten des Normierens und des Lernens. Das Regel-Ausnahme-Schema „organisiert apokryphes Lernen in einer primär normativen Erwartungsstruktur“ und verringert damit das Risiko, das in binär codiertem Entscheiden liegt (ebd., 278 ff.) und erlaubt es dem Recht, Entscheidungsinterdependenzen niedrig zu halten. Die Nachteile dieses Mechanismus werden allerdings im Gesetzgebungsprozess sichtbar, der weniger auf Prinzipien als auf anwendbare Programmierungen des Entscheidens abzielt.

Das Denken in Alternativen wäre, so Luhmann, gegebenenfalls eine dogmatische Möglichkeit, die Beschränkungen des Prinzipiendenkens zu überwinden. Bewertenden Alternativen liegen vermutlich allen normativen Präferenzformulierungen zugrunde (Beispiele im Text: rechts fahren, nicht töten, sich impfen lassen, Steuern zahlen, ebd., 292). Entlastungsalternativen verweisen im Kontrast dazu auf regulatorische Möglichkeiten, etwa hohe Überstundenvergütungen anstelle schwer durchsetzbarer Arbeitszeitregelungen (ebd., 298). Eine entsprechende rechtstheoretische Begrifflichkeit für diese besondere Form von Selektivität müsse, so Luhmann, noch „nachentwickelt werden“ (ebd., 299). Wie diese aussehen könnte, bleibt offen.

Ähnlich argumentiert er mit Bezug auf das Problem gesellschaftlicher Knappheit an Gütern, das einen engem Zusammenhang mit Fragen der Gerechtigkeit und des Rechts aufweist. Die generelle Diagnose unzureichender rechtlicher und rechtstheoretischer Begriffe wird hier immerhin durch ein knappes Beispiel komplementiert, das auf die funktionale Äquivalenz zwischen derzeitigem Schadensersatzrecht und einer denkbaren „zentralen Ausgleichskasse“ (ebd., 317 f.) abstellt, mit welcher Rechtssicherheit auf Kosten individueller Gerechtigkeit hergestellt werden könnte. Auch der Verzicht auf rechtliche Steuerung gesellschaftlicher Interdependenzen wäre damit zu erreichen. Auch an dieser Stelle bleibt es jedoch bei Andeutungen.

Im Hinblick auf unsere Fragestellung besticht der Text also, zusammenfassend gesagt, einerseits durch einen programmatischen Ansatz zu einer soziologisch informierten Rechtstheorie, einer soziologischen Beschreibung der inneren Mechanismen des Rechts und in gewissem Maße auch zu einer soziologischen Beschreibung der juristischen Reflexionstheorien (Rechtstheorien). Andererseits handelt es sich aber ausdrücklich nicht um einen Versuch, die soziologische Theorie auf rechtliche Probleme auszurichten, auf Fragen also, die sich im Umfeld der soziologischen Theorie stellen. Obwohl es einige Stellen in der Argumentation gibt, an denen praktische Fragen geeignet erscheinen, theoretische Reflexion in der Soziologie auszulösen, geht das Buch diesen Weg expressis verbis nicht. Wir treffen hier auf eine Theorie, die in verdeckten programmatischen Anspielungen intern – innerhalb der soziologischen Reflexion – die Umwelt (Praxis) in Gestalt der Rechtstheorie ernst nimmt und mitsprechen lässt. Allerdings wird die soziologische Beobachtung juristischer Rechtstheorie eben nur programmatisch auf eine neue Ebene gehoben.

Insofern füllt das Buch zwar eine Lücke in Luhmanns rechtstheoretischem Werk, bietet aber kein wissenschaftssoziologisches Modell, das die eingangs skizzierte Asymmetrie der Reflexionstheorie überwinden könnte. „Kontingenz und Recht“ integriert nicht normative Argumentationen in die soziologische Theorie des Rechts. Es ist weder (im Sinne Kieserlings, vgl. Kap. 1) auf dem Motivationskontinuum angesiedelt, das charakteristisch für Reflexionstheorien ist, noch teilt es in seiner Argumentation das Recht als Bezugshorizont (Anlehnungskontext, vgl. Kap. 1) für Geltungsansprüche. Es handelt sich also weniger um eine rechtlich informierte soziologische Theorie, auch nicht um eine reflexive Theorie des Rechts (Rechtstheorie), sondern eher um eine soziologische Beobachtung der Rechtsreflexion. Diese verharrt auf einem Abstraktionsniveau weit oberhalb der aus den oben beschriebenen Defizit-Diagnosen resultierenden selbst gestellten Aufgabe.

Rechtsinterne, dogmatisch-konstruktive Probleme der Jurisprudenz lassen sich dabei, wie man bei genauerer Analyse erkennt, als praktische Fragen der soziologischen Theorie reformulieren und auf diesem Wege mit soziologischer Relevanz ausstatten – auch wenn Luhmann selbst sich in „Kontingenz und Recht“ genau diesem Weg beharrlich verweigert. Wir erblicken hierin einen Aspekt der von Kaldewey analysierten wissenschaftlichen Praxis-Diskurse im Sinne einer symmetrischen Theorieanlage: die Umwelt (Rechtstheorie) „spricht mit“. Die Theorie könnte grundsätzlich Fremd- und Selbstbeobachtung kombinieren, also Autonomie und Umweltbeziehungen in eine soziologische Theorie des Rechts integrieren. Diese in der Tiefenstruktur der Theorie angelegten Möglichkeiten werden allerdings auf deren Oberfläche hartnäckig dementiert.

Wenn wir an dieser Stelle kurz innehalten und die bisherigen Überlegungen zu Luhmanns soziologischer Theorie des Rechts bis 1972 zusammenfassen, so lässt sich immerhin erkennen, dass mit „Grundrechte als Institution“, „Rechtssoziologie“ und dem unveröffentlichten Werk „Kontingenz und Recht“ eine soziologische Theorie des Rechts und eine Reflexionstheorie des Rechts sich abzuzeichnen begannen, in denen die Integration der Soziologie als autonomer Wissenschaft mit Aspekten der Praxis, also der rechtstheoretischen Nützlichkeit jedenfalls vorstellbar war. Die soziologische Rechtstheorie, das soll hier nochmals hervorgehoben werden, bildet vor dem Hintergrund der hier verwendeten Theorie-Praxis-Unterscheidung den Praxisdiskurs der Soziologie. Sie stellt den Versuch dar, das rechtlich Relevante in die Soziologie und deren Theoriesprache zu integrieren. Was andernorts bei Luhmann oft nur angedeutet wird – die Rechtstheorie müsse eben reflektierter werden, sich auf das der modernen Gesellschaft angemessene Theorieniveau begeben –, wird hier in Ansätzen ausgearbeitet. Die Binnenstrukturen des Rechts werden in soziologisch anschlussfähiger Begrifflichkeit erfasst, die empirisch ein auf Entscheiden ausgerichtetes Rechtssystem im Blick hat.

Allerdings hat Luhmann „Kontingenz und Recht“ zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Vielmehr kann in dieser Phase seines Schaffens von einem Schwenk in der wissenschaftssoziologischen Ausrichtung der soziologischen Systemtheorie gesprochen werden. Mit dem Erstarken der Autopoiesis-Gedankens verlieren sich die Spuren des Praxisdiskurses zugunsten einer weiter forcierten Orientierung am Gesichtspunkt der Autonomie. „Kontingenz und Recht“ markiert eine aufschlussreiche, offen gelassene Stelle im veröffentlichten Werk Luhmanns, der die Entscheidung getroffen hat, diese Überlegungen nicht zu publizieren. Auch wenn einzelne Aspekte in verstreut publizierten Aufsätzen enthalten waren, so etwa die Unterscheidung von System und Entscheidung sowie die oben ausführlich erörterte reflexionstheoretische Abkehr von den „Details“ im Aufsatz „Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang“ (Luhmann 1981, 191–240) oder das ebenfalls oben besprochene Thema der Interdependenzen in „Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie“ (ebd., 241–272), so erblickte doch das zusammenhängende Werk nicht das Licht der Öffentlichkeit. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Enttäuschte Erwartungen an einen interdisziplinären Diskurs mögen dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Johannes F. K. Schmidt deutet dies in seiner editorischen Notiz an (in Luhmann 2013, 336 ff.). Luhmann war möglicherweise angesichts der Reaktion der Rechtswissenschaft auf seine vorliegenden Publikationen desillusioniert und hielt das Vorhaben einer in der Jurisprudenz resonanzfähigen soziologischen Rechtstheorie vielleicht nicht mehr für aussichtsreich. Vom reflexionstheoretischen Paradigma der Rezeption aus gedacht ist eine solche Enttäuschung schlüssig und erwartbar. Sie bietet dann zugleich eine Erklärung für die Nichtveröffentlichung des Manuskripts und die in den kommenden Jahrzehnten erstarkende Orientierung an soziologischer Autonomie in den rechtssoziologischen Texten. Debatten über eine Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz (vgl. Rinken 1973) dürften ebenfalls eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben (Luhmann 1974). Der reflexionstheoretische Praxis-Diskurs bildet also in doppelter Hinsicht eine Leerstelle in Luhmanns Werk seit 1972, nämlich sowohl inhaltlich wegen der lediglich programmatischen Ankündigungen und fehlender inhaltlicher Ausarbeitung als auch publizistisch wegen der Nichtveröffentlichung des Textes.

4.2.4 Konsolidierung der Autonomie-Perspektive im Modell der Rezeption

Zahlreiche rechtssoziologische Texte Luhmanns aus den nach 1972 folgenden Phasen seines Schaffens legen auch weiterhin Zeugnis für diese Entwicklung ab. Sie vertiefen das Modell autonomer soziologischer Beobachtung des Rechts und juristischer Rezeption soziologischer Erkenntnisse und Begriffe durch die Rechtstheorie, auch wenn bisweilen zaghafte Bedenken aufzuflackern scheinen. Einige Beispiele sollen dies kurz belegen.

1974 erschien der Band „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“, in dem sich Luhmann mit damals prominenten Überlegungen zur Folgenorientierung des Rechts auseinandersetzte und in diesem Zusammenhang sehr pointiert gegen eine Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz aussprach. Er verstand eine solche Entwicklung als Entdifferenzierung, die dazu führen würde, wie er sagte, „dass man nur noch vor dem Hintergrund von Einstellungen argumentieren kann“ (Luhmann 1974, 7). Dies berge die Gefahr, „dass Annäherung und Verständigung auf der untersten Ebene für beide Seiten stattfinden.“ (ebd., 9). Die im Zuge solcher Reformdebatten teils in Verruf geratene juristische Dogmatik rettet Luhmann in diesem Text gegen die Reformjuristen mit Blick auf die Funktion der Dogmatik als Mechanismus der Paradoxievermeidung: Dogmatiken wirken als Negationshemmer in Bezug auf die Ausgangspunkte von Argumentationsketten. Dadurch erhöhen sie akzeptable Unsicherheiten auf der operativen Ebene. Sie integrieren unter anderem auch die innere Komplexität des Rechts und erfüllen damit ihre zentrale Funktion, nämlich die äußere Differenzierung des Systems. Die Dogmatik steuert das Rechtssystem, indem sie die konsequente Verwendung von Differenzierungskategorien ermöglicht. (ebd., 15 ff., 24 ff.). Es besteht deshalb wenig Hoffnung, so Luhmann, dass ausgerechnet Folgenorientierung eine konstitutive Rolle bei der rechtlichen Theoriebildung übernehmen kann (ebd., 38). Eine wesentliche Aufgabe der Dogmatik besteht viel mehr im Hinblick auf die Ausbildung „gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe“ (ebd., 49 ff., Hervorh. von mir, A.B.). Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt einigermaßen unklar. Jedoch wird an konkreten Beispielen rechtsdogmatischer Natur (gesellschaftliche Formen des Synallagmas und Entwicklung der Vertrags-Dogmatik, Motivirrtum) erläutert, dass die Rechtsdogmatik sozialstrukturellen Gegebenheiten entsprechen muss (ebd., 51, dazu auch Teubner 1975, 179 Fn. 3). Auch wenn hier wiederum in vermittelter Form die Perspektive der Rezeption aufscheint, so zeigen sich doch auch ambivalenten Züge in der Argumentation. Neben den juristischen Rezeptionsproblemen, so heißt es, liege eine Ursache für interdisziplinäre Kooperationsschwierigkeiten vor allem „in den Grenzen der Fähigkeit zu soziologischer Reflexion dogmatischer Begriffe“ (Luhmann 1974, 52, Hervorh. von mir, A.B.). Zunächst bleibt offen, wen dieses Unvermögen trifft, die soziologische Theorie oder die Rechtsdogmatik – beides wäre semantisch möglich. In den auf diese Aussage bezogenen ausführlicheren Überlegungen (ebd., 55 ff.) wird die Ambivalenz ein weiteres Mal in Richtung des Rezeptions-Paradigmas aufgelöst. Am Beispiel von Heinrich Popitz‘ „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz 1968) diskutiert Luhmann juristische Rezeptionshindernisse für diese These. Die Strafrechtsdogmatik kann sich „nicht ernsthaft“ mit ihr befassen, weil sie dann unterstellen müsste, dass die gesellschaftliche Anwendung des Strafrechts auf eine kontingente Wahlentscheidung hinauslaufe. Deshalb benutzt die Dogmatik bei aller Orientierung am Schematismus des Rechts auch gesellschaftsbezogene Begriffe, selbst wenn das keine Garantie dafür ist, dass das Recht die Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllt (ebd., 58). In der Eigentums-Dogmatik wird zum Beispiel, wie im vierten Kapitel des Bandes gezeigt wird, diese Bedingung kaum erfüllt (ebd., 60 ff., 68). Die Zukunft der Dogmatik, so Luhmann abschließend, hängt davon ab, ob es ihr gelingt, ihre Begriffe „auf ein der gesellschaftlichen Lage entsprechendes Niveau zu bringen“ (ebd., 76).

Luhmanns kleiner Text von 1974 löste eine Kontroverse mit den „progressiven“ Rechtswissenschaften aus, die dem Gedanken einer Folgenorientierung der Rechtsprechung positiv gegenüberstanden (Teubner 1975; Wälde 1979; Lübbe-Wolf 1981; Rottleuthner 1980; Hassemer 1982). Wir werden später in Kap. 6 auf diesen Streit eingehen und dabei zeigen, dass an dieser Stelle eine Chance dafür bestanden hätte, ein responsives Verständnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik zu entwickeln. Juristische Rechtstheoretiker haben später diese Chance zu nutzen versucht (vgl. etwa Grünberger 2018, 2019), während Luhmann den Gesichtspunkt der Autonomie in den Vordergrund stellte.

Ein weiteres Beispiel für die konsolidierte Autonomie-Position Luhmanns bietet der Aufsatz „Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive“ (Luhmann 1979, 1981, 419–450.). Dort wird gefragt, ob Rechtstheorie als Teilsystem desjenigen Systems, das für die Betreuung von Rechtsangelegenheiten ausdifferenziert worden ist, selbst der Wissenschaft zuzurechnen ist (Luhmann 1981, 421). Theoriearchitektonisch ist das ein Schlüsselproblem. Wenn Wissenschaft innerhalb und außerhalb des Rechts – als Reflexionstheorie und als Rechtssoziologie – vorkommen kann, wären dann Rezeptionsprozesse auch in umgekehrter Richtung denkbar, also in Gestalt der Rezeption normativer Probleme durch die Soziologie? Könnte das Recht in vergleichbarer Weise sowohl in der Umwelt der Wissenschaft als auch innerhalb dieser gedacht werden? (Analoge Überlegungen zu „scientific norms and legal facts“ in Band 2, Kap. 7). Wie stehen Funktion und Leistung dann jeweils im Verhältnis zueinander?

In der Rechtstheorie nach 1945 ist, wie Luhmann sagt, der Positivismus unter Verdacht geraten. Stattdessen finden sich Ansätze einer Rückkehr zum Naturrecht zur Konstruktion rechtsinterner Limitationalität. Die „Rechtstheorie sieht sich dann ihrerseits vor der Aufgabe, ein Konzept der Positivität des Rechts zu finden, das einer Entwicklung Rechnung tragen kann, die sie selbst mit ausgelöst hatte.“ (Luhmann 1981, 435) Umgekehrt legt die Naturrechtstheorie einen deflationären Kurs des Rechts nahe (ebd., 436). Die Bewegung zwischen Positivismus und Naturrecht nach 1945 lässt sich vor diesem Hintergrund als Hin und Her zwischen inflationärem und deflationärem Kurs interpretieren. (ebd., 436) Wie kann sich dieser Sachverhalt rechtstheoretisch beschreiben lassen? Die Voraussetzung des systemtheoretischen Vorschlags liegt in der Annahme, dass die Reflexion des Rechts ihren Bezugspunkt in der Differenz von Rechtssystem und gesellschaftlicher Umwelt hat. Die Identität eines Teilsystems lässt sich nur noch „mit Bezug auf eine Sonderfunktion begründen, die das System für die Gesellschaft im Ganzen erfüllt.“ (ebd., 440) Gleichzeitig bedient es auch Leistungsbeziehungen zu anderen Funktionssystemen. „Reflexion muss [deshalb] zwischen Funktion und Leistung vermitteln.“ (ebd.) Im Ergebnis stoßen wir hier ein weiteres Mal auf die These von der unvollständigen Modernisierung der Rechtstheorie, die einen generellen Bedarf an „Führung durch Gesellschaftstheorie“ erkennbar werden lässt (ebd., 442). Die Rechtstheorie bleibt im Ergebnis auf Selbstreferenz „zurückgeworfen“ (ebd.). Gewinnbringender wäre stattdessen eine Reflexionstheorie, die mit Selbstreferenz umgehen kann. (443 ff.) Dieses Desiderat resultiert ein weiteres Mal, wie nun ausreichend geklärt ist, aus der Diagnose mangelnder Rezeption.

4.2.5 „… nicht das letzte Wort gesprochen“ – Offenes Ende und programmatische Ambivalenz

Wir haben an den bisher diskutierten Texten einerseits gesehen, wie das Modell der Rezeption die verstreuten reflexionstheoretischen Überlegungen prägt. Es mündet in die nunmehr hinlänglich rekonstruierte Diagnose eines Defizits bezüglich der Integration soziologischer Erkenntnisse in die Rechtstheorie. Andererseits sind wir, wenngleich an versteckten Stellen, auf eine gewisse Ambivalenz in der reflexionstheoretischen Positionsbestimmung gestoßen. Wiederholt fanden sich Hinweise auf eine weitergehende, unserem Konzept der Responsivität nahe kommende Form interdisziplinärer Kooperation, welche allerdings nicht weiter verfolgt wurden. Dieser Abbruch reflexionstheoretischer Weiterentwicklungen geschah, wie wir besonders deutlich in „Kontingenz und Recht“ gesehen haben, mehr oder weniger explizit, meist unter Hinweis auf aktuell dringlichere Aufgaben.

Aus den 1980er Jahren ist in diesem Zusammenhang auch „Die soziologische Beobachtung der Theorie und der Praxis des Rechts“ zu erwähnen, ein Text, der in gewisser Weise das Schicksal von „Kontingenz und Recht“ teilte, da er zunächst an sehr abgelegener Stelle auf Spanisch veröffentlicht, 1988 dann in englischer Übersetzung im wenig bekannten European Yearbook in the Sociology of Law und erst Jahrzehnte später 2019 in der Zeitschrift „Soziale Systeme“ einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde (Luhmann 1985/2019, zitiert nach der Ausgabe 2019). Luhmann widmete sich darin der Frage, wie eine soziologische Theorie der Rechtstheorie aussehen könnte und welche Möglichkeiten eine systemtheoretische Beobachtung dabei für die Behandlung rechtstheoretischer und rechtssoziologischer Fragen eröffnen könnte. Die zentrale Rolle der Soziologie, so Luhmann, besteht darin, das Rechtssystem auf dessen Paradoxie hin zu beobachten und zu beschreiben (Luhmann 1985/2019, 161). Mit den theoriesprachlichen Mitteln der autopoietischen Systemtheorie ist sie in der Lage, alte Probleme der Rechtstheorie wie etwa der Normgeltung oder des lernenden Rechts neu zu formulieren und damit neue Interpretationen beispielsweise für den Zusammenhang von Entscheiden und Argumentieren anzubieten (ebd., 164 ff.) oder die Problematik folgenorientierten Entscheidens präzise zu fassen (ebd., 166 ff.). Hier finden sich, ebenso wie bei der Derogationstheorie oder der Gewalttheorie, mit denen die Rechtsreflexion ihre Paradoxie bearbeitet (ebd., 170 f.), rechtstheoretisch relevante Themen, zu denen die Soziologie neue Hypothesen (ebd., 168, 171) beisteuern kann. Bei aller Nähe zwischen systemtheoretischer Rechtssoziologie und Rechtstheorie fällt jedoch auch in diesem Text ein weiteres Mal die geradezu kultivierte Distanz der soziologischen Beobachtung auf, die größten Wert darauf legt, eben nur dies – externe Beobachtung – zu sein und nicht mehr. Vor dem Hintergrund des Rezeptions-Modells der Interdisziplinarität wird auch hier die Ambivalenz rechtssoziologischer Reflexion erkennbar und „wie wenig sie für das Rechtssystem bedeutet“ (ebd., 171 f.). Das gilt bereits für die Reflexionstheorie des Rechts selbst, die „für die alltägliche Wiedergeburt des Rechts nur geringe Bedeutung“ (ebd., 172) hat. Es gilt umso mehr für die Theorien, die die Soziologie im Vollzug ihrer eigenen Autopoiesis produziert und zur Beobachtung des Rechtssystems verwendet. Offensichtlich treffen wir erneut auf die bereits hinlänglich bekannte reflexionstheoretische Argumentation. Ein weiteres Mal wird diese durch eine mehrdeutige, offen gehaltene Abschlussbemerkung relativiert: Die kategoriale Trennung von Recht und soziologischer Wissenschaft „einmal vorausgesetzt“, so Luhmann, „kann man gleichwohl einer engeren Kooperation von Rechtssoziologie und Rechtstheorie gute Prognosen stellen. Beide Seiten stehen derzeit, was Theorie betrifft und was die allgemeine interdisziplinäre Diskussionslage angeht, vor einem erheblichen Nachholbedarf.“ (ebd.) Mit der Theorie selbstreferentieller Systeme liege dazu ein Diskussionsangebot vor, heißt es abschließend. Auch in diesem Text, der im Übrigen lange kaum zugänglich war, mündet also das Nachdenken über Interdisziplinarität in ein Versprechen, welches jedoch nicht weiter ausgearbeitet und mit Inhalten gefüllt wird.

Neben dem Aufsatz von 1985 formuliert ein solches Versprechen der 1988 entstandene, aber erst 1999 erschienene Artikel „Recht als soziales System“ in ungewohnt deutlicher Form (Luhmann 1999). Dort heißt es an zentraler Stelle: „Die soziologische Beschreibung beschreibt die Selbstbeschreibung des [sc. Rechts-] Systems in einer Weise, die nicht in diese Selbstbeschreibung eingehen könnte (obwohl in dieser Frage hier nicht das letzte Wort gesprochen werden soll)“ (ebd., 9, Hervorh. von mir, A.B.) Auffällig ist der explizite Vorbehalt, der reflexionstheoretische Möglichkeiten anspricht, die für unsere Fragestellung von großer Bedeutung sind, diese aber nicht weiter ausführt, sondern ausdrücklich im Modus des wohl Denkbaren, aber nicht Ausgesprochenen belässt.

Die strenge Abweisung responsiver Modelle seit den 1970er Jahren erfährt also, wie sich in den eben genannten Aufsätzen andeutete, etwa ab den 1980er Jahren eine subtile Modifikation. Es wird, mit anderen Worten, nun erstmalig und ganz ausdrücklich eine alternative Modellierung von Interdisziplinarität für denkbar gehalten. Die Frage der Möglichkeit einer rechtlich, normativ, insofern also praktisch relevanten soziologischen Theorie des Rechts wird nicht mehr a limine abgelehnt. Das Rezeptions-Modell der Interdisziplinarität wird mit einem Vorbehalt ausgestattet. Darin, dass eine solche Alternative überhaupt für diskutabel gehalten wird, manifestiert sich erstmals in deutlicher Weise eine Ambivalenz der systemtheoretischen Reflexionstheorie innerhalb der Rechtssoziologie. Wir werden auf den zeitlichen Aspekt dieser zaghaften Umorientierung noch zu sprechen kommen. Denn sie erfolgt erst fünfzehn Jahre nach den oben diskutierten fundamentalen Festlegungen. Sie kommt damit, wie zu zeigen sein wird, für die Entwicklung der Rechtssoziologie zu spät und gleichsam auf zu leisen Sohlen. Zuvor aber gilt es, die bislang lediglich skizzierte reflexionstheoretische Ambivalenz an einem weiteren Hauptwerk zu verdeutlichen.

4.2.6 Gegenstandstheoretischer Abschluss: Das Recht der Gesellschaft

Mit „Das Recht der Gesellschaft“ (Luhmann 1993) liegt der letzte veröffentlichte große Band zur Rechtssoziologie vor. Das Werk weist gleich in der Einleitung einen grundlegenden Bezug zur Wissenschaftssoziologie und damit zu reflexionstheoretischen Fragestellungen auf. Diese spannt sich in einem großen Bogen über den ganzen Text, wird einleitend entfaltet und kurz vor Schluss wieder aufgegriffen, allerdings mit offenem Ausgang und ambivalenter Positionierung. Mehrere verstreute Stellen bieten dabei Anhaltspunkte für die Entwicklung eines responsiven Modells der Interdisziplinarität. Insgesamt verharrt aber die Argumentation in der schon bekannten zwiespältigen Haltung. Ihr Anregungspotenzial bleibt insofern im Werk selbst ungenutzt, ebnet jedoch späteren rechtssoziologischen Konzepten den Weg. Wir vergegenwärtigen uns zunächst kurz die wesentlichen rechtssoziologischen Konzepte, bevor wir die reflexionstheoretischen Anhaltspunkte genauer untersuchen.

Das Recht wird als Kommunikationszusammenhang eingeführt, der eine Zuordnung der Bezeichnungen „Recht“ und „Unrecht“ vollzieht (Luhmann 1993, 66 ff.) und im Vollzug dieser Unterscheidung keine Präferenz für eine der beiden Seiten des binären Schematismus voraussetzt, auch wenn in der externen Beobachtung des Rechts diese Präferenz eine Rolle spielt. Damit verknüpft ist die Trennung von Recht einerseits sowie Ethik und Moral andererseits. Die Einheit des Rechts und seine Abgrenzung vor allem gegenüber der Politik wird durch das Symbol der Rechtsgeltung erzeugt (ebd., 98 ff.). Daneben steht das Gleichheitsprinzip zur Verfügung, um operative Schließung zu vollziehen (ebd., 110 ff.). Die operative Geschlossenheit des Rechts beruht auf zwei strukturellen Voraussetzungen, nämlich der Spezifikation von Rechtserwartungen sowie der Aussicht auf Durchsetzung (ebd., 118 ff.).

Die Funktion des Rechts wird, anders als beispielsweise Habermas in „Faktizität und Geltung“ (Habermas 1992) annimmt, nicht in der gesellschaftlichen Integration, sondern in einer spezifischen Form der Zeitbindung, nämlich der „Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung“ (Luhmann 1993, 131) gesehen. Anders als vielfach angenommen, kann das Recht nicht nur soziale Konflikte zu lösen helfen; es verursacht sie selbst auch (ebd., 139). Es steht Luhmann zufolge seinen „Benutzern“ als in sich wertfreies Unterscheidungsinstrument unabhängig von deren Motivlage zur Verfügung (ebd., 149) und kann nur deshalb, weil es seine Funktion in dieser Weise autoregulativ erfüllt, die Leistungen der Konfliktlösung und Verhaltenssteuerung überhaupt erbringen (ebd., 157 ff.).

Die evolutionäre Ausbildung von rechtsförmigen Verfahren sowie die Ausdifferenzierung besonderer Berufsrollen stellen strukturbildende Variationen dar, die in den Kommunikationen der juristischen Fallpraxis selegiert werden (ebd., 263 ff.). Zu ihnen tritt eine Rechtsdogmatik, die als stabilisierendes Element die Evolution des Rechts befördert. Die Rechtsevolution bleibt dabei auf die gleichzeitige Evolution des politischen Systems angewiesen, „das mit einer Art primärer Enteignung der Gesellschaft die Disposition über das Machtmittel physischer Gewalt entzieht und die eigene Macht auf dieser Grundlage konsolidiert“ (ebd., 281). Daraus entsteht das faszinierende Paradox des gewaltsamen Ursprungs des Rechts, auf das Jacques Derrida im Anschluss an Walter Benjamin (Derrida 1991) hingewiesen hat.

Neben Verfahren und Berufsrollen sind insbesondere Gerichte als Organisationen des Rechts am Vollzug von dessen Autopoiese beteiligt. In der Produktion von Rechtsentscheidungen schaffen sie selbst Recht. Der darin liegende Verweis auf die Basisparadoxie der vom System benutzten Unterscheidung wird durch systeminterne Zuständigkeitsverteilung auf Rechtsetzung und Rechtsanwendung entschärft (Luhmann 1993, 301). Aus der Perspektive der Reflexionstheorie ist die Beziehung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung anders als in der Selbstbeschreibung des Systems „zirkulär als wechselseitige Einschränkung der Entscheidungsspielräume“ aufzufassen (ebd., 305). Das an die Gerichte adressierte Verbot der Justizverweigerung resultiert aus der universellen Zuständigkeit des Rechts für seine Funktion und aus seiner Selbstbeschreibung als „entscheidungsfähig“ (ebd., 313). Dieser Entscheidungszwang ist nur für das Zentrum des Systems – die Gerichte – unausweichlich, während es in der Peripherie „rechtsfreie Räume“ im Sinne disponibler Verfügung über Recht geben kann (ebd., 320–324): Räume, die erst die Möglichkeit für die Entwicklung evolutionär außerordentlich folgenreicher privater (vertraglicher) Rechtsgestaltung eröffnen. Diese autonome Verfügung über den Rechtscode wird möglich dank der Entwicklung von Organisationen, Professionen und Verfahren des Rechts (ebd., 328–333).

Juristische Argumentation stellt eine systemeigene Beobachtung zweiter Ordnung dar, mit der die Frage beantwortet wird, wie Texte in Kommunikationen zu handhaben sind (ebd., 340). Dabei liegt nach Luhmanns Auffassung die Leistung der Argumentation nicht, wie Klaus Günter (1988) annimmt, in der Angemessenheitsrelation von Gründen. Vielmehr stelle sie eine „Selbstbeobachtung des Rechtssystems“ dar, „die in ihrem rekursiv-autopoietischen Kontext auf vergangene bzw. antezipierte Meinungsverschiedenheiten über die Zuordnung der Codewerte Recht bzw. Unrecht reagiert“ (Luhmann 1993, 351). Damit erzeugt sie Redundanz und Konsistenz im System (adequate complexity) und bringt diese in eine Beziehung zur systeminternen Varietät (requisite variety), um dadurch Umweltanpassungen zu ermöglichen (ebd., 361). Sowohl Begriffs- als auch Interessenjurisprudenz würden an einer befriedigenden Auffassung juristischer Argumentation scheitern, im ersten Falle wegen einer Überforderung der quasi „internen“ Anforderungen an juristische Begriffe, im letzteren wegen des soeben skizierten „externen“ Scheiterns an der Differenz des Rechts zu seiner sozialen Umwelt. Erst aus der systemtheoretischen Beobachtung, so Luhmann (ebd., 393–400), ergibt sich ein angemessenes Verständnis von Fremd- und Selbstreferenz des Rechts.

Selbst- und Fremdreferenz berühren die problematische Abgrenzung des Rechts zur Politik. In dieser Beziehung bereitet das Konzept der operativen Schließung des Rechts, wie Luhmann einräumt, gewisse Schwierigkeiten (ebd., 407). Jedenfalls kulminieren die „großen Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts in einem „Zusammenschluss von Recht und Politik“ (ebd., 411), dessen Motiv in der oben bereits angesprochenen, grundsätzlich paradoxieverdächtigen Verflechtung von Recht und Gewalt zu suchen sein dürfte, die in der umstrittenen Figur des Widerstandsrechts rechtstheoretischen Ausdruck gefunden hat (ebd.). Gleichwohl, so Luhmann, sind die Vorstellungen eines einheitlichen „rechtlich-politischen“ Systems niemals so weit getrieben worden, dass man Recht ausschließlich als „politisches Trägheitsmoment“ und die rechtlichen Schranken politischen Handelns in „ausschließlich politischen Gesichtspunkten“ gesehen habe (ebd., 417). Daher plädiert er dafür, beide Bereiche als operativ geschlossene Systeme zu konzipieren, zwischen denen allerdings kausale Beziehungen denkbar sind (ebd., 421).

Auf dieser Grundlage können die Beziehungen zwischen den Funktionssystemen, aber auch diejenigen zu Organisationen und psychischen Systemen, mit der Figur struktureller Kopplung beschrieben werden, also mit dem wechselseitigen Zur-Verfügung-Stellen strukturierter Komplexität (ebd., 440 ff.). Für das Recht sind dabei vor allem die Wirtschaft – mit den Formen Eigentum und Vertrag – und die Politik – mit den Kopplungsmechanismen Rechtsstaat und Verfassung – sowie psychische Systeme – mit der Form der subjektiven Rechte – von Bedeutung.

4.2.7 Sieben Anhaltspunkte für Responsivität

Vor dem Hintergrund dieser sich in den Kontext des Gesamtwerkes einfügenden gegenstandstheoretischen Konzeption interessieren in unserem Zusammenhang einige implizite und nur bei genauer Betrachtung zu entdeckende Hinweise auf reflexionstheoretische Möglichkeiten, die über das bis dahin entwickelte Modell interdisziplinärer Beziehungen zwischen Soziologie und Recht hinausweisen. Sieben derartige Anhaltspunkte lassen sich identifizieren.

4.2.7.1 Erster Anhaltspunkt: Wissenschaft als Adressatin

Die Einleitung zu „Das Recht der Gesellschaft“ verweist auf die Implikationen eines imaginierten interdisziplinären Dialogs zwischen Soziologie und Jurisprudenz. Erstere als empirische Wissenschaft und letztere als normative Wissenschaft begegnen sich zunächst sprachlos. Sie teilen jedoch ein gemeinsames Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung ihres Gegenstandes. Diese Frage lässt sich heute, wie Luhmann argumentiert, sinnvollerweise nur noch als Suche nach den Grenzen des Rechts formulieren (ebd., 15). Wenn und soweit sich beide Seiten auf die Feststellung einigen konnten, dass der Gegenstand selbst – also das Recht selbst – seine Grenzen definiert, bietet die Theorie sozialer Systeme einen konzeptionellen Rahmen für den Dialog, weil sie darauf angelegt ist, Innen- und Außenperspektiven von sich selbst beschreibenden Systemen zu theoretisieren und damit eine sachangemessene Perspektive zu ermöglichen (ebd., 17). Die Errungenschaft dieser Perspektive ist, wie Luhmann argumentiert, in der Verknüpfung von Rechts- und Gesellschaftstheorie zu sehen, also in einer gesellschaftstheoretischen Reflexion des Rechts (ebd., 24). Diese Reflexion ist kategorisch nicht-normativ (ebd., 31). Sie setzt bereits voraus, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Normen und Tatsachen um eine Binnendifferenzierung des Rechts handelt, die als solche erfahrungswissenschaftlich beobachtet, in ihren Funktionen analysiert und in ihren Formen erklärt, aber von der soziologischen Reflexionstheorie nicht selbst angewendet werden kann. Dabei kommt es im Sinne von Sachangemessenheit darauf an, das Recht so zu beschreiben, „wie die Juristen es sehen“ (ebd., 18), also, wie es an anderer Stelle später einmal heißt, „aus der Insassenperspektive“ (Guibentif und Luhmann 2000). Das führt im Rahmen der Systemtheorie keineswegs zu einer „praxisleitenden Theorie“ (Luhmann 1993, 24). Die Rechtssoziologie konzentriert sich vielmehr auf den Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Recht sowie darauf, die gesellschaftliche Genese von Recht und die normativ-rechtliche Strukturierung von Gesellschaft zu beschreiben. Insofern stoßen wir also auf die altbekannte Position einer sich gegenüber der Rechtswissenschaft autonomisierenden Soziologie (ebd., 21) – trotz des Beharrens auf der Relevanz der juristischen Binnenperspektive.

Adressatin der Rechtssoziologie ist vor diesem Hintergrund allein die Wissenschaft „und nicht das Rechtssystem“ (ebd., 31), so Luhmann. Das erscheint auf den ersten Blick plausibel unter der Prämisse, dass die Soziologie als Erfahrungswissenschaft nicht Teil der Rechtswissenschaft ist. Diese erfüllt in Gestalt normativer Rechtstheorie und Dogmatik eine interne Reflexionsaufgabe für das Recht. Als Wissenschaft allerdings bleibt sie für die Soziologie adressierbar. So eröffnet die Einsicht, dass die Rechtssoziologie sich an die Wissenschaft wendet, eben gerade auch die Möglichkeit einer Kommunikation mit der Rechtstheorie, welche dann aber als wissenschaftliche Umwelt der Soziologie intern mitzusprechen in der Lage ist. Wir wenden mit dieser Interpretation Kaldeweys Konzept des wissenschaftlichen Praxisdiskurses auf die Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Umwelt der Soziologie an. Die Möglichkeit der internen Mitsprache resultiert ganz im Sinne von Kaldeweys Diskurs-Begriff auf dem Umstand, dass beiderseits der System-Umwelt-Grenze der Soziologie wissenschaftliche Diskurse operieren, die insgesamt zum kommunikativen Haushalt des Wissenschaftssystems gehören. Die Zurückweisung einzelner Diskurse als nicht-wissenschaftlich könnte deshalb an dieser Stelle nicht mit der Unterscheidung von Normen und Fakten operieren, ein Argument, das Luhmann im Übrigen selbst gegenüber der klassischen Rechtstheorie in Anschlag bringt. Das deckt sich auch mit unserem, im zweiten Kapitel entwickelten Begriff der wissenschaftlichen Disziplin. Da jede Disziplin die Reproduktion und Sicherung der System-Umwelt-Grenze der Wissenschaft auf einem je spezifischen Feld leistet, beobachtet sie wegen dieser Spezifität in ihrer disziplinären Umwelt weitere wissenschaftliche Kommunikationen.

Man muss aus dieser Beobachtung keine weitreichenden Schlüsse auf die Wahrheitsanalogie von normativen Geltungsansprüchen ziehen, wie dies bisweilen versucht wurde (Habermas 1999, 279). Vielmehr genügt es zu sehen, dass normative Gesichtspunkte nach dem von Kaldewey vorgeschlagenen Muster wissenschaftsinterne Praxis-Diskurse prägen, also Reflexion und Limitation wissenschaftlicher Kommunikation mit dem Funktionsschwerpunkt auf (fremdreferentiellen) Leistungsaspekten des Systems anbieten (Kaldewey 2013, 148). Sie erschaffen die Einheit des Systems und limitieren dessen Operationalität mit Hilfe einer Semantik der Praxis, die neben vielen anderen Möglichkeiten auch „die Form von normativen Eingriffen“ annehmen kann (ebd., 149). Dies ist nicht nur denkbar, was Forschungsagenden und Fragestellungen betrifft (ebd.), sondern auch mit Blick auf die normative Bedeutung von Forschungsergebnissen. Praxis als Anlehnungskontext, als „beobachtungsleitende Perspektive“ des Wissenschaftssystems (Fuchs 2000, 54; Kaldewey 2013, 167) ermöglicht eine generalisierte Fremdreferenz als Form, in welcher die Wissenschaft ihre Umwelt beschreibt (Kaldewey 2013, 172). Normative Präferenzen, darauf weist Kaldewey, wie gesagt, beiläufig hin, stellen eine von vielen solchen Formen dar. Dass sie selbst in Gestalt wissenschaftlicher Kommunikation auftreten, ermöglicht ihren Einsatz als disziplinspezifische generalisierte Fremdreferenz, als beobachtungsleitende Perspektive für die Disziplin der (Rechts-) Soziologie. In dieser Weise gelesen, öffnet die Einleitung zu „Das Recht der Gesellschaft“ also Begründungsmöglichkeiten für eine responsive Reflexionstheorie. Im weiteren Gang befasst sich das Werk, wie oben schon kurz skizziert wurde, mit gegenstandstheoretischen Fragen und kommt erst gegen Ende wieder auf reflexionstheoretische Probleme zu sprechen.

4.2.7.2 Zweiter Anhaltspunkt: Doppelte Reflexion

Mit dem elften Kapitel „Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems“ wendet sich Luhmann auf sehr instruktive Weise wieder der Reflexionstheorie zu. Diese ergibt sich unmittelbar aus den oben dargestellten Überlegungen, denn die soziologische Konzeption des Rechts ist, wie Luhmann sagt, als gegenstandstheoretische Beschreibung nur vollständig, soweit sie das Recht als ein sich selbst beschreibendes System fasst (Luhmann 1993, 497). Mit den damit angesprochenen zwei Reflexionsprozessen ist zunächst einmal ein konzeptioneller Ausgangspunkt gewählt, der Responsivität als Kooperationsmodell erahnbar werden lässt. Sie drängt sich als Problem auf, sobald man über die Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Beschreibung des sich selbst beschreibenden Rechts spricht. Luhmanns Argumentation konzentriert sich allerdings ganz im Stile des bekannten Rezeptions-Modells auf die juristische Reflexion (System-Umwelt-Beschreibung), die seit Beginn der Neuzeit auf Naturrecht als Rechtsquelle hinauslief (ebd., 507). Nach dessen Verabschiedung hat sie heute die Gestalt einer differenzierten Quellenlehre, die so lange funktionieren mag, wie man „nicht fragt, was vor der Quelle liegt“ (ebd., 524, Hervorh. i. O.). Sie versucht, das System so zu beschreiben, dass die Suche nach richtigen (rechtlich angemessenen) Lösungen sinnvoll bleibt, und zwar auch ohne die Garantie einer systemimmanenten „letzten“ richtigen Lösung. Sie sucht mit anderen Worten den „archimedischen Punkt außerhalb des Systems“ (ebd., 505). Das kann man als Kritik der juridischen Rechtsquellen-Lehre akzeptieren. Man kann dann allerdings auch fragen, was dieser Gedanke in Anwendung auf die System-Umwelt-Beschreibung der (Rechts-) Soziologie zu bedeuten hätte. In welcher Weise könnte diese sich darauf einstellen, dass sie mit ihren Reflexionen in denjenigen ihres Gegenstandes vorkommt? Eine solche Konsequenz der beschriebenen doppelten Reflexion ergäbe sich unmittelbar aus der Perspektive einer responsiven Rechtssoziologie.

4.2.7.3 Dritter Anhaltspunkt: Rechtswissenschaft als generalisierte Fremdreferenz de Soziologie

Bei der Suche nach einem Fixpunkt für Geltungsbegründungen, so Luhmann, bedient die Rechtstheorie sich des „Rückgriffs auf ein anderes Funktionssystem“ (ebd., 505). Neben Religion, Politik und Wirtschaft ist vor allem an die Wissenschaft zu denken (ebd.). Wir beobachten hier die Art von Umweltbeobachtung, die Kaldewey als generalisierte Fremdreferenz bezeichnet. In der Rechtstheorie greift die Selbstbeschreibung des Rechtssystems auf „interdisziplinäre etwa linguistische, soziologische, hermeneutischer anthropologische“ Befunde zu (ebd., 504). Dafür stehen die genannten wissenschaftlichen Theorien als generalisierte Fremdreferenz zur Verfügung.

In der klassischen, ontologisch gebauten Rechtsquellenlehre stößt die Figur der Begründung der Einheit des Systems durch Fremdreferenz auf das Problem der Vielfalt solcher Bezugsmöglichkeiten. Aus systemtheoretischer Sicht erkennt man, dass die Lösung prinzipiell nicht nach außen verlegt, sondern nur durch die Unterscheidung von Operation und Beobachtung gehandhabt werden kann. Die Einheit des Systems ist dann „Resultat des im Vollzug unbeobachtbaren Operierens“ (ebd., 506). Was das konkret für die Rechtstheorie hieße, oder für eine Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, wird nicht ausgeführt.

Spiegelbildlich ergäben sich daraus jedoch gegebenenfalls Optionen für die Reflexionstheorie der Soziologie. Kaldewey bezieht in seiner Wissenschaftssoziologie den Begriff der generalisierten Fremdreferenz auf das Wissenschaftssystem. Dessen generalisierter Fremdbezug auf „Praxis“ funktioniert deshalb, weil er generalisiert ist und eben deshalb keine zusätzliche Vielfalt mehr eröffnet. Praxis ist für die Wissenschaft der maximal weite Fremdbezug, der deshalb in variablen Diskursen operieren kann. Vor diesem Hintergrund können wir angesichts der oben skizzierten generalisierten Fremdreferenzen im Recht die Frage aufwerfen, ob Externalisierung von Geltung im Recht in vergleichbarer Weise fungiert wie in der Wissenschaft. In der alten Rechtsquellenlehre wurde Fremdreferenz über Kontingenzformeln wie „Gott“, „Natur“, „Vernunft“ oder „Gesetzgeber“ erzeugt. Man kann für das positive Recht für den letztgenannten Fall sogar die Vermutung wagen, es liege am vergleichsweise schwächeren Generalisierungsgrad der Figur des Gesetzgebers, dass dieser Diskurs vielleicht nicht in gleicher Weise systemuniversal funktioniert wie Praxisdiskurse in der Wissenschaft. Akzeptanz-Probleme im Recht angesichts perzipierter schwacher Gesetzgebungstechnik etwa lassen dies denkbar erscheinen.

Die besondere Fruchtbarkeit der Figur generalisierter Fremdreferenz erweist sich ausgehend von Luhmanns Überlegungen an der zitierten Stelle aber mit Blick auf unsere Frage nach den Chancen einer responsiven Theorieanlage. Denn es ist leicht ersichtlich, dass diese Form der Fremdreferenz auf beiden Seiten – im Recht und in der Wissenschaft – vorkommt. Beide sind füreinander Umwelt, auf welche intern jeweils Fremdreferenz Bezug nimmt – und dies in beiden Richtungen. Es scheint deshalb nicht völlig unangebracht, von einer Art responsivem Zirkel zu sprechen. Mit generalisierter Fremdreferenz auf Praxis verweist die Soziologie auf die Normativität der Rechtstheorie als Umwelt. Mit generalisierter Fremdreferenz auf die Faktizität der Geltung („Rechtsquelle“) verweist die Rechtstheorie auf die Soziologie als Umwelt. Beide Fremdreferenzen sind damit responsiv miteinander verknüpft. Responsivität bezeichnet, wie wir verschiedentlich hervorgehoben haben, eine ganz bestimmte, symmetrische Anlage von Interdisziplinarität. Der Begriff setzt einen Beobachter voraus, der Operationen in seiner Umwelt, also im Gegenstandsbereich als Beobachtung seines eigenen Operierens auffasst und von da aus die Strukturen und Mechanismen zu erfassen versucht, über die solche externen Problemlagen und Ansprüche intern relevant werden und die eigene Strukturbildung beeinflussen können (Kaldewey 2015, 229). Eben diese responsive Kopplung beobachten wir in Gestalt der beiden komplementär sich aufeinander beziehenden generalisierten Fremdreferenzen in Rechtstheorie und Soziologie.

4.2.7.4 Vierter Anhaltspunkt: „ökologische Abhängigkeiten“

Ausgehend von Überlegungen zu Positivität, Geltung und Rechtsquellen wird ein weiterer Anhaltspunkt für ein responsive Theorieanlage erkennbar. Die Positivität des Rechts, so Luhmann, ist in den semantischen Strukturen seiner Selbstbeschreibung schon sehr früh im Kern angelegt. Sie wird allerdings „zum Topos der Selbstdarstellung des Rechts in der modernen Gesellschaft“ (Luhmann 1993, 516 ff.). Deshalb schlägt für alle Versuche der Geltungsbegründung der Rekurs auf Natur oder Vernunft heute fehl. Die moderne Rechtstheorie verfügt heute im Wesentlichen über zwei Beschreibungsmodelle, die einigermaßen unverbunden nebeneinanderstehen, ohne dass Einigkeit in diesem „Positivismusstreit“ in der Rechtstheorie hätte erzielt werden können. Man beschreibt jeweils nur die Defizite der anderen Seite (ebd., 519). Gemeint sind positivistische und rest-naturrechtliche Begründungen, deren markante Kombination bekanntlich die Radbruchsche Formel darstellt, die im Grunde nicht mehr als eine Verlegenheitslösung angesichts unterstellter Probleme positivistischer Begründungstheorien ist. Der Positivismus versucht, das Problem der Letztbegründung mit dem Konzept der „Rechtsquelle“ zu lösen und stößt dabei auf die Schwierigkeit, dass die Metapher der Quelle nicht auf Letztbegründung, sondern auf Setzung verweist. (ebd., 524). Man kann das durch Aufgabe der Bindung an politische Macht zu Gunsten einer Mehrzahl von Rechtsquellen zu lösen versuchen (etwa Richterrecht oder sogar Dogmatik). Alle diese Lösungen führen aber auf den Punkt der Limitation, des Nicht-weiter-Fragen-Könnens, des Verschweigens des Umstands, dass das Recht selbst die Rechtsquelle ist. (ebd., 526) „Die Metapher der Rechtsquelle hat mithin, was Geltung betrifft, die Funktion einer Kontingenzformel – so wie vernunftrechtlich gesehen der Begriff der materiellen Gerechtigkeit“. (ebd.) Wie schon gesagt, bilden sich als Reaktion darauf in der zeitgenössischen Reflexionstheorie des Rechts zwei Varianten, eine vernunftrechtliche und eine positivistische (ebd., 529). Erstere verweist auf Prinzipien, bietet aber keinen Geltungsgrund für die Entscheidung zwischen konfligierenden Prinzipien. Letztere verweist auf die Rechtsquelle der Gesetzgebung, verfügt aber nicht über eine Letztrechtfertigung für als geltend bezeichnetes Recht. Vernunft ist deshalb, so Luhmann heute das Symbol für die Selbstreferentialität des Systems, Positivität das Symbol für die Identität des Gegenstandes: geltendes Recht (ebd., 532).

Wenn also festgestellt wird, dass sowohl Vernunftrecht als auch positives Recht die faktische Unmöglichkeit externer Geltungsbegründungen verdecken, enthält die Darstellung weitgehend Bekanntes. Wesentlich fruchtbarer ist im Vergleich dazu dann die Bemerkung, dass die genannten Metaphern als Kontingenzformeln zugleich die Notwendigkeit zahlloser direkter und indirekter struktureller Kopplungen verbergen, auf die das System angewiesen ist, „die ihrerseits [aber] nicht als Grund für die Geltung des Rechts taugen.“ (ebd., 533) – Angewiesenheit auf externe Komplexität also, die gleichzeitig intern nicht unmittelbar in die Sprache des Rechts übersetzt werden kann. Diese Formeln, so drückt Luhmann es aus, verdecken die „ökologischen Abhängigkeiten des Rechtssystems“. (ebd.) Wir erkennen hier aus der Perspektive der responsiven Reflexionstheorie ein weiteres Mal die Form generalisierter Fremdreferenz. Wie „Praxis“ für die Wissenschaft erzeugen „Vernunft“ und „Positivität“ für das Recht eine solche Möglichkeit generalisierten Verweisens auf die Umwelt. Und beide Verweisungsmöglichkeiten (Anlehnungskontexte, vgl. Kap. 1) ), „Praxis“ und „Positivität“, bezeichnen aneinander gekoppelte, im Sinne eines responsiven Zirkels wechselseitige ökologische Abhängigkeiten.

4.2.7.5 Fünfter Anhaltspunkt: erneuter Vorbehalt

Die Rechtstheorie, so Luhmann, kann „die Einheit des Systems im System nur von der Umwelt her sehen“ (ebd., 534), wofür aber weder die Formel der Vernunft noch diejenige der Positivität geeignet sind. Subjektive Rechte können das ebenfalls nicht leisten. Die Rechtstheorie muss deshalb mit „unvermeidbarer Diversität der Beobachtungsperspektiven“ innerhalb des Systems rechnen (ebd., 538 ff.). Die verschiedentlich bereits kritisierten Tendenzen zur Folgenorientierung im Recht lösen das Problem ebenfalls nicht. Deshalb spricht „[G]egenwärtig … wenig für die Erwartung, die soziologische Theorie im allgemeinen und die Gesellschaftstheorie im besondere könnten … Nennenswertes zur Selbstbeschreibung des Rechtssystems beitragen. Verglichen mit der Situation um 1900 ist es auf beiden Seiten eher zu einem Prozeß der Schrumpfung, zu einem Prozeß der Zurücknahme von Hoffnungen gekommen, die sich mit ‚grand theory‘ verbinden ließen. Die vorstehenden Überlegungen lassen das als verständlich erscheinen, zwingen aber nicht dazu, darin die letzte Antwort zu sehen.“ (ebd., 540, Hervorh. von mir, A.B.). Die rhetorische Figur ist uns mittlerweile vertraut. Auch hier stoßen wir auf das Verständnis der Soziologie als Außenbeobachtung, das in sich konsistent entfaltet, allerdings ein weiteres Mal mit einem Vorbehalt im abschließenden Nebensatz versehen wird. Die Überlegungen zur Autonomie der Soziologie als externer Beobachterin, welche die Umwelt mit ihren Begriffen nicht erreichen kann, sind nach Luhmanns eigenen Worten weder zwingend noch endgültig. Freilich bleibt unklar, worin die erwähnte „letzte Antwort“ bestehen könnte. Wieder wird die reflexionstheoretische Erörterung abgebrochen beziehungsweise ausdrücklich unerledigt liegen gelassen. Tonangebend ist dabei, wie auch an dieser Stelle wieder deutlich wird, die Perspektive interdisziplinärer Rezeption der Soziologie durch die Jurisprudenz.

4.2.7.6 Sechster Anhaltspunkt: Theorie als Form struktureller Kopplung zwischen Wissenschaft und Recht

Nicht anders verhält es sich wenig später, wenn ein weiteres Mal betont wird, dass die soziologische Beobachtung den Rechtscode ignoriert und an ihm vorbei operiert, weil sie eben Wissenschaft und nicht Recht ist. Sie bezieht sich, so Luhmann, auf „Statistik“, während der Rechtskundige am Einzelfall interessiert ist (ebd., 540 f.). „Während der Jurist, ermutigt durch die Selbstbeschreibung des Rechtssystems, darauf hinarbeitet, daß gleiche Fälle gleich entschieden werden und entsprechend für Unterschiede juristisch tragbare Gründe mobilisiert, stellt der Soziologe fest, daß, statistisch gesehen, nicht erklärbare Unterschiede auftreten, für die man dann eine soziologische Erklärung suchen muß“ (ebd., 541). Die klassische soziologische Beobachtung bleibt unzulänglich, solange sie den Umstand ignoriert, dass das Rechtssystem als autopoietisch geschlossenes, sich selbst beschreibendes System operiert. „Das Rechtssystem kann aus den soziologischen Analysen keinen Nutzen ziehen.“ (ebd., 542) Damit ist gleichsam ein komplementäres Defizit auf Seiten der (bisherigen) Rechtssoziologie angesprochen, die unvollständig bleibt und ihren Gegenstand nicht angemessen erfasst. Als denkbares Ziel einer soziologischen Rechtstheorie wird vor diesem Hintergrund interessanterweise eine Symmetrie zwischen den Perspektiven als Möglichkeit angedeutet: Die Kluft zwischen interner und externer Beschreibung, so heißt es nämlich, erscheine möglicherweise größer als sie tatsächlich sein müsste (ebd., 542). „Jedenfalls könnte eine komplexere soziologische Theorie, die die Differenz als Folge von Systemdifferenzierung reflektiert, Verständnis dafür erzeugen, warum dies so ist, und dabei zugleich von seiten der externen (soziologischen) Beschreibung Vermittlungskonzepte anbieten“ (ebd., Hervorh. von mir, A.B.) Eine komplexere soziologische Theorie also – wie könnte sie aussehen? Luhmann belässt es auch hier bei der Andeutung, andere Beschreibungen seien möglich und – vielleicht – angebracht (ebd., 543).

Die systemtheoretische Rechtssoziologie verfügt heute mit stärkerer Betonung des Gesichtspunktes der Responsivität über die Mittel, um die bei Luhmann offen gebliebenen reflexionstheoretischen Herausforderungen zu meistern. Sie kann Differenz als Folge von Systemdifferenzierung im reflexionstheoretischen System-Umwelt-Konzept aufgreifen. Generalisierte Fremdreferenz in den Semantiken der Wissenschaft und des Rechts lassen sich nun als Form von Praxis-Diskursen verstehen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Mit diesem Instrumentarium lässt sich heute leichter verstehen, was in „Das Recht der Gesellschaft“ so vielsagend angedeutet wird, nämlich die Möglichkeit, „Theorie als Form struktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme einzusetzen“ (ebd.). und den „Formmechanismus der strukturellen Kopplung … an dieser Kontaktstelle zu realisieren“ (544). Die Begrifflichkeiten der responsiven Rechtssoziologie, so können wir heute sagen, lassen diese Mechanismen struktureller Kopplung zum Vorschein treten.

4.2.7.7 Siebter Anhaltspunkt: Rechtsrisiken

Mit Blick auf die Gesellschaft und ihr Recht, so resümiert Luhmann im Schlusskapitel mit einem rückblickenden Verweis auf die Anfänge der Rechtssoziologie bei Eugen Ehrlich,  würde man heute gleichfalls von einer Differenz zwischen dem im Rechtssystem praktizierten und dem „lebenden Recht“ auszugehen haben (ebd., 556), wobei letzteres in den vielfältigen (sub-) kulturellen Milieus gegenwärtiger Gesellschaft zu finden sei. Obgleich auf temporale Stabilisierung von Erwartungen ausgerichtet, erweist sich das Recht gleichzeitig in der Lage, Normgeltung selbst zu temporalisieren, indem es seine stets mitlaufenden Realitätsunterstellungen an beobachtete Veränderungen seiner Umwelt anpasst (ebd., 557 ff.). Für das System kommt es dabei darauf an, „Rechtsformen zu finden, die unter dem Gesichtspunkt von Risiko und Gefahr mit der Autopoiesis des Rechtssystems, mit seiner spezifischen Funktion und mit der Eigenart seiner Codierung kompatibel sind“ (ebd., 562). Luhmann fasst vor diesem Hintergrund den systematischen Ertrag seiner gegenstandstheoretischen Überlegungen zusammen und deutet dabei – beiläufig und implizit – ein letztes Mal responsive interdisziplinäre Beziehungen an (ebd., 562 ff.), wie man an folgender Argumentation sieht:

Erstens kann das Recht auf der Grundlage der Theorie sozialer Systeme funktional vom Gesichtspunkt der Zeitbindung mit Blick auf die kontrafaktische Stabilisierung von Erwartungen beschrieben werden. Zweitens wird die Funktion von Rechtsgeltung als zirkulierendem Symbol im positivierten Recht verständlich. Drittens macht die Kritik der rechtlichen Folgenorientierung deutlich, dass es dem Recht selbst an „Risikobewusstsein“ fehlt (ebd., 563). Bei zu hohen Erwartungen übernimmt das Recht Risiken, „für deren Einschätzung es weder Methoden noch Verfahren zur Verfügung hat“ (ebd.) Es kann das mit solchen Entwicklungen verbundene Eigenrisiko in Normtexten nicht angemessen zum Ausdruck bringen und muss sie allenfalls durch Reflexionsleistungen externalisieren (ebd., 654).

An diesem Punkt setzen seit langem rechtssoziologische Forschungen an, die sich mit Folgenorientierung und damit einhergehenden Veränderungen in rechtlich-administrativen Verfahren auseinandersetzen. Unter dem Stichwort „Öffentlichkeitsbeteiligung“ waren dort zeitweilig Bestrebungen zu beobachten, konditionale Programmierung gleichsam durch extensive Erweiterungen des Teilnehmerkreises, durch Vollinklusion von „jedermann“ zu entschärfen. Das Recht übernimmt mit solchen Arrangements, wie sich zeigen lässt, Risiken der Technikregulierung, die sich allerdings im Gegensatz zu Luhmanns Vermutung gerade nicht weiter externalisieren ließen, sondern in Form fundamentaler Kommunikationsblockaden im Recht hartnäckige Schwierigkeiten hervorriefen (vgl. dazu ausführlich Bora 1999 sowie Band 2, Kap. 6, 8, 11–13). Gleichzeitig konnte gezeigt werden, dass die rechtssoziologische Theorie umgekehrt in der Rechtstheorie mitsprechen konnte, insbesondere im Wege rechtspolitischer Empfehlungen für eine problemadäquate („gesellschaftsadäquate“!) Gestaltung des Verfahrensrechts. Auf diesem Wege, so kann man mit gutem Grund behaupten, lassen sich gewinnbringende Ansatzpunkte für eine responsive Rechtssoziologie identifizieren. Eine solche interdisziplinäre Kooperation erweist sich dann in beiderlei Richtung als fruchtbar, in der Weiterentwicklung sowohl der soziologischen Theorie als auch rechtlicher Strategien und Begrifflichkeiten.

4.3 Fazit: Die soziologische Theorie macht Ernst mit dem Recht – und zieht sich zurück

Nach den schwierigen Anfängen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, den Autonomiebestrebungen auf allen Seiten, der anfänglichen Unmöglichkeit, daraus eine integrierte, symmetrische Reflexionstheorie zu entwerfen, ergaben sich also, wie wir gesehen haben, nach 1945 Chancen für eine Neuausrichtung in mindestens zweierlei Hinsicht.

Als erster hat Helmuth Schelsky das programmatische Anliegen aufgegriffen. Die theoriesprachlichen Mittel waren noch einigermaßen begrenzt, die anthropologische Orientierung der Soziologie bei gleichzeitiger Einübung des neuen, aus den USA übernommenen Modells statistischer Methoden stand einer Weiterentwicklung noch im Wege. Im Falle Schelskys kam sicherlich auch dessen Verwicklung in die Kulturkämpfe der späten 1960er Jahre erschwerend hinzu, die seinen Rückzug aus der akademischen Soziologie mit beförderten und die Wahrnehmung seiner rechtssoziologischen Arbeiten innerhalb des (rechts-) soziologischen Mainstreams gewiss erschwerten.

Niklas Luhmanns Leistung war es dann zweifellos, erstmals eine rechtssoziologische Theorie vorzulegen, welche diesen Namen verdient. Sie besteht als Theorie aus einem kohärenten und konsistenten Zusammenhang wissenschaftlich begründeter Aussagen und dient dazu, Ausschnitte der Realität und die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu erklären, beschreibende und erklärende Aussagen über diesen Teil der Realität, also erschöpfend mit Blick auf den Gegenstandsbereich – die Gesamtheit des Sozialen – zu formulieren. Soziologie erscheint in der soziologischen Systemtheorie als Wissenschaft des Sozialen, also nicht nur der Gesellschaft, sondern aller sozialen Phänomene. Darauf bezogen operiert sie mit den umfassenden Grundbegrifflichkeiten von System, Kommunikation, Sinn, Ereignis, Struktur und so weiter. Das Recht wird konsequent und stimmig als soziales Phänomen beschrieben, nämlich als kongruente Generalisierung normativen Erwartens. Die Theorie bietet eine umfassende Analyse aller relevanten Formen, deren Funktion und damit zusammenhängender Probleme. Hier sei nur an die im Zusammenhang mit der „Rechtssoziologie“ und den danach folgenden Bänden angesprochene Themenvielfalt erinnert. Die soziologische Normtheorie wird erstmals in dieser Klarheit und über Weber und Geiger weit hinausgehend formuliert. Luhmanns Analyse von Verfahren ist als Gegenstand der Soziologie weithin alleinstehend und in ihrer begrifflichen Präzision kaum erreicht. Schließlich sei der hier noch nicht angesprochene Aspekt der Organisation erwähnt, mit dem Gerichte, Verwaltungen und Verbände grundbegrifflich soziologisch aufgearbeitet und damit für Analysen zugänglich gemacht werden, die über klassische Justizsoziologie (Kaupen, Rasehorn, Lautmann) deutlich hinausgehen. Man kann angesichts dieser theoretischen Leistung ohne Übertreibung von einem Niveau rechtssoziologischer Begriffsbildung sprechen, das keine andere soziologische Theorie erreicht hat.

Angesichts dieser unbestreitbaren Stärken der Luhmannschen Systemtheorie fällt die aus der Theoriegeschichte heraus erklärbare Betonung der soziologischen Autonomie in der Reflexionstheorie und in dem daran anknüpfenden Konzept interdisziplinärer Kooperation zunächst nicht nachteilig auf. Zum Hindernis für eine produktive Form der Interdisziplinarität wird erst die damit verbundene einseitige Sichtweise, für die das Paradigma juristischer Rezeption soziologischer Erkenntnisse prägend ist und die deshalb keine Begrifflichkeit für responsive Beziehungen zwischen den beiden Disziplinen entwickelt hat. Reflexionstheoretisch dominiert dieses Paradigma der Reflexion die systemtheoretische Rechtssoziologie, die sich davon über ihre gesamte Entwicklung hinweg nicht abgrenzt, auch wenn sich, wie oben gezeigt wurde, im Werk verschiedene Möglichkeiten einer solchen Abkehr angeboten haben.

Als besonders herausgehobene und theoriegeschichtlich wohl entscheidende Phase im Luhmannschen Werk sticht die Zeit der frühen 1970er Jahre hervor, genauer das Jahr 1972. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich, wie wir gesehen haben, die Luhmannsche Rechtssoziologie vor allem als Gegenstandstheorie aus Fragen der Rechtsdogmatik heraus zu einer soziologischen Theorie mit ausgeprägter Eigengestalt entwickelt. Die Autonomisierung der Soziologie findet in diesem Abschnitt der systemtheoretischen Rechtssoziologie einen prägnanten Ausdruck. In der „Rechtssoziologie“ wird bereits der Umbau zur autopoietischen Systemtheorie angedeutet, aber noch nicht abschließend durchgeführt. Gleichzeitig finden sich in dieser Phase, wie wir ebenfalls gesehen haben, zahlreiche Hinweise auf den durch die Rechtssoziologie geschaffenen, aber selbst nicht gedeckten Bedarf an einer soziologisch informierten juristischen Rechtstheorie und -dogmatik. An dieser Stelle, so wurde oben argumentiert, liegt zugleich auch die Möglichkeit responsiver Theoriebildung, soweit nämlich die juristische Rechtstheorie ihre Fragen, Themen und Probleme in die Soziologie zurückspiegeln könnte.

Zwei folgenreiche Entscheidungen markieren diese Stelle der rechtssoziologischen Theorieentwicklung als entscheidenden Wendepunkt. Zum ersten verfasst Luhmann mit „Kontingenz und Recht“ ein Werk, in welchem er die fehlende Rechtstheorie zwar in Angriff nimmt, gleichzeitig aber in signifikanter Weise unterbestimmt lässt. Das Buch verweigert sich, wie oben gezeigt, an etlichen Stellen der weiterführenden Auseinandersetzung mit den reflexionstheoretischen Konsequenzen und zieht sich stattdessen auf die Geschlossenheit der soziologischen Außenbeobachtung sowie auf Rezeptions-Defizite der Jurisprudenz zurück. Es verschenkt, wenn man so will, das in der Theorie schlummernde und erst später (Kaldewey 2013) geborgene Potenzial einer responsiven Reflexionstheorie. Zum zweiten lässt Luhmann jenes Manuskript unveröffentlicht, welches doch trotz seiner Schwächen immerhin das angesprochene theoretische Potenzial sichtbar macht.

Luhmanns weitere rechtssoziologische Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre bleiben mit Überlegungen zur Reflexionstheorie jedenfalls an der Oberfläche weiterhin im Programmatischen stecken. Auf einige Beispiel haben wir oben verwiesen. Vergeblich sucht man nach dem besagten „letzten Wort“. Das gilt im Übrigen auch, wenn man „Die Wissenschaft der Gesellschaft“ (Luhmann 1990) als systematisch zentrale Quelle für Luhmanns Wissenschaftssoziologie zu Rate zieht, ohne dass wir diesen Aspekt hier weiter diskutieren können.

Erst in „Das Recht der Gesellschaft“ wird eine Möglichkeit komplexerer Modellierung von Interdisziplinarität wieder ein wenig deutlicher erkennbar. Die These vom „Resonanzgefälle“, welche bis heute die systemtheoretischen Schriften zur Interdisziplinarität prägt (Kieserling 2000), wird hier erstmalig andeutungsweise infrage gestellt, wenngleich die Alternative unklar bleibt und ins Reich des Möglichen verwiesen wird.

Damit stellt sich vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel geschilderten institutionellen Entwicklung des Feldes unausweichlich die Frage, weshalb in einer Blütephase an den Universitäten und gesteigerter politischer Erwartungen an (rechts-) soziologische Beratung der sich abzeichnende Weg einer symmetrischen Reflexionstheorie in den Jahren um 1972 nicht beschritten und stattdessen die Autonomisierung der Soziologie so deutlich in den Vordergrund gerückt wurde.

Über Luhmanns Beweggründe für diese theoretische Entwicklung kann man, wie schon gesagt, nur spekulieren. Man kann stattdessen aber auch nach den semantischen Verwerfungen in der Konstellation der unterschiedlichen Reflexionsdiskurse fragen, wie das im Folgenden vorgeschlagen wird. Dann ergibt sich nämlich eine Lesart, nach welcher der systemtheoretische Rückzug von einer responsiven Rechtssoziologie, wenn schon kein zwingender Zug war, so doch einen, wenn man so will, unaufwendigen, reflexionstheoretisch sparsamen Weg anbot. Dies wird im Detail zu belegen sein. Eine kausale Erklärung für das Scheitern der Rechtssoziologie in der deutschsprachigen Wissenschaft lässt sich daraus nicht ableiten. Allerdings kann man begründen, dass entscheidende Weichenstellungen in den 1970er Jahren erfolgt sind. Sie haben nach einer kurzen Blütezeit der Rechtssoziologie mit entsprechendem Engagement auch der soziologischen Akteure schließlich ein weitgehendes Erliegen des Feldes begünstigt und zum allgemeinen Rückzug der Soziologie von der Befassung mit dem Recht beigetragen. Insofern dienen die folgenden Überlegungen viel mehr der Offenlegung einiger notwendiger, aber nicht hinreichender Plausibilitätsbedingungen des eben angesprochenen Rückzugsprozesses als einer zwingenden Begründung für diesen. Es geht, wenn man so will, um die Frage, in Bezug auf welches Problem der hier geschilderte Rückzug auf einen sehr starken reflexionstheoretische Autonomie-Diskurs in seinem historischen Diskurs-Kontext als plausible Lösung erscheinen konnte, mit anderen Worten um eine funktionale Analyse von Luhmanns Interdisziplinarität-Konzept.