Der zentrale Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist das Phänomen der Wohnungsnot. Im öffentlichen Raum begegnet man zwangsläufig Menschen, die sichtbar in Wohnungsnot leben, aber auch Menschen die in Wohnungsnot leben, denen man diese aber nicht ansieht. Sie machen sich unsichtbar, um die Ausgrenzungen und Abwertungen, die mit dem Phänomen seit jeher verbunden sind, auszuweichen (Wolf, 2016, S. 9–10). Die Ungleichheitslage der Wohnungsnot entsteht im, respektive besteht aus dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Ursachen, Lebenslagen und Bedarfen. Dabei konstituiert sich Wohnungsnot über Abweichungen von ‚der Norm‘. Es gibt viele verschiedene Begrifflichkeiten, um das Phänomen der Wohnungsnot zu benennen. Gemein ist allen Begrifflichkeiten, dass sie Menschen beschreiben, die am Rand der Gesellschaft leben, die von Nicht-Teilhabe und Exklusion betroffen sind (Gillich & Nieslony, 2000, S. 89).

Die Begrifflichkeiten Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Wohnungsnot werden häufig synonym verwendet. Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Lebensumständen und den damit verbundenen Konsequenzen von Menschen, die wohnungslos sind, den Menschen die obdachlos sind oder den Menschen, die sich in Wohnungsnot befinden. Als zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit wird das Phänomen folgend detailliert und ausführlich dargestellt.

Die dieser Arbeit zugrundeliegenden Definition des Wohnungsnotfalls gilt als anerkannt und umfasst die größte Personengruppe (sowohl Menschen die wohnungslos sind als auch Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, und auch Menschen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben; Abschnitt 3.1 Definition von Wohnungsnot).

Menschen in Wohnungsnot leben am Rand der Gesellschaft, sie sind marginalisiert und stigmatisiert (Gerull, 2018b). Das Fehlen einer offiziellen und gesetzlich verankerten Definition sowie das Fehlen einer bundeseinheitlichen Statistik verdeutlichen, dass Menschen in Wohnungsnot nicht nur am Rand der Gesellschaft leben, sondern von dieser auch wenig beachtet werden. Dies zeigt sich auch in der wissenschaftlich theoretischen Beschäftigung mit dem Phänomen. Der Umfang von Literatur und Forschung ist begrenzt. In den verschiedenen Disziplinen, in denen Wohnungsnot be- und verhandelt wird, ist Wohnungsnot jeweils nur ein Randthema (Paegelow, 2012, S. 34). Darüber hinaus ist Wohnungsnot geprägt von spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhängen und jeweils eingebettet in nationale Gesetzgebung und Wohlfahrtsstrukturen. Die vorliegende Multi-Methoden-Untersuchung kommt den Forderungen nach Forschung nach und ist in Umfang und Ausrichtung erstmalig (Abschnitt 3.2 Forschungsstand und Forschungsbedarf).

Das Fehlen einer einheitlichen Statistik zum Ausmaß der Wohnungsnot in Deutschland wird durch die regelmäßige Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., kurz BAG W, abgefedert. Die Schätzungen weisen einen kontinuierlichen Anstieg der Zahlen auf (zur Frage der Zahlen siehe Abschnitt 3.3 Relevanz von Wohnungsnot). Das Thema Wohnungsnot ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen (Seibring, 2018, S. 3). Die hohe Relevanz des Themas wird inzwischen auch in Politik und Gesellschaft wahrgenommen. Bundesinnenminister Horst Seehofer konstatiert, dass die Wohnungsfrage die soziale Frage unserer Zeit sei (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2018; und Abschnitt 3.3 Relevanz von Wohnungsnot).

Die negativen Konsequenzen von Wohnungsnot sind erheblich. Neben der bereits genannten Marginalisierung, Stigmatisierung (Gerull, 2018b, S. 36) sowie einer erhöhten Mortalität und Morbidität (Dittmann & Drilling, 2018, S. 288; Montgomery et al., 2016; Rosenke, 2017c, S. 219; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14–17; Trabert, 2005, S. 166–168) sind Menschen in Wohnungsnot aus der Gesellschaft (nahezu völlig) exkludiert (Keicher, 2019, S. 175–176). Die Nicht-Teilhabe erstreckt sich (zumeist) über alle relevanten Lebensbereiche. Eine detaillierte Ausführung zu Umfang und Bedeutung von Exklusion und Nicht-Teilhabe kann in der Literatur nur in Ansätzen identifiziert werden. Die Rehabilitationswissenschaften bieten hier einen beachtenswerten Ansatz zur Erfassung der Lebenssituation von Menschen mit Exklusionserfahrungen. Der offizielle Teilhabebericht der Bundesregierung identifiziert acht verschiedene Lebensbereiche, die ein Gesamtbild der Teilhabe- und Lebenssituation von Menschen darstellen (Engels et al., 2016). Der erstmalige Übertrag auf den Kontext Wohnungsnot ermöglicht die umfassende Erfassung der Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot sowie die detaillierte Beschreibung der Exklusionen, denen Menschen in Wohnungsnot ausgesetzt sind (Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot).

Stigmatisierungen haben einen bedeutenden Einfluss auf und für die Exklusion beziehungsweise Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot. Menschen in Wohnungsnot sind in besonderem Maße von Stigmatisierung betroffen (Gerull, 2018b). Zudem sind sie häufig von psychischen AuffälligkeitenFootnote 1 und Krankheiten bedroht und/oder betroffen, die bereits für sich zu einer Stigmatisierung führen können. Die Untersuchung der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot ist ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit. Die nähere Betrachtung von Stigmatisierung, dem Entstehen sowie dem Prozess von Stigmatisierung, der Konsequenzen von Stigmatisierung aber auch die verschiedenen Arten von Stigmatisierungen sind essentiell für die vorliegende Arbeit. Aus diesem Grund wird dieser detaillierten Betrachtung von Stigmatisierung ein eigenes Theoriekapitel zuteil (Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot).

Auch wenn Specht (2017a, S. 29–31) Armut und fehlenden Wohnraum (zurecht) als die Hauptursache von Wohnungsnot identifiziert, bleibt unklar, weshalb bestimmte Menschen in Wohnungsnot geraten, wieso es bei einigen Menschen zu einer Verfestigung von Wohnungsnot kommt oder wieso wiederum andere Menschen nicht in Wohnungsnot geraten. Die Ursachen sind vielfältig, wie auch die Heterogenität der Personengruppe. Es existieren verschiedene Erklärungsansätze, die jedoch keine hinreichende Erklärung für das komplexe Phänomen Wohnungsnot liefern können (Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot). Die intersektionale Betrachtung von Wohnungsnot liefert auch hier eine nützliche Perspektive. Bedingt durch die Kategorien Armut und Herkunft sowie Geschlecht und Gesundheit definiert sich Wohnungsnot als Abweichung von der meritokratischen Norm. Das Zusammenwirken verschiedener Kategorien bildet dabei die Lebenswirklichkeit eines jeden Individuums und geschieht in einem gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen (Abschnitt 3.5.1 Eigenes Verständnis von Wohnungsnot).

Das Hilfesystem ist für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot essentiell (R. Lutz & Simon, 2017, S. 94) und dabei auch eng verbunden mit Kontrolle, Zwang und der Abwertung von Menschen in WohnungsnotFootnote 2. Bedingt ist diese positive wie negative Bedeutung für die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot durch die historische Entwicklung der Armenfürsorge (John, 1988, S. 160–415). Ausgrenzung, Vertreibung und Flucht sind dabei Wesensmerkmale von Wohnungsnot und dem Umgang mit Menschen in Wohnungsnot und Armut. Weil diese Stigmatisierung und Marginalisierung seit Beginn der Armenfürsorge Bestandteil eben dieser Armenfürsorge beziehungsweise der Begegnung mit Wohnungsnot inhärent sind, bedarf es einer ausführlichen Darstellung der Entwicklung des Hilfesystems. Auch die Auswirkungen der verschiedenen Erklärungsansätze und deren (zum Teil erheblich negative) Konsequenzen werden dabei als für die vorliegende Arbeit bedeutend identifiziert und ausführlich dargestellt. Es muss jedoch auch festgehalten werden, dass sich das Hilfesystem maßgeblich gewandelt hat. Heute kann das Hilfesystem als „modernes und vielfältiges Hilfe-, Dienstleistungs-, und Versorgungssystem, das sich neueren Theorie-Praxis-Diskursen öffnet[…] und sich intensiver mit den Lebenslagen der betroffenen Menschen [beschäftigt]“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 95), beschrieben werden (Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem von Wohnungsnot).

Aufbauend auf den theoretischen Überlegungen der Intersektionalität sowie dem Bewusstsein über die Heterogenität der Personen in und Ursachen von Wohnungsnot, liegt es auf der Hand, verschiedene Ungleichheitskategorien im Kontext Wohnungsnot zu identifizieren und zu benennen. Neben den vier adaptierten Kategorien Geschlecht, Herkunft, Armut und Gesundheit kann die Kategorie Alter als bedeutend identifiziert werden (Abschnitt 3.7 Kategorien von Wohnungsnot). Die Kategorien Geschlecht und Gesundheit nehmen im Kontext von Wohnungsnot eine besondere Rolle ein und stehen deswegen im Fokus der Untersuchung. Das Verständnis von Geschlecht und Gesundheit sowie deren Konsequenzen im Hilfesystem sowie für das einzelne Individuum müssen, ebenso wie das Zusammenwirken untereinander und mit anderen Kategorien, daher detailliert dargestellt werden. Aufgrund dessen werden sowohl Geschlecht (Kapitel 4 Geschlecht und Wohnungsnot) als auch Gesundheit (Kapitel 5 Gesundheit und Wohnungsnot) in eigenständigen Kapiteln dargestellt.

3.1 Definition von Wohnungsnot

Wanderer, Nichtsesshaft, Vagabunden, (Stadt-/Land-)Streicher, Gammler, Beatniks, Gefährdete, Treber, Obdachlos, Wohnungslos, Wohnungsnot, ...

Es gibt viele Begriffe, die das Phänomen, keinen festen und „normalen“ Wohnraum zur Verfügung zu haben, beschreiben. Die Begriffe enthalten Wertungen und Zuschreibungen sowie unterschiedliche Lebensbedingungen. Die Komplexität des Phänomens wird auch durch eine Vielzahl unterschiedlicher und nicht einheitlicher Definitionen ersichtlichFootnote 3 (Busch-Geertsema, 2018b, S. 15–16). „In Deutschland existiert keine […] offizielle und gesetzlich verankerte Definition“ (Gerull, 2015, S. 307). Zur Beschreibung der Betreuten werden im Sozialgesetzbuch (SGB XII) jedoch die Verbundenheit von „besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten“ und die Unfähigkeit, diese „aus eigener Kraft“ zu überwinden, genanntFootnote 4. Zur besseren Erklärung des komplexen Phänomens kann die anerkannte Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (kurz BAG W), eine Weiterentwicklung einer Empfehlung des Deutschen Städtetags 1987 (Deutscher Städtetag, 1987, S. 14–16), angeführt werdenFootnote 5. Die BAG W zählt zu den Wohnungsnotfällen:

Haushalte und Personen, die aktuell von Wohnungslosigkeit betroffen sind, […] unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht sind, […] in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben, […] als Zuwanderinnen und Zuwanderer in gesonderten Unterkünften von Wohnungslosigkeit aktuell betroffen sind, […] [und] ehemals von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht waren, mit Normalwohnraum versorgt wurden und auf Unterstützung zur Prävention von erneutem Wohnungsverlust angewiesen sind.

(Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., 2010, S. 1–2)

Die Begrifflichkeit des Wohnungsnotfalls gilt als etabliert und schafft die Möglichkeit, die Diversität der unterschiedlichen Lebensbedingungen zu erfassen (Dittmann & Drilling, 2018, S. 282–283; Gerull, 2015, S. 307; R. Lutz & Simon, 2017, S. 98; Ratzka, 2012, S. 1228). Zusammengefasst ist ein Wohnungsnotfall demnach eine Person, die

  1. (1)

    wohnungslos ist,

  2. (2)

    von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder

  3. (3)

    in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt.

Die BAG W definiert diese drei Bedingungen für einen Wohnungsnotfall im Detail. Wohnungslos ist eine Person, wenn sie nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum (oder Wohneigentum) verfügt. Dazu zählen Personen, die nicht institutionell untergebracht sind, und ebenso Personen, die institutionell – durch Ordnungsrecht, Sozialhilferecht oder Asylrecht – untergebracht sind. Die Bedrohung durch Wohnungslosigkeit definiert die BAG W durch bevorstehende Kündigung, Räumungsklage oder Zwangsräumung und sonstigen zwingenden Gründen wie beispielsweise gewaltgeprägte Lebensumstände. Unzumutbare Wohnverhältnisse sind unter anderem bedingt durch beengten Wohnraum – bei Einpersonenhaushalten die Unterschreitung der Mindestwohnfläche von 20m2 – unzureichende Ausstattung, gesundheitsgefährdende Wohnungen, gesundheitliche und soziale Notlagen sowie gewaltgeprägte Lebensumstände (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2010, S. 1–2). Innerhalb dieser Diversität der Personengruppe haben unterschiedliche Kategorien (unter anderem Geschlecht, Gesundheit, Herkunft) entscheidende und teils unterschiedliche Auswirkungen auf die Bedarfe und Lebenslagen der Personengruppe (Block, 2018; Gerull, 2018c; Steckelberg, 2018; siehe auch Dubrow, 2009; Enders-Dragässer & Sellach, 2005; Fichtner, 2005; Gerull, 2015, S. 309–311; R. Lutz & Simon, 2017, S. 192–195; Rosenke, 2017a, 2017c sowie der Abschnitt 3.7 Kategorien von Wohnungsnot). Die Komplexität des Phänomens Wohnungsnot wird dadurch nochmals erhöht.

Das Vorhandensein einer einheitlichen und etablierten Definition des Phänomens Wohnungsnot ist maßgeblich, um das Phänomen eingrenzen und abgrenzen zu können, und nimmt beispielsweise für die Entwicklung einer einheitlichen und bundesweiten Statistik eine zentrale Rolle ein (Specht, 2012, S. 117). Auch die vorliegende Arbeit bezieht sich auf diese Definition und das damit einhergehende Verständnis von Wohnungsnot. Der weite Rahmen der Definition beinhaltet neben dem Vorteil, alle Personen, die vom Phänomen betroffen sind, zu erfassen, die Herausforderung, dass diese Personen erhebliche Unterschiede aufweisen. Die Lebenslagen und Bedarfe von Menschen ohne Obdach unterschieden sich im großen Maße von Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen. Die Komplexität und Heterogenität der Personengruppe kann jedoch mittels der Intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) verringert werden. Eine solche intersektionale Betrachtung liefert einen Ordnungsrahmen von Wohnungsnot. Die vier Kategorien Herkunft, Armut, Geschlecht und Gesundheit sind dabei für alle Menschen in Wohnungsnot von entscheidender Bedeutung für deren Ungleichheitslagen (siehe Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen und Abschnitt 3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot).

3.2 Forschungsstand und Forschungsbedarf

Der Umfang der Literatur und Forschung zur Wohnungsnot ist begrenzt (Busch-Geertsema et al., 2019, S. 34; Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; John, 1988, S. 36–40; R. Lutz & Simon, 2017, S. 204; Niebauer & Klug, 2014, S. 320); mit einer guten Übersicht über die Forschung (Dittmann & Drilling, 2018, S. 287–289). In den verschiedenen Disziplinen, in denen Wohnungsnot be- und verhandelt wird, ist Wohnungsnot, trotz der aktuellen Relevanz, jeweils nur ein RandthemaFootnote 6 (Niebauer & Klug, 2014, S. 320; Paegelow, 2012, S. 34). Im Laufe der Zeit verdrängte die Disziplin der Sozialen Arbeit (Bodenmüller, 2010; Busch-Geertsema et al., 2014; Busch-Geertsema et al., 2016; Busch-Geertsema et al., 2019; Evers & Ruhstrat, 2015; Gerull et al., 2009; Gerull, 2016, 2018c; Gerull & Merckens, 2012) die Disziplin der Medizin (Donath, 1899; Mayer, 1934; Ritzel, 1965; Steiger, 2010; Veith & Schwindt, 1976) respektive Psychologie (Aderhold, 1970; Bäuml, Baur, Schuchmann et al., 2017; Bonhoeffer, 1900; Fichter et al., 1996; Mönkemöller, 1922; Stumpfl, 1938; Wickert & Helmes, 1983) als Hauptproduzent der einschlägigen Literatur respektive als Grundlage für die Erklärungsansätze (Gerull, 2010, S. 541; Hinz, 2000, S. 22; R. Lutz & Simon, 2017, S. 68–71; Paegelow, 2012, S. 34–36). Daneben können die Soziologie (Albrecht, 1990; Iben & Anders, 1974), (Stadt-)Geographie (Neupert, 2010; Schmid, 1990; Schmidt, 2017) und die Rechts- beziehungsweise Kriminalwissenschaften (Aderhold, 1970; Roscher, 2019; Ruder, 2017) als Disziplinen, welche sich mit Wohnungsnot beschäftigen, identifiziert werden. Die unterschiedlichen Disziplinen haben jeweils einen spezifischen Blick auf Wohnungsnot und dementsprechend ein unterschiedliches Verständnis von Wohnungsnot (Paegelow, 2012, S. 34–36; Treuberg, 1990, S. 207). Auffällig und gleichzeitig naheliegend ist für die Disziplinen der Medizin und Psychologie eine medizinisch defizitäre Sichtweise und individualisierte Problembetrachtung, welche inzwischen (weitgehend) als überholt gilt (R. Lutz & Simon, 2017, S. 68–70; Paegelow, 2012, S. 34). Soziale Bedingungen der Gesellschaft, wie extreme Armut und die mangelnde Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum, gelten inzwischen als (Haupt-)Verursacher von Wohnungsnot (Specht, 2017a, S. 29–31; Wolf, 2016, S. 15). Auch innerhalb der Disziplinen können Unterschiede identifiziert werden. Für die Soziale Arbeit befassen sich sowohl Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen als auch Verbände und Praktiker:innen mit dem Phänomen der Wohnungsnot, wobei eine Vielzahl von Auftragsarbeiten identifiziert werden kann (Gerull, 2010, S. 541)Footnote 7.

Wohnungsnot ist in einem erheblichen Maße durch staatliche Wohlfahrtsstrukturen geprägt (Paegelow, 2012, S. 178). Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot sind spezifisch für jede Gesellschaft und deren stattliche Strukturen (Gerull, 2010, S. 541–542; Paegelow, 2012, S. 170; und mit guter Übersicht über weltweite staatliche Strukturen der Wohnungslosenhilfe Paegelow, 2012, S. 178–207). Darüber hinaus wird Wohnungsnot häufig als Problem von Kommunen und Städten wahrgenommen und dementsprechend regional behandelt (Paegelow, 2012, S. 128). Auch die Vielzahl an möglichen disziplinären Zugängen und Definitionen von Wohnungsnot führt dazu, dass es keine international vernetzte Forschungsgemeinschaft zum Thema Wohnungsnot gibt. Internationale Bezüge in Literatur und Forschung können – bis auf wenige Ausnahmen (Busch-Geertsema, 2012, 2013, 2017a, 2017b, 2018b; Paegelow, 2012) – nicht identifiziert werden. Eine zumindest europäische VernetzungFootnote 8 könnte bei

Fragen der Entwicklung nationaler, regionaler und lokaler Strategien zur Vermeidung, Behebung und dem gezielten Abbau von Wohnungslosigkeit, […] adäquaten Antworten auf das wachsende Gewicht von Migrantinnen und Migranten (zunehmend auch aus anderen EU-Ländern) […] [und] bedarfsgerechten Hilfen für psychisch erkrankte Wohnungslose

(Busch-Geertsema, 2012, S. 246)

jedoch sehr hilfreich sein und zu einem gegenseitigen und befruchtenden Austausch von Erfahrungen führen. Für die vorliegende Arbeit bedeuten diese Tatsachen, dass die theoretischen Ausführungen zu Wohnungsnot eine deutsche Perspektive einnehmen und dementsprechend wenig Bezug zu internationalen Publikationen nehmen. Ausnahmen bilden die Darlegungen zur Stigmatisierung von Wohnungsnot und den Stigmatisierungsprozessen im Allgemeinen (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot).

Im deutschsprachigen Raum ist die vorliegende Multi-Methoden-Untersuchung in Umfang und Ausrichtung erstmalig. „Zum Thema Wohnungslosigkeit besteht Forschungsbedarf“ (Dittmann & Drilling, 2018, S. 290) reüssieren Dittmann und Drilling und meinen neben einem besseren Verständnis und Wissen von Lebenslagen, den Gründen, weshalb Menschen in Wohnungsnot Hilfsangebote nicht wahrnehmen insbesondere quantitative Ansätze für eine bessere Datenlage (Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; Niebauer & Klug, 2014, S. 320). Dieser Aufforderung kommt die vorliegende Multi-Methoden-Untersuchung nach. Die Kombination aus zwei quantitativen und zwei qualitativen Studien führt zum einen, auch durch den jeweiligen Umfang, zu einer deutlich verbesserten Datenlage. Zum anderen werden, durch den Fokus auf Stigmatisierung und Teilhabe sowie den Kategorien Geschlecht und Gesundheit, die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot nähergehend betrachtet. Die Marginalisierung und Stigmatisierung von Wohnungsnot wird zwar vielfach postuliert (Busch-Geertsema et al., 2019, S. 141; Gerull, 2018a, S. 133, 2018b; Giffhorn, 2017b; Ratzka, 2012, S. 1222–1223; Rosenke, 2017d, S. 171; Wolf, 2016, S. 11–14), jedoch nicht weitergehend thematisiert. Auch der Fokus auf Geschlecht, Gesundheit und deren intersektionales Zusammenwirken erfolgt – in der Form – zum ersten Mal.

3.3 Relevanz von Wohnungsnot

Obwohl die Wohnungsfrage die soziale Frage unserer Zeit ist (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2018a), konstatieren Dittmann und Drilling (2018, S. 289), dass die Wohnungsfrage zwar zunehmend in den Fokus der Bundespolitik rücke, das Thema Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit jedoch ausgeklammert würde. Dabei wird die Relevanz von Wohnungsnot, neben den erheblich negativen Auswirkungen für Menschen in Wohnungsnot (Gerull, 2009, S. 39; und Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot), insbesondere an den aktuellen Zahlen deutlich. Die Zahl der Menschen in Wohnungsnot steigt seit Jahren kontinuierlich an (siehe die Schätzungen beziehungsweise Statistik der BAG W Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2015, 2017, 2018, 2019d, 2019e) und ist insbesondere ab 2015 rapide gestiegen.

Die „konkreten“ Zahlen bedürfen jedoch vorab einiger nähergehender Erläuterungen. Da keine einheitliche und bundesweite Statistik vorliegt, beruhen die aktuelle Zahlen auf Schätzungen und Hochrechnungen. Die Bundesregierung konnte sich erst im September 2019 darauf einigenFootnote 9, in Zukunft (ab 2022) eine jährliche, einheitliche und bundesweite Statistik für wohnungslose Menschen sowie eine zweijährliche Wohnungslosenberichterstattung für Menschen in Wohnungsnot durchzuführen (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019c). Die regelmäßigen Schätzungen der BAG W bildeten für einen langen Zeitraum eine verlässliche Datengrundlage. Ausgehend vom Dokumentensystem zur Wohnungslosigkeit, der jährlichen Stichtagserhebung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem Einbezug verdeckter Wohnungsnot ermittelt die BAG W alle zwei Jahre eine geschätzte Jahresgesamtzahl für Menschen in Wohnungsnot (Specht & Neupert, 2019). Im Juli 2019 korrigierte die BAG W mittels eines revidierten und genaueren Modells ihre Schätzung für 2017 auf 650.000 Menschen ohne Wohnung (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019d). Für das Jahr 2018 schätzt die BAG W eine Zahl von 678.000 Menschen ohne Wohnung (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019e).

Im August 2019 veröffentliche die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V., kurz GISS, im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die erste bundesweite Studie zur Wohnungsnotfallproblematik seit etwa 15 Jahren (Busch-Geertsema et al., 2019). Die Stichtagsschätzung (31.5.2018) der Studie ergibt, ausgehend von der Erfassung von ca. 19 Prozent der Bevölkerung Deutschlands (Busch-Geertsema et al., 2019, S. 200), etwa 313.000 bis 336.637 Menschen ohne Wohnung (Busch-Geertsema et al., 2019, S. 203). Vergleicht man die Stichtagszahlen mit den Stichtagszahlen der BAG W Schätzung – zum 30.6.2018 542.000 Menschen ohne Wohnung (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019e) – ist die Differenz (~200.000) im Vergleich zur Schätzung der Jahresgesamtzahl der BAG W zwar geringer, jedoch immer noch erheblich. Auch wenn die GISS Studie eine engere Definition wähltFootnote 10 und die Schätzung der BAG W verdeckte Wohnungsnot miterhebt, kann die große Differenz nicht erklärt werden. Umso mehr bedarf es einer einheitlichen und bundesweiten Statistik. Weitere Gründe für eine bundesweite Statistik, wie die Voraussetzung für Wohnungsnotfallhilfeplanung oder die Planungsgrundlage für Politik, fasst Specht zusammen (2012, S. 118–120). Es bleibt festzuhalten, dass die Zahl der Menschen in Wohnungsnot kontinuierlich ansteigt. Das Thema Wohnungsnot ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen (Seibring, 2018, S. 3). Es ist die soziale Frage unsere Zeit.

3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot

„Wohnen gehört […] zu den existenziellsten Lebensbereichen des Menschen“ (Gerull, 2011, S. 113). Der eigene Wohnraum ist Mittelpunkt für die soziale Existenz, er ist Rückzugs- und Schutzraum und Raum für Privatheit (Gerull, 2011, S. 113; Hasse, 2009, S. 21–22). Privater Wohnraum ist ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen (Dittmann & Drilling, 2018, S. 282; Spellerberg & Giehl, 2018, S. 270) und dient „der Selbstbestätigung, dem Selbstbewusstsein und der Selbstverwirklichung“ (Spellerberg & Giehl, 2018, S. 270). Der Wohnraum ist Abbild der Lebenssituation einer Person und zugleich bildet sich die Lebenssituation einer Person im Wohnraum (Hasse, 2018, S. 5). Ein Slogan und Titel der Bundestagung 2017 der BAG W (Jordan, 2019) ist demnach „…und ohne Wohnung ist alles nichts“ (Rosenke, 2019, S. 7). Was aber passiert, wenn (privater) Wohnraum nicht zur Verfügung steht? Die Konsequenzen sind erheblich und aufgrund der Heterogenität des Phänomens vielfältig, lassen sich jedoch auf einige wesentliche Aspekte,  Exklusion und Nicht-Teilhabe, Marginalisierung und Stigmatisierung sowie Gefährdung der Gesundheit,  zusammenfassen. Dabei bestimmen die unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen sowie die Dauer von Wohnungsnot die Schwere der Betroffenheit von diesen Aspekten. Die unterschiedlichen Aspekte sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig (siehe Abschnitt 3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot und die Überlegungen zur Intersektionalität in Kapitel 2. Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität).

3.4.1 Exklusion und Nicht-Teilhabe

Die deutliche Exklusion und Nicht-Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot wird in der Literatur immer wieder angeführt, jedoch nicht, respektive nur in Ansätzen, nähergehend erläutert. So konstatieren beispielsweise Gillich und Nieslony (2000) ein hohes Maß an Unterversorgung und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen, belassen es jedoch bei dieser Feststellung, ohne spezifischer zu werden (Gillich & Nieslony, 2000, S. 89; siehe auch Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; Heine-Göttelmann, 2019, S. 16–17; Keicher, 2019, S. 175–176; Reifenbach, 2019, S. 14; Sedmak, 2012, S. 29Footnote 11). Kronauers (2010) soziologische Perspektive auf Exklusion und Teilhabe verknüpft Exklusion mit Armut und Arbeitslosigkeit. Dabei verweist er auf die Mehrdimensionalität von Teilhabe. Seine Aufzählung von Interdependenzen und Partizipation sind ausführlich und soziologisch geprägt (Kronauer, 2010, S. 145–194). Stichwehs (2016) ebenfalls soziologische Perspektive der Differenztheorien und seine These, dass Funktionssysteme die Antriebskraft für Ungleichheiten sind (Stichweh, 2016, S. 207–208), weist an vielen Stellen eine Ähnlichkeit zu der Ungleichheitsperspektive der Intersektionalität auf. Jedoch sind Stichwehs Ausführungen eher theoretischer Natur und zeigen wenig Möglichkeit einer praktikablen Übersetzung für die Exklusion von Menschen in Wohnungsnot.

Einen guten Ansatz zur Erfassung der Lebenssituation von Menschen mit Exklusionserfahrungen und dieser Mehrdimensionalität bieten die Rehabilitationswissenschaften, also die Forschung und Literatur zu Menschen mit Behinderungen. Ausgehend von der Behindertenrechtskonvention der Vereinten NationenFootnote 12 werden im offiziellen Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigung acht verschiedene Lebensbereiche, die ein Gesamtbild der Lebenssituation ergeben, identifiziert und umfassend dargestellt (Engels et al., 2016). Bei den Bereichen handelt es sich um:

  1. 1.

    Familie und Soziales Netz

  2. 2.

    Bildung und Ausbildung

  3. 3.

    Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation

  4. 4.

    Alltägliche Lebensführung

    • a.Wohnen

    • b.Barrierefreiheit

    • c.Selbstbestimmte Lebensführung

  5. 5.

    Gesundheit

  6. 6.

    Freizeit, Kultur und Sport

  7. 7.

    Sicherheit und Schutz der Person

  8. 8.

    Politische und gesellschaftliche Partizipation

    (Engels et al., 2016, S. 53)

Dabei wird von Wechselwirkungen dieser unterschiedlichen Lebensbereiche ausgegangen (Engels et al., 2016, S. 36). Auch die Einteilung in eine Strukturebene, welche die „Bedingungen, Ressourcen und Möglichkeiten für das barrierefreie und vielfältige Eingebunden-Sein in gesellschaftliche und kulturelle Lebensbereiche und Funktionssysteme“ (Engels et al., 2016, S. 36) beinhaltet, und eine Identitätsebene, welche die Verwirklichungschancen in persönlicher Lebensführung und Alltagsbewältigung versteht (Engels et al., 2016, S. 36), weist eine hohe Ähnlichkeit zur Intersektionalität und insbesondere der Intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) auf.

Als Entwicklung aus den allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte der Vereinten Nationen ist die Behindertenrechtskonvention eng verbunden mit Nussbaums Capabilities Approach (siehe Galamaga, 2014, S. 17–19) und dem Analyseinstrument des Lebenslagenansatzes (Voges et al., 2003, S. 37–55). Auch Fichtner (2005), Enders-Dragässer und Sellach (2005) sowie Gerull (2018c) benützten den Lebenslagenansatz als Analyseinstrument. Gerull konstatiert, dass „[s]peziell für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen […] der Lebenslagenansatz derzeit die angemessenste Beschreibungsform“ (Gerull, 2018c, S. 6) sei, da der Ansatz die komplexen Problemlagen abbilden könne. Gerulls Studie ist und so schreibt sie selber „die 1. Systematische Untersuchung der Lebenslagen wohnungsloser Menschen“ (Gerull, 2018c, S. 3). Jedoch ist ihre Reduktion auf nur sechs Lebensbereiche –Materielle Situation, Wohnen, Sicherheit, Erwerbsarbeit, Gesundheit und Partizipation/Soziale Netzwerke – nicht nachvollziehbar. Mit ihrem Fokus auf Geschlecht erweitern Fichtner (2005) sowie Enders-Dragässer und Sellach (2005) den Lebenslagenansatz auf eine geschlechtersensible Sichtweise (Fichtner, 2005, S. 167). Durch deren Auslegung als ‚Spielräume‘ weisen die Bereiche allerdings keine ausreichende Trennschärfe auf. Specht (2017a, S. 29–30) liefert eine detaillierte Übersicht von acht verschiedenen Lebenslagen und deren jeweilige soziale Exklusion. Jedoch fehlen in seinen Ausführungen soziale Netze, Barrierefreiheit, eine selbstbestimmte Lebensführung, Sicherheit und Schutz der Person sowie die Betonung von Freizeit, Kultur und Sport sowie der politischen und gesellschaftlichen Partizipation.

Um die Exklusionserfahrungen von Menschen in Wohnungsnot umfassend und in ihrer Heterogenität darstellen zu können, sollten die acht im Teilhabebericht benützten Lebensbereiche erfasst werden. Eine solche umfassende Darstellung der Exklusion ist nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit und soll deshalb an dieser Stelle nicht erfolgen. Um jedoch das Ausmaß an Exklusion von Menschen in Wohnungsnot zu verdeutlichen, werden exemplarisch verschiedene Beispiele für die Exklusion von Menschen in Wohnungsnot aufgeführt. Auf die enge Verbindung von Stigmatisierung und Exklusion (Gerull, 2018b, S. 30–32), über Ungleichheitserfahrungen und Machtkonstellationen, soll hier nur verwiesen werden. Neben den ausführlichen Ausführungen zu Stigmatisierung in Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot wird die Stigmatisierung und Marginalisierung von Menschen in Wohnungsnot als Konsequenz von Wohnungsnot anschließend an die Darstellung verschiedener Beispiele für die Exklusion komprimiert aufgeführt.

Für alle acht Lebensbereiche können Exklusionen von Menschen in Wohnungsnot identifiziert werden:

  • Menschen in Wohnungsnot leben häufig in Isolation und weisen (wenn überhaupt) nur ein kleines Netzwerk an Sozialkontakten auf (Fichtner, 2005, S. 169; R. Lutz & Simon, 2017, S. 101).

  • Bei der Personengruppe, die über mehrere Generationen verfestigte Armutslagen aufweist, kann ein geringes Maß an Bildung identifiziert werden. Die negativen Auswirkungen von Armut auf Bildungswege gelten als bestätigt (Gerull, 2011, S. 130–144). Da Wohnungsnot die extremste Form der Armut ist, muss von extrem negativen Auswirkungen auf Bildungswege ausgegangen werden.

  • Auch ausgehend von der engen Verbindung von Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot hat ein Großteil der Menschen in Wohnungsnot keine Arbeit und bezieht Transferleistungen und gilt somit als arm (Ratzka, 2012, S. 1236).

  • Die Exklusion respektive eingeschränkte Teilhabe im Bereich der alltäglichen Lebensführung liegt aufgrund der Wohnungsnot auf der Hand. Selbstbestimmtes Wohnen ist ohne Wohnung nicht möglich. Darüber hinaus sind Menschen in Wohnungsnot, die ordnungsrechtlich oder sozialrechtlich untergebracht sind, häufig in ihrer Autonomie beschnitten (Alborea, 2019, S. 163).

  • Die identifizierte Zugangsbarriere zur Gesundheitsversorgung ist für Menschen in Wohnungsnot von besonderer Relevanz (Rosenke, 2017c, S. 219–220; siehe Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot). Menschen in Wohnungsnot sind besonders gefährdet und betroffen von Krankheiten (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14).

  • Freizeit, Kultur und Sport kosten zumeist Geld. Da Menschen in Wohnungsnot in besonderem Maße von Armut betroffen sind, können sie sich beispielsweise den Besuch von Veranstaltungen oder die Mitgliedschaft in einem Verein nicht leisten. Des Weiteren sind Menschen in Wohnungsnot, wenn der existentialste Lebensbereich (das Wohnen) gefährdet oder bereits abhandengekommen ist, damit beschäftigt, diesen und das Überleben zu sichern.

  • Wohnraum ist auch Schutzraum. Wenn Wohnraum gefährdet ist oder bereits abhandengekommen ist, hat die Person in Wohnungsnot keinen Schutz vor Witterung und Gewalt (Gerull, 2018c, S. 17). Weil Menschen in Wohnungsnot stigmatisiert werden, sind sie darüber hinaus besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot).

  • Die politische und gesellschaftliche Partizipation ist durch die Einschränkung des Wahlrechts gefährdet und für viele Menschen in Wohnungsnot nicht möglich. Bezogen auf das Wahlrecht müssen sich Menschen ohne festen Wohnsitz explizit auf Wahllisten setzen lassen, um wählen zu können (BAG Wohnungslosenhilfe e. V., 2017).

3.4.2 Stigmatisierung und Marginalisierung

Die Marginalisierung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot werden vielfach angeführt (Gerull, 2018b; Neupert, 2019; Pollich, 2019; Ratzka, 2012, S. 1242–1243). Dabei muss auch an dieser Stelle konstatiert werden, dass Stigmatisierungsprozesse und deren Konsequenzen im Kontext von Wohnungsnot, ebenso wie die Exklusionserfahrungen, in der Literatur nicht im Detail betrachtet werden. Aus der Forschung zu Stigmatisierung ist jedoch bekannt, dass diese auf alle Teilhabebereiche und insbesondere auf die für Wohnungsnot bedeutenden Bereiche Arbeit, Wohnen und Gesundheit eine erheblich negative Auswirkung haben (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51). Eine detaillierte Betrachtung respektive Untersuchung von den Stigmatisierungsprozessen, denen Menschen in Wohnungsnot ausgesetzt sind, verspricht jedoch erhebliches Potential, um die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot besser zu verstehen sowie darüber hinaus die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot zu verbessern.

Die vorliegende Arbeit möchte genau das machen: Die Untersuchung der Stigmatisierungsprozesse im Kontext von Wohnungsnot. Als zentraler Bestandteil der Untersuchung erfolgen die ausführlichen Erläuterungen zu Stigmatisierung und deren Prozesse im Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot. An dieser Stelle soll nur eine komprimierte Darstellung der Stigmatisierung und Marginalisierung, von denen Menschen in Wohnungsnot betroffen sind, erfolgen.

Zu den Auswirkungen einer Stigmatisierung zählen vielfach Dinge, die Wohnungsnot inhärent sind: Eine erhöhte Arbeitslosigkeit, Probleme bei der Anmietung von Wohnraum, eine erhöhte fälschliche Anklage bei Gewaltverbrechen aber auch eine geringere Unterstützungs- und Hilfsbereitschaft gegenüber Personen mit einem Stigma sowie eine geringere Bereitschaft dieser Person mit einem Stigma, Hilfsangebote zu suchen und anzunehmen (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51). Somit kann angenommen werden, dass Wohnungsnot diese Probleme jeweils verschärft. Des Weiteren sind Personen in Wohnungsnot von verschiedenen Stigmatisierungen betroffen. Armut, psychische Auffälligkeit sowie Abhängigkeitserkrankungen lösen jeweils Stigmata aus (Phelan et al., 1997, S. 323–327). Menschen in Wohnungsnot sind demnach von multiplen Stigmatisierungsprozessen und deren Auswirkungen betroffen. Vorurteile und Abwertungen gegenüber Menschen in Wohnungsnot bestehen seit langem und sind eng verknüpft mit der Abwertung und Ausgrenzung von Armut (Gerull, 2018b; und Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot). Kennzeichnend für die Stigmatisierung von Wohnungsnot ist die Individualisierung der (Teidelbaum, 2020, S. 38) und Schuldzuschreibung für und an der eigenen Wohnungsnot (P. W. Corrigan, 2000, S. 51–52).

Heitmeyer (2012) kann in einer Langzeituntersuchung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit konstante und sich auf sehr hohem Niveau befindende Vorurteile gegenüber „Obdachlosen“ Personen feststellen. Vorurteile führen zu Abwertungen und daraus resultiert stigmatisierendes Verhalten (siehe zur näheren Erklärung von Stigmatisierungsprozessen Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Dieses stigmatisierende Verhalten wiederum führt zu den bereits beschriebenen Exklusionen (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51). Kennzeichnend für Menschen in Wohnungsnot ist, dass sie

  • häufig von Gewalt bedroht und betroffen sind (Giffhorn, 2017b, S. 275–280), dabei jedoch häufig als Gewaltbedrohung und Gefahr wahrgenommen werden (Gerull, 2018b, S. 35–36; Ratzka, 2012, S. 1243),

  • aus öffentlichen und städtischen Räumen vertrieben werden (Gerull, 2018b, S. 34–35),

  • in Teilen immer noch kriminalisiert werdenFootnote 13 (Ratzka, 2012, S. 1241–1243; Wolf, 2016, S. 8–9),

  • erschwerten oder keinen Zugang zu Wohnraum haben (Gerull, 2018b, S. 33) und

  • stigmatisierenden Bezeichnungen („Penner“, „Alki“, etc.) ausgesetzt sind (Ratzka, 2012, S. 1239; Giffhorn, 2017b, S. 277).

Strukturelle Stigmatisierung, beispielsweise von Ämtern und Behörden aber auch dem Hilfesystem der WohnungslosenhilfeFootnote 14 haben ebenfalls eine erhebliche Auswirkung auf Menschen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot). Auch die bereits postulierte geringeren Bereitschaft, Hilfsangebote zu suchen und anzunehmen – ein Verhalten, das im Zusammenhang mit einer Selbststigmatisierung stehen kann – nimmt eine bedeutende Rolle für Menschen in Wohnungsnot ein (Malyssek & Störch, 2009, S. 135–136). Die lange zurückreichende historische Entwicklung von Ausgrenzung und Stigmatisierung wird auch heute noch von Medien und Politik fortgesetzt (Gerull, 2018b, S. 36; Wolf, 2016, S. 12). Die besondere Rolle der Medien bei Stigmatisierungsprozessen sowie die theoretischen Ausführungen der Medienwirkungsforschung werden im Unterkapitel Stigmatisierung und die Rolle der Medien in Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung dargestellt. Überdies wird die Rolle der Medien im Kontext der vorliegenden Arbeit experimentell im Rahmen der erstens Zugangs – Öffentlichen Stigmatisierung – untersucht (siehe Kapitel 7 Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung).

3.4.3 Gesundheitsgefährdung

Die Gefährdung der Gesundheit, als letzter Aspekt der Konsequenzen von Wohnungsnot, wird aufgrund der großen Relevanz für Menschen in Wohnungsnot und trotz der bereits erfolgten Erwähnung in Bezug auf Exklusion und Stigmatisierung explizit angeführt. Zentraler Bestandteil der vorliegenden Arbeit ist die ausführliche Betrachtung in Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext von Wohnungsnot. Menschen in Wohnungsnot sind im großen Umfang sowohl bedroht als auch betroffen von Krankheiten (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14). Der bereits hinlänglich bewiesene Zusammenhang von Krankheit und Armut (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14) ist dabei nur ein Teil der Erklärung dieser Bedrohung und Betroffenheit. Als „krankmachende Faktoren“ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 15), von denen Menschen in Wohnungsnot betroffen sind, zählen Schäfer-Walkmann und Bühler (2011) „Witterung, Schlaf, Hygiene, Ernährung, psychische oder Abhängigkeitserkrankungen, aber auch soziale Einflüsse, wie fehlende Beziehungen, [und] Gewalterfahrungen“ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 15). Daraus schlussfolgernd konstatieren sie einen Zusammenhang zwischen Wohnungsnot und einer erhöhten „Morbidität sowie Mortalität“ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 15). Psychische Auffälligkeiten müssen im Kontext der Gefährdung der Gesundheit als Konsequenz von Wohnungsnot in besonderem Maße erwähnt werden. Die hohe Lebenszeitprävalenz psychischer Auffälligkeiten von 93 % (Bäuml, Baur, Brönner et al., 2017, S. 130; Bäuml, Baur, Schuchmann et al., 2017, S. 39) zeigt den großen Umfang der BetroffenheitFootnote 15. Jedoch kann die Studie nicht beantworten, ob die psychische Auffälligkeit Auslöser der Wohnungsnot oder aber eine Begleiterscheinung von Wohnungsnot ist.

Ein weiterer Aspekt, der eine hohe Bedeutung im Kontext der Gefährdung der Gesundheit von Menschen in Wohnungsnot einnimmt, ist die große Abweichung der subjektiven Einschätzung der eigenen Gesundheit von der objektiv starken Beeinträchtigung (Fichter et al., 1996, S. 192; Kellinghaus, 2000, S. 114). Diese Diskrepanz führt zu einer geringeren Behandlungsmotivation und dementsprechend einer negativen Beeinflussung des Krankheitsverlaufes (näheres dazu in Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext von Wohnungsnot). Schließlich sind beim Vorliegen einer Krankheit und insbesondere einer psychischen Auffälligkeit Menschen in Wohnungsnot von einer Schnittstellenproblematik betroffen. Dabei handelt es sich um die Frage der Zuständigkeit verschiedener Hilfesysteme: Zum einen handelt es sich um die Schnittstelle der Akutversorgung zwischen Psychiatrie, Suchtkrankenhilfe und Wohnungslosenhilfe (Zechert, 2017, S. 5) und zum anderen um die Schnittstelle der qualifizierten Hilfen zwischen Eingliederungshilfe (nach § 53 SGB XII) und der Wohnungslosenhilfe (nach §§ 67–69 SGB XII) (Merckens, 2009, S. 27–35). Diese Schnittstellenprobleme können zu einer mangelnden Versorgung psychisch erkrankter Menschen in Wohnungsnot führen.

Die Konsequenzen von Wohnungsnot sind, so zeigt das Kapitel, erheblich. Menschen in Wohnungsnot sind dabei (fast) vollständig exkludiert von der Gesellschaft. Die im Kontext der Rehabilitationswissenschaften entstandene Übersicht von acht verschiedenen Teilhabebereichen ist dabei ein hilfreiches Instrument, die weitreichende Exklusion von Menschen in Wohnungsnot zu erfassen. Stigmatisierung und Marginalisierung können zu Wohnungsnot führen und verstärken die Problemlagen und die Exklusion von Menschen in Wohnungsnot. Die negative Konsequenz von Wohnungsnot wird somit deutlich erhöht. Dabei führen Stigmatisierungsprozesse auch dazu, dass sich Wohnungsnot manifestiert. Die hohe Korrelation von Wohnungsnot und Krankheit verweist zum einen auf die Beachtung einer möglichen mehrfachen Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot, die beispielsweise eine psychische Auffälligkeit haben, und zum anderen auf die Bedeutung der Kategorie Gesundheit im Kontext von Wohnungsnot.

3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot

Die Ursachen von Wohnungsnot sind so vielfältig wie die Heterogenität der Personengruppe (Gerull, 2015, S. 308; Steckelberg, 2018). So setzte sich die Personengruppe aus Menschen zusammen, die langjährige – teils über Generationen hinweg – Armutserfahrungen hatten und marginalisiert wurden sowie aus „Professoren, Ärztinnen, Facharbeiter[n] oder Künstlerinnen“ (Gerull, 2015, S. 308), die kritische Lebensereignisse verarbeiten mussten. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für Wohnungsnot mit jeweils einem unterschiedlichen Verständnis von Wohnungsnot und den Ursachen von Wohnungsnot. Die Erklärungsansätze sind dabei eng verknüpft mit der Entwicklung des Hilfesystems und der definitorischen Fassung der Personengruppe (R. Lutz & Simon, 2017, S. 68). Die unterschiedlichen Erklärungsansätze können in zwei Gruppen zusammengefasst werden: Pathologiesierende individualisierende Erklärungsansätze sowie gesellschaftliche strukturelle Erklärungsansätze. Heute gelten die pathologiesierenden individualisierenden Erklärungsansätze als überwunden und die gesellschaftlichen strukturellen Erklärungsansätze als am ehesten geeignet, Wohnungsnot erklären zu können (Gillich & Nieslony, 2000, S. 142). R. Lutz und Simon (2017) benennen als Zäsur in diesem Paradigmenwechsel das Grundsatzprogramm der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe (1986), dem Vorläufer der BAG W, sowie die Einführung des Wohnungsnotfallbegriffs des Deutschen Städtetags, 1987 (R. Lutz & Simon, 2017, S. 69). Einen detaillierten Überblick über verschiedene Erklärungsansätze sowie einen interessanten Einblick in den Paradigmenwechsel gibt Albrecht (1990) mit seinen Ausführungen zu einer interdisziplinären Untersuchung „Lebensläufe“. Auch John (1988) gibt eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen Ansätze. Im Folgenden werden ein kurzer Überblick über die verschiedenen Ansätze gegeben und die dieser Arbeit zurgrundeliegenden theoretischen Ansätze sowie das Verständnis von Wohnungsnot dargelegt.

Die Abkehr von den pathologiesierenden individualisierenden Erklärungsansätzen – wie beispielsweise dem psychiatrisch-neurologischen Ansatz der Poriomanie (Rohrmann, 2016, S. 807–813) oder dem psychologischen Ansatz, wie ihn beispielsweise „die Forschungsgruppe um Wickert“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 135) vertritt – ist begründet in methodischen Fehlern, Voreingenommenheit gegenüber dem Untersuchungsgegenstand sowie schlicht dem Fehlen empirischer Beweise (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 20–22; Gillich & Nieslony, 2000, S. 136; John, 1988, S. 83; Rohrmann, 2016, S. 813; Schmid, 1990, S. 26). „Eine spezifische Persönlichkeitsstruktur von Wohnungslosen kann nicht bestätigt werden“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 136). Aus heutiger Sicht ist verwunderlich, dass die erheblichen negativen Konsequenzen im Nationalsozialismus – unter anderem Sterilisation und Mord (Giffhorn, 2017b, S. 275–280; R. Lutz & Simon, 2017, S. 66; Ratzka, 2012, S. 1222–1223) – keine frühere Abkehr von den pathologiesierenden individualisierenden Erklärungsansätzen zur Folge hatte. Der Begriff des ‚Nichtsesshaften‘ mit seinen Vorurteilen und negativen Projektionen, der durch die sogenannte ‚Wanderer- und Nichtsesshaftenforschung‘ der Nationalsozialisten etabliert wurde (Ratzka, 2012, S. 1222), wurde erst durch die Einführung des Wohnungsnotfallbegriffs des Deutschen Städtetags (1987) abgelöst. R. Lutz und Simon (2017) erklären diese Tatsachen dadurch, dass es „auch in der Nichtsesshaftenhilfe […] keine»Stunde Null«“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 67) gab und die Erklärungsansätze nach dem Krieg fortwirkten.

Die Korrelation zwischen „ökonomischen Bedingungen, Wertvorstellungen, Ausprägungen des Rechtssystems […] und sozialen Problemen beziehungsweise sozialpolitischen Maßnahmen“ (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22) kann vielfach nachgewiesen werden und ist eng verknüpft mit der Entwicklung des HilfesystemsFootnote 16 (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22–23). Diese Korrelation verweist darüber hinaus auf die, für die vorliegende Arbeit bedeutende, Intersektionalität und Stigmatisierung, die ebenfalls in einer engen Verbindung zu Normen und Wertvorstellungen stehen (siehe Kapitel 2 Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität und Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Gesellschaftliche strukturelle Erklärungsansätze aus der Soziologie, wie

  • „Anomie-Theorie“ (Paegelow, 2012, S. 35) und weitere „devianz-theoretische Ansätze“ (Albrecht, 1990, S. 30),

  • die Theorie der „Stressful Life-Events“ (Albrecht, 1990, S. 64–71),

  • ‚Labeling-Approach‘,

  • „Deklassierungstheorie,

  • Randgruppentheorie […] [und die]

  • Theorie der Subkultur“ (Paegelow, 2012, S. 35) aber auch der

  • „Armutsansatz […] [und der]

  • Unterversorgungsansatz“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 136–138)

wenden den Blick „vor allem [auf] die Berücksichtigung umfassender gesellschaftlicher Entwicklungen und der Praktiken und organisatorischen Strukturen von gesellschaftlichen Instanzen sozialer Kontrolle“ (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22). Der Labeling-Approach-Ansatz, oder auch Etikettierungs- und Stigmatisierungsansatz (Albrecht, 1990, S. 34–42; Gillich & Nieslony, 2000, S. 139–140), ist der Ansatz, auf den die vorliegende Arbeit hauptsächlich rekurriert, da er eng mit den Ideen Goffmanns zu Stigmatisierung verbunden ist (Schmid, 1990, S. 15). Der Labeling-Ansatz erfährt große Akzeptanz (Paegelow, 2012, S. 35) und erklärt insbesondere die Manifestierung von Wohnungsnot (Gillich & Nieslony, 2000, S. 142). Grundidee ist, dass Menschen in Wohnungsnot negative Stereotype der Öffentlichkeit wahrnehmen und sich diese selbst aneignen. Daraus resultieren die Auf- und Übernahme zugeschriebenen Verhaltens und Erscheinens sowie die eigene Selbststigmatisierung (Goffman, 1972; Link et al., 1987). Dahinter steht die Annahme, dass Wohnungsnot von der Gesellschaft konstruiert wird (Albrecht, 1990, S. 35; Oberhuber, 1999). Albrecht (1990, S. 35) schränkt diese Annahme jedoch ein und konstatiert, dass bestimmte Merkmale einer Person zu einer Stigmatisierung führen können. Bei dieser Einschränkung, so Albrecht (1990, S. 35), müsse man jedoch auch beachten, dass „beobachtete Abweichungen Ergebnis von informellen und formellen gesellschaftlichen Reaktionen auf früheres […] Verhalten“ (Albrecht, 1990, S. 35) sein können, und dass „«objektiv» abweichendes Verhalten auch auftreten […] [könne], ohne daß […] [es eine] gesellschaftliche Reaktion“ (Albrecht, 1990, S. 35) gebe. Ist die Idee einer Konstruktion von Obdachlosigkeit noch passend, wird die Übertragung dieser Annahme auf die gesamte Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot problematisch. Menschen, die in verdeckter, respektive versteckter Wohnungsnot leben, können nicht als sich in Wohnungsnot befindend identifiziert werden, wodurch wiederum keine Aneignung zugeschriebener Verhaltens- und Erscheinungsweisen geschehen würde. Die Personen wären also nicht in Wohnungsnot, wobei sie es faktisch sind. Dass der Labeling-Ansatz insbesondere bei der Manifestierung von Wohnungsnot eine bedeutende Rolle spielt, ist schlüssig. Der Ansatz verweist aber auch auf die Bedeutung des dynamischen Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft, die relevant für die Entstehung von Wohnungsnot ist (siehe Abschnitt 3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot).

Ebenfalls interessant und für die vorliegende Arbeit beachtenswert ist die Verknüpfung einer modifizierten Anomie-TheorieFootnote 17 mit Sozialisationstheorien und Theorien der Familiendesorganisation von Albrecht (1990, S. 32–33). Dabei fokussiert er die Rolle von Männern in der Gesellschaft sowie in besonderem Maße innerhalb der Familie (Albrecht, 1990, S. 32). Auch in der vorliegenden Arbeit wird Geschlecht im Kontext von Wohnungsnot eine großen Bedeutung zugeschrieben (siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot). Albrecht (1990, S. 32) erklärt die beobachtete Verteilung, „daß»Nichtseßhafte« nahezu ausschließlich männlichen Geschlechts sind“ (Albrecht, 1990, S. 32) – und somit die Relevanz von Geschlecht – mit einer Bedrohung von Misserfolgserlebnissen, denen Männern, durch die instrumentelle Rolle innerhalb der Familie ausgesetzt sind. Er resümiert, stark überspitzt, dass

Familienväter aus der Unterschicht

  1. [1]

    […] erheblich stärker beruflichen Frustrationen ausgesetzte [sind]

  2. [2]

    […] in geringerem Maße adäquates Problemlösungsverhalten erlernt [haben]

  3. [3]

    […] seit der Kindheit in höherem Maße Identitätsfindungsprobleme (speziell in Bezug auf die Rolle des Mannes) [haben]

  4. [4]

    […] sich häufiger einer matriarchalischen Familie gegenüber [finden]

  5. [5]

    […] in der sie durch ihre Beschränkungen […] zusätzlich marginalisiert sind

als Männer aus den «höheren» sozialen Schichten (Albrecht, 1990, S. 32).

Der starke Fokus auf unterschiedliche soziale Schichten überrascht. Albrecht betrachtet nur diejenigen Personen, welche langjährigen – und teils über mehrere Generationen hinweg – Armuts- und Marginalisierungserfahrungen ausgesetzt sind. Personen, die diese Lebenserfahrungen nicht teilen, jedoch in Wohnungsnot sind, werden dabei außen vorgelassen. Geschlecht ist die bestimmende Determinante gesellschaftlichen Zusammenlebens (Köbsell, 2010, S. 17; Küppers, 2012, S. 3–6) und somit sind alle Personen in der Gesellschaft von den Auswirkungen von Geschlecht betroffen. Der enge Fokus von Albrecht auf ‚niedrigere Schichten‘ kann die komplexe Bedeutung von Geschlecht nur in Ansätzen aufzeigen. Dennoch ist Albrechts Verknüpfung der verschiedenen Theorien beachtenswert, weil er die Bedeutung von Geschlecht und damit die Verteilung von Geschlecht innerhalb der Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot mittels einer Theorie erklärt.

Des Weiteren lohnt der Blick auf die von Albrecht (1990, S. 64–72) ausführlich dargestellte Theorie der „Stressful Life-Events“. Trabert (2005, S. 168) hält fest, dass Menschen in Wohnungsnot und insbesondere Männer in Wohnungsnot häufig von Lebensereignissen betroffen sind – „Tod des Ehepartners […], Scheidung […], eheliche Trennung […], Gefängnis […], Tod eines nahen Angehörigen […] Persönliche Verletzung/Krankheit […] und Kündigung“ (Trabert, 2005, S. 168) – die eine hohe Anpassungsleistung erfordern. Albrecht verbindet dieses ‚Coping-Verhalten‘ mit Identitätstheorien (Albrecht, 1990, S. 67–69). Diese Verbindung ist für die vorliegende Arbeit äußerst interessant: Eine ‚beschädigte Identität‘ (Goffman, 1963; siehe auch Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot), die Folge einer Stigmatisierung, beeinflusst das ‚Coping-Verhalten‘. Große Bedeutung beim ‚Coping-Verhalten‘ misst Albrecht (1990, S. 72) strukturellen Gegebenheiten und im Kontext von Wohnungsnot strukturellen Benachteiligungen zu, die eine „Spirale des Unheils“ (Albrecht, 1990, S. 71) bedingen.

Die verschiedenen Erklärungsansätze weisen unterschiedliche Implikationen für die vorliegende Arbeit auf. Zum einen machen die Erklärungsansätze deutlich, dass bei einer Untersuchung von Wohnungsnot strukturelle und gesellschaftliche Bedingungen in den Blick genommen werden müssen. Die inzwischen überholten Erklärungsansätze forcierten die Stigmatisierung von Wohnungsnot und zeigen somit deutlich, dass Stigmatisierung und Abwertung eine bedeutende Funktion im Kontext von Wohnungsnot einnehmen. Albrechts modifizierte Anomie-Theorie versucht zwar die Bedeutung von Geschlecht zu erklären, schafft dies aber wie dargelegt nicht in Gänze. Die mit seinem Versuch einhergehende Individualisierung männlicher Problemlagen zeigt deutlich, dass bei Untersuchung von Wohnungsnot der Fokus auf die Kategorie Geschlecht gelegt werden muss.

3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot

Wieso bestimmte Menschen in Wohnungsnot geraten, wieso es bei einigen Menschen zu einer Verfestigung von Wohnungsnot kommt oder wieso wiederum andere Menschen trotz verschiedenster Faktoren nicht in Wohnungsnot geraten, kann keine Theorie hinreichend erklären (Gillich & Nieslony, 2000, S. 143). So wie es nicht die eine umfassende Theorie zu Wohnungsnot gibt (Paegelow, 2012, S. 35) so gibt es auch nicht die eine Ursache von Wohnungsnot (Gerull, 2015, S. 308). Darüber hinaus bleibt auch die Frage nach Ursache und Folge im Kontext von Wohnungsnot unbeantwortet (Gerull, 2015, S. 308). Klar ist, dass eine komplexe und dynamische Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft zu Wohnungsnot führt (Koegel et al., 1996). Die verschiedenen Theorien liefern dabei jeweils für spezifische Aspekte von Wohnungsnot Erklärungsansätze und somit Problemzugänge (Albrecht, 1990, S. 33).

Die vorliegende Arbeit kommt den Forderungen nach mehr Forschung und einem theoretischen Rahmen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 143; Paegelow, 2012, S. 35) mit dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnis von Wohnungsnot, der Verbindung von Wohnungsnot mit der Theorie von Stigmatisierung und der Intersektionalität sowie den unterschiedlichen wissenschaftlichen Untersuchungen nach. Die Verbindung von Wohnungsnot, Stigmatisierung und Intersektionalität reduziert die Komplexität von Wohnungsnot und stellt einen Ordnungsrahmen her (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Ordnungsrahmen). Das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Wohnungsnot beruht auf dem komplexen und dynamischen Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft. Dabei bewegt sich jedes Individuum in einem von der Gesellschaft vorgegebenen Rahmen. Armut und – das liegt auf der Hand – fehlender WohnraumFootnote 18 werden als die Hauptursachen von Wohnungsnot identifiziert (Koch, 1984, S. 161; Specht, 2017a, S. 29–31). Die Theorie von Stigmatisierung (Goffman, 1972) und der Ansatz der Intersektionalität (Crenshaw, 1989; siehe Kapitel 2. Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität und Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot) weisen beide eine hohe Ähnlichkeit auf. Beide Konzepte thematisieren Ungleichheitserfahrungen, Machtkonstellationen und Machterhalt sowie Ungleichheitsbehandlungen über ein meritokratisches System der Normen und Normabweichungen (Baldin, 2014; Cloerkes, 2007; Finzen, 2013; Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 2; Walgenbach, 2012; Yuval-Davis, 2010). Des Weiteren verweisen beide Konzepte auf eine dynamische und komplexe Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft.

Das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Wohnungsnot orientiert sich an der Intersektionalen Mehrebenenanalyse als einem Ordnungsrahmen (siehe Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot). Die Korrelation von „ökonomischen Bedingungen, Wertvorstellungen, Ausprägungen des Rechtssystems […] und sozialen Problemen beziehungsweise sozialpolitischen Maßnahmen“ (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22) ist eng verknüpft mit Wohnungsnot (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22–23). Auch Specht (2017a, S. 29–31) und Wolf (2016, S. 8) verweisen auf die Bedeutung von gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen von Wohnungsnot.

Wohnungsnot entsteht dabei im gleichzeitigen Zusammenwirken von verschiedenen Kategorien, die sich gegenseitig beeinflussen und Wechselwirkungen unterliegen. Dieses Zusammenwirken der verschiedenen Kategorien bildet die Lebenswirklichkeit eines jeden Individuums und geschieht im Rahmen von gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Wohnungsnot entsteht, sind Armut und die mangelnde Versorgung mit Wohnraum. Stigmatisierungsprozesse als Resultat einer Abweichung von einem meritokratischen System der Normen führen zu negativen Konsequenzen, welche wiederum Ausgangspunkt für eine Wohnungsnot sein können und die Lebenslage von Menschen in Wohnungsnot verschärfen. Als bedeutende Differenzierungskategorien im Kontext von Wohnungsnot können Geschlecht und Gesundheit identifiziert werden (näheres dazu in den Kapiteln 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot und 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot).

3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot

Die Entwicklung des Hilfesystems ist eng verknüpft mit dem Verständnis von Wohnungsnot, der Definition des Begriffs und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere dem Verständnis von Armut. Seit der Bestimmung von materiellem Besitzt tritt Armut als Phänomen gesellschaftlichen Zusammenlebens auf (Gerull, 2011, S. 42; R. Lutz & Simon, 2017, S. 13). Dabei ist, wie gezeigt wird, die Entwicklung des Hilfesystems durchdrungen von Abwertung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot. John (1988) und auch Treuberg (1990) geben eine detaillierte und äußerst ausführliche Übersicht der Entwicklung von Armut mit einem Fokus auf Wanderungsbewegungen der von Armut betroffenen Menschen. Mit seinem Überblick über die verschiedenen Epochen deutscher Geschichte (beginnend mit der Erwähnung großer Wanderbewegungen im Jahr 800 im Karolinger-Reich bis ins Jahr 1985) kann John Ausgrenzung – die auch den Zweck der Kontrolle hatte (John, 1988, S. 174; Ratzka, 2012, S. 1219) –, Vertreibung und/oder Flucht als die entscheidenden Faktoren für Wanderungen und das Leben ohne festen Wohnsitzt identifizieren (John, 1988, S. 160–415).

Das Mittelalter und die Rolle der Kirche

Die von John (1988) beschriebenen ‚wandernden‘ Gruppen sind gekennzeichnet durch ihre Heterogenität. So gehörten zu der Personengruppe auch die Landstraßenbevölkerung, zu der unter anderem „Artisten, Gaukler, Possenreißer, Sänger, Spielleute, Fechter, Tänzer, Schauspieler“ (John, 1988, S. 162) gehörten, wie auch wandernde Handwerksgesellen (Ratzka, 2012, S. 1218–1219). Bis ins späte Mittelalter sind Arme und Bettler jedoch überwiegend „noch integrierte Mitglieder der mittelalterlichen Gesellschaft“ (Albrecht, 1990, S. 23; John, 1988, S. 409). Wobei Ratzka (2012, S. 1218) konstatiert, dass nicht das Merkmal der Mobilität das wesentliche Charakteristikum darstellte, sondern materielle Not sowie politische und soziale Isolierung. In der mittelalterlichen Gesellschaft, so das damalige Verständnis, hatte jedes Individuum seine gottgegebene Funktion und seinen Platz in der Gesellschaft (Rohrmann, 2016, S. 806).

Mit ‚Spenden‘ respektive Almosen für Arme konnten Reiche sich bei der Kirche von ihren Sünden freikaufen (Rohrmann, 2016, S. 806). Die Kirchen verteilten diese Almosen an alldiejenigen, die bettelten, denn „[w]er bettelte, galt als legitimer Empfänger von Almosen“ (Rohrmann, 2016, S. 806). Eine Bedürftigkeitsprüfung entsprach dabei nicht der gesellschaftlichen Ordnung und bedurfte es somit nicht (Albrecht, 1990, S. 23). Die Konsequenz dieses Fehlens von Kontrollmechanismen ist der ausbleibende Prozess der Ausgliederung von Armut aus der Gesellschaft und somit dem Ausbleiben von „Stigmatisierung und Entwürdigung der Empfänger von Unterstützung“ (Albrecht, 1990, S. 23).

Der Wandel zu einer städtischen Armenfürsorge

Mit der fortschreitenden Auflösung der Ständegesellschaft sowie dem Erstarken städtischen Bürgertums wandelte sich die feudalistische Subsistenzwirtschaft zu einer bürgerlichen-kapitalistischen Produktionsweise (Rohrmann, 2016, S. 806). Das meritokratischen Leistungsprinzip gewann dabei an Bedeutung in der Gesellschaft und Arbeit wurde als bürgerliche Tugend verstanden (Rohrmann, 2016, S. 806). Auch die Entwicklung der protestantischen Arbeitsethik (John, 1988, S. 409; Rohrmann, 2016, S. 806) führte zu einer Almosen-Dogmatik und somit zu Kriterien für die Berechtigung des Almosenempfangs (Albrecht, 1990, S. 24). Die beginnenden Prozesse der Ausgliederung von Armut und die umfassende Wandlung der städtischen Armenfürsorge können mit den Begriffen „Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung bezeichnet werden“ (Albrecht, 1990, S. 23). Mit Erstarken des städtischen Bürgertums und der damit einhergehenden Entstehung bürgerschaftlichen Engagements für die Stadtgesellschaft verschob sich die Zuständigkeit der Armenfürsorge von den Kirchen auf die Städte (Albrecht, 1990, S. 23).

Diese Kommunalisierung hatte zur Folge, dass die an bestimmte Territorien gebundenen Körperschaften der Städte nur noch Verantwortung für die ‚eigenen‘ Armen übernahmen (Albrecht, 1990, S. 23). Damit einhergehend erfolgte eine Rationalisierung sowie Bürokratisierung der Hilfen. Bestimmte Kriterien – wie beispielsweise „Arbeitsfähigkeit, Familiensituation und Arbeitseinkommen“ (Albrecht, 1990, S. 24) –  für die Berechtigung von Unterstützungsleistungen wurden definiert und die Finanzierung dieser Hilfen wurde vereinheitlicht (Albrecht, 1990, S. 24; Rohrmann, 2016, S. 806). Dabei entstanden Reglements und Ordnungen, die durch eine städtische Instanz – früher Bettelvögte und Armenwächter und heute Fürsorge- oder Sozialämter (Rohrmann, 2016, S. 806–807) –durchgesetzt wurden. Es ging darum, dass nur „wirklich Bedürftige […] Almosen erhalten [sollten]“ (Rohrmann, 2016, S. 806). Erst durch diese Praktiken entstand die abgrenzbare Gruppe der Bedürftigen und somit die Ausgliederung aus der Gesellschaft sowie die Stigmatisierung und Entwürdigung der Empfänger. Auch kann mittels der Kriterien die Personengruppe in gute und schlechte Bettler/Bedürftige eingeteilt werden (Albrecht, 1990, S. 24). Schlechte Bettler wurden dabei kriminalisiert und pathologisiert, ihnen wurde ein ihnen anheftendes Wesensmerkmal zugeschrieben (Rohrmann, 2016, S. 807). Die moralische Abwertung von Armen und Armut geht einher mit der Pädagogisierung der Armenfürsorge. Über moralische Kontrolle und öffentliche Erziehungsmaßnahmen sollte die abgrenzbare Gruppe der Armen nach ihrer Ausgliederung aus der Gesellschaft über eine Verhaltensveränderung (R. Lutz & Simon, 2017, S. 17) wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden (Albrecht, 1990, S. 24–25).

Die Entstehung des Wohnungslosenhilfesystems

Als Ursprung des heutigen organisierten Wohnungslosenhilfesystems kann die Entstehung der kirchlich initiierten Wanderarmenhilfe-Einrichtungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts definiert werden (Gillich & Nieslony, 2000, S. 108; John, 1988, S. 250–256; R. Lutz & Simon, 2017, S. 19–20; Ratzka, 2012, S. 1219). Vorläufer dieses Systems sind Hospitäler, Klöster und Elendenherbergen (John, 1988, S. 177), aber auch die später entstehenden Armen-, Waisen- und Arbeitshäuser (John, 1988, S. 204).

Die Wanderarmenhilfe im 19. Jahrhundert war ein dreigliedriges System bestehend aus Herbergen zur Heimat, Arbeiterkolonien sowie der Naturalverpflegestationen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 108; R. Lutz & Simon, 2017, S. 24; Ratzka, 2012, S. 1220). Maßgebliche Personen der Entwicklung der Wanderarmenhilfe waren Johann Heinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission gründete 1833 das Raue Haus in Horn bei Hamburg, Adolf Kolping, der 1846 den ersten katholischen Gesellenverein gründete, Clemens Theodor Perthes, der unter dem maßgeblichen Einfluss von Wichern in Bonn 1854 die erste Herberge zur Heimat begründete sowie Friedrich von Bodelschwingh, der 1882 die erste Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf gründete (John, 1988, S. 250; R. Lutz & Simon, 2017, S. 24–25; Ratzka, 2012, S. 1220).

Auslöser für diese Gründungen waren die große Not und das Elend der stark gestiegenen Zahl der von Armut betroffenen Menschen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 108; John, 1988, S. 250; R. Lutz & Simon, 2017, S. 21) im Zuge der industriellen Revolution und bedeutenden sozialen Umwälzungen im 19. JahrhundertFootnote 19 (Gerull, 2011, S. 46–47; John, 1988, S. 240–241; Ratzka, 2012, S. 1219). Die daraus resultierenden „großen Wanderbewegungen, die vom Angebot von Lohnarbeit bestimmt waren“ (Ratzka, 2012, S. 1219), wurden von den neugegründeten Einrichtungen in den Blick genommen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 108). Dabei ging es Wichern und Kolping zum einen um die „sittlich-moralische und religiöse Not“ (John, 1988, S. 250) der betroffenen Menschen als auch die Abwehr „einer möglichen direkt bevorstehenden sozialen und politischen Umwälzung durch den Kommunismus“ (John, 1988, S. 250).

Die drei unterschiedlichen Einrichtungstypen übernahmen verschiedene Funktionen im entstehenden Hilfesystem. Die Herbergen boten einfache Übernachtungsstellen und sollten „das Wandern in geregelte Bahnen lenken“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 109; Ratzka, 2012, S. 1220). Naturalverpflegungsstationen „lagen nicht weiter als einen halben Tagesmarsch voneinander entfernt“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 110) und versorgten betroffene Menschen mit Verpflegung und Kleidung. Die Stationen dienten ebenso der Regulierung des Wanderns sowie der Kontrolle der betroffenen Personen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 110; Ratzka, 2012, S. 1220).

Die von Bodelschwingh gegründeten Arbeiterkolonien müssen besonders hervorgehoben werden (Ratzka, 2012, S. 1220). Im Gegensatz zu den Herbergen und Naturalverpflegungsstationen, die „sich dem gesunden und wanderfähigen Wanderarmen […] widmeten“ (Ratzka, 2012, S. 1220), richtete sich das Angebot der Arbeiterkolonien an „[h]eruntergekommene[…] und verwahrloste[…] Männer[…] (Gillich & Nieslony, 2000, S. 109). Die konzeptionelle Idee ‚Arbeit statt Almosen‘ sowie die längerfristige Unterkunft und Verpflegung wurden handlungsleitende Überlegungen für den Umgang mit Menschen ohne Wohnung (R. Lutz & Simon, 2017, S. 27). Die Anlagen von Bodelschwingh hatten Symbol- und Modellcharakter für die weitere Entwicklung des Hilfesystems (R. Lutz & Simon, 2017, S. 61).

Insgesamt verbreiteten sich die verschiedenen Einrichtungstypen schnell (Gillich & Nieslony, 2000, S. 108–110) und hatten bis 1933 einen entscheidenden Einfluss auf die Sozialgesetzgebung (R. Lutz & Simon, 2017, S. 27). Betroffene waren jedoch „unverändert den alten, aber auch neuen, teilweise subtilen Stigmatisierungen ausgesetzt“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 61). Die Unterteilung in Arbeitsame und Arbeitsscheue legitimierte Hilfe und Unterstützung auf der einen Seite und Bestrafung und Kriminalisierung auf der anderen Seite (Gillich & Nieslony, 2000, S. 111; R. Lutz & Simon, 2017, S. 61). Trotz des differenzierten Blicks von Bodelschwingh auf Wanderarmut als Resultat struktureller Gesellschaftsbedingungen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 61), individualisierte die kirchliche Armenfürsorge die Problemlagen der BetroffenenFootnote 20 (R. Lutz & Simon, 2017, S. 27).

Asyle für Menschen in Wohnungsnot und Obdachlosigkeit

In Konkurrenz zu den drei Einrichtungstypen standen die ab 1869 entstandenen AsyleFootnote 21 (John, 1988, S. 369). Die städtischen oder durch private Initiativen entstandenen Asyle gewährten die Möglichkeit ohne (Arbeits-/) Gegenleistung zu nächtigen (John, 1988, S. 369). Auch wenn die Anzahl der Übernachtungen begrenzt war, leisteten die Asyle einen wesentlichen Beitrag zur Entkriminalisierung von Wohnungslosigkeit (John, 1988, S. 369–371). John (1988, S. 371) konstatiert eine faktische Anerkennung der Hilfebedürftigkeit durch den Verzicht auf Auswahl und Abschreckungsmaßnahmen.

Die Weimarer Republik

In den ersten Jahren der Weimarer Republik entstand eine neuartige materielle Absicherung aller Arbeitslosen durch Veränderungen der Gesetzgebung und Sicherungssysteme (John, 1988, 333–335, 373; Ratzka, 2012, S. 1220). Die Zahl der Menschen ohne Wohnung sank erheblich (John, 1988, S. 313). Die sozialdemokratisch geprägte Politik unterschied deutlich zwischen Arbeiter- und Armenpolitik und widmete sich vorrangig der Existenzsicherung der Arbeiter, wodurch sich das Klientel der Einrichtungstypen erheblich veränderte (Ratzka, 2012, S. 1220). Der Fokus lag nun auf der ‚Vagabundenfrage‘ und der Fürsorge für ‚Erwerbsgeminderte‘ und ‚Arbeitsunfähige‘Footnote 22 (Ratzka, 2012, S. 1220–1221).

Der deutliche Rückgang der Zahl der Menschen ohne Wohnung und die veränderte Zielgruppe führten zu einer extremen Unterbelegung der Einrichtungen (John, 1988, S. 313). Die restriktiven und rigorosen Maßnahmen des dreigliedrigen Hilfesystems hatten jedoch weiterhin bestand (John, 1988, S. 372) und gliederten „den Betroffenen beruflich und sozial aus“ (John, 1988, S. 368). Zur eigenen Existenzsicherung (John, 1988, S. 333) forderten die Einrichtungen gesetzliche Grundlagen zur zwangsweisen Unterbringung derjenigen Personen, „die als wander-/arbeitsunfähig und fürsorgebedürftig eingestuft wurden“ (John, 1988, S. 378–380; Ratzka, 2012, S. 1221). Diese Forderungen begründeten die Einrichtungen mit psychologisch und psychiatrischen Theorien (Ratzka, 2012, S. 1221) und einer volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung (John, 1988, S. 379). Die Theorien postulierten als Ursache des Wanderns einen Wandertrieb, eine ‚abnorme‘ Persönlichkeit oder auch einen Zusammenhang von Wohnungslosigkeit mit Schwachsinn, Minderbegabung oder geistiger Behinderung (Ratzka, 2012, S. 1221; siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot).

Die nationalsozialistische Diktatur

Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise führte zu einem rapiden Anstieg der Menschen ohne Wohnung (John, 1988, S. 319; R. Lutz & Simon, 2017, S. 26). Die ab 1933 regierenden Nationalsozialisten begegneten diesem Anstieg mit strengen Kontrollen und Verfolgungswellen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 114; John, 1988, S. 319–320; R. Lutz & Simon, 2017, S. 28) aber auch der „massenhaften Rekrutierung jüngerer Wohnungsloser“ (John, 1988, S. 320). Bezugnehmend auf die psychologischen und psychiatrischen Theorien sowie der volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung erfolgte ab dem Jahr 1938 die systematische Vernichtung in Konzentrationslagern (Gillich & Nieslony, 2000, S. 114; John, 1988, S. 320; R. Lutz & Simon, 2017, S. 29; Ratzka, 2012, S. 1222–1223).

Festgehalten werden kann bisher, dass die Entwicklung des Hilfesystems geprägt ist durch Vertreibungen und Abwertungen. Ausgehend von der „Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung“ (Albrecht, 1990, S. 23) erfolgte aufgrund eines deutlichen Rückgangs der Zahlen die Pathologisierung von Armut und Wohnungsnot (Rohrmann, 2016). Einen negativen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in der Vernichtung sogenannten ‚unwerten‘ Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus (Gerull, 2011, S. 49; Giffhorn, 2017b, S. 279; John, 1988, S. 391).

Die Nachkriegszeit

Nach der Zerstörung und Schließung aller Einrichtungen im Krieg (Gillich & Nieslony, 2000, S. 114) wurden die ehemaligen Einrichtungen der ‚Wanderfürsorge‘ aufgrund der kriegsbedingten großen Not schnell wieder aufgebautFootnote 23 (Gillich & Nieslony, 2000, S. 115). Inhaltlich erfolgte jedoch keine Neuorientierung sondern eine Fortsetzung des „kontrollierenden und arbeitsfordernden Fürsorgeverständnis“ (Ratzka, 2012, S. 1223). Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Mitwirken bei der Vernichtung während des Nationalsozialismus fand nicht statt (Ratzka, 2012, S. 1223). Im Gegenteil, die Begrifflichkeit des ‚Nichtsesshaften, eingeführt von den Nationalsozialisten 1938 (R. Lutz & Simon, 2017, 29/66), wurde übernommen. Die Wanderfürsorge nannte sich jetzt Nichtsesshaftenfürsorge (Gillich & Nieslony, 2000, S. 114).

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der neuen Bundesrepublik blieben ‚auf der Straße‘ nur diejenigen, die „nicht oder nur schwer in das Arbeitsleben integriert werden konnten“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 115). Begründet wurde diese Nicht-Integrierbarkeit erneut mit persönlichen Defiziten und Störungen der betroffenen Personen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 115). Die Nichtsesshaftenhilfe definierte ihr Klientel als „bindungslose, dauermobile […] Personen“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 115), die „Zielschwäche und eine geistige, sittliche oder materielle Heimatlosigkeit aufwiesen“ (Ratzka, 2012, S. 1223). Bemerkenswert ist dabei, dass es faktisch keine zweckgebundenen ‚Wanderungen‘ mehr gab (John, 1988, S. 322). Wohnungslose Personen waren jedoch vielfach durch stattliche Regelungen, wie beispielsweise die Unterkommensverpflichtung, dazu genötigt, Gemeinden so schnell wie möglich zu verlassen (John, 1988, S. 323). Die Einführung des Bundessozialhilfegesetzes 1962 kam zum einen den Forderungen zur Zwangsunterbringung nach – erneut bedingt durch Belegungsprobleme der Einrichtungen (John, 1988, S. 397) – führte aber auch gleichzeitig zur Anerkennung der Hilfe durch einen Anspruch auf Kostenerstattung durch die Träger der Sozialhilfe (Gillich & Nieslony, 2000, S. 117). Auch wenn die psychiatrischen, psychologischen und moraltheologischen Erklärungen weiterhin das Hilfesystem dominierten (Ratzka, 2012, S. 1223), veränderte sich das Hilfesystem (Gillich & Nieslony, 2000, S. 117). ‚Sesshaftmachung‘ war nun erklärtes Ziel der Nichtsesshaftenhilfe, was eine deutliche Abkehr zur Grundidee war, den Menschen das Wandern zu erleichtern (Gillich & Nieslony, 2000, S. 116–117).

Die ‚Sesshaftmachung‘ als Ziel war integriert in ein Stufenmodel. Im Konzept des ‚Drei-Stufen-Heims‘ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 117) mussten sich die Hilfesuchenden zuerst auf den unteren Stufen bewähren (John, 1988, S. 400–401). Diese Bewährung mittels eines Stufensystems überdauerte bis in die heutige Zeit (Busch-Geertsema, 2017b, S. 114). Repressionen, Abwertungen, Arbeitsdruck und ein hohes Maß an Anpassung waren weiterhin Bestandteil der Hilfen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 117).

Eine weitere Veränderung betrifft die verschiedenen Einrichtungen. Alte und traditionelle „Einrichtungen, wie die Herbergen zur Heimat oder […] Arbeiterkolonien, stagnierten, die meisten Wanderarbeitsstätten verschwanden“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 117–118), neue Einrichtungen mit dem Drei-Stufen Konzept entstanden (John, 1988, S. 401). Das Ziel der ‚Sesshaftmachung‘ verweist auf die weiterhin bestehende Unterscheidung zwischen Nichtsesshaften- und ObdachlosenhilfeFootnote 24 (Ratzka, 2012, S. 1225). Das angebliche Merkmal der Mobilität beantwortete „die Frage der Zuständigkeit von örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger“ (Ratzka, 2012, S. 1225). Der überörtliche Sozialhilfeträger ist sozialrechtlich begründet zuständig für ‚mobile‘ Personen, wohingegen der örtliche Träger basierend auf Landesgesetzen zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zuständig ist für die ‚eigenen‘ Personen ohne Wohnung (Ratzka, 2012, S. 1225). Diese Aufteilung der Zuständigkeiten hat in einigen Bundesländern bis heute bestand, jedoch werden die entstehenden Kosten der Hilfen nach §§ 67–69 SGB XII heute zumeist über die örtlichen Sozialhilfeträger abgerechnet (R. Lutz & Simon, 2017, S. 94). Die ordnungsrechtliche Unterbringung in Obdachlosenasylen oder Wohnungen wird von der Kommune organisiert und vollzogenFootnote 25. Die Hilfen zur Überwindung von besonderen sozialen Schwierigkeiten, also die ehemalige Nichtsesshaftenhilfe, wird von vom überörtlichen Träger organisiert und finanziert.

Paradigmenwechsel im Hilfesystem

Beginnend mit der Aufhebung der Zwangsbewahrung durch das Bundesverfassungsgericht 1967 (Ratzka, 2012, S. 1224) wurden die Abwertungen und Ausgrenzungen Anfang der 70er-Jahre schrittweise abgebaut (Gillich & Nieslony, 2000, S. 118). Dieser Paradigmenwechsel des Hilfesystems war bedingt durch eine sich verändernde gesellschaftspolitische Situation (Ratzka, 2012, S. 1224; Treuberg, 1990, 191;197–198). Als Zäsur dieses Paradigmenwechsels muss das Grundsatzprogramm der Bundesarbeitsgemeinschaft Nichtsesshaftenhilfe (BAG NH) – heute BAG W – genannt werden (R. Lutz & Simon, 2017, S. 69). Das veränderte Hilfeverständnis ist geprägt durch zwei dominierende Betrachtungsweisen:

  • ein therapeutisches und

  • ein sozialpolitisches Selbstverständnis

    (Treuberg, 1990, S. 195)

Diese zwei Sichtweisen finden auch in der Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) 1974 Ausdruck (Ratzka, 2012, S. 1225). Gillich und Nieslony (2000) konstatieren:

Der neu gefasste §72 BSHG bedeutet die erstmalige gesetzliche Abkehr von einer Sichtweise, die von einer ausschließlich im Individuum angelegten Gefährdung seiner selbst und Verursachung seiner sozialen Not ausgeht. Die Betrachtung und Beschreibung von Hilfebedürftigkeit und Hilfe berücksichtigt nun auch die soziale Situation der Person. Diese neue rechtliche Verankerung der Hilfen trug der Tatsache Rechnung, dass sich die Gesellschaft mitverantwortlich erklärte für die soziale Notsituation der Betroffenen.

(Gillich & Nieslony, 2000, S. 123)

Auch wenn die im Hilfesystem traditionelle Sichtweise der Individualisierung somit bestehen bleibt (Treuberg, 1990, S. 211), betont das Hilfesystem nunmehr individuelle Defizite nicht als Ursache von Wohnungsnot, sondern als handlungsleitend für das eigene helfende Handeln (Treuberg, 1990, S. 196). Die neuen Sichtweisen führten zu einer deutlichen Professionalisierung (Treuberg, 1990, S. 194) und Ausdifferenzierung des Hilfesystems (Treuberg, 1990, S. 198). Das an eine Bedarfsgerechtigkeit orientierte Hilfesystem (Ratzka, 2012, S. 1226) differenziert nun zwischen verschiedenen Betreuungsintensitäten, Wohnformen und Problemschwerpunkten (Treuberg, 1990, S. 198). Große Bedeutung bei der Transformation des Hilfesystems und gleichzeitig Produkt dieser Transformation sind die zentralen Beratungsstellen sowie ambulante Hilfeformen (Gillich & Nieslony, 2000, S. 125; Ratzka, 2012, S. 1226–1227).

Das Hilfesystem – gegliedert durch die rechtlichen Grundlagen zur Hilfegewährung –  hat in dieser Form bis heute Bestand. Es entwickelte darüber hinaus ein Selbstverständnis des „anwaltschaftlichen Eintretens für die Klientel“ (Ratzka, 2012, S. 1226). Dabei geht es insbesondere um die Durchsetzung von Rechtsansprüchen (Ratzka, 2012, S. 1226; Treuberg, 1990, S. 199). Wenn auch deutliche Veränderungen in der Haltung – von der Ausgliederung und Abwertung hin zu einer Eingliederung und der Abkehr von der Betrachtung individueller Defizite als Ursache von Wohnungsnot – und ein „Bemühen um einen vorurteilsfreien Problemzugang“ (Treuberg, 1990, S. 251) zu identifizieren sind, sind das „Denken und Handeln der Wohnungslosenhilfe […] noch immer erheblich […] geprägt […] von der Behebung individueller Defizite“ (Gillich & Nieslony, 2000, S. 175 siehe auch Busch-Geertsema, 2017b, S. 114; R. Lutz & Simon, 2017, S. 94). Auch die Notwendigkeit, Zuständigkeiten zu definierenFootnote 26, führt zu neuen „Typisierungen von Wohnungslosen“ (Ratzka, 2012, S. 1227). Dabei, so konstatiert Ratzka (2012, S. 1227), besteht die Gefahr, dass diese Typisierungen für Stigmatisierungen benutzt werde.

Jedoch muss auch deutlich festgehalten werden, dass die „Verpflichtung der deutschen Gemeinden zur Zuweisung einer vorübergehenden Unterkunft für alle Haushalte, die unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind, beispielgebend [ist]“ (Busch-Geertsema, 2018b, S. 19). Darüber hinaus sind die staatliche Finanzierung und die Professionalisierung der Hilfen im internationalen Vergleich herausragend (Busch-Geertsema, 2018b, S. 19–20; Gerull, 2015, S. 311). Im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel müssen für Deutschland insbesondere „der Abbau stationärer Einrichtungen und Sonderwohnformen, der Ausbau vom ambulanten Beratungsstellen, von Fachstellen zu Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit und von persönlichen Hilfen in Wohnungen“ (Busch-Geertsema, 2017b, S. 113) genannt werden. R. Lutz und Simon (2017, S. 94–95) identifizieren eine Veränderung des Hilfesystems hin zu einem modernen und vielfältigen „Hilfe-, Dienstleistungs-, und Versorgungssystem“.

Fazit

Die ausführliche und detaillierte Darstellung des Hilfesystems in diesem Kapitel hat den Zweck, Stigmatisierung, Abwertung und Ausgrenzung als inhärenten Bestandteil von Wohnungsnot zu verdeutlichen. Wohnungsnot und die damit eng verbundene Armut sind seit jeher eng verknüpft mit strukturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, wie ökonomische Gegebenheiten, Wertvorstellungen und Normerwartungen, Ausprägungen des Rechtssystems sowie sozialpolitischen Maßnahmen (Albrecht & Groenemeyer, 2012, S. 22–23). Bemerkenswert ist, dass gerade das Hilfesystem als Profiteur dieser Abwertung und Ausgrenzung einen bedeutenden Anteil an der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot hatte. Dabei agierte es im Sinne einer christlichen Moralerziehung aber auch deutlich in einem eigenen Bewahrungsgedanken.

Die Erkenntnis für die vorliegende Arbeit ist die Notwendigkeit, die Strukturebene in den Fokus der Untersuchung von Wohnungsnot zu stellen, außerdem verdeutlicht das Kapitel, dass bei dieser Untersuchung von Wohnungsnot Stigmatisierung im Fokus stehen muss. Des Weiteren verdeutlicht der Blick auf die Entwicklung des Hilfesystems die Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Das Hilfesystem hat sich als Hilfe für männliche Wanderarbeiter entwickelt (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) und ist bedingt durch die enge Verknüpfung mit medizinisch-psychologischen Erklärungsmodellen eng verwoben mit der Idee eines leistungsfähigen gesunden Körpers.

3.7 Kategorien von Wohnungsnot

Wohnungsnot ist ein komplexes sowie heterogenes Phänomen (Gerull, 2014, 2015, ´308; R. Lutz & Simon, 2017, S. 103; Steckelberg, 2018). Es gibt nicht „den Wohnungslosen als einheitlichen Typus“ (H.i.O.) (R. Lutz & Simon, 2017, S. 101). Es können jedoch verschiedene Kategorien identifiziert werden, die einen entscheidenden Einfluss auf die Ungleichheitslage Wohnungsnot und die spezifischen Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot haben. Armut (Specht, 2017a, S. 29–31) und Herkunft (Jordan, 2017; Steckelberg, 2018, S. 41–42) sind zwei Kategorien, die Wohnungsnot inhärent sind (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument). Weitere Kategorien wie Geschlecht (Dubrow, 2009; Enders-Dragässer & Sellach, 2005; Fichtner, 2005; Ratzka, 2012, S. 1230–1231; Rosenke, 2017a; Steckelberg, 2018, S. 38), Gesundheit (Gerull & Merckens, 2012, S. 20–21; Kellinghaus, 2000; Nouvertné, 2002; Ratzka, 2012, S. 1236–1241; Rosenke, 2017c; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 13–32; Steckelberg, 2018, S. 40–41) und Alter (Gerull & Merckens, 2012, S. 22; Giffhorn, 2017a; Hoch, 2017; Specht, 2017b; Steckelberg, 2018, S. 39–41) zeigen insbesondere Unterschiede innerhalb der Gruppe der Menschen in Wohnungsnot auf und bedingen spezifische Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot.

Die Perspektive der Intersektionalität stellt, wie dargestellt, einen Ordnungsrahmen für das Phänomen Wohnungsnot dar (siehe Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot). Intersektionalität, also das Zusammenwirken und gegenseitige Beeinflussen verschiedener Kategorien, ermöglicht dabei einen detaillierten Blick auf die Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot und deren jeweilige spezifische Bedarfe. Die berechtigte Kritik einer individuellen Problembetrachtung durch eine solche intersektionale Perspektive (Davis, 2008b, S. 81; Walgenbach, 2012) muss insbesondere im Kontext von Wohnungsnot Beachtung finden. Eine individualisierende Sichtweise ist dabei keineswegs Ziel einer solchen Betrachtung. Die individuellen Bedarfslagen von Menschen in Wohnungsnot und die gesamtgesellschaftlichen Ursachen für Wohnungsnot sollen nicht aus einer dualistischen Perspektive, sondern als einander ergänzend betrachtet werden.

Im Kontext von Wohnungsnot ist die Anzahl der zu beachtenden Kategorien theoretisch unendlich. Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) bietet jedoch als Analyserahmen (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyserahmen) und Ordnungsrahmen eine Begrenzung der zu betrachtenden Kategorien an. Winker und Degele (2009, S. 37–53) identifizieren vier Kategorien, die bei einer Analyse struktureller Ungleichheiten deduktiv angewendet werden müssen. Die Adaption dieser Kategorien (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyserahmen) ist deckungsgleich mit den Kategorien, die im Kontext von Wohnungsnot als relevant identifiziert werden können: Armut, Herkunft, Geschlecht und Gesundheit. Diese Passung ist allerdings nicht verwunderlich. Winker und Degeles Intersektionale Mehrebenenanalyse ist zur Analyse von Ungleichheiten konzipiert und Wohnungsnot ist in besonderem Maße eine Ungleichheitslage.

Die Kategorien Geschlecht und Gesundheit sind für die vorliegende Arbeit von gesondertem Interesse. Beide Kategorien nehmen eine bestimmende Position für die Lebenswirklichkeiten und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot ein. Darüber hinaus haben beide Kategorien einen großen Einfluss auf die Stigmatisierungsprozesse von Menschen in Wohnungsnot. Aufgrund dieser Relevanz für die vorliegende Arbeit werden die Kategorien Geschlecht und Gesundheit jeweils ausführlich in einem eigenständigen Kapitel betrachtet (Kapitel 4. Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot sowie Kapitel 5. Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot). Die Kategorien Armut, Herkunft und Alter und deren Bedeutung im Kontext von Wohnungsnot werden folgend in Kürze dargestellt.

3.7.1 Kategorie Armut

Armut als gesellschaftliche Ursache von Wohnungsnot (Specht, 2017a, S. 29–31) steht in einem Zusammenhang mit den Kategorien Geschlecht, Gesundheit, Herkunft und Alter. Armut führt in dem Zusammenwirken und gegenseitigen Beeinflussen der verschiedenen Kategorien zu spezifischen individuellen Lebenslagen und Bedarfen. Dieses Zusammenwirken führt wiederum zu spezifischen Ungleichheits- und Stigmatisierungserfahrungen.

Armut nimmt in der kapitalistischen Akkumulationslogik, also der „kapitalistisch strukturierte[n] Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung“ (Winker & Degele, 2009, S. 25), eine entscheidende Rolle für gesellschaftliche Ungleichheiten ein. Kennzeichen dieser Logik ist die möglichst kostengünstige Verwertung der Ware Arbeitskraft (Winker & Degele, 2009, S. 51). Spätestens mit der Erscheinung des meritokratischen Leistungsprinzips und dem Wandel von einer feudalistischen Subsistenzwirtschaft zu einer bürgerlichen-kapitalistischen Produktionsweise (Rohrmann, 2016, S. 806) wurde Armut als Nicht-Leistung abgewertet und marginalisiert (siehe Abschnitt 3.6 und das Unterkapitel Das Mittelalter und Die Rolle der Kirche). Diese kapitalistische Logik fungiert als theoretische Klammer für die Intersektionale Mehrebenenanalyse und die vorliegende Arbeit. Armut nimmt als Bestandteil dieser Logik auch für die anderen Kategorien eine entscheidende Rolle ein, denn diese sind immer durch die Verwertung der Ware Arbeitskraft geprägt.

Da Wohnungsnot die extremste Form von Armut ist (Ratzka, 2012, S. 1248), sind Menschen in Wohnungsnot in besonderem Maße von dieser Logik und dementsprechend Stigmatisierungen betroffen. Trotz der Relevanz von Armut für die Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot und deren Zusammenwirken mit den verschiedenen Kategorien, wird Armut in der vorliegenden Arbeit nicht explizit betrachtet. Armut ist die Ursache von Wohnungsnot sowie die Grundlage der Stigmatisierungserfahrungen von Menschen in Wohnungsnot. Im Fokus der Arbeit liegen jedoch die Kategorien Geschlecht und Gesundheit, die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Menschen in Wohnungsnot prägen.

3.7.2 Kategorie Herkunft

Auch Herkunft hat eine große Bedeutung für Menschen in Wohnungsnot (Steckelberg, 2018, S. 41–42). Zum einen ist Wohnungsnot eng verknüpft mit Vertreibung und Flucht (siehe Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot) und dem angeblichen Merkmal der Mobilität (Ratzka, 2012, S. 1218) und zum anderen unterscheidet das Hilfesystem seit der Prüfung der Berechtigung zum Almosenempfang zwischen ortsansässigen und ortsfremden Personen (Albrecht, 1990, S. 23). Des Weiteren ist die ‚fremde Herkunft‘ ein Kernelement der Abwertung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot. Eine solche ‚fremde Herkunft‘ kann heute bei Kriegs- und Armutsflüchtlingen diagnostiziert werden.

Neben der öffentlichen Abwertung und Stigmatisierung kann eine strukturelle Abwehr und Abwertung insbesondere von Menschen in Wohnungsnot aus Süd-Ost-Europa beobachtet werden (Steckelberg, 2018, S. 41–42), die „aufgrund von Arbeitslosigkeit, Not, Elend und/oder Diskriminierung in den Heimatländern“ fliehen (Zeilinger, 2012, S. 450). Trotz eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums sind die Arbeitslosen- und Sozialhilfe in der Zuständigkeit der jeweiligen Nationalstaaten der Europäischen Union verblieben (Busch-Geertsema, 2017b, 104; 109–110). Die Folge sind hohe Hürden bei der Anspruchsberechtigung für Personen ‚fremder Herkunft‘ (Jordan, 2017, S. 327; Zeilinger, 2012, S. 450). In Deutschland ist nur anspruchsberechtigt, wer Beitragszahlungen ins deutsche Sozialsystem geleistet hat oder mindestens fünf Jahre in Deutschland gelebt hat (Classen, 2012, S. 425). Insbesondere Personen, die aus Polen, Rumänien oder Bulgarien auf Arbeitssuche nach Deutschland gekommen sind, sind von dieser Ausgrenzung betroffen.

Die Abwertung und Stigmatisierung dieser Personen wird insbesondere deutlich, wenn auch die ordnungsrechtliche Unterbringung versagt wird (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019b, S. 2–3; Mühlbrecht, 2015). Argumentiert mit angeblichen Sogeffekten werden diese Menschen, wie es für den Umgang mit Armut und Wohnungsnot seit jeher Methode ist, vertriebenFootnote 27. Dadurch entstehen äußerst prekäre Lebenslagen. Befinden sich diese Personen in einer Notlage und sind auf Hilfe angewiesen, wird ihnen diese nur in geringem Maße gewährt. Die Folge ist eine deutliche Verschlechterung der Situation und eine Vergrößerung des Hilfebedarfs (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2019b, S. 1–2; Jordan, 2015, S. 274). Diese Personengruppe ist in besonderem Maße Stigmatisierungen ausgesetzt (Steckelberg, 2018, S. 41–42).

Trotz der großen Relevanz für Wohnungsnot liegt die Kategorie Herkunft nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit. Der stigmatisierende Effekt einer ‚fremden Herkunft‘ wird lediglich in der Untersuchung zur Öffentlichen Stigmatisierung angenommen und überprüft. Im Fokus der Arbeit stehen, der übergeordneten Fragestellung folgend, die Kategorien Geschlecht und Gesundheit.

3.7.3 Kategorie Alter

Die Bedeutung der Kategorie Alter wird bei der Betrachtung der unterschiedlichen Lebenslagen und Bedarfe der verschiedenen Altersgruppen ersichtlich. Diese unterscheiden sich in erheblichen Maße (Brem, 2014, S. 102–104; Gerull, 2018c, S. 25–27; Schaak, 2009, S. 72–81). Des Weiteren unterscheiden sich die Zusammensetzung sowie die Verteilung innerhalb der Altersgruppen deutlich. Die Zahl junger Menschen unter 30 steigt seit 2007 deutlich an (Neupert, 2018, S. 124). Auch wenn das Durchschnittsalter insgesamt sinkt (Frietsch & Holbach, 2016, S. 95), steigen gleichzeitig der Anteil und das Alter älterer MenschenFootnote 28 (Giffhorn, 2017a, S. 371; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 69). Die Lebenslage der älteren Menschen in Wohnungsnot ist gekennzeichnet durch erhebliche materielle, gesundheitliche und psychosoziale Probleme (Paegelow, 2012, S. 51) sowie einer großen sozialen Isolation (Giffhorn, 2017a, S. 371–372). Daraus resultiert ein „fortschreitender Verelendungsprozess“ (Giffhorn, 2017a, S. 372) älterer Menschen in Wohnungsnot. Dabei hat insbesondere der schlechte Gesundheitszustand Auswirkungen auf die Lebenslagen älterer Menschen in Wohnungsnot. Krankheiten sind häufig chronifiziert und nur noch palliativ zu behandeln (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 71).

Die Lebenslagen junger wohnungsloser Menschen sind hingegen durch die gesetzlichen Bestimmungen der Jobcenter und der drastischen Sanktionspraxis im Bereich der unter 25-JährigenFootnote 29 sowie der Schnittstellenproblematik zur Jugendhilfe geprägt (Gerull & Merckens, 2012, S. 22). Eine Besonderheit stellt die Personengruppe der unter 18-Jährigen dar. Kinder und Jugendliche dürften mit Ausnahme derjenigen, deren Eltern oder Elternteil in Wohnungsnot sind, nicht von Obdachlosigkeit betroffen sein (Hansbauer, 1998, S. 33–35). Dennoch gibt es in Deutschland etwa 32.000 bis 37.000 Straßenkinder beziehungsweise -jugendliche in Wohnungsnot (Frietsch & Holbach, 2016, S. 95; Hoch, 2017, S. 40). Diese setzten sich aus Personen zusammen, die auf der Straße leben und diejenigen, die „zwischen Einrichtungen der Jugendhilfe, dem Mitwohnen bei Freund_innen […] und […] Phasen des Aufenthalts in der Herkunftsfamilie“ (Steckelberg, 2018, S. 40) pendeln (Beierle & Hoch, 2017, S. 7; Hoch, 2017, S. 14). Hinzu kommen, jedoch in den Zahlen nicht abgebildet, Kinder und Jugendliche, die nur kurzfristig von zu Hause ausgerissen sind oder ihre Freizeit in der ‚Szene‘ verbringen (Paegelow, 2009, S. 53). Die Lebenssituationen der jungen Menschen in Wohnungsnot sind somit sehr heterogen. Hoch (2017, S. 12) konstatiert eine „Vielzahl von verschiedenen Merkmalskombinationen“, die die Bedarfe junger Menschen in Wohnungsnot kennzeichnen und verweist somit auf die Bedeutung einer intersektionalen Perspektive.

Obwohl Alter, insbesondere in Kombination mit anderen Kategorien wie Geschlecht und Gesundheit eine bedeutende Funktion im Kontext von Wohnungsnot einnimmt, steht die Kategorie nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit. Die Kategorie Alter in ihrer Verwobenheit mit den Kategorien Gesundheit und Geschlecht empfiehlt sich jedoch als zu fokussierende Kategorie für zukünftige Forschungsprojekte.

3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot

Abwertung und Stigmatisierung sind seit jeher ein fester Bestandteil von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot und Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem von Wohnungsnot). Menschen in Wohnungsnot sind in besonderem Maße stigmatisiert und ausgegrenzt (Gerull, 2018b, S. 36). Wie diese Stigmatisierungsprozesse jedoch aussehen und welche Konsequenzen diese für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot haben, ist bisher nicht erforscht (Dittmann & Drilling, 2018, S. 290). Die Untersuchung der Stigmatisierung von Wohnungsnot ist das Kernanliegen der vorliegenden Arbeit.

In einem ersten Schritt wird Stigmatisierung ausgehend von Goffmans (1963) allgemein anerkannten Ausführungen zu Stigmatisierung nähergehend betrachtet. Dabei werden für Stigmatisierung bedeutende Theorien und Konzepte sowie der Prozess von Stigmatisierung kurz dargestellt. Pryor und Reeders (2011) graphische Darstellung der Manifestationen von Stigmatisierung geben einen guten Überblick über die verschiedenen Formen der Stigmatisierung und zeigen zugleich verschiedene Zugänge zur Untersuchung von Stigmatisierung auf (Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung).

Darüber hinaus wird die bereits oftmals erwähnte Verbindung zwischen Stigmatisierung und Intersektionalität in einem eigenen Unterkapitel Stigmatisierung und Intersektionalität ausführlich betrachtet. Zusätzlich erfolgt in einem weiteren Unterkapitel Stigmatisierung und die Rolle der Medien ein kurzer Überblick über die Bedeutung von Medien bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Stigmatisierung.

In einem nächsten Schritt erfolgt die ausführliche Darstellung der Stigmatisierung von Wohnungsnot. Die Konsequenz von Stigmatisierung ist die Verschlechterung der Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot. Des Weiteren besteht eine hohe Korrelation von Wohnungsnot und psychischen Auffälligkeiten beziehungsweise Krankheiten, wodurch eine mehrfache Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot entstehen kann (Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot).

3.8.1 Stigmatisierung

Goffman (1963) schuf mit seiner Arbeit Stigma. Notes on the management of spoiled identity das Grundlagenwerk zur Beschreibung von Stigmatisierung und Stigmatisierungsprozessen (Engelhardt, 2010, S. 123; Link & Phelan, 2001, S. 363; Röhm et al., 2018, S. 2). Ein Stigma entsteht, wenn eine Eigenschaft einer Person „in unerwünschter Weise anders [ist], als wir es antizipiert haben (Goffman, 1972, S. 13). Die Andersartigkeit der erwarteten Antizipation definiert Goffman (1972, S. 158) über das Abweichen von einer Norm. Die einzig akzeptierte Norm ist nach Goffman (1972, S. 158)

ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein junger, verheirateter, weißer städtischer, nordstaatlicher, heterosexueller, protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen in Sport (Goffman, 1972, S. 158).

Diese Definition einer Norm und die Konsequenz einer Abweichung von dieser Norm führt prinzipiell dazu, dass alle Individuen stigmatisiert werden können (Cloerkes, 2007, S. 171). Dabei sind die Konsequenzen einer Stigmatisierung für das betroffene Individuum erheblich und haben die Exklusion aus der Gesellschaft zur Folge (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51). Zu den Konsequenzen von Stigmatisierung gehören eine erhöhte Arbeitslosigkeit aufgrund einer niedrigeren Einstellungsrate, Probleme bei der Anmietung von Wohnraum, eine erhöhte fälschliche Anklage bei Gewaltverbrechen und sowohl eine geringere Unterstützungsbereitschaft gegenüber Personen mit einem Stigma als auch eine geringere Bereitschaft, Hilfsangebote zu suchen und aufzusuchen, durch Personen mit einem Stigma (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51; Röhm, 2017, S. 15–16; Röhm et al., 2018, S. 4). Stigmatisierungen sind eine erhebliche Gefährdung der personalen Identität (Cloerkes, 2007, S. 173) und können zu einer beschädigten Identität führen (Goffman, 1972, S. 30). Eine solche beschädigte Identität kann zu geringerem Selbstwert, geringeren Selbsthilfekräften und einem erhöhten Konsum von Drogen führen (Röhm, 2017, S. 16–17).

Ein handlungsleitendes Motiv der vorliegenden Arbeit ist die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft (siehe Kapitel 2 Theoretischer Bezugsrahmen). Stigmatisierung befasst sich, wie auch Intersektionalität – zum Zusammenhang von Intersektionalität und Stigma mehr im weiteren Verlauf dieses Kapitels – mit dieser Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Zentral für Goffmans (1963) Ausführungen zu Stigmatisierung sind seine Überlegungen zur Identität und Identitätsbildung von Individuen (Engelhardt, 2010, S. 123–124). Grundlage für seine theoretischen Überlegungen ist die Identitätstheorie nach George H. Mead und Charles H. Cooley (Engelhardt, 2010, S. 124). Identität entsteht, so Goffman (1972, S. 132–133), nur über eine Interaktion mit anderen und ist dabei zugleich Grundlage der Interaktion mit anderenFootnote 30 (Engelhardt, 2010, S. 126). Dadurch entsteht eine Einteilung in ein soziales Gegenüber sowie eine Ich-Identität (Goffman, 1972, S. 132).

Auch Festingers (1954) ‚social comparison theory‘ und dessen Überlegungen zu Gruppenprozessen und Vergleichen mit anderen greift diesen Gedanken auf. Diese wiederum ist die Grundlage von Tajfel und Turner (1986) ‚social identity theory‘. Die beiden Kernelemente der Theorien, die Herstellung der eigenen Identität mittels eines sozialen Vergleichs und dem Wissen um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, sind bestimmt durch die Einteilung in in-groups und out-groups. Diese Einteilung in in-group und out-group kann auch auf Goffmans Überlegungen zu Stigmatisierung übertragen werden. Aufgrund der Zuschreibung eines diskreditierten Merkmals eines Individuums und der Einteilung dieser in eine out-group erfolgt die Aufwertung der eigenen Ich-Identität über die Zuordnung zu einer in-group (Röhm, 2017, S. 8–11). Kontakt zwischen Individuuen und Gruppen ist demnach ebenfalls ein wesentliches Element von Stigma. Allport stellt mit seiner Kontakthypothese (1954) vier notwendige Bedingungen zur Destigmatisierung marginalisierter Gruppen vor.

Es gibt zwei Konzepte von Stigmatisierung, die das Entstehen und Wirken von Stigmatisierung nähergehend erläutern. Beiden Konzepten, dem von P. W. Corrigan (2000) und dem von Link und Phelan (2001), gemein ist die Einteilung von Gruppen in in-groups und out-groups über gesellschaftlich akzeptierte normative Erwartungen. P. W. Corrigans (2000) Konzept fokussiert kognitive und verhaltensbezogene Kernmerkmale der Stigmatisierung psychischer Krankheiten (Rüsch et al., 2005, S. 531). Er benennt dabei drei Kernmerkmale: “Stereotype (cognitive knowledge structures), prejudice (cognitive and emotional consequences of stereotypes) and discrimination (behavioral consequence of prejudice)” (Rüsch et al., 2005, S. 531). Das Konzept von Link und PhelanFootnote 31 (2001) ist sehr ähnlich und legt dennoch einen anderen Fokus. Ihre eher soziologische Perspektive fokussiert zwei gesellschaftsrelevante Aspekte: Die Wahrnehmung von Differenzen zwischen Personen und die damit einhergehende Bewertung dieser Differenzen und die Bedeutung der Machtposition, in der sich Stigmatisierende gegenüber Stigmatisierten befinden (Rüsch et al., 2005, S. 532). P. W. Corrigan liefert mit der Hervorhebung von Einstellungen und Verhalten eine gute Grundlage zur Erforschung von Stigmatisierungsprozessen und Anti-Stigma-Kampagnen, wohingegen Link und Phelan mit dem Fokus auf Ungleichheits- und Machtdimensionen die Ähnlichkeit und Verbindung von Stigmatisierung zu Intersektionalität betonen.

Einen guten Überblick über die verschiedenen Manifestationen von Stigmatisierung liefern hingegen Pryor und Reeder (2011, S. 791 siehe Bos et al., 2013, S. 2). Ihre Einteilung in Öffentliche Stigmatisierung, Selbststigmatisierung, Stigmatisierung durch Verbindungen und Strukturelle Stigmatisierung zeigt zum einen die hohe Komplexität von Stigmatisierung sowie zum anderen das unterschiedliche Wirken von Stigmatisierung auf verschiedenen Ebenen (siehe Abbildung 3.1).

Abbildung 3.1
figure 1

Modell der vier Manifestationen von Stigmatisierung nach Pryor und Reeder (2011, S. 791)

Diese Einteilung weist eine hohe Ähnlichkeit zu Intersektionalität und zur Intersektionalen Mehrebenenanalyse sowie deren Unterscheidung mehrerer Ebenen auf. Demnach wirken die Strukturelle Stigmatisierung auf der Strukturebene, die Selbststigmatisierung sowie die Stigmatisierung durch Verbindungen auf der Identitätsebene, wohingegen die Öffentliche Stigmatisierung auf der Normenebene angesiedelt ist (siehe Abschnitt 2.1.3 Auswahl der Ebenen).

Die Öffentliche Stigmatisierung beschreibt, was gemeinhin unter Stigmatisierung verstanden wird. Die gesellschaftliche Zustimmung zu negativen Vorurteilen, Abwertung und Diskriminierungen gegenüber bestimmten Gruppen (Jones & Corrigan, 2014, S. 13–15; Röhm, 2017, S. 14–15). Typische Beispiele hierfür sind Proteste gegen den Bau einer Psychiatrie, gegen Heime für Menschen mit Förderbedarf oder eines Heims für Asylsuchende in der Nachbarschaft (Jones & Corrigan, 2014, 18). Der nachgewiesenermaßen bedeutende Einfluss der Massenmedien auf die Öffentliche Stigmatisierung (Jones & Corrigan, 2014, S. 18; Ritterfeld et al., 2014; Röhm et al., 2018, S. 6–8; Sieff, 2003) und deren Bedeutung im Kontext von Wohnungsnot werden im weiteren Verlauf des Kapitels dargestellt.

Die Selbststigmatisierung steht für die Übernahme der Öffentlichen Stigmatisierung und deren negative Vorurteile sowie deren Internalisierung gegen sich selbst (P. W. Corrigan et al., 2005, S. 180–181; Röhm, 2017, S. 16–17; Rüsch et al., 2005, S. 531–534; Rüsch, 2010, S. 287–290; Schomerus, 2010, S. 254). Das Resultat einer solchen Selbst-Stigmatisierung sind ein geringeres Selbstwertgefühl und eine geringe Selbstwirksamkeit (Pryor & Reeder, 2011, S. 792; Röhm, 2017, S. 16; Schomerus, 2010, S. 254). Finzen fasst die negativen Konsequenzen passend als „zweite Krankheit“ (Finzen, 2013, S. 45) zusammen. Trotz der erheblich negativen Konsequenzen eines Selbststigmas kann die Übernahme und Internalisierung negativer Vorurteile dazu führen, dass stigmatisierte Minderheiten stereotyp-konformes Verhalten zeigen und sich dieses manifestiert (Pryor & Reeder, 2011, S. 792; Rüsch, 2010, S. 288). Begründet wird dies mit der Annahme, dass die Übernahme erwarteten Verhaltens zu einer Stressreduktion der stigmatisierten Personen führen kann (Jones & Corrigan, 2014, S. 11–12; Rüsch, 2010, S. 288–290).

Bei der Stigmatisierung durch Verbindung werden Abwertungen und Diskriminierung der Öffentlichen Stigmatisierung auf Angehörige der stigmatisierten Gruppe übertragen (Pryor & Reeder, 2011, S. 793; Röhm, 2017, S. 17). Zu dieser Gruppe gehören neben Familienangehörigen auch professionell Helfende sowie zufällig mit der stigmatisierten Gruppe in Verbindung gebrachte Personen (Röhm, 2017, S. 17). Die Personen, die von der Stigmatisierung durch Verbindung betroffen sind, haben mit ähnlichen Konsequenzen umzugehen: Abwertung durch andere, Stress sowie verringerte Lebensqualität wie stigmatisierte Gruppen (Pryor & Reeder, 2011, S. 793; Röhm, 2017, S. 17). Ob auch bei der Stigmatisierung durch Verbindung eine Übernahme der Stigmatisierung und Abwertung auf die bereits stigmatisierte Gruppe erfolgt, ist bisher nicht geklärt.

Die Strukturelle Stigmatisierung ist die systematische Benachteiligung durch gesellschaftliche Regeln, Gesetze und Abläufe (Rüsch, 2010, S. 287) mittels sozialer, ökonomischer und politischer Machtausübung (Röhm, 2017, S. 17). Unterschieden werden kann dabei zwischen einer intentionalen und einer un-intentionalen Stigmatisierung (Jones & Corrigan, 2014, 19). Fehlende Lautsprecherdurchsagen an Bahnhöfen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung sind ein Beispiel für (vermeintlich) unbeabsichtigte Stigmatisierung, wohingegen die beschränkten Einreisemöglichkeiten von Menschen mit HIV-Infektion in Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Saudi-Arabien oder die Arabischen Emirate ein Beispiel für (vermeintlich) intentionale Stigmatisierung sind (Jones & Corrigan, 2014, S. 19; Pryor & Reeder, 2011, S. 794; Röhm, 2017, S. 17–18).

Der konkrete Prozess der Stigmatisierung wird mittels der Konzepte von P. W. Corrigan (2000) und Link und Phelan (2001) nähergehend erläutert und folgend in Kürze wiedergegeben. Ausgangspunkt ist in beiden Konzepten die Wahrnehmung von und Einteilung in Differenzen (P. W. Corrigan, 2000, S. 49–50; Link & Phelan, 2001, S. 367–368). Bereits Goffman spricht von diskreditierbaren, nicht unbedingt sichtbaren Merkmalen (Goffman, 1972, S. 12–13). Davon ausgehend wirken „cognitive mediators“ (P. W. Corrigan, 2000, S. 49), die die vorher identifizierten Differenzen mit negativen Stereotypen verbinden, welche wiederum eine emotionale Reaktion hervorrufen (Link & Phelan, 2001, S. 368–369). Eine negatives Vorurteil ist beispielsweise die angebliche Gefährlichkeit von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten (P. W. Corrigan, 2000, S. 50). Link und Phelan schließen daran, anders als Corrigan, die bereits erwähnte und für deren Konzept bedeutende Betonung der Einteilung in ein ‚uns‘ und ‚die anderen‘ an (Link & Phelan, 2001, S. 370). Diese Einteilung führt zu einer Ausgrenzung und Separierung (Link & Phelan, 2001, S. 370). Schließlich, und hier stimmen beide Konzepte wieder überein, ist die Konsequenz des Prozesses der Statusverlust und die Diskriminierung der diskreditierten Personen (Link & Phelan, 2001, S. 370–375). Das diskriminierende Verhalten führt zu den bereits genannten Konsequenzen von Stigmatisierung wie erhöhte Erwerbslosigkeit, die Probleme bei der Anmietung von Wohnraum oder die fälschliche Verdächtigung bei Gewaltverbrechen (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51).

Corrigan führt anschließend noch die Bedeutung der Attributionstheorie für Stigmatisierungsansätze auf, die, insbesondere im Kontext von Wohnungsnot und der Zuschreibung der eigenen Verantwortung dieser Wohnungsnot, für die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot erheblich ist (P. W. Corrigan, 2000, S. 51–55).

Der dargestellte Prozess von Stigmatisierung ermöglicht es, Stigmatisierung nicht nur in einer Beobachtungssituation zu erheben, sondern auch mittels anderer wissenschaftlicher Verfahren wie beispielsweise einem Experiment. Einstellungen zu einer bestimmten Personengruppe, wie beispielsweise die soziale Distanz als üblicher Prädiktor für Stigmatisierung (Angermeyer & Matschinger, 1997) und das intendierte Verhalten gegenüber einer bestimmten Gruppe (Evans-Lacko et al., 2011) können Stigmatisierung messbar und für wissenschaftliche Untersuchungen auswertbar machen.

Stigmatisierung und Intersektionalität

Die Konzepte Stigmatisierung und Intersektionalität weisen eine hohe Ähnlichkeit zueinander auf (Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 2). Beide thematisieren Ungleichheitserfahrungen, die Bedeutung von Machkonstellationen und definieren und legitimieren diese über das Abweichen von einer Norm. Insbesondere das Stigmatisierungskonzept von Link und Phelan (2001) muss dabei hervorgehoben werden, da es den Blick auf Ungleichheits- und Machtkonstellationen fokussiert (Hatzenbuehler et al., 2013, S. 813). Pryor und Reeders (2011) Überblick über die verschiedenen Manifestationen von Stigmatisierung verweist, wie bereits dargestellt, auf die intersektionale Unterscheidung in eine Normenebene, eine Strukturebene und eine Identitätsebene (siehe Abschnitt 2.1.3 Auswahl der Ebenen sowie Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument). Ein solch differenzierter intersektionaler Blick auf Stigmatisierung hilft die Analyse von Ungleichheitserfahrungen und Stigmatisierungsprozessen zu vertiefen. Nach Jackson-Best und Edwards (2018, S. 16) hilft die Intersektionalität Stigmatisierung (besser) zu verstehen.

Des Weiteren verweist Goffmans (1972, S. 158) Bestimmung einer Norm als männlich, jung, verheiratet, weiß, städtisch, nordstaatlich, heterosexuell, protestantisch, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe sowie mit Erfolgen in Sport und Vater mit Collegebildung, eindrücklich auf die Bedeutung verschiedener Kategorien wie Geschlecht, Klasse, und ‚Rasse‘. Die Abweichung von einer solchen heteronormativen Erwartung ist dabei auch essentiell für die Bestimmung von Ungleichheitsdimensionen im Kontext von Intersektionalität (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument).

Dieses Postulat der Intersektionalität, die Bedeutung des Zusammenhangs und der Wechselwirkungen der verschiedenen Kategorien kann auch auf Stigmatisierung übertragen werden (Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 2). Der häufige Fokus der Stigmaforschung auf einen spezifischen stigmatisierten Status (Hatzenbuehler et al., 2013, S. 813) – die Stigmaforschung beschäftigt sich insbesondere mit dem HIV-Stigma, dem Stigma psychischer Krankheiten oder dem Stigma sexueller Orientierung, zum Beispiel Homosexualität (Hatzenbuehler et al., 2013, S. 813) – muss erweitert werden, um die Ungleichheitslagen komplett zu erfassen, die mit Stigmatisierung einhergehen. Der Blick auf heterogene Personengruppen innerhalb der Stigmaforschung ermöglicht tiefergehende Analysen der Auswirkungen der Stigmata (Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 14–16) und verweist auf die Verbindung verschiedener Stigmatisierungen (Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 18). Im Zusammenhang mit Anti-Stigma-Programmen und Kampagnen muss jedoch bedacht werden, dass diese insbesondere bei der Adressierung spezifischer Gruppen wirksam sind (P. W. Corrigan et al., 2005, S. 185).

Um jedoch Ungleichheitslagen, insbesondere von Wohnungsnot, zu untersuchen, ist die Verknüpfung der intersektionalen Perspektive mit Stigmatisierung äußerst gewinnbringend. Ungleichheiten manifestieren sich in Stigmatisierung. Stigmatisierung ist ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot und darüber hinaus sind Menschen in Wohnungsnot von verschiedenen Stigmatisierungen betroffen (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot und Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht). Die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit lenkt dabei den Fokus insbesondere auf die Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Der differenzierte Blick auf die verschiedenen Ebenen und damit der verschiedenen Manifestationen von Stigmatisierung schafft eine umfassende Analyse. Die Analysen der vorliegenden Untersuchung liefern insbesondere eine Betrachtung der Strukturebene, die, obwohl sehr relevant, im Kontext von Stigmatisierung häufig nicht beachtet wird (Jackson-Best & Edwards, 2018, S. 16). Mit dem Fokus auf alle Ebenen bietet der vorliegende Ansatz auch für die Stigmaforschung einen interessanten Ansatz, den Blick auf Stigmatisierungsprozesse zu vertiefen.

Stigmatisierung und die Rolle der Medien

Massenmedien haben eine besondere Bedeutung für die Gesellschaft und die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Luhmann konstatiert: „Was wir wissen über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann, 1996, S. 9). Medien können Emotionen, Kognitionen und das Verhalten der Rezipient:innen verändern, also die Elemente, denen P. W. Corrigan (2000, S. 49–51) eine entscheidende Funktion für Stigmatisierung zuschreibt. Weil Massenmedien die Hauptinformationsquelle über das Wissen von marginalisierten Randgruppen sind, liegt deren Einfluss auf stigmatisierende Einstellungen, Wissenskonstruktionen und Verhaltensweisen auf der Hand. Sieff (2003) gibt einen guten Überblick über den Einfluss von Medien auf die Stigmatisierung psychischer Krankheiten. Bei der Entstehung und Verfestigung von Stigmatisierungen kommt der Kultivierungshypothese (Gerbner & Gross, 1976) eine entscheidende Bedeutung zu. Zuerst im Kontext der Wirkung von medialen Gewaltdarstellungen untersucht (Gerbner & Gross, 1976), kann die Wirkung des häufigen Konsums realitätsverzerrender Medieninhalte auf Vorstellungen und Einstellungen der Rezipierenden bestätigt werden (Röhm, 2017, S. 35–36).

Daneben kommen den bereits genannten Theorien von Festinger (1954) – ‚social comparison theory‘ – und Tajfel und Turner (1986) – ‚social identity theory‘ – sowie der, auf diesen aufbauenden sozialkognitiven Lerntheorie nach Bandura (2001) eine bedeutende Funktion zu. Bandura postuliert über die definierte Zugehörigkeit zu in-groups und out-groups eine Präferenz möglichst ähnlicher Vorbilder. Als Prädiktoren für Verhalten werden beispielsweise die Attraktivität der Medienfigur und die Identifikationsmöglichkeit der Rezipient:innen aufgeführt (Rossmann et al., 2014, 90). Als besonders wirksam bei der Veränderung oder Verfestigung von Einstellungen haben sich, der ‚exemplification theory‘ von Zillmann und Brosius (2000) folgend, Darstellungen von Fallbeispielen, also Schilderungen von Einzelschicksalen erwiesen (Hastall et al., 2016, S. 171; Rossmann et al., 2014, S. 90).

Die besondere Bedeutung der Massenmedien und deren Wirkmechanismen für Stigmatisierung sind aufgrund des Fokus der vorliegenden Arbeit auf der Untersuchung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit im Kontext von Wohnungsnot und deren Bedeutung für Stigmatisierung und Teilhabe nur kurz angerissen. Dabei ist die Erkenntnis, dass Massenmedien als Informationsquelle einen großen Einfluss auf Stigmatisierungsprozesse haben, von besonderer Bedeutung. Die Bedeutung der Darstellung von Wohnungsnot in Massenmedien für die Transportation von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen wird im folgenden Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot dargestellt.

Massenmedien und deren Wirkung im Kontext von Wohnungsnot sind das zentrale Element des ersten Zugangs zum Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Über die Manipulation eines Fallbeispiels in einem Zeitungsartikel wird dabei untersucht, welche Rolle verschiedene Kategorien für die Öffentliche Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot haben.

3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot

Wohnungslose Menschen sind heutzutage massiven Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen ausgesetzt (Gerull, 2018b, S. 36)

Gerull (2018b) gibt einen lesenswerten Überblick über die Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Menschen in Wohnungsnot. Wie in Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot und ausführlich im Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot dargestellt, ist die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot jedoch keinesfalls ein Phänomen des Heute, wie Gerulls Zitat suggerieren könnte. Vielmehr muss festgehalten werden, dass Abwertungen und Ausgrenzungen, also Stigmatisierungen, ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot und von Armut, die eng mit Wohnungsnot verwobenen ist, sindFootnote 32 (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot und Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot). Heitmeyer hat mit seiner Langzeituntersuchung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit massive Vorurteile insbesondere gegenüber Menschen in Wohnungsnot, die auf der Straße leben festgestellt (Gerull, 2018b, S. 32; Heitmeyer, 2012, S. 33–40). Die Konsequenzen von Wohnungsnot sind, wie bereits dargestellt, erheblich (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung) und führen im Endeffekt zu einer Exklusion aus und Nicht-Teilhabe an der Gesellschaft (P. W. Corrigan, 2000, S. 51). Die Stigmaforschung beschreibt zum Beispiel eine erhöhte Arbeitslosigkeit aufgrund einer niedrigeren Einstellungsrate, Probleme bei der Anmietung von Wohnraum, eine erhöhte fälschliche Anklage bei Gewaltverbrechen und sowohl eine geringere Unterstützungsbereitschaft gegenüber Personen mit einem Stigma als auch eine geringere Bereitschaft von Personen mit einem Stigma, Hilfsangebote zu suchen und aufzusuchen, von Personen mit einem Stigma (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51; Röhm, 2017, S. 15–16; Röhm et al., 2018, S. 4). Lee et al., Phelan et al. und Link et al. haben bereits früh den Blick der Stigmaforschung auf Menschen in Wohnungsnot gerichtet (Lee et al., 1991; Link et al., 1995; Phelan et al., 1997). Die dargestellten Konsequenzen einer Stigmatisierung treffen Menschen in Wohnungsnot in besonderem Maße, sind doch die aufgezählten Aspekte Wohnungsnot inhärent. Daher ist anzunehmen, dass die Stigmatisierung von Wohnungsnot die Aspekte deutlich verschärft.

Im Kontext von Wohnungsnot muss insbesondere auf die Stigmatisierungen auf dem Wohnungsmarkt und im öffentlichen Raum hingewiesen werden. Aufgrund der negativen Zuschreibungen und der Stigmatisierung haben Menschen in Wohnungsnot auf dem umkämpften und knappen Wohnungsmarkt keine Chance, eine Wohnung zu mieten (Gerull, 2018b, S. 33). Aber auch im öffentlichen Raum sind Menschen in Wohnungsnot Ausgrenzungen und Verdrängungen ausgesetzt. Öffentliche Räume werden privatisiert oder so gestaltet, dass ein längerer Aufenthalt nicht mehr möglich ist (Gerull, 2018b, S. 34; Giffhorn, 2017c, S. 290–292) – sogenannte ‚defense architecture‘, also Zäune, große Steine unter Brücken oder Metallspitzen unter Vordächern aber auch die ständige Bewässerung von Flächen (Gerull, 2018b, S. 34; Wolf, 2016, S. 13). Häufige Kontrolle durch Ordnungsämter und Sicherheitsdienste und Aufenthaltsverbote sowie Platzverweise sorgen darüber hinaus für eine Vertreibung der Personen (Gerull, 2018b, S. 34), die sich im öffentlichen Raum aufhalten müssen (Hauprich & Lukas, 2018, S. 133).

Menschen in Wohnungsnot weisen darüber hinaus häufig psychische Auffälligkeiten und Krankheiten sowie einen erhöhten Alkoholkonsum auf (Bäuml, Baur, Brönner et al., 2017, S. 130–137; Ratzka, 2012, S. 1239). Psychische Krankheiten sowie die dazu zählende AlkoholabhängigkeitFootnote 33 werden jedoch auch für sich genommen stark stigmatisiert (Phelan et al., 1997, S. 326; Schomerus et al., 2014, S. 293–294). Auch Armut, als ein inhärenter Aspekt von Wohnungsnot, wird stigmatisiert (Phelan et al., 1997, S. 323). Menschen in Wohnungsnot können somit von multiplen Stigmatisierungen betroffen sein. Die Konsequenz davon, eine beschädigte Identität, kann zu geringerem Selbstwert, geringeren Selbsthilfekräften und einem erhöhten Konsum von Drogen führen (Phelan et al., 1997, S. 335; Röhm, 2017, S. 16–17), was die Lebenslagen von Menschen mit einem Stigma und insbesondere die Probleme und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot wiederum verschärfen kann.

Menschen in Wohnungsnot werden für ihre Lebenssituation verantwortlich gemacht (Phelan et al., 1997, S. 335). Durch das Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm – Menschen in Wohnungsnot sind überwiegend erwerbslos und beziehen Sozialleistungen (Gerull, 2018b, S. 31–32; Wolf, 2016, S. 11) – besteht bei vielen Menschen in Wohnungsnot „die Scham, es »nicht geschafft« zu haben“ (Gerull, 2018b, S. 32). In der Zeit des Nationalsozialismus als sogenannte ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ in Konzentrationslager gesperrt (Giffhorn, 2017b, S. 278–279), werden Menschen in Wohnungsnot auch heute als ‚Penner‘ bezeichnet. Dabei wird ihnen unterstellt, ‚arbeitsscheu‘, ‚unangenehm‘, alkoholabhängig oder ‚schmutzig‘Footnote 34 zu sein (Gerull, 2018b, S. 32; Heitmeyer, 2012, S. 39). Prägend ist dabei eine „individualisistische Erklärung“ (Teidelbaum, 2020, S. 38), also das selber Schuld Sein für und an der eigenen Wohnungsnot. P. W. Corrigan (2000, S. 51–52) verweist in seiner Konzeption von Stigmatisierung auf die Schlüsselfunktion einer solchen Schuldzuschreibungen und Selbstverantwortlichkeit im Kontext von Stigmatisierung.

Menschen in Wohnungsnot und insbesondere diese mit dem Lebensmittelpunkt Straße, versuchen daher, sich unsichtbar zu machen (Gerull, 2018b, S. 34; Wolf, 2016, S. 9). Sie halten sich an belebten Plätzen auf, tragen Berufskleidung, fahren entweder mit Aktentasche und Anzug den ganzen Tag Bahn, um den Anschein zu erwecken, auf dem Weg zur Arbeit zu sein (Gerull, 2018b, S. 34) oder tragen einen dreckigen Blaumann mit dem Logo einer Baufirma, um wiederum das Bild, von der Arbeit zu kommen, aufrechtzuerhalten (Wolf, 2016, S. 10). Frauen in Wohnungsnot versuchen, über eine verdeckte Wohnungsnot ihren Status zu verdecken und möglichen Gewalterfahrungen aus dem Weg zu gehen (siehe Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt). Sichtbar auf der Straße bleiben dann nur diejenigen Personen, die aufgrund mangelnder Ressourcen, beispielsweise durch psychische Krankheiten und/oder eine Abhängigkeitserkrankung bedingt, keine Kraft aufbringen können „[d]en Schein der Normalität aufrecht zu erhalten“ (Wolf, 2016, S. 10). Diese Personen, die sichtbar ‚auf der Straße verbleiben‘, sind demnach nicht nur die Personen, „die besonders gefährdet und hilfebedürftig sind, sondern auch die Personen, die besonders häufig Opfer“ (Wolf, 2016, S. 10) werden (Neupert, 2010, S. 39).

Die aus der Abwertung und Stigmatisierung resultierende Selbststigmatisierung der eigenen Person hat zur Folge, dass Menschen in Wohnungsnot das antizipierte und zugeschriebene Verhalten adaptieren (Gerull, 2018b, S. 32). Dieser Prozess des ‚Labeling-Approach‘ oder auch Etikettierungsansatz führt dazu, dass Menschen in Wohnungsnot die Verhaltensweisen, die ihnen von Dritten zugeschrieben werden, übernehmen (Gerull, 2018b, S. 32; siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot). Der Labeling-Ansatz erklärt dabei insbesondere die Manifestierung von Wohnungsnot.

Die Stigmatisierung von Wohnungsnot und die Rolle der Medien

Auch im Kontext der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot nehmen Massenmedien eine entscheidende Funktion ein (siehe das Unterkapitel Stigmatisierung und die Rolle der Medien im Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Das Heidelberger Institut Sinus Sociovision stellte 2008 in einer Untersuchung fest, dass nur vier Prozent der Deutschen einen persönlichen Kontakt zu einer obdachlosen Person hatten (Frank-Landkammer, 2008, S. 12). Einstellungen, Vorurteile und Abwertungen werden demnach entschieden durch Massenmedien geprägt (Gerull, 2018b, S. 35). Dabei zeichnet sich die Medienberichterstattung durch eine jahreszeitlich bedingte Ambivalenz aus (Malyssek & Störch, 2009, S. 97–98); „in Abhängigkeit von den Jahreszeiten wird entweder ein besorgt-mitleidender oder ein genervt-repressiver Ton angeschlagen“ (Wolf, 2016, S. 10–11). Im Sommer ‚stören‘ Menschen in Wohnungsnot und ein härteres Vorgehen der Ordnungsbehörden wird gefordert, weil beispielsweise in Innenstädten Menschen in Wohnungsnot „das Image und die Konsumbereitschaft gefährden“ (Wolf, 2016, S. 11). Im Winter und vor allem um die Weihnachtszeit wird indes von Defiziten in der Versorgung von Menschen in Wohnungsnot berichtet und zumeist Kommunalpolitiker servieren ein Festessen für Menschen in Wohnungsnot, um sich volksnah und warmherzig zu zeigen (Wolf, 2016, S. 11).

Bei der Berichterstattung über Menschen in Wohnungsnot greifen Medien zumeist auf Fallbeispiele respektive Einzelfälle zurück (Gerull, 2018b, S. 35), die besonders wirksam bei der Veränderung oder der Verfestigung von Einstellungen sind (Hastall et al., 2016, S. 171; Zillmann & Brosius, 2000). Dabei, so konstatiert Neupert (2010, S. 9–10), würden Medien das Bild eines Gefahrenpotentials von Menschen in Wohnungsnot für die Allgemeinbevölkerung inszenieren. Über die angebliche Korrelation zwischen Armut und Kriminalität (siehe Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt) tragen Medien zu einer Manifestation von Stereotypen bei, die zu Abwertungen und „Disziplinierung“ (Neupert, 2010, S. 10) von Menschen in Wohnungsnot führenFootnote 35.

Die deutliche Abwertung und medial inszenierte Stigmatisierung von Armut hat im Zuge der Agenda 2010 deutlich zugenommen (Malyssek & Störch, 2009, S. 70). Armut ist dabei mit dem gleichen stigmatisierenden Narrativ wie Wohnungsnot, dem Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm, konfrontiert. Der Grundgedanke, den auch die Agenda 2010 verfolgte, war die selbstverschuldete Armut. Armut sei eigene ‚Faulheit‘ und Menschen in Armut seien ‚Sozialschmarotzer‘ (Malyssek & Störch, 2009, S. 67–71). Das Bild, was von den Medien gezeichnet wird, kann auch auf Menschen in Wohnungsnot übertragen werden und aggregiert in der Aussage, dass niemand in Deutschland auf der Straße leben müsse (Wolf, 2016, S. 11). Diejenigen, die dies tun würden, würden das selbstverschuldet oder zumindest selbstgewählt tun (Wolf, 2016, S. 11–12). Das Bild des angeblich faulen ‚Sozialschmarotzers‘ gipfelte mit Beginn der Agenda 2010 in bestenfalls überzeichneten jedoch zumeist fehlerhaften Berichten oder gar Kampagnen in den Medien. War der ‚Fall Henrico Frank‘ insbesondere eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem damaligen SPD Vorsitzenden Kurt Beck – die, mittels einer deutlichen verbalen Entgleisung ein interessantes Schlaglicht auf die (damals) vorherrschende Haltung gegenüber Armut liefert (Malyssek & Störch, 2009, S. 67–70) – so sind die Fälle „Florida-Rolf“ und „Viagra-Kalle“ bewusst fehlerhafte Mediendarstellungen. In beiden Fällen hatten die Personen begründete Rechtsansprüche auf Sozialhilfen (Brühl, 2004).

Gäbler (2020) kann auch für deutsche Fernsehformate, insbesondere die Sender RTL II und RTL und deren ‚srcripted reality‘-Formate, eine „einseitig[e] und klischeehaft[e], manipulativ[e] und diffamierend[e]“ (Gäbler, 2020, S. 76) Darstellung von Armut identifizieren. Winkler (2020) konstatiert in seiner Rezension des Arbeitspapiers von Gäbler treffend: „So wird die Armut am Ende zum Vorwurf“. Dabei hält Gäbler fest, dass auch in Unterhaltungsformaten Normen gesetzt würden (Gäbler, 2020, S. 9), die wiederum zur Abwertung und Marginalisierung von Menschen in Armut und somit auch Wohnungsnot führen.

Die Bedeutung von Geschlecht im Kontext von Wohnungsnot ist vielfach bewiesen (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) und kumuliert in der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Die verschiedenen geschlechtsspezifischen Geschlechtsrollenidentitäten nehmen dabei eine besondere Rolle ein. Die massenmediale Berichterstattung verstärkt dabei das Bild einer männlichen Wohnungsnot. Das von Medien transportierte und stigmatisierende Bild entspricht dem Stereotyp des „bärtige[n] alleinstehende[n] Mann[es] Mitte 50, der mit einer Flasche Bier in der einen und prall gefüllten Tüten in der anderen Hand in schmutziger Kleidung in der Innenstadt umherläuft“ (Wolf, 2016, S. 11). Dieses Bild reduziert (1.) Wohnungsnot auf eine spezifische und kleine Gruppe der Menschen, die von Wohnungsnot betroffen sind, stigmatisiert (2.) mit der gewollten Assoziation von Alkoholabhängigkeit, Un-Hygiene und Nicht-Leistung im meritokratischen Sinne Wohnungsnot allgemein und wird (3.) durch die selektive Wahrnehmung zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung (Wolf, 2016, S. 16). Frauen in Wohnungsnot haben in diesem Bild keinen Platz (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot).

Fazit

Die Konsequenzen der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot sind für diese erheblich. Wie dargestellt werden Menschen in Wohnungsnot exkludiert aus der Gesellschaft (siehe Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot). Das Gefahrenpotential der Abwertung von Menschen in Wohnungsnot für eben diese Menschen in Wohnungsnot wird in Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt unter der Berücksichtigung von Geschlechterdifferenzen detailliert dargestellt. Stigmatisierungen führen zu Nicht-Teilhabe und verschärfen sie erheblich; Wenn Menschen in Wohnungsnot sich aufgrund der Stigmatisierung zurückziehen und keine Hilfsangebote annehmen, verfestigt sich die Wohnungsnot. Die hohe Korrelation mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten sowie Suchtmittelkonsum verschlechtern die Lebenssituation von Menschen in Wohnungsnot weiter. Festgehalten werden kann, dass Stigmatisierung und Wohnungsnot in einem komplexen Zusammenhang wirken. Bezugnehmend zur übergeordneten Fragestellung muss die besondere Bedeutung von Gesundheit im Kontext der Stigmatisierung von Wohnungsnot festgestellt werden (siehe Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung).

Ob Männer oder Frauen mehr Stigmatisierung erfahren, kann nicht festgestellt werden. R. Lutz und Simon (2017, S. 164) postulieren eine größere Stigmatisierung von Frauen in Wohnungsnot, liefern hierfür jedoch keine Begründung. Klar ist, dass die Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot geschlechtsspezifische Besonderheiten aufweisen (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot). Eine große Bedeutung nehmen dabei insbesondere die geschlechtsspezifischen und heteronormativen Geschlechtsrollenidentitäten ein (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Normabweichung, als Indikator für Stigmatisierung, betrifft dabei beide Geschlechter. Männer und Frauen in Wohnungsnot weichen beide vom gängigen heteronormativen und meritokratischen Leistungsprinzip ab, jedoch weisen diese Abweichungen einen deutlichen Geschlechterunterschied auf. Der klassischen Aufteilung in den männlichen Bereich der Arbeit und den weiblichen Bereich der Familie (siehe das Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot), können beide Geschlechter in Wohnungsnot nicht gerecht werden. Bei der Bewertung der individuellen Wohnungsnot müssen Praktiker:innen aber auch Theoretiker:innen die ebenfalls geschlechtstypische Aufteilung in den aktiven männlichen Täter und das passive weibliche Opfer stets reflektieren, um aus diesen Stereotypen folgende Stigmatisierungen zu erkennen und zu vermeiden (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Welche Rolle die Kategorie Geschlecht für die Stigmatisierung im Kontext von Wohnungsnot spielt, ist Teil der übergeordneten Fragestellung und soll mit der vorliegenden Arbeit beantwortet werden (zur Bedeutung von Geschlecht siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot).