Die vorliegende Arbeit und deren vier einzelne Untersuchungen sind insgesamt auf der Strukturebene zu verorten (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). Nach der Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung (siehe Kapitel 7 Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung) wird im zweiten Zugang die Strukturelle Stigmatisierung untersucht. Im Fokus des zweiten Zugangs steht das qualifizierte Hilfesystem für Menschen in Wohnungsnot (R. Lutz & Simon, 2017, S. 97). Diese ‚Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten‘ haben das Ziel, die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft zu ermöglichen, zu erhalten oder zu verbessern (R. Lutz & Simon, 2017, S. 92–94). Stigmatisierung als inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot), wird dabei eine essentielle Bedeutung – im Sinne einer Verhinderung – für die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot zugeschrieben (siehe Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot). Daneben ist der Fokus auf dem Hilfesystem in der schwer zugänglichen und heterogenen Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot begründet. Mit dem Fokus auf dem Hilfesystem wird nur ein Teilaspekt der Strukturellen Stigmatisierung abgedeckt. Gesellschaftliche Regeln, Gesetze und Abläufe, welche durch soziale, ökonomische und politische Machtausübung bestimmt sind (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung), können dabei nur in Teilen erfasst werden. Das Hilfesystem ist jedoch entscheidend für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot (R. Lutz & Simon, 2017, S. 97) und zugleich sowohl der Öffentlichen Stigmatisierung ausgesetzt als auch bedeutender Akteur dieser, im ersten Zugang untersuchten, Öffentlichen Stigmatisierung von Wohnungsnot. Umgesetzt wird diese Untersuchung des Hilfesystems mittels zweier aufeinander aufbauender Dokumentenanalysen sowie einer leitfadengestützten Interviewstudie.

8.1 Ziel

Wie auch im ersten Zugang wird untersucht, welchen Einfluss die als relevant für Wohnungsnot identifizierten Kategorien haben. Die Kategorien Geschlecht und Gesundheit stehen ebenfalls bei dieser Untersuchung im Vordergrund, da beide Kategorien zum einen unabdingbar für die Analyse struktureller Ungleichheiten sind (siehe Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot und Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie) und zum anderen eine entscheidende Rolle für die unterschiedlichen Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot spielen.

Der Fokus auf das qualifizierte Hilfesystem ermöglicht sowohl eine valide Datengrundlage zu einer ansonsten schwer zugänglichen Minorität als auch die Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung in einem Bereich, der essentiell für die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot ist. Zugleich geht mit diesem Fokus eine Einschränkung der untersuchten Personengruppe einher. Die heterogene und diverse Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot wird dabei nicht umfassend erschlossen. Obdachlosigkeit, als Eingrenzung der Personengruppe von Wohnungsnot für die experimentelle Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung genutzt (siehe Abschnitt 7.1 Ziel und das Unterkapitel Stimulusmaterial des Abschnitten 7.2.2 Instrument), wird beispielsweise nur am Rande betrachtet. Jedoch ermöglicht die Konzeptionierung der Untersuchungen des zweitens Zugangs Aussagen über die Gesamtpopulation der Menschen in Wohnungsnot, auch wenn diese nicht im Zentrum der Untersuchungen stehen.

Die übergeordnete Forschungsfrage des zweitens Zugangs lautet:

Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem?

Darüber hinaus soll untersucht werden, ob die Ungleichheitsdispositionen der Öffentlichen Stigmatisierung bestätigt werden können, und ob das Hilfesystem weitere Ungleichheiten entlang der Kategorien produziert. Offen ist des Weiteren, ob im Hilfesystem Stigmatisierungen von Wohnungsnot beobachtet werden können und wie die einzelnen Akteur:innen des Hilfesystems die Öffentliche Stigmatisierung wahrnehmen und bewerten. Ferner wird untersucht, ob die einzelnen Akteur:innen des Hilfesystems von Selbststigmatisierung oder Stigmatisierung durch Verbindungen (siehe dazu Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung) betroffen sind. Schließlich muss der beobachtete positive Effekt des Kontakts überprüft werden.

Die Erkenntnisse des zweiten Zugangs komplementieren die Analyse der Teilhabe und Stigmatisierung von Wohnungsnot und die Untersuchung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Durch diese Analyse wird ein umfassender und in der Form erstmaliger Blick über die auf der Strukturebene verortete Strukturelle und Öffentliche Stigmatisierung von Wohnungsnot möglich.

8.2 Vorgehen

Die Untersuchung des Hilfesystems ist als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design konzipiert (Schreier & Odağ, 2017, S. 13), das insgesamt aus drei Studien besteht. Das Kernelement dieser drei Untersuchungen ist dabei die Dokumentenanalyse, die sich aus zwei der drei Untersuchungen zusammensetzt und wiederum als sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung konzipiert ist (Schreier & Odağ, 2017, S. 13). Um valide und repräsentative Daten über das Hilfesystem und mögliche Stigmatisierungen zu erhalten, bedarf es eines großen Umfangs und einer großen Vielfalt verschiedener Daten, welche bestmöglich durch non-reaktive Verfahren gewonnen werden, die Verzerrungen wie beispielsweise eine soziale Erwünschtheit ausschließen. Die Dokumentenanalyse wird diesen Herausforderungen gerecht (Döring & Bortz, 2016, S. 537). Eine solche Analyse geht jedoch auch mit verschiedenen Nachteilen, wie einer fehlenden Kontextualisierung einher (Döring & Bortz, 2016, S. 537), weswegen im Anschluss an die Dokumentenanalyse als dritte Untersuchung eine leitfadengestützte Interviewstudie durchgeführt wird. Diese orientiert sich an der übergeordneten Fragestellung und den in Abschnitt 8.1 Ziel aufgeführten Zielen. Neben der Kontextualisierung der Dokumentenanalyse ermöglicht die Interviewstudie, auch über die Identifikation abgewehrter und latenter Sinngehalte (Döring & Bortz, 2016, S. 377), Aussagen über Selbststigmatisierung und Stigmatisierung durch Verbindungen, welche, dem rahmengebenden Konzept der intersektionalen Mehrebenenanalyse folgend, auf der Identitätsebene angesiedelt sind (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie).

Die aus zwei Studien bestehende Dokumentenanalyse und die Interviewstudie werden im weiteren Verlauf des Kapitels 8 Zugang 2: Strukturelle Stigmatisierung detailliert vorgestellt. Die sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung der Dokumentenanalyse besteht aus einer qualitativen Dokumentenanalyse zur Generierung eines Codebuchs und einer anschließenden quantitativen Dokumentenanalyse, in der dieses Codebuch Anwendung mittels deskriptiver und inferenzstatistischer Analysen findet (siehe auch Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). Beide Dokumentenanalysen werden zusammengefasst in Abschnitt 8.3 Dokumentenanalyse dargestellt. Die abschließenden Ergebnisse der quantitativen Dokumentenanalyse werden im Abschnitt 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation dargelegt und erörtert. Darüber hinaus werden die Ergebnisse sowohl in Bezug zur Experimentellen Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung gesetzt als auch offene Fragen für die anschließende Interviewstudie formuliert. In einem nächsten Schritt erfolgt die Analyse der leitfadengestützten Interviewstudie (Abschnitt 8.4 Leitfadeninterviews). Die Interpretation dieser deduktiv-induktiv angelegte Analyse (Kuckartz, 2018, S. 96) bezieht sich sowohl auf die übergeordnete Fragestellung und die in Abschnitt 8.1 Ziel formulierten Ziele als auch auf die Beantwortung der offenen Fragen (siehe Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation). Im letzten Unterkapitel des Kapitels 8 Zugang 2: Strukturelle Stigmatisierung werden die Ergebnisse zusammenfassend in Bezug zur übergeordneten Fragestellung und der Ziele des zweiten Zugangs diskutiert. Die gewonnenen Ergebnisse werden darüber hinaus in Bezug zur gesamten Multi-Methoden-Untersuchung gesetzt. Des Weiteren erfolgt abschließend die Darstellung der Limitationen der als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design konzipierten Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung (siehe Abschnitt 8.5 Diskussion).

8.3 Dokumentenanalyse

Die zwei aufeinander aufbauenden Dokumentenanalysen sind das Kernelement der aus drei Untersuchungen bestehenden Analyse der Strukturellen Stigmatisierung von Wohnungsnot. Bei den untersuchten Dokumenten handelt es sich um Hilfepläne, die im Rahmen einer professionellen Einzelfallhilfe – der sogenannten qualifizierten Wohnungslosenhilfe – zur Beseitigung besonderer Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten nach §§ 67–69 SGB XII, erstellt werden (R. Lutz & Simon, 2017, S. 105–106). Der Hilfeplan dient als Grundlage zur Bewilligung der Hilfen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 106). Diese Hilfepläne beinhalten Sozialdaten, welche nach § 35 SGB I dem Sozialgeheimnis und somit einer besonderen Schutzbedürftigkeit unterliegen (mehr zu der Verfasstheit der Dokumente im Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen). Die umfassende und umfangreiche Untersuchung dieser streng vertraulichen Sozialdaten ermöglicht eine erstmalige Analyse der Stigmatisierung des qualifizierten Hilfesystems der Wohnungslosenhilfe. In ihrer Funktion als Grundlage zur Bewiligung haben Hilfepläne eine immense und konkrete Bedeutung für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot. Die als sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung (Schreier & Odağ, 2017, S. 13) angelegte Analyse besteht aus einer qualitativen (Vor-)Studie und einer quantitativen (Haupt-)Studie (Schreier & Odağ, 2010, S. 270) (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen). Die Darstellung der Ergebnisse sowie der Limitationen der Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung erfolgt, alle Studien des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design zusammenfassend, in Abschnitt 8.5 Diskussion.

8.3.1 Ziel

Die übergeordnete Fragestellung sowie das Ziel der Untersuchungen des zweitens Zugangs, der Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung von Wohnungsnot, wurden bereits in Abschnitt 8.1 Ziel dargestellt. Die Bedeutung der Kategorien für die Öffentliche Stigmatisierung konnte in der experimentellen Untersuchung (siehe Abschnitt 7.4 Diskussion) festgestellt werden. Ausgehend von Pryor und Reeders’ vier Manifestationen von Stigmatisierung (2011, S. 790) gilt es nun zu klären, ob eine Stigmatisierung von Wohnungsnot auch im Hilfesystem identifiziert werden kann, und welche Bedeutung dabei den Kategorien zukommt. Mit dem Fokus auf dem qualifizierten Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe lautet die übergeordnete Fragestellung: Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem? Ziel der Dokumentenanalysen ist dabei die Untersuchung von Hilfeplänen hinsichtlich der Auswirkungen der unterschiedlichen Kategorien Geschlecht und Gesundheit auf die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot. Im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht wird ein besonderer Fokus auf die bisher wenig beachtete Bedeutung der Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz zwischen der Person in Wohnungsnot und der im Hilfesystem tätigen Person gelegt (siehe Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Ferner wird, neben der Untersuchung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit, auch der Effekt weiterer Kategorien – Herkunft, Alter und Unterbringungsform – auf die Stigmatisierung von Wohnungsnot ausgewertet. Schließlich wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Bedarfe und das Verhalten der Betreuten auf die Stigmatisierung und das Verhalten des Hilfesystems haben.

8.3.2 Vorgehen

Der Kern einer jeden Inhaltsanalyse ist die Generierung eines Kategoriensystems (Schreier, 2013b, S. 256). Die vorliegende Untersuchung trägt dieser Tatsache in besonderem Maße Rechnung. Der zweite Zugang zur Untersuchung der Rolle der Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung und Teilhabe im Kontext von Wohnungsnot, realisiert über das Hilfesystem, ist als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design konzipiert (siehe Abschnitt 8.2 Vorgehen). Diese „komplexeste Variante“ (Schreier & Odağ, 2017, S. 13) eines Mixed-Methods-Designs verbindet mehr als zwei aufeinander aufbauende Untersuchungen (Schreier & Odağ, 2017, S. 13). Die Dokumentenanalyse als Teil dieses Mehrphasen-Mixed-Methods-Designs ist dabei als sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung angelegt (Schreier & Odağ, 2017, S. 13). Die besondere Bedeutung des Kategoriensystems betonend, besteht der erste Teil der sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Untersuchung in einer qualitativen Inhaltsanalyse zur Generierung eben dieses Kategoriensystems respektive Codebuchs. Der zweite Teil der Untersuchung, eine quantitative Inhaltsanalyse, nutzt dieses Codebuch als Grundlage für eine quantitative Analyse zur Überprüfung vorab generierter Hypothesen.

Die detaillierte Darstellung des Vorgehens ist dabei insbesondere zur Herstellung einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit unerlässlich (Döring & Bortz, 2016, S. 107–111). Bei der sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Untersuchung gibt es verschiedene Besonderheiten zu beachten. Es muss sowohl die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse als auch die Methode der quantitativen Inhaltsanalyse dargestellt werden (Unterkapitel Methode(n) der Dokumentenanalyse). Die Darstellung der Datenerhebung erfolgt bei der inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung (Unterkapitel Datenerhebung der Dokumentenanalyse) vor der Erläuterung zum Instrument. Das Instrument ist dabei zugleich das Ergebnis der qualitativen Inhaltsanalyse. Im Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung wird somit nicht nur das fertige Instrument dargestellt, sondern auch die Entwicklung des Instruments anhand der qualitativen Inhaltsanalyse dabei werden die Ergebnisse der einzelnen Erkenntnisschritte dargestellt. Des Weiteren ist die Generierung von Hypothesen für die quantitative Auswertung Bestandteil des Kapitels. Die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse werden in Abschnitt 8.3.4 dargestellt und abschließend in Abschnitt 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation diskutiert.

Methode

Die Dokumentenanalyse ist ein eigenständiges Verfahren zur Gewinnung und Auswertung empirischer Daten (Döring & Bortz, 2016, S. 533). Die Dokumentenanalyse greift dabei auf Daten zurück, die bereits existieren und unabhängig vom Forschungsprozess entstanden sind (Döring & Bortz, 2016, S. 533) – wie amtliche Akten, Schulaufsätze, Briefe, Fernsehinhalte, Printmedien, Sitzungsprotokolle, Urlaubsfotos, etc. – und grenzt sich somit von den Daten generierenden Verfahren durch den Einsatz von Erhebungsmethoden wie beispielsweise Interviews ab (Schreier, 2013b, S. 222). Eine Dokumentenanalyse von Hilfeplänen aus dem Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe eignet sich in besonderem Maße zur Beantwortung der übergeordneten Fragestellung in Bezug auf das Hilfesystem (siehe Abschnitt 8.2 Vorgehen und das Unterkapitelkapitel Datenerhebung). Zum einen wird angenommen, dass sich die zu untersuchenden Sachverhalte – die Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit und die besondere Relevanz des Hilfesystems für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot sowie eine mögliche Stigmatisierung im Hilfesystem aufgrund der identifizierten Bedeutung von Stigmatisierung im Kontext Wohnungsnot – in den Dokumenten systematisch abbilden (Döring & Bortz, 2016, S. 537). Zum anderen sind die Dokumente nicht durch den Forschungsprozess verzerrt (Döring & Bortz, 2016, S. 537), und die forschungsökonomische Datenerhebung ermöglicht die Auswertung einer großen Menge und Vielfalt an Daten (Döring & Bortz, 2016, S. 537). Diese Auswertung kann sowohl mittels einer qualitativen wie auch quantitativen Analyse durchgeführt werden (Döring & Bortz, 2016, S. 534). Kernelement zur Erfassung und Auswertung des Inhalts ist sowohl bei qualitativen als auch quantitativen Methoden die Generierung eines Codebuchs (Schreier, 2013b, S. 256).

Das Ziel der Dokumentenanalyse der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung von Hilfeplänen hinsichtlich der Strukturellen Stigmatisierung von Wohnungsnot sowie den Auswirkungen der Kategorien Geschlecht und Gesundheit auf die Stigmatisierung. Des Weiteren wird auch die Bedeutung der verschiedenen Bedarfe und des Verhaltens der Menschen in Wohnungsnot für die Stigmatisierung des Hilfesystems in den Blick genommen. Ferner wird die Bedeutung weiterer Kategorien wie Herkunft, Alter und Unterbringungsform untersucht. Daraus leiten sich verschiedene Implikationen für das weitere methodische Vorgehen ab, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

Die sehr hohe Rücklaufquote im Zuge der Datenerhebung und die sich daraus ergebende sehr große Stichprobe (N = 276) ermöglichen eine umfassende quantitative Untersuchung der Dokumente (Döring & Bortz, 2016, S. 552). Im Zuge der quantitativen Auswertung werden sowohl formale Merkmale als auch inhaltliche Merkmale systematisch herausgearbeitet, um diese anschließend einer quantitativen statistischen Analyse zu unterziehen (Döring & Bortz, 2016, S. 553, siehe Abbildung 8.1 zum Forschungsprozess der Dokumentenanalyse). Quantitative Inhaltsanalysen sind eng verbunden mit der Untersuchung massenmedialer Botschaften (Döring & Bortz, 2016, S. 553). In den Kommunikationswissenschaften werden seit langer Zeit große Datenmengen systematisch erfasst und untersucht (Rössler, 2017, S. 13–15). Auch heute ist die standardisierte und quantifizierende Inhaltsanalyse die am häufigsten verwendete Methode zur Analyse von Medieninhalten (Bonfadelli, 2002, S. 79). Die Kommunikationswissenschaften und insbesondere der Medieninhaltsforschung bieten daher einen detaillierten Überblick über die Methode der quantitativen Inhaltsanalyse.

Abbildung 8.1
figure 1

Der Forschungsprozess der Dokumentenanalyse nach Döring und Bortz (2016, S. 535) mit den Spezifika der vorliegenden Arbeit

Im Kontext der Medieninhaltsforschung ist der Untersuchungsgegenstand, also das zu untersuchende ‚Thema‘ zumeist eindeutig (Rössler, 2017, S. 14). Jedoch gehört die korrekte Definition des Themas zugleich auch dort zu den anspruchsvollsten und oftmals unterschätzten Aufgaben (Rössler, 2017, S. 129). Auch in der vorliegenden Arbeit scheint das ‚Thema‘ durch die übergeordnete Fragestellung und das formulierte Ziel der Dokumentenanalyse klar umrissen zu sein. Zentral sind die Bewertung und der Umgang des Hilfesystems mit den unterschiedlichen Bedarfen und dem unterschiedlichen Verhalten der Menschen, die im Hilfesystem persönliche Hilfen erhalten. Jedoch bedarf es bei näherer Betrachtung einer genaueren Definition – und somit Operationalisierung (Bonfadelli, 2002, S. 87–88); Was wird als Bewertung verstanden, und wie kann diese Bewertung sowie der Umgang gemessen werden? Können manifeste Variablen wie die Einschätzung des Hilfebedarfs noch relativ problemlos erfasst werden, ist die latente Variable der Bewertung, ob die Person positiv oder negativ dargestellt wird, äußerst komplex. Darüber hinaus ist ebenfalls offen, welche weiteren Aspekte innerhalb der Hilfepläne enthalten sind, die einen Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage liefern können. Es gibt keine adäquate Theorie oder ähnliche Forschungsarbeiten, die hier einen Hinweis auf mögliche ‚Themen‘ liefern könnten. Früh (2017, S. 72–73) schlägt vor, bei solchen offenen Fragen eine Explorationsphase mit mehreren Forschenden vorzuschalten.

Diesen Vorschlag übernimmt und adaptiert die vorliegende Untersuchung. Die Konzeption einer sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Untersuchung (Schreier & Odağ, 2017, S. 13) beinhaltet dabei sowohl eine qualitative Analyse und Explorationsphase weiterer ‚Themen‘ als auch die strukturierte quantitative Auswertung der Dokumente. Die qualitative Inhaltsanalyse ist dabei der quantitativen Analyse vorgeschaltet und hat das Ziel, ein Codebuch zur quantitativen Auswertung zu generieren.

Methode der qualitativen Inhaltsanalyse

Die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse muss sich demnach durch eine prinzipielle Offenheit und induktive Kategorienbildung am Material auszeichnen. Zusätzlich und zur Erhöhung der Validität und Reliabilität wird der Vorschlag von Früh (2017, S. 72–73), verschiedene Forschende in den Prozess der Themenfindung und Kategorienbildung einzubinden, mit aufgenommen. Kuckartz (2016, S. 211–212) spricht hier von einem Konsensuellen Kodieren, wobei der Prozess der Kategorienbildung der vorliegenden qualitativen Inhaltsanalyse, wie zu zeigen ist, von Kuckartz‘ Vorschlag teilweise abweicht.

Methodisch angelehnt ist das Vorgehen dabei an Kuckartz‘ direkter Kategorienbildung am Material (Kuckartz, 2016, S. 88–96). Die gewählte Methode kann somit der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Schreier, 2014, S. 3–6), nach Kuckartz, Schreier oder Rustemeyer (Schreier, 2014, S. 4), zugeordnet werden. Weil der Prozess des offenen Kodierens zu Beginn der qualitativen Analyse einen bedeutenden Stellenwert einnimmt, muss auch auf die von Barney Glases und Anselm Strauss entwickelte ‚Grounded Therory‘ verwiesen werden (Kuckartz, 2016, S. 79; Schreier, 2014, S. 5). Ziel dieser qualitativen Inhaltsanalyse ist jedoch alleine die Generierung eines Codebuchs zur quantitativen AuswertungFootnote 1. Im Prozess der Entwicklung des Kategoriensystems erfolgt schließlich, als letzter Schritt vor der Finalisierung des Kategoriensystems, die deduktive Bezugnahme auf die übergeordnete Fragestellung der Arbeit und somit auf die Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie auf Stigmatisierung und Teilhabe. Kuckartz erwähnt zwar die Bezugnahme zur Forschungsfrage (2016, S. 94–95), das Vorgehen der vorliegenden qualitativen Analyse muss jedoch als Adaption verstanden werden, da es in diesem Schritt explizit deduktiv angelegt istFootnote 2. Insgesamt ergibt sich somit ein induktiv-deduktives Vorgehen, angelehnt an Kuckartz‘ direkter Kategorienbildung am Material. Die Adaption ist begründet in der spezifischen Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit (Kuckartz, 2016, S. 63). Folgend wird der konkrete Prozess der qualitativen Inhaltsanalyse beschrieben.

Sowohl Früh (2017, S. 72) als auch Kuckartz (2016, S. 94) empfehlen die Arbeit in einem Team. Das Vorgehen in einem Team aus Forschenden erhöht zum einen die Gütekriterien und ermöglicht zum anderen Forschende auszuwählen, die unvoreingenommen auf das Material blicken können (siehe Lincoln und Guba, 1985, S. 308–309 und ihr Konzept des ‚peer debriefing‘). Um ein möglichst breites Merkmalsspektrum abdecken zu können, empfiehlt Früh (2017, S. 72), das Forschungsteam möglichst divers aufzustellen. Um dabei auch den Prozess des offenen Kodierens am Material möglichst unvoreingenommen zu beginnen, bestand das Forschungsteam neben dem Autor und einer weiteren Person, die inhaltlich an das Thema angebunden ist, aus zwei Personen, die bis dato noch keine Berührungspunkte zum Thema hattenFootnote 3. Der Prozess der Entwicklung des Kategoriensystems besteht dabei aus einem Wechsel zwischen Einzelarbeitsphasen, in denen die adaptierten Schritte von Kuckartz‘ (2016) Vorgehen durchgeführt werden, und einer jeweils anschließenden Besprechung im Team, um die jeweiligen Ergebnisse mit den Anderen abzugleichen und zu validieren. Die Ergebnisse der einzelnen Schritte sind im Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung dargestellt.

Kuckartz‘ (2016, S. 83–86) Vorgehen der direkten Kategorienbildung am Material gliedert sich in folgende Schritte:

  1. 1.

    Ziel der Kategorienbildung auf der Grundlage der Forschungsfrage bestimmen

  2. 2.

    Kategorien und Abstraktionsniveau bestimmen

  3. 3.

    Mit den Daten vertraut machen und Art der Kodiereinheiten festlegen

  4. 4.

    Die Texte sequenziell bearbeiten und direkt am Text Kategorien bilden. Zuordnung existierender oder Neubildung von weiteren Kategorien

  5. 5.

    Systematisieren und Organisieren des Kategoriensystems

  6. 6.

    Das Kategoriensystem festzurren

In der Umsetzung werden die Schritte 1 und 2 angepasst, um ein möglichst offenes Kodieren im Sinne der ‚Grounded Theory‘ zu ermöglichen. Konkret bedeutet das, dass die beiden Personen ohne Berührungspunkte zum Thema nur mit den nötigsten Informationen und der Herkunft der zu untersuchenden Dokumente – Hilfepläne zur Gewährung der qualifizierten Hilfen nach §§ 67–69 SGB XII – vertraut gemacht wurden. Darüber hinaus war ihnen nur das Ziel – die Generierung eines Kategoriensystems/Codebuchs – bekannt. Die zu analysierenden Daten setzen sich aus einer bewussten Stichprobenziehung (Döring & Bortz, 2016, S. 302; Schreier, 2017, S. 6) aus der Gesamtstichprobe zusammen (n = 40) (siehe Unterkapitelkapitel Datenerhebung). Für ein erstes Vertrautmachen mit den Daten werden die 40 Hilfepläne zufällig an die vier Forschenden verteilt. Die Aufgabe in der ersten Einzelarbeitsphase besteht dabei darin, sich einen ersten Überblick über die Daten zu verschaffen (Kuckartz, 2016, S. 89), Besonderheiten zu identifizieren und erste Kodiereinheiten zu benennen. Nach dieser Einzelarbeitsphase werden die ersten Erkenntnisse im Team besprochen und abgeglichen (Früh, 2017, S. 72). Der nächste Schritt des offenen Kodierens erfolgt erneut in einer Einzelarbeitsphase. Angelehnt ist das offene Kodieren dabei an die ersten Schritte der ‚Grounded Theory‘ (Schreier, 2012, S. 111, 2014, 5). Kuckartz empfiehlt beim offenen Kodieren des vierten Schritts, „zügig vor[zu]gehen und bei der Formulierung der Kategorien nicht lange über die beste Wortwahl nach[zu]denken“ (2016, S. 91). Dabei entstehen sowohl In-Vivo-Codes als auch deutlich abstraktere konzeptionalisierende Codes (Schreier, 2014, 5). In der nächsten gemeinsamen Teamsitzung, mit den beiden Personen ohne Berührungspunkte zum Thema sowie dem Autor der Arbeit, erfolgt erneut der Austausch und die Diskussion über die bisher gewonnenen Erkenntnisse. Das tiefere Verständnis des Materials mündet dabei in der Clusterung erster Kategorien. Ein methodisch entscheidender Schritt an dieser Stelle ist die Einbeziehung der übergeordneten Fragestellung. Ausgehend von einer näheren Erläuterung und anschließenden Diskussion der Fragestellung und des Ziels der vorliegenden Arbeit werden die Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie die im Fokus der Arbeit stehenden Mechanismen Stigmatisierung und Teilhabe deduktiv eingeführt und in die Clusterung mit einbezogen. Daran anschließend wird in einer nächsten Einzelarbeitsphase und äquivalent zu Kuckartz‘ fünftem Schritt das hierarchische Kategoriensystem mit Unter- und Oberkategorien entworfen und weiter ausdifferenziert (Früh, 2017, S. 79–81; Kuckartz, 2016, S. 93; Rössler, 2017, S. 78–82). Zur Organisation und Systematisierung der Kategorien wird die QDA-Miner-Software zur Hilfe genommen (Kuckartz, 2016, S. 93). Die so entstehenden Kategoriensysteme werden anschließend im Team zusammengetragen und in ein finales Kategoriensystem überführt (Kuckartz, 2016, S. 94). Der Prozess der Kategorienbildung am Material wird an dieser Stelle – äquivalent zum sechsten Schritt von Kuckartz (2016, S. 85–86) –  aufgrund der angenommenen ‚Sättigung‘ (Kuckartz, 2016, S. 85) für beendet erklärt (Kuckartz, 2016, S. 94). Weil dementsprechend auch die Frage beantwortet ist, was das ‚Thema‘ ist (Rössler, 2017, S. 103), wurde das Kategoriensystem hinsichtlich des Einhaltens der wichtigen Kriterien gemeinschaftlich final geprüft und verändert (Kuckartz, 2016, S. 85). Dabei werden die intuitiv gewonnenen und wechselseitig bestätigten Eindrücke in erste Hypothesen für die quantitative Inhaltsanalyse überführt. Die qualitative Inhaltsanalyse, also die Identifizierung von ‚Themen‘ und die Generierung eines Kategoriensystems, ist an dieser Stelle abgeschlossen.

Methode der quantitativen Inhaltsanalyse

Die quantitative Inhaltsanalyse besteht sowohl aus der Anwendung des Codebuchs und der Messung von Merkmalen als auch aus der quantitativen Datenanalyse, also der deskriptiven und inferensstatistischen Analyse der Messwerte (Döring & Bortz, 2016, S. 535). Grundlage ist das in der qualitativen Inhaltsanalyse entwickelte Kategoriensystem. Ziel der quantitativen Auswertung ist die systematische Herausarbeitung sowohl formaler Merkmale wie auch inhaltlicher Merkmale, um diese anschließend einer quantitativen statistischen Analyse zu unterziehen (Döring & Bortz, 2016, S. 553). Vor der Anwendung des Codebuchs muss das Kategoriensystem überarbeitet werden, um eine quantitative Messung zu ermöglichen (Rössler, 2017, S. 103). Desweiteren muss mittels eines Pretests eine ausreichend große Interraterreliabilität ermittelt werden (Döring & Bortz, 2016, S. 558–559; Rössler, 2017, S. 207–216), um die Daten für die quantitative Datenanalyse zuzulassen. Die quantitative Datenauswertung erfolgt anschließend gemäß generierter Hypothesen im Kontext der Forschungsfrage (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung) mittels deskriptiver und inferenzstatistischer Analysen, wobei Unterschiede oder Zusammenhänge im Fokus stehen (Döring & Bortz, 2016, S. 559). Döring und Bortz (2016, S. 555–556) liefern einen guten Überblick über das Vorgehen einer quantitativen Inhaltsanalyse und identifizieren zwölf verschiedene Arbeitsschritte:

  1. 1.

    Formulierung der Forschungsfragen beziehungsweise Forschungshypothesen

  2. 2.

    Untersuchungsplanung

  3. 3.

    Populationsdefinition und Stichprobenziehung

  4. 4.

    Archivierung und Aufbereitung des Untersuchungsmaterials

  5. 5.

    Deduktiver Entwurf des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  6. 6.

    Induktive Überarbeitung des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  7. 7.

    Pretest und Revision des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  8. 8.

    Kodier:innenschulung

  9. 9.

    Reliabilitätsanalyse und Finalisierung des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  10. 10.

    Datenerhebung durch Kodierung der gesamten Stichprobe

  11. 11.

    Statistische Datenanalyse der per Inhaltsanalyse generierten Messwerte

  12. 12.

    Interpretation der statistischen Ergebnisse der Inhaltsanalyse

    (Döring & Bortz, 2016, S. 555–556)

Das methodische Vorgehen muss dabei, ebenso wie für die qualitative Inhaltsanalyse, an die vorliegende Fragestellung und die vorgesehene sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung (Schreier & Odağ, 2017, S. 13) angepasst werden.

Die verschiedenen Forschungsfragen und erste Hypothesen sind in Abschnitt 8.3.1 Ziel dargestellt. Weitere Hypothesen werden, methodisch bedingt, erst nach der qualitativen Inhaltsanalyse der Dokumente, ausgehend vom Material und den ersten Erkenntnissen über die Inhalte der Dokumente, formuliert und sind in dem Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung formuliert. Der Untersuchungsplan wird zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt. Die Strichprobenziehung sowie Archivierung und Aufbereitung der Daten wird in Abschnitt 8.3.2 Vorgehen dargestellt. Weil dem Kategoriensystem respektive Codebuch eine entscheidende Funktion zugeschrieben wird und darüber hinaus ein prinzipiell induktives Vorgehen am Material geplant ist, muss der fünfte Arbeitsschritt angepasst werden. Das Resultat dieser Anpassung ist die Konzeption einer sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Untersuchung, bei der der fünfte Arbeitsschritt durch eine eigenständige qualitative Inhaltsanalyse ersetzt wird. Die Entwicklung des fertigen Messinstruments mit den einzelnen Schritten der Überarbeitung des Codebuches, der Präzisierung der Kodieranweisungen und die Kodier:innenschulung werden in Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung dargestellt. Die Darstellung der Ergebnisse des Pretests und der statistischen Datenanalyse erfolgt zusammengefasst in Abschnitt 8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung. Abschließend werden in der Diskussion die Ergebnisse diskutiert und in den Rahmen des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design sowie der gesamten vorliegenden Arbeit eingebettet.

Datenerhebung

Das Wesensmerkmal einer Dokumentenanalyse ist die besondere Form der Datenerhebung. Die genuine Dokumentenanalyse greift auf bereits vorhandene Dokumente zurück, die unabhängig vom Forschungsprozess produziert wurden (Döring & Bortz, 2016, S. 533) „und als Manifestationen menschlichen Erlebens und Verhaltens angesehen werden können“ (Döring & Bortz, 2016, S. 533). Der Darstellung der Datenerhebung kommt somit eine zentrale Rolle zu.

Ausgehend von der übergeordneten Fragestellung und dem Analyserahmen der vorliegenden Arbeit dient der zweite Zugang zum Untersuchungsgegenstand – Stigmatisierung und Teilhabe im Kontext Wohnungsnot – zur Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung auf der Strukturebene (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie und Abbildung 6.3).

Ziel der Dokumentenanalyse ist dabei die Untersuchung des Umgangs und der Bewertung des ‚Hilfesystems‘ mit unterschiedlichen Bedarfen und Verhalten von Menschen in Wohnungsnot. Der Fokus liegt dabei auf den Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Die Analyse von Hilfeplänen als bereits vorhandene Dokumente ermöglicht diese Untersuchung und bietet verschiedene Vorteile im Vergleich zu einer Beobachtung. So ermöglicht die Dokumentenanalyse die Untersuchung Struktureller Stigmatisierungen für das gesamte Hilfesystem. Eine mögliche Verzerrung der zu analysierenden Daten durch den Forschungsprozess kann des Weiteren bei diesem „non-reaktiven Verfahren der Datenerhebung“ (Döring & Bortz, 2016, S. 537) ausgeschlossen werden. Ferner ermöglicht die Dokumentenanalyse durch eine „forschungsökonomische Form der Datenerhebung“ (Döring & Bortz, 2016, S. 537) die Untersuchung einer großen Menge und Vielfalt von Daten, insbesondere solcher Daten über „schwer zugängliche Minoritäten“ (Döring & Bortz, 2016, S. 537). Menschen in Wohnungsnot sind aufgrund der hohen Stigmatisierung von Wohnungsnot und einer verdeckten und nicht öffentlichen Wohnungsnot eine solche schwer zugängliche Gruppe. Die Nachteile der Dokumentenanalyse, wie beispielsweise eine fehlende Kontextualisierung (Döring & Bortz, 2016, S. 537), werden über die im konzipierten Mehrphasen-Mixed-Methods-Desing vorgesehenen Leitfadeninterviews ausgeglichen.

Bei den zu analysierenden Dokumenten handelt es sich um Hilfepläne, die im Rahmen einer professionellen Einzelfallhilfe zur Überwindung besonderer Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten nach §§ 67–69 SGB XII erstellt werden (R. Lutz & Simon, 2017, S. 105–106). Der Hilfeplan ist das Instrument zur Planung individueller Hilfen und dient ebenso der Überprüfung vereinbarter Maßnahmen und Ziele sowie als Grundlage zur Bewilligung der Hilfen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 106). Weil die Hilfepläne Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse beinhalten, die im Kontext einer sozialrechtlichen Hilfe erhoben, gesammelt und gespeichert werden, handelt es sich bei Hilfeplänen um Sozialdaten nach § 35 SGB I. Sozialdaten unterliegen dem Sozialgeheimnis und somit einer besonderen Schutzbedürftigkeit (§ 67 SGB X). Demnach sind Hilfepläne offizielle Dokumente, die jedoch nicht öffentlich zugänglich sind (Döring & Bortz, 2016, S. 534–535). Die für die Dokumentenanalyse genutzten Hilfepläne sind formale und teilstandardisierte Dokumente. Diese beinhalten für verschiedene Lebensbereiche jeweils die Darstellung der aktuellen Situation sowie gemeinsam mit dem/der Betreuten vereinbarte Maßnahmen und Ziele.

Das übergeordnete Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Auch in der Dokumentenanalyse stehen diese beiden Kategorien im Fokus der Analyse. Zusätzliches Ziel ist dabei die Untersuchung der Kategorien Herkunft, Alter und Unterbringungsform hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Bewertung und des Umgangs des Hilfesystems. Es bedarf daher eines systematischen Auswahlprozesses einer Quotenstichprobe (Döring & Bortz, 2016, S. 307). Ziel dieses Auswahlprozesses ist es entgegen der üblichen merkmalsspezifischen Repräsentativität eines quantitativen Stichprobenverfahrens die Fälle so auszuwählen, dass alle Kategorien ungefähr im gleichen Maße vorkommen (Döring & Bortz, 2016, S. 303), um somit die im Fokus der Arbeit stehenden Unterschiede der Kategorien besser erfassen zu können. Dazu wird ein vorab festgelegter Stichprobenplan notwendig (Döring & Bortz, 2016, S. 303). Für die detaillierte Erfassung der Stichprobe und zur Beantwortung der Forschungsfragen der Dokumentenanalyse werden neben den Kategorien Geschlecht und Alter der Betreuten und der Hilfeplanersteller:in auch die adaptierte Kategorie Herkunft – hier als Stadt-Land-Differenzierung – sowie zwei Aspekte der Betreuungsform – stationär vs. ambulant und dezentral vs. zentral – erfasst (siehe Abbildung 8.2).

Abbildung 8.2
figure 2

Übersicht über die für die Stichprobe erhobenen Kategorien und deren Ausdifferenzierungen

Aufgrund der steigenden Komplexität werden jedoch zumeist drei Merkmale erhoben (Döring & Bortz, 2016, S. 303). Demnach und um den Erhebungsprozess möglichst einfach zu gestalten, muss eine Auswahl aus den insgesamt sieben Merkmalen gezogen werden. Insbesondere mit dem Fokus auf eine möglichst einfache Erhebung wurden die Kategorie Herkunft, die Betreuungsform in seiner Ausdifferenzierung zwischen stationär/ambulant und Stadt/Land sowie schließlich die Kategorie Geschlecht ausgewählt (siehe Abbildung 8.3).

Abbildung 8.3
figure 3

Die Kategorien Herkunft und Betreuungsform und deren Verteilungen in der Stichprobe

Aufgrund der nicht öffentlichen Zugänglichkeit und der besonderen Schutzbedürftigkeit der zu untersuchenden Dokumente ist die Erhebung maßgeblich auf Kooperationen von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe angewiesen. Um ein möglichst umfassendes Bild der gesamten Hilfelandschaft zu bekommen, werden Einrichtungen der großen Wohlfahrtsorganisationen akquiriert. Bedingt durch den hohen Aufwand der kooperierenden Einrichtungen bei der Erhebung werden nur Einrichtungen im Bundesland Nordrhein-Westfalen kontaktiert, zu denen ein indirekter persönlicher Kontakt bestand. Dennoch gelingt es, dabei einen heterogenen und differenzierten Ausschnitt der gesamten Hilfelandschaft zu erlangen. Die Auswahl der Einrichtungen orientiert sich dabei an den Kategorien Herkunft und Betreuungsform. Die jeweiligen Einrichtungen orientieren sich bei der Auswahl der Dokumente wiederum an der Kategorie Geschlecht (der Betreuten).

Die Erhebung erfolgte von März 2016 bis Dezember 2016 dabei wurden Hilfepläne aus dem Jahr 2015 bis zum Juni 2016 gesammelt. Insgesamt kamen dabei N = 277 (W = 52,7 %) Hilfepläne zusammen, wobei pro Einrichtung im Durchschnitt ca. 13 Hilfepläne übermittelt werden (für weitere Details der Stichprobe siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen und die Ausführungen zur deskriptiven Auswertung). Jeder Hilfeplan ist anonymisiert und um die Angaben zu den benötigten zusätzlichen Kategorien ergänzt.

Neben den Schritten der Populationsdefinition und Stichprobenziehung sind die Archivierung und Aufbereitung des Untersuchungsmaterials bedeutende Schritte des Vorgehens einer Dokumentenanalyse (Döring & Bortz, 2016, S. 555). Die Schritte der Datenaufbereitung werden in der Wissenschaft zumeist wenig beachtet, was jedoch zu erheblichen negativen Konsequenzen führen kann (Döring & Bortz, 2016, S. 581). Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der erhobenen Daten bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit der Anonymität der Hilfepläne (Döring & Bortz, 2016, S. 557), insbesondere um forschungsethische und datenschutzkonforme Standards zu beachten und einzuhalten (Döring & Bortz, 2016, S. 581). Deswegen muss – und so ist es den teilnehmenden Einrichtungen auch zugesichert – trotz der vorherigen Anonymisierung der Hilfepläne eine erneute Überprüfung und Veränderung der 277 Hilfepläne hinsichtlich einer vollständigen Anonymisierung durchgeführt werden. Die vollständige Anonymisierung schließt dabei aus, dass „Rückschlüsse auf eine bestimmte oder bestimmbare Person“ (Liebig et al., 2014, S. 2) möglich sind. Darüber hinaus erfolgt die einheitliche Formatierung und digitale Aufbereitung des Materials, um eine computergestützte Datenanalyse zu ermöglichen (Döring & Bortz, 2016, S. 583). Die Aufbewahrung und Archivierung der Dokumente erfolgt sowohl für in die in Papierform vorliegenden Dokumente als auch die virtuell formatierten Dokumente im Rahmen der geltenden Datenschutzbestimmungen (Döring & Bortz, 2016, S. 369).

Stichprobenziehung für die qualitative Inhaltsanalyse

Das Ziel der qualitativen Inhaltsanalyse ist die Generierung eines Codebuchs. Dafür müssen, in einem offenen Vorgehen am Material (Kuckartz, 2016, S. 88–96) und basierend auf der übergeordneten Fragestellung, alle ‚Themen‘ (Rössler, 2017, S. 129–137 siehe auch Früh, 2017, S. 72) der Hilfepläne identifiziert werden (siehe Unterkapitel Methode und das Unterkapitel Methode der qualitativen Inhaltsanalyse des Abschnitten 8.3.2 Vorgehen).

Um dies zu ermöglichen, müssen die zu untersuchenden Hilfepläne eine möglichst große Variabilität abbilden (Schreier, 2017, S. 12–13). Dafür erfolgt eine bewusste Stichprobenziehung aus der Gesamtstichprobe (Döring & Bortz, 2016, S. 302; Schreier, 2017, S. 6) mittels eines qualitativen Stichprobenplans (Schreier, 2017, S. 12–14). Der quantitative Stichprobenplan für die Erhebung der Gesamtstichprobe orientiert sich an der gleichen Verteilung der Kategorien (Döring & Bortz, 2016, S. 303), wohingegen der qualitative Stichprobenplan sich an der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit orientiert und die Kategorie Geschlecht in den Fokus setzt.

Die Frage der zu untersuchenden Fallzahl und somit Größe der Stichprobe ist umstritten. Es kann keine zufriedenstellende und eindeutige Antwort in der Literatur gefunden werden, da die Beantwortung unter anderem von der verwendeten Methode abhängt und auf einem jeweils spezifischen methodologischen Wissensverständnis beruht (Schreier, 2017, S. 8–10). Die Frage der zu ziehenden Stichprobe nimmt jedoch im Kontext des qualitativen Stichprobenplans und der im Fokus stehenden und zu untersuchenden Kategorien eine bedeutende Rolle ein. Je mehr Kategorien vorab identifiziert werden, desto größer wird die Stichprobe dabei muss die Heterogenität der Stichprobe gesichert sein, aber die Analyse gleichzeitig handhabbar bleiben. Mit der Festlegung von n = 40 zu untersuchenden Fällen liegt die Anzahl über dem Durchschnitt von N = 30 Fällen bei qualitativen Arbeiten in den Sozialwissenschaften (Döring & Bortz, 2016, S. 302). Aufgrund des teilstandardisierten Aufbaus der Hilfepläne erscheint die Handhabbarkeit für eine qualitative Inhaltsanalyse als gewährleistet, und zugleich ermöglicht die Anzahl von n = 40 die Berücksichtigung der vier (fünf) Kategorien Geschlecht der Betreuten, Geschlecht der Hilfeplanersteller:in, Unterbringungsform sowie das gruppierte Alter der Betreuten (und dessen Kongruenz respektive Nicht-Kongruenz zum Alter der Hilfeplanersteller:in).

Ausgehend vom Stichprobenplan (siehe Abbildung 8.4) werden jeweils 20 Hilfepläne für männliche Betreute und weibliche Betreute identifiziert, weil das Geschlecht der Betreuten im Fokus der Arbeit steht und somit als Unterscheidungskriterium besondere Relevanz aufweist (Schreier, 2017, S. 12–13). Die Auswahl ist dabei gegliedert in jeweils zehn Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern und weiblichen Hilfeplanerstellerinnen sowie dabei wiederum jeweils fünf Hilfepläne aus einem dezentralen Unterbringungssetting und einem Gruppen-Unterbringungssetting der Betreuten. Schließlich werden die fünf Hilfepläne jeweils so ausgewählt, dass mindestens jedes gruppierte Alter der Betreuten erfasst wird. Daraus resultiert, wie üblich bei solchen Stichprobenplänen, zumeist ein Fall pro Zelle (Schreier, 2017, S. 13). Bei dieser Auswahl wird zugleich darauf geachtet, dass das gruppierte Alter der Betreuten bei jeweils mindestens zwei Hilfeplänen kongruent sowie nicht-kongruent zum gruppierten Alter der Hilfeplanersteller:in ist.

Abbildung 8.4
figure 4

Stichprobenplan der qualitativen Inhaltsanalyse

8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung

Eine Besonderheit der vorliegenden sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Untersuchung liegt in der Betonung der Bedeutung des Codebuchs respektive Kategoriensystems, also dem Instrument. Die Konzeption einer qualitativen Inhaltsanalyse mit dem Ziel der Generierung dieses Kategoriensystems, als Teil der Untersuchung, verweist eindrücklich auf die Relevanz des Codebuchs (siehe unter Abschnitt 8.3.2 Vorgehen das Unterkapitel Methode der qualitativen Inhaltsanalyse). In der Konsequenz erfolgt die Darstellung des Instruments zugleich als erste Ergebnisdarstellung der qualitativen Dokumentenanalyse.

Analog zu Dörings und Bortz‘ (2016, S. 555–559) Vorgehen in zwölf Arbeitsschritten wird im vorliegenden Kapitel die Erstellung des Kategoriensystems als Ergebnis der qualitativen Dokumentenanalyse wie auch die weitere und anschließende Überarbeitung inklusive Pretest und Revision mit dem Endprodukt des Codebuchs vorgestellt.

Das Kategoriensystem als Ergebnis der Analyse

Um die intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, werden die Ergebnisse der Arbeitsschritte der qualitativen Dokumentenanalyse jeweils einzeln dargestellt. Die einzelnen Arbeitsschritte bestehen dabei jeweils aus einem Wechsel zwischen Einzelarbeitsphasen und der anschließenden gemeinsamen Besprechung der Ergebnisse:

Die einzelnen Ergebnisse der Einzelarbeitsphasen werden aufgrund der hohen Subjektivität nicht nähergehend betrachtet. Im Fokus der Darstellung der Ergebnisse liegen die im Team gemeinsam und wechselseitig gewonnenen sowie bestätigten Erkentnisse.

Um ein möglichst offenes Kodieren und eine Uneinvorgenommenheit bezüglich der Hilfepläne zu ermöglichen (siehe auch Unterkapitel Methode der qualitativen Inhaltsanalyse im Abschnitt 8.3.2 Methode), wurde das Projekt dem Team aus Forschenden vorab sehr allgemein erklärt. Das Fazit der ersten Besprechung besteht aus den Feststellungen, dass Wohnungsnot ein bedeutendes gesellschaftliches Thema ist, die Wohnungslosenhilfe einen Beitrag zur Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot liefert, die Untersuchung insgesamt aus einem Multi-Methoden-Design besteht, wobei die Dokumentenanalyse explizit als Mixed-Method-Design konzipiert ist und schließlich, dass das Ziel die Generierung eines Codebuchs zur quantitativen Auswertung der Hilfepläne ist.

In der zweiten Besprechung und nach einem ersten Vertrautmachen mit dem Material werden die ersten intuitiv gewonnen Eindrücke ausgetauscht und wechselseitig bestätigt (Früh, 2017, S. 72). Trotz der formalen Struktur und des teilstandardisierten Aufbaus der Hilfepläne ermöglichen diese – so das Ergebnis des Austausches – die individuellen Bedarfe der Betreuten detailliert zu erfassen. Die Hilfepläne liefern einen umfangreichen Überblick über mindestens fünf Lebensbereiche – Wohnen, Arbeit, Sicherung des Lebensunterhaltes, Gesundheit, Umgang mit Suchtmitteln und Soziale Beziehungen – und ermöglichen zugleich eine emotionale Nähe zur betreuten Person. Als bemerkenswert herausgestellt und für das Ziel der vorliegenden Arbeit essentiell ist die Erkenntniss, dass insbesondere bei Hilfeplänen, die nicht als erste Hilfepläne verfasst wurden, Bewertungen der Hilfe und Maßnahmen, aber auch Bewertungen der Betreuten durch die Hilfeplanersteller:in sowie der Umgang des Hilfesystems mit Betreuten identifiziert werden können. Insgesamt überraschend ist für das Team die Fülle und Detailliertheit der Informationen, die aus den Hilfeplänen gewonnen werden können.

Nach dem induktiven Prozess des offenen Kodierens der anschließenden Einzelarbeitsphase erfolgt eine Clusterung der verschiedenen Codes. Eine entscheidende methodische Bedeutung kommt der deduktiven Einbeziehung der Kategorien sowie der im Fokus der Arbeit stehenden Stigmatisierung und Teilhabe zuteil. Auf der Basis einer ausführlichen Diskussion entsteht in der dritten Besprechung eine in Abbildung 8.5 dargestellte Übersicht der verschiedenen Codes. Etwa 100 verschiedene induktiv erfasste Codes werden dabei geordnet und, wenn möglich, Oberkategorien zugeordnet. Oberkategorien, die identifiziert und im gegenseitigen Austausch bestätigt werden, waren ‚Ziele‘, ‚Maßnahmen/Bedarfe‘, ‚soziale Schwierigkeiten‘, Haltung‘, ‚Sprache‘ und ‚Sonstiges‘.

Für die Oberkategorien ‚Ziele‘ und ‚Maßnahmen/Bedarfe‘ sowie ‚soziale Schwierigkeiten‘ und ‚Haltung‘ wird ein Zusammenhang angenommen. Die Oberkategorien ‚Ziele‘ und ‚Maßnahmen/Bedarfe‘ erfassen die individuellen Bedarfe der Betreuten, wohingegen die Oberkategorien ‚soziale Schwierigkeiten‘ und ‚Haltung‘ Aspekte des Umgangs, aber auch der Bewertung der Betreuten sowie des Hilfesystems mit diesen Bedarfen zusammenfassen und clustern. Insbesondere die Oberkategorie ‚Haltung‘ clustert Codes, die im Zusammenhang mit der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit sowie dem Ziel der Dokumentenanalyse stehen. Dabei weist die Oberkategorie ‚Haltung‘ einen Zusammenhang zur Oberkategorie ‚Sprache‘ auf. Beiden Oberkategorien gemein ist, dass sie explizit das Hilfesystem in den Blick nehmen und Rückschlüsse über die Bewertung und den Umgang des Hilfesystems mit Betreuten ermöglichen.

Kontrovers diskutiert wird die Beobachtung der Darstellungen der Betreuten. Diese ist teilweise wahrgenommen worden als Täter-Beschreibung, also der aktiven Schuldzuschreibung zur aktuellen Wohnungsnot oder als Opfer-Beschreibung und der damit einhergehenden Anerkennung einer Un-Schuldigkeit, in Not geraten zu sein. Auffällig ist dabei, dass diese Unterscheidung zwischen Opfer und Täter mit der Kategorie Geschlecht der Betreuten korreliert. Deckungsgleich zur typischen Geschlechtsrollenidentitäten einer männlichen Aktivität und einer weiblichen Passivität (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext Wohnungsnot) werden – so die Annahme im Team – Männer dabei eher als Täter und Frauen eher als Opfer dargestellt.

Des Weiteren wird die Bedeutung der verwendeten Sprache der Hilfeplanersteller:in herausgestellt. Neben der angenommenen Relevanz als Satzbausteine im Kontext der Bemessung des Umfangs der Hilfen sowie der Bewilligung der Hilfen insgesamt kann der verwendeten Sprache auch eine Wertung der Betreuten entnommen werden. Diese teils deutlichen Wertungen überraschen die Teammitglieder; sie stehen jedoch im Zusammenhang mit der teilweise wahrgenommenen erheblichen Kontrolle respektive Zwangsausübung im Kontext der Hilfen sowie der expliziten Wertung der Personen mit Hilfebedarf und der Bewertung von deren Verhalten. Nach Ansicht der Teammitglieder werden diese Bewertungen, auch wenn nicht explizit genannt, durch die Hilfeplanersteller:in teilweise als Charaktereigenschaften der Betreuten dargestellt.

Aufgrund dieser Beobachtungen werden die in einem engen Sinn-Zusammenhang stehenden Codes ‚Wertung‘, Einschätzung‘, ‚Tatsache‘ und ‚Zuschreibung‘ sowie die, ebenfalls sinnverbundenen Codes ‚Ursache‘ und ‚Begleiterscheinung‘ erstellt. Diese Codes werden insgesamt als im Zusammenhang mit Stigmatisierung stehend vermutet.

Abbildung 8.5
figure 5

Übersicht über Codes und Oberkategorien als Ergebnis der dritten Besprechung und der Clusterung der Ergebnisse

Ausgehend vom tiefergehenden Verständnis des Materials sowie den daraus folgenden Clusterungen und äquivalent zu Kuckartz‘ fünften Schritt der Kategorienbildung (Kuckartz, 2016, S. 85) wird das Kategoriensystem in der anschließenden Einzelarbeitsphase differenzierter systematisiert und organisiert. Das Ziel dieses Arbeitsschrittes ist die Entwicklung eines hierarchischen Kategoriensystems. Die daraus entstandenen Kategoriensysteme werden anschließend in der Besprechung im Team in ein finales Kategoriensystem überführt (Kuckartz, 2016, S. 85–86).

Mit insgesamt 14 identifizierten Oberkategorien wird eine ‚Sättigung‘ der Kategorien angenommen, also die Gesamtheit des Inhalts der Hilfepläne als erfasst beschrieben (Kuckartz, 2016, S. 85). Das finale Kategoriensystem (Abbildung 8.6) ist das zentrale Ergebnis der qualitiv inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung. Jedoch wird es folgend nur prägnant dargestellt, da das Hauptaugenmerk der Dokumentenanalyse auf dem aus dem finalen Kategoriensystem entwickelten Codebuch zur quantitativen Analyse liegt.

Abbildung 8.6
figure 6

Oberkategorien des finalen Kategoriensystems der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung

Die erste Oberkategorie beinhaltet formale Merkmale, die als bedeutend für die anschließende quantitative Analyse identifiziert wurden. Die Oberkategorien zwei bis fünf erfassen die aktuelle Lebenssituation der Betreuten, wohingegen die Oberkategorie sechs verschiedene Risikofaktoren und Schutzfaktoren aus der Vergangenheit sowie Gegenwart aufführt. Die Oberkategorien sieben und acht wiederum fassen die aktuellen Bedarfe der Betreuten zusammen und die Oberkategorie neun beinhaltete die Bewertungen bezüglich einer Verbesserung oder Verschlechterung der Lebenslage der Betreuten. Die Oberkategorie zehn ‚Verhalten und Verhaltensauffälligkeiten‘ erfasst das beschriebene Verhalten der Betreuten bezüglich gemeinsam vereinbarter Maßnahmen. Unterschieden werden kann dabei zwischen ‚Compliance‘, also dem Nachkommen der Betreuten bezüglich der vereinbarten Maßnahmen, und ‚Non-Compliance‘. Eng verbunden mit der Oberkategorie zehn ist die Oberkategorie elf ‚Mitarbeit‘, da auch hier das beschriebene Verhalten der Betreuten einbezogen wird, jedoch explizit die konkrete Mitarbeit im Hilfesystem. Ähnlich konotiert ist die Oberkategorie zwölf, die ‚Rollenzuschreibung‘ als Täter oder Opfer. Die Oberkategorie 13 erfasst die Kontrolle denen die Betreuten ausgesetzt sind. Schließlich beinhaltet die Oberkategorie 14 verschiedene Stigmatisierungen, die identifiziert wurden.

Abbildung 8.7
figure 7

Finales Kategoriensystem mit Ober- und Unterkategorien

Abbildung 8.7 zeigt die jeweiligen Unterkategorien der 14 Oberkategorien. Wie ersichtlich, besteht die Oberkategorie ‚Stigmatisierung‘ aus zehn Unterkategorien und nimmt somit eine herausragende Rolle innerhalb des Kategoriensystems ein. Begründet ist diese Rolle im Fokus der vorliegenden Arbeit auf Stigmatisierung und Teilhabe. Die Kategorien Geschlecht und Gesundheit wiederum als Teil der übergeordneten Fragestellung werden zur Erfassung ihrer Bedeutung als Kategorien zur aktuellen Lebenslage der Betreuten erhoben. Die weiteren Kategorien beziehen sich konkret auf die Forschungsfrage der Dokumentenanalyse – Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem?

An dieser Stelle wird das entwickelte hierarchische Kategoriensystem nicht weiter ausgeführt. Das komplette Kategoriensystem ist dem Anhang der Arbeit zu entnehmen (siehe Anhang D Kategoriensystem). Das Ziel der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und insbesondere die Exploration von ‚Themen‘ ist mit der Erstellung des hierarchischen Kategoriensystems erreicht. Im Team wurden an deser Stelle Hypothesen aufgestellt, die mittels der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung überprüft werden sollen.

Hypothesen

Die Generierung von Hypothesen ist für die anschließende quantitativ inhaltsanalytische Dokumentenauswertung von großer Bedeutung (Döring & Bortz, 2016, S. 657). Hypothesen werden dabei zum einen aus der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung mittels des Austausches im Team (Früh, 2017, S. 72) sowie theoriegeleitet gewonnen.

Der im Team wechselseitig bestätigte Eindruck einer zumeist negativen Bewertung der Betreuten entspricht der in der Literatur identifizierten Marginalisierung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Die Leistung der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und insbesondere der Diskussionen im Team besteht dabei in der Ausdifferenzierung dieser Bewertungen in sieben respektive neun konkrete Aspekte:

  • Die zugeschriebene Charaktereigenschaf

  • Die Bewertung hinsichtlich der Rolle als Hilfesuchende:r

  • Die Kontrolle der Personen (durch das Hilfesystem und andere Institutionen)

  • Die Ursachenzuschreibung für Lebenssituation und Wohnungsnot

  • Der explizite Sprachgebrauch des Hilfeplans

Zwei weitere Aspekte verortet das Team ebenfalls zur negativen Bewertung der Betreuten durch das Hilfesystem, die jedoch eine konkrete Auswirkung für die Hilfen – also dem Baustein zur Förderung der Teilhabe – haben:

  • Die Einschätzung/Empfehlung für den weiteren Hilfeumfang

  • Die Prognose über den Erfolg der Hilfen

Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob diese sieben, respektive neun Aspekte (siehe Tabelle 8.1) tatsächlich ein Indiz einer Stigmatisierung des Hilfesystems sind oder der Darstellung der Realität entsprechen. Das Hilfesystem weist eine lange Historie der Marginalisierung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot auf (siehe Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot). Dennoch hat sich das Hilfesystem fundamental gewandelt und kann heute als der Baustein zur Förderung der Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot betrachtet werden. Nichtsdestotrotz entsprechen die qualitativ gewonnenen Aspekte von Stigmatisierung den üblichen Abwertungen von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot):

  1. 1.

    Menschen in Wohnungsnot seien selbstverschuldet in Wohnungsnot, weil sie den gängigen meritokratischen Normen nicht entsprechen würden.

  2. 2.

    Menschen in Wohnungsnot hätten charakterliche Defizite und seien deswegen nicht dankbar für die geleistete Hilfe und bedürfen daher einer Überwachung.

Darüber hinaus zeigen Pryor und Reeder (2011, S. 791) mit ihrer Darstellung der unterschiedlichen Manifestationen von Stigmatisierung und deren gegenseitigen Wirkungen, dass die identifizierte Öffentliche Stigmatisierung von Wohnungsnot und Menschen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot) auch zu einer Strukturellen Stigmatisierung eben dieser Personen führt.

Ob es sich in den Hilfeplänen eher um Stigmatisierungen oder eher um Darstellungen der Realität handelt, also eine Reaktion auf ein Verhalten ist, hängt auch von den Ergebnissen der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung – beispielsweise einer möglichen Korrelation von einer negativen Bewertung mit häufigem Non-Compliance – ab. Endgültig geklärt werden kann die Diskussion nicht, und dies soll an dieser Stelle auch nicht versucht werden (siehe Abschnitt 9.1 Stigmatisierung von Wohnungsnot).

Ein Indiz für eine Stigmatisierung wäre die Identifizierung einer flächendeckenden negativen Bewertung der Betreuten in den Hilfeplänen. Daraus resultiert die offene Forschungsfrage:

F1. Kann eine Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot im Hilfesystem identifiziert werden?

Über die allgemeine negative Bewertung hinaus identifiziert das Team eine negativere Bewertung von männlichen Betreuten gegenüber BetreutenFootnote 4. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass Männer in Wohnungsnot und im Hilfesystem mehr stigmatisiert würden als Frauen. In der Literatur kann dafür keine Unterstützung gefunden werden. Das Postulat einer größeren Stigmatisierung von Frauen durch R. Lutz und Simon (2017, S. 164) bleibt ohne weitere Begründungen. Insgesamt fehlen eindeutige Befunde oder Erklärungen hinsichtlich der größeren Stigmatisierung von Frauen oder Männern (siehe dazu Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot und das Unterkapitel Fazit). Entgegen der Hypothese einer größeren Stigmatisierung von Männern steht der Befund der experimentellen Untersuchung der vorliegenden Arbeit. Die Untersuchung zeigt die Tendenz einer größeren Öffentlichen Stigmatisierung von Frauen in Wohnungsnot, wobei explizit erwähnt werden muss, dass diese erhöhte Stigmatisierung nur in der Interaktion mit weiteren Merkmalsausprägungen beobachtet werden kann (siehe Abschnitt 7.4 Diskussion). Weil somit keine eindeutig konträren Ergebnisse aus der Untersuchung oder konträre Befunde sowie Erklärungen in der Literatur gefunden werden können, wird der gegenseitig bestätigte Eindruck einer größeren Stigmatisierung von männlichen Betreuten in verschiedene Hypothesen übertragen. Die formulierten Hypothesen weisen die gleiche Richtung, dabei aber unterschiedliche Aspekte von Stigmatisierung auf. Als H0 wird die übergeordnete Hypothese einer größeren Stigmatisierung von männlichen Betreuten formuliert:

H0. Männliche Betreute werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute.

H1. Männlichen Betreuten werden im Hilfesystem mehr negative Charaktereigenschaften zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreuten mehr positive Charaktereigenschaften zugeschrieben werden.

H2. Männliche Betreute werden im Hilfesystem eher mit der Rolle des ‚schlechten Bedürftigen‘ beschrieben, wohingegen weibliche Betreuten eher mit der Rolle der ‚guten Bedürftigen‘ beschrieben werden.

H3. Männliche Betreute sind im Hilfesystem mehr Kontrolle ausgesetzt als weibliche Betreute.

H3.1. Männliche Betreute sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt als weibliche Betreute.

H4. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher eine selbstverschuldete Wohnungsnotsituation zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreuten eher eine unverschuldete Wohnungsnotsituation zugeschrieben wird.

H5. Männliche Betreute werden im Hilfesystem eher als Täter dargestellt, wohingegen weiblichen Betreute eher als Opfer dargestellt werden.

H6. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher mit einer explizit abwertenden und stigmatisierenden Sprache begegnet als weiblichen Betreuten.

H7. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher eine Verschlechterung der Lebenssituation zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreuten eher eine Verbesserung zugeschrieben wird.

Darüber hinaus wird, als konkrete Auswirkung auf die Hilfe eine Stigmatisierung von männlichen Betreuten angenommen:

H8. Bei männlichen Betreuten bricht das Hilfesystem die Hilfen eher ab als bei weiblichen Betreuten.

H9. Bei männlichen Betreuten prognostiziert das Hilfesystem das Nicht-Erreichen der Ziele, wohingegen bei weiblichen Betreuten das Erreichen der Ziele prognostiziert wird.

Diese am Material gebildeten und im Team abgeglichenen Hypothesen fokussieren die für die vorliegende Untersuchung bedeutende Kategorie Geschlecht. Die qualitativ inhaltsanalytische Dokumentenauswertung ist an dieser Stelle abgeschlossen. Die weiteren Hypothesen orientieren sich an der übergeordneten Fragestellung der Arbeit – Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für Stigmatisierung und Teilhabe im Kontext von Wohnungsnot? – und der Forschungsfrage der Dokumentenanalyse – Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem? Insgesamt können den Hypothesen vier Themen zugeordnet werden:

  1. 1.

    Geschlecht

    1. a.

      der Betreuten

    2. b.

      der Hilfeplanersteller:innen

    3. c.

      Kongruenz beziehungsweise Inkongruenz

  2. 2.

    Gesundheit

    1. d.

      psychische Auffälligkeiten/Krankheiten

    2. e.

      Drogen- und Suchtmittelkonsum

  3. 3.

    das Verhalten der Betreuten

  4. 4.

    die Bedarfe der Betreuten

Die Themen sollen im Folgenden jedoch nicht nur isoliert betrachtet, sondern auch in ihrem Zusammenwirken untersucht werden. So werden sowohl das Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit als auch der Zusammenhang zwischen dem Verhalten und den Bedarfen der Betreuten hinsichtlich der Stigmatisierung untersucht. Darüber hinaus wird auch der Zusammenhang von Geschlecht, Gesundheit und Verhalten sowie die Zusammenhänge von Geschlecht, Gesundheit und Bedarfen hinsichtlich der Stigmatisierung untersucht. Schließlich wird auch der Zusammenhang von Geschlecht, Gesundheit, Verhalten und Bedarfen hinsichtlich der Stigmatisierung untersucht. Der Übersicht halber werden nachfolgende Hypothesen begrenzt auf die übergeordnete Vermutung einer Stigmatisierung. Dabei ist die Ausdifferenzierung in die neun identifizierten Aspekte der Bewertung der Betreuten durch das Hilfesystem mitzudenken.

Äquivalent zu den Hypothesen fünf und sechs der experimentellen Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung und der vielfach bewiesenen negativen Einstellung gegenüber Männern beziehungsweise der Abwertung von Männern in Bezug auf Minoritäten (Cloerkes, 1985, S. 203–206; Ewalds-Kvist et al., 2013, S. 367; Hastall et al., 2016, S. 179; Taylor & Dear, 1981, S. 233), wird eine negative Bewertung der Betreuten von männlichen Hilfeplanerstellern angenommen (siehe Abschnitt 7.2.2 Instrument und das Unterkapitel Hypothesen):

H10. Männliche Hilfeplanersteller stigmatisieren Betreute mehr als weibliche Hilfeplanerstellerinnen.

Der Kategorie Geschlecht muss, weil sie im Fokus der vorliegenden Arbeit liegt, besondere Beachtung geschenkt werden. Deswegen wird nicht nur das Geschlecht der Betreuten und der Hilfeplanersteller:innen und deren Rolle bei der Stigmatisierung der Betreuten untersucht, sondern auch das Zusammenwirken vom Geschlecht der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innenFootnote 5. Aufbauend auf der sozial-kognitiven Lerntheorie nach Bandura (2001), der Theorie des sozialen Vergleichs nach Festinger (1954), der Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner (1986) sowie der bereits dargestellten Einteilung in in-groups und out-groups (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung) kann die Bedeutung der Ähnlichkeit beziehungsweise Kongruenz bei der Bewertung von anderen Personen identifiziert werden. Der in-group-Zugehörigkeit über eine positive Ähnlichkeit kommt dabei die besondere Bedeutung für ein positives Selbstwertgefühl sowie für ein positives Selbstkonzept zuteil (Knobloch-Westerwick & Hastall, 2006, S. 265, 2010, S. 517). Weil jedoch Wohnungsnot insgesamt stark stigmatisiert wird (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot) wird an dieser Stelle angenommen, dass eine Ähnlichkeit zu einer Person in Wohnungsnot negativer bewertet wird. Übertragen auf die Bewertung der Betreuten durch das Hilfesystem wird daher vermutet, dass eine Geschlechterkongruenz zu einer Abwertung der Betreuten führt:

H11. Männliche Hilfeplanersteller stigmatisieren männliche Betreute mehr als weibliche Betreute. Umgekehrt stigmatisieren weibliche Hilfeplanerstellerinnen weibliche Betreute mehr als männliche Betreute.

Die Kategorie Gesundheit steht ebenfalls im Fokus der vorliegenden Arbeit. Im Kontext von Wohnungsnot geht es dabei insbesondere um die psychische Gesundheit von Personen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 5.2 Die Bedeutung psychischer Auffälligkeiten und Krankheiten). Personen mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten sind in besonderem Maße von Stigmatisierungen betroffen (P. W. Corrigan et al., 2005; Phelan et al., 1997, S. 326–327; Schomerus, 2010; Sieff, 2003, S. 259–260). Im Kontext von Wohnungsnot könnte eine psychische Auffälligkeit respektive Krankheit jedoch auch zu einer Verschiebung der Ursachenzuschreibung führen. Weiners Attributionstheorie (1995) folgend würde demnach die Person in Wohnungsnot mit einer psychischen Auffälligkeit/Krankheit nicht verantwortlich für ihre Lebenssituation gemacht werden. Die Ergebnisse der experimentellen Untersuchung unterstützen eine solche Verschiebung der Ursachenzuschreibung. Dabei konnte eine geringere Stigmatisierung von psychischen Auffälligkeiten identifiziert werden; allerdings gilt dies, und das muss explizit festgehalten werden, nur für jeweils spezifische Merkmalskombinationen (siehe Abschnitt 7.4 Diskussion). Daraus folgt die Annahme einer höheren Stigmatisierung bei Nicht-Vorliegen einer psychischen Auffälligkeit:

H12. Betreute ohne psychische Auffälligkeiten werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute mit psychischer Auffälligkeiten.

Im Gegensatz zu dieser Zuschreibung – nicht verantwortlich für die derzeitige Lebenssituation zu sein und demnach nicht stigmatisiert zu werden – steht die Verantwortungszuschreibung für die eigene Lebenssituation von Personen mit einer Abhängigkeitserkrankung (P. W. Corrigan et al., 2002; Weiner, 1995). Die Befunde der experimentellen Untersuchung stützen diese Annahme, wobei erneut erwähnt werden muss, dass eine erhöhte Stigmatisierung nur in der Interaktion mit weiteren Merkmalsausprägungen gefunden werden kann. Angenommen wird demnach eine erhöhte Stigmatisierung von Betreuten mit einer Abhängigkeitserkrankung:

H13. Betreute mit einer Abhängigkeitserkrankung werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute ohne Abhängigkeitserkrankung.

Das unterschiedliche Verhalten sowie die unterschiedlichen Bedarfe der Betreuten stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Bewertung und dem Umgang des Hilfesystems mit den Betreuten. Vermutet wird eine Stigmatisierung des Hilfesystems bei komplexeren und aufwändigeren Fällen, die keine oder nur geringe Erfolgsaussichten versprechen. Konkret wird angenommen, dass Betreute, die den vereinbarten Maßnahmen nicht nachkommen – also dementsprechend Non-Compliance zeigen –, mehr stigmatisiert werden, sowie, dass Betreute mit einem hohen Bedarf mehr stigmatisiert werden.

Bezugnehmend auf die zu Beginn des Kapitels dargestellte Debatte, ob die negative Bewertung der Betreuten einer tatsächlichen Stigmatisierung dieser Personen gleichkommt, können die Ergebnisse zum Verhalten und den Bedarfen aufschlussreiche Erkenntnisse liefern. Eine negative Bewertung bei einer weitgehenden Compliance und wenigen Bedarfen wären Indikatoren zur Bestätigung einer Strukturellen Stigmatisierung durch das Hilfesystem:

H14. Betreute mit Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute mit hoher Compliance.

H15. Betreute mit einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute mit einem geringen Bedarf.

Dem theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit folgend sowie Intersektionalität als Analyseinstrument verstehend, müssen die beiden Kategorien Geschlecht und Gesundheit auch in ihrem Zusammenwirken untersucht werden. Handlungsleitend für die Formulierung der Hypothesen ist dabei die Bedeutung einer Norm und die Abweichung von dieser Norm. Die Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten wie Angststörungen und Depressionen oder Abhängigkeitserkrankungen und Substanzmissbrauch weisen Geschlechterunterschiede auf (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit). Angststörungen und Depressionen treten häufiger bei Frauen und Substanzmissbrauch häufiger bei Männern auf (Remes et al., 2017; Thaller et al., 2017, S. 11; The Lancet Psychiatry, 2016, S. 999). Die Abweichung von einer Norm ist das Kennzeichen von Stigmatisierung (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Demzufolge wird die Abweichung von der üblichen Prävalenz als Ursache für eine Stigmatisierung angenommen:

H16. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten.

H17. Weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen.

Darüber hinaus werden Zusammenhänge zwischen den Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie dem Verhalten und den Bedarfen vermutet (siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot und Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot). Aufgrund der gewonnenen Eindrücke aus der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung wird dabei der Kategorie Geschlecht eine entscheidende Funktion bei der Stigmatisierung der Betreuten beigemessen. Die Annahme besteht konkret darin, dass männliche Betreute negativer bewertet werden beziehungsweise stigmatisiert werden im Vergleich zu weiblichen Betreuten, obwohl jeweils eine psychische Auffälligkeit oder Abhängigkeitserkrankung und eine vermehrte Non-Compliance oder ein hoher Bedarf identifiziert werden können:

H18. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance.

H19. Männliche Betreute mit einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einem hohen Bedarf.

H20. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeitensowiepsychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

H21. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Beteute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance.

H22. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einem hohen Bedarf.

H23. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

H24. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Auffälligkeiten und Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

Codebuch

Der Kern der vorliegenden Dokumentenauswertung ist das Kategoriensystem beziehungsweise das daraus zu entwickelnde Codebuch. Methodisch wird die Dokumentenauswertung dieser Bedeutung in der Anlage als sequenziell-explorative Mixed-Methods-Untersuchung gerecht (siehe Abschnitt 8.2 Vorgehen). Das Ergebnis der darin durchgeführten qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung, die Identifizierung von ‚Themen‘ und deren Übertragung in ein Kategoriensystem ist die Grundlage des an dieser Stelle zu generierenden Codebuchs. Als „Untersuchungsinstrument“ (Rössler, 2017, S. 95) der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung muss das Codebuch alle relevanten ‚Themen‘ beinhalten (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen und das Unterkapitel Methode sowie Rössler, 2017, S. 14) sowie konkrete Anweisungen für das Vorgehen der Kodierer:innen (Rössler, 2017, S. 95).

Um das Codebuch zu erstellen, bedarf es, bezugnehmend auf die von Döring und Bortz (2016, S. 555–559) entwickelten zwölf Arbeitsschritte einer quantitativen Inhaltsanalyse (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen und das Unterkapitel Methode der quantitativen Inhaltsanalyse), einer Überarbeitung der Kategorien, den Pretest und einer Revision, einer Kodierer:innenschulung sowie abschließend der Finalisierung des Codebuchs.

  1. 6.

    Induktive Überarbeitung des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  2. 7.

    Pretest und Revision des Kategoriensystems sowie des Codebuches

  3. 8.

    Kodierer:innenschulung

  4. 9.

    Reliabilitätsanalyse und Finalisierung des Kategoriensystems sowie des Codebuches

    (Döring & Bortz, 2016, S. 555–556)

Konkret müssen dabei die bereits erstellten Kategorien hinsichtlich ihrer Handhabbarkeit überprüft werden. Handlungsleitend für die Überarbeitung des Kategoriensystems hin zum Codebuch für die quantitative Analyse sind die Forschungsfrage und die Hypothesen der Dokumentenanalyse (Rössler, 2017, S. 101). Aufgrund der Untersuchungsanlage und der Adaption des von Döring und Bortz (2016, S. 555–556) vorgeschlagenen Vorgehens – die Durchführung einer induktiv angelegten qualitativen Inhaltsanalyse zur Identifizierung der ‚Themen‘ anstelle eines deduktiven Entwurfs der Kategoriensystems – muss im sechsten Arbeitsschritt, entgegen dem induktiven Vorgehen nach Döring und Bortz, auch eine Bezugnahme zur Forschungsfrage und insbesondere den Hypothesen erfolgen.

Besondere Bedeutung kommt der Reduzierung der Kategorien respektive Codes zu, denn „Jede zusätzliche Kategorie verursacht zusätzlichen Schulungs- und Codieraufwand“ und nicht jede identifizierte Kategorie wird für die Beantwortung der Forschungsfrage und der Hypothesen benötigt. Darüber hinaus muss an dieser Stelle festgelegt werden, welche Kategorienausprägungen umsetzbar sind und welche benötigt werden (Döring & Bortz, 2016, S. 557; Rössler, 2017, S. 103). Einen hohen Stellenwert für die Handhabbarkeit und Nützlichkeit, aber auch Replizierbarkeit des Codebuchs haben die Kodierer:innenanweisungen im Codebuch (Döring & Bortz, 2016, S. 557). Notwendig für diese Arbeitsschritte ist die Überprüfung des Codebuchs anhand einer Stichprobe von Beispieldokumenten, also die Durchführung eines Pretests und einer Revision (Döring & Bortz, 2016, S. 557). Wie üblich wurde dieser Arbeitsschritt von den Mitgliedern des Forschungsteams durchgeführt (Döring & Bortz, 2016, S. 557), wobei die Stichprobe auf dem qualitativen Stichprobenplan beruhte (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen und das Unterkapitel Datenerhebung). Weil keine zusätzlichen Kodierer:innen eingesetzt wurden, bestand die Schulung (Döring & Bortz, 2016, S. 558) der drei Mitglieder des Forschungsteams aus einem ständigen Austausch während des Pretests und der Revision des Codebuchs.

Die endgültige Finalisierung des Codebuchs erfolgt mittels einer Reliabilitätsprüfung, also der Überprüfung der Übereinstimmung der verschiedenen Kodierer:innen (Rössler, 2017, S. 207). Erst wenn die Intercoder-Reliabilität einen ausreichend hohen Reliabilitätskoeffizienten erreicht, kann eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit angenommen werden (Rössler, 2017, S. 207 und Abschnitt 8.3.4 Ergebnisse).

Das finale Codebuch besteht aus sechs Oberkategorien und insgesamt 41 einzelnen Codes (siehe Abbildung 8.8), die detaillierte Kodierer:innenanweisungen enthalten (siehe Anhang D Codebuch). Insgesamt kann das Codebuch in zwei Bereiche gegliedert werden. Die Oberkategorien eins bis vier erfassen unmittelbar beobachtbare Merkmale – manifeste Variablen respektive formale Kategorien (Rössler, 2017, S. 111–126). Die Oberkategorien fünf bis sechs hingegen erfassen Merkmale, die nicht direkt beobachtbar sind, einer Erklärung bedürfen und in einem interpretativen Prozess gewonnen werden (Döring & Bortz, 2016, S. 224) – im erweiterten Sinne latente Variablen oder nach Rössler inhaltliche beziehungsweise wertende Kategorien (Rössler, 2017, S. 127–172). Den wertenden Kategorien der Codes der Oberkategorie sechs kommt dabei in Bezug auf die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit, aber auch aufgrund der möglichen Rückschlüsse eine beachtenswerte Rolle zu (Rössler, 2017, S. 153). Die Codes der Oberkategorien eins bis vier erfassen Merkmale auf Nominalskalenniveau, wohingegen insbesondere die Codes der Oberkategorie sechs Merkmale auf Ordinalskalenniveau erfassen (Döring & Bortz, 2016, S. 232–235).

Die Bedeutung der einzelnen Codes sowie deren Kodierer:innenanweisungen werden, ebenso wie die allgemeinen Kodierregeln, im Folgenden kurz erläutert. Zu Beginn definieren die Kodierregeln, die für das gesamte Codebuch geltenden Kodiereinheiten (Rössler, 2017, S. 44–45). Festgelegt wird, dass bereits einzelne Wörter für eine Kodierung ausreichend sein können. Sind in einem Textabschnitt mehrere ‚Signal‘-Wörter zu finden, können diese getrennt voneinander erhoben werden, solange sie keine eigenständige Sinneinheit darstellen. Kodiereinheiten können dabei auch unterschiedlichen Codes respektive Kategorien zugeordnet werden. Für die Oberkategorien fünf und sechs müssen, weil hier zumeist eine Gesamtbewertung erfasst wird, die über mehrere Kodiereinheiten summarisch erhoben wird (Rössler, 2017, S. 155–156), detaillierte Angaben zur Wertung einzelner Kodiereinheiten angegeben werden (siehe Anhang E Codebuch).

Abbildung 8.8
figure 8

Finales Codebuch mit allen 41 Codes

Die Oberkategorien eins und zwei können als formale Kategorien nach Rössler (2017, S. 44) identifiziert werden. Auch die Oberkategorien drei und vier erfassen unmittelbar beobachtbare Merkmale (Döring & Bortz, 2016, S. 224), die jedoch einer explizite definitorische Erklärung der zu erhebenden Kodiereinheiten bedürfen. Die Codes der Oberkategorie drei ermöglichen es, den Gesundheitsstatus der Betreuten abzubilden. Dabei wird die für die vorliegende Untersuchung bedeutende Kategorie Gesundheit (siehe Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot) mittels neun verschiedener Codes umfänglich erhoben. Aufgeteilt in „psychische Auffälligkeiten“, „Drogenkonsum und Suchtmittel“ sowie „Sonstige gesundheitsbezogene Einschränkungen“ werden aktuelle (und auch vergangene) Gesundheitseinschränkungen sowie nur in der Vergangenheit liegende Gesundheitseinschränkungen der Betreuten abgebildet. Psychische Auffälligkeiten werden dabei insbesondere über die Schilderung von Symptomen erfasst. Als Suchtmittel werden alle illegalen Substanzen sowie der problematisierte Konsum von Alkohol sowie Medikamenten verstanden. Als weitere gesundheitliche Einschränkungen werden für Menschen in Wohnungsnot typische Krankheiten erhoben, wobei insbesondere die Codes 3.4.1.1 – ‚Krankheiten‘, die psychische Krankheiten oder Süchte implizieren – und 3.4.1.4 – ‚Krankheiten‘, die Ekel und/oder Ablehnung hervorrufen können – die besondere Bedeutung psychischer Auffälligkeiten von Menschen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 5.2 Die Bedeutung psychischer Auffälligkeiten und Krankheiten) abbilden.

Die Oberkategorie vier ermöglicht einen Überblick über den Umfang der Bedarfe der Betreuten, wobei diese differenziert für die verschiedenen Lebensbereiche erhoben werden. Weil jedoch nur erhoben wird, ob ein Ziel und/oder eine Maßnahme formuliert ist oder nicht, sind lediglich nominalskalierte Aussagen und keine propositionalen beziehungsweise ordinalskalierten Aussagen möglich.

Die Codes der Oberkategorien fünf und sechs hingegen weisen (überwiegend) eine deutlich höhere Komplexität auf. Als summarische Globalbewertung über jeweils eine Analyseeinheit, hier ein Hilfeplan, (Rössler, 2017, S. 155) erlauben die Codes eben diese propositionalen respektive ordinalskalierten Aussagen.

Inhaltlich erfassen die Codes der Oberkategorie fünf das Verhalten der Betreuten in Bezug auf Maßnahmen und/oder Interventionen. Unterschieden wird dabei zwischen einem Verhalten, das in Einklang mit den Maßnahmen und Interventionen steht – hier halten die Betreuten sich also an die Maßnahmen und Interventionen –, und einem Verhalten, das nicht in Einklang mit den Maßnahmen und Interventionen steht. Das Verhalten wird demnach entweder als ‚Compliance‘ oder als ‚Non-Compliance‘ erfasst. Wenn das Verhalten nicht eindeutig zuzuordnen ist, erfolgt die Kodierung als ambivalent. Die Codes unterscheiden dabei zwischen Interventionen und Maßnahmen im Rahmen der Wohnungslosenhilfe (beispielsweise die regelmäßige Teilnahme an Terminen) sowie im Rahmen von Ämtern und Behörden, Schuldenregulierung, medizinischer Versorgung sowie psychologischer Versorgung.

Die Codes der Oberkategorie sechs sind das Herzstück des Codebuchs (Tabelle 8.1). Zehn verschiedene Codes erfassen die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem. Die Codes orientieren sich an den neun in der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung gewonnen Aspekten (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument und das Unterkapitel Hypothesen):

Tabelle 8.1 Codes zur Erfassung der Stigmatisierung von Wohnungsnot

Bis auf die Codes 6.2, 6.2.1 und 6.5 zu Kontrolle und Zwangsmaßnahmen sowie zum Sprachgebrauch, die jeweils nur nominale Aussagen über das Vorhandensein ermöglichen, sind die Codes in einer fünfstufigen Ausprägung konzipiert. Von einer ausschließlich positiven Ausprägung des Merkmals über eine Tendenz zu einer positiven Ausprägung, die uneindeutige respektive neutrale Ausprägung des Merkmals bis hin zu einer ausschließlich negativen Ausprägung des Merkmals (siehe Abbildung 8.9) ermöglicht diese Anzahl eine differenzierte statistische Bewertung der einzelnen Merkmale. Diese Ausdifferenzierung erschwert jedoch zugleich die Reproduzierbarkeit der Erhebung (Rössler, 2017, S. 160).

8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden die Ergebnisse der quantitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung dargestellt. Als finaler Schritt des gesamten Forschungsprozesses der Dokumentenanalyse (siehe Abbildung 8.1), stellen die Ergebnisse der quantitativen Auswertung einen zentralen Baustein der gesamten Multi-Methoden-Untersuchung dar. Die statistische Auswertung, deren Auswertungsregeln sowie der Ablauf der Analyse werden zu Beginn ausführlich dargestellt (siehe Unterkapitel Statistische Auswertung). Zur Überprüfung der Anwendbarkeit des Codebuchs als Analyseinstrument muss sowohl die Intercoder-Reliabilität als auch die interne Konsistenz gemessen und bewertet werden (Unterkapitel Reliabilität). Die Ergebnisse der Berechnungen sind unterteilt in Deskriptive Statistik, explorative Inferenzstatistik sowie hypothesentestende Inferenzstatistik. Die Deskriptiven Statistiken (Unterkapitel Deskriptive Statistik) vermitteln einen ausführlichen Überblick über (1.) die Stichprobe, (2.) die zentralen Tendenzen der einzelnen Kategorien und (3.) die nötigen Voraussetzungen weiterführender inferenzstatistischer Berechnungen. Schließlich wird, zusätzlich zu den aus der Theorie abgeleiteten hypothesentestenden Analysen (Unterkapitel Hypothesentestende Inferenzstatistik), das gesammelte Material auch explorativen Untersuchungen unterzogen (Unterkapitel Explorative Inferenzstatistik).

Abbildung 8.9
figure 9

Fünfstufige Ausprägung des Codes 6.1.2 Bewertung der „Rolle“ als Hilfesuchende:r

Statistische Auswertung

Die statistischen Analysen erfolgen mit dem Statistikprogramm IBM SPSS Statistics 26. Die Reliabilitätsüberprüfung der Intercoder-Reliabilität für nominale Daten erfolgt mit dem Analysetool RELIFootnote 6 (Jenderek, 2006), die Reliabilitätsüberprüfung für ordinale Daten mit dem von Hayes und Krippendorf entwickelten SPSS Makro KALPHA (Hayes & Krippendorff, 2007, S. 82–88). Die erforderliche Datenaufbereitung (Döring & Bortz, 2016, S. 581) wird in Anlehnung an Schenderas sechs Spezifika (2007, S. 3) durchgeführt (siehe Abschnitt 7.3.1 Statistische Auswertung). Diese dienen als Orientierungsrahmen und müssen auf das jeweilige wissenschaftliche Vorgehen (Jensen, 2012, S. 35), hier einer quantitativen Codebuchanalyse, abgestimmt werden. Die Datenaufbereitung bezieht sich in diesem Fall lediglich auf die Überprüfung möglicher Eingabefehler sowie auf die Behandlung fehlender Werte. Zur Überprüfung auf Eingabefehler wird die Plausibilität aller Werte kontrolliert. Dabei werden Häufigkeitstabellen zur Identifikation erstellt (Bühl, 2014, S. 273). Bei sechs identifizierten fehlerhaften Eingaben und einem daraus resultierenden Fehlerquotienten von 0.042 % kann eine hohe Eingabequalität bestätigt werden. Die fehlerhaften Stellen des SPSS Datensets werden mit den Originaldateien der Kodierer:innen überprüft. Änderungen werden hinsichtlich einer Plausibilität vorgenommen und zumeist als fehlende Angaben kodiert. Fehlende Werte im Datensatz werden mit 99 kodiert. Die Kodierung mit 99 erfolgt, auch wenn die Daten keine Aussage über das erhobene Konstrukt ermöglichen.

Ein entscheidender Schritt der quantitativen Codebuchanalyse ist die Reliabilitätsanalyse, welche die Finalisierung des Codebuchs darstellt (Döring & Bortz, 2016, S. 558–559). Diese Standardprozedur im Verlauf einer Inhaltsanalyse dient der Bestätigung einer „intersubjektiv nachvollziehbaren Messung“ (Rössler, 2017, S. 207) über die Bestimmung der Übereinstimmung verschiedener Kodierer:innen, der Intercoder-Reliabilität. Welche Formel zur Berechnung des Reliabilitätskoeffizienten genutzt wird, hängt insbesondere vom Skalenniveau sowie von den „verschiedenen Charakteristika der jeweiligen Untersuchungsanlage“ (Rössler, 2017, S. 212) ab. Neben dem Überschneidungsmaß nach Holsti (Rössler, 2017, S. 212), welches eine prozentuale Übereinstimmung bestimmt und insbesondere für nominale Daten eingesetzt wird (Hayes & Krippendorff, 2007, S. 80), ist Krippendorfs Alpha das anerkannte Maß zur Überprüfung der Reliabilität (Rössler, 2017, S. 216), welches für alle Skalenniveaus und mehr als zwei Kodierer:innen verwendet werden kann (Hayes & Krippendorff, 2007, S. 81–82). Die Beurteilung des Reliabilitätskoeffizienten muss unter Berücksichtigung „des Schwierigkeitsgerades der jeweiligen Kategorie“ (Rössler, 2017, S. 215), also der Beschaffenheit der jeweiligen Kategorie, erfolgen. Formale Kategorien erfordern ein Alpha von 1.0 respektive nah an 1.0 beziehungsweise 100 % oder annähernd 100 % für den Holsti-Koeffizienten (Döring & Bortz, 2016, S. 346). Für inhaltliche Kategorien, die komplizierte Sachverhalte abdecken, empfiehlt Krippendorf (2013, S. 325) ein Alpha mit mindestens α ≥ .80 (Rössler, 2017, S. 216). Rössler (2017, S. 214) plädiert bei solch komplizierten Kategorien indes für eine niedrigere Toleranz von α ≥ .75. Aufgrund der Größe und Komplexität des Codebuchs wird die von Rössler (2017, S. 214) genannte Mindestanzahl von 50 Kodierungen pro Kategorie erhoben. Die Stichprobenziehung orientiert sich dabei hauptsächlich am qualitativen Stichprobenplan der Inhaltsanalyse, um die Kategorie Geschlecht abzudecken (siehe Abschnitt 8.3.3 Vorgehen sowie das Unterkapitel Stichprobenziehung für die qualitative Inhaltsanalyse), und am quantitativen Stichprobenplan zur Erfassung alle Kategorien. Die Ergebnisse der Reliabilitätsüberprüfung sind im weiteren Verlauf dieses Kapitels unter Reliabilität dargestellt.

Vor der deskriptiven sowie inferenzstatistischen Auswertung müssen verschiedene Variablen neu berechnet werden. Um Aussagen über den Unterschied der im Fokus der vorliegenden Arbeit stehenden Kategorie Gesundheit zu ermöglichen, werden die Variablen Psychische Auffälligkeit und Drogenkonsum jeweils in dichotome Variablen überführt. Des Weiteren werden die Skalen 6.1.1, 6.1.2, 6.3.1 und 6.3.2 (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und das Unterkapitel Das Codebuch) in eine intervallskalierte Variable zur Erfassung eines Gesamtscores Stigmatisierung zusammengefasst. Dafür werden den fünfstufigen Skalen jeweils Werte von 0 bis 1 (in .25 Intervallen) zugeordnet, welche anschließend addiert werden. Weil neben der Bewertung des Hilfesystems auch der Hilfebedarf und das Verhalten der Betreuten in die Analyse miteinfließen sollen, werden sowohl ein Gesamtscore Hilfebedarf aus den jeweiligen Variablen zu Zielen und Maßnahmen, als auch zwei Gesamtscores zum Verhalten (Compliance und Non-Compliance) ebenfalls aus den jeweiligen Variablen erstellt. Dafür werden jeweils Summenscores gebildet. Zur Beantwortung der Hypothesen wird aus dem Gesamtscore Hilfebedarf wiederum eine dichotome Variable mittels Mediansplit (Döring & Bortz, 2016, S. 259) gebildet. Auch der Gesamtscore Non-Compliance wird in eine dichotome Variable überführt (Non-Compliance liegt vor und Non-Compliance liegt nicht vor).

Vor der inferenzstatistischen Auswertung werden darüber hinaus die Variablen zur Erfassung des Gesundheitsstatus der Betreuten aufgrund der identifizierten Verteilung jeweils in eine dichotome Variable überführt. Die erstellten Gesamtscores werden der Untersuchung der internen Konsistenz unterzogen (siehe Tabelle 8.2). Zusätzlich müssen, je nach gewähltem statistischen Verfahren – abhängig vom Skalenniveau –, unterschiedliche Voraussetzungen geprüft werden.

Der χ2-Test überprüft die Unabhängigkeit verschiedener kategorialer Variablen (Rasch et al., 2014a, S. 111–112). Voraussetzungen für den χ2-Test sind die Unabhängigkeit der Messung, die Nominalskalierung der Variable sowie die Mindestgröße der erwarteten Häufigkeit der einzelnen Merkmalskombinationen (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 563–656). Letztere ist umstritten (siehe Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 564–565), jedoch gilt gemeinhin, dass die erwartete Zellgröße bei zwei kategorialen Variablen in dichotomer Ausprägung nicht geringer als fünf sein sollte und bei kategorialen Variablen mit mehr als zwei Ausprägungen in 80 % der Merkmalsausprägungen größer als fünf und keine kleiner als eins sein sollte (Field, 2013, S. 735–736; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 564–565).

Der Mann-Whitney-U-Test, auch U-Test genannt (Rasch et al., 2014a, S. 94), überprüft, ob die Unterschiede zweier Gruppen bezüglich einer Abhängigen Variable zufällig oder systematisch sind (Rasch et al., 2014a, S. 94). Voraussetzung für den U-Test ist die Unabhängigkeit der Messung sowie, dass die Unabhängige Variable eine Nominalskalierung mit dichotomer Ausprägung aufweist, die Abhängige Variable mindestens ordinalskaliert ist (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 568–569) und dass die Verteilung in beiden Gruppen etwa gleich ist (Divine et al., 2018, S. 279). Bei einer Verletzung dieser letzten Voraussetzung, die relativ häufig auftritt (Divine et al., 2018, S. 278), kann der U-Test weiterhin durchgeführt werden. Zu beachten ist lediglich, dass im Folgenden nicht die Mediane, sondern die mittleren Ränge betrachtet werden müssen (Eid et al., 2017, S. 237; siehe auch Divine et al., 2018; Hart, 2001).

Univariate Varianzanalysen, kurz ANOVA, untersuchen, ob sich Mittelwerte zweier Gruppen systematisch voneinander unterscheiden (Rasch et al., 2014a, S. 2). Voraussetzungen für die ANOVA sind die Unabhängigkeit der Messung (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 441), ein Intervallskalenniveau der Abhängigen Variable, eine Nominalskalierung der Unabhängigen Variable (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 399–400) sowie die Normalverteilung und Varianzhomogenität der Gruppen (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 440). Die Normalverteilung wird aufgrund der Größe der Stichprobenverteilung ohne Testung angenommen (Field, 2018, S. 248). Die Robustheit von Varianzanalysen ermöglicht darüber hinaus die Interpretation der Ergebnisse auch bei der Verletzung der Voraussetzung der Varianzhomogenität (Bortz & Schuster, 2010, S. 129; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 440).

Zur Betrachtung der Unterschiede aufgrund des Gesundheitszustandes der Betreuten, werden die Variablen psychische Auffälligkeit und Sucht-/Drogenkonsum in dichotome Variablen überführt. Für die Testung auf Normalverteilung der Gruppen als Voraussetzung für den U-Test mittels Kolmogoroff-Smirnov-Test (Field, 2013, S. 184–185) müssen darüber hinaus, je nach zu betrachtender Abhängiger Variable, z-standardisierte Variablen (Field, 2013, S. 179), aufgeteilt nach der jeweils zu betrachtenden Unabhängigen Variable, erstellt werden (Field, 2013, S. 188–191).

Vorgehen

Die Analyse startet mit einem deskriptiven Überblick der Stichprobe, welche in die Soziodemographischen Daten der Betreuten, die Soziodemographischen Daten der Hilfeplanersteller:innen und die formalen Merkmalen der Hilfepläne aufgeteilt ist (siehe Tabelle 8.4). Da der Fokus der vorliegenden Arbeit auf den Kategorien Geschlecht und Gesundheit liegt, werden darüber hinaus die Häufigkeiten aufgeteilt nach diesen Kategorien (Geschlecht der Betreuten, Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen, Vorliegen einer psychischen Auffälligkeit und Vorliegen eines Suchtmittelkonsums) für die einzelnen Variablen dargestellt (Tabellen 8.7 bis 8.13). Das Ziel der deskriptiven Analyse ist zum einen die umfassende Beschreibung der Stichprobe bezüglich formaler und soziodemographischer Angaben und zum anderen die allgemeine Betrachtung der Verteilung der Bedarfe und des Verhaltens der Betreuten sowie der Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem.

Vor der detaillierten Beschreibung der Stichprobe muss die Überprüfung der internen Konsistenz als Voraussetzung zur Benutzung der Gesamtscores Hilfebedarf Compliance/Non-Compliance und Stigmatisierung erfolgen. Des Weiteren geben die Tabellen 8.13 und 8.15 einen Überblick über die Normalverteilungen der Kategorien bezogen auf die z-standardisierten Variablen des Verhaltens der Betreuten sowie die Bewertung dieser durch das Hilfesystem zur Überprüfung der Voraussetzungen der U-Tests.

Die inferenzstatistische Analyse ist in einen explorativen und einen hypothesenprüfenden Teil aufgeteilt. Im explorativen Teil werden die Zusammenhänge der Kategorien Geschlecht und Gesundheit untereinander und mit den Bedarfen sowie dem Verhalten der Betreuten überprüft. Schließlich werden mögliche Effekte der Kategorien Herkunft, Alter und Unterbringungsform auf die Stigmatisierung der Betreuten untersucht.

Bei Variablen mit Nominalskalenniveau (Gesundheitsstatus und Bedarfe) erfolgt die Überprüfung mittels des χ2-Test und bei den Daten mit Ordinalskalenniveau (Verhalten und Stigmatisierung) mit Hilfe des U-Tests.

Weil in der vorliegenden Arbeit jeweils zwei dichotome respektive kategoriale Variablen beim χ2-Test überprüft werdenFootnote 7, spricht man vom Spezialfall eines Vierfelder χ2-Tests (Rasch et al., 2014a, S. 127–128). Beachtet werden muss daher, dass zur Signifikanzüberprüfung Fischers exakter Test verwendet werden muss (Field, 2013, S. 723–724) und zur Bestimmung der Effektstärke der Phi-Koeffizient berechnet werden muss (Field, 2013, S. 740; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 559–560). Signifikante Ergebnisse sind durch das übliche p < .05 zu identifizieren (Field, 2013, S. 742). Für die Interpretation der Effektstärke gilt Cohens (1988) Standard: kleiner Effekt: φ = 0.1; mittlerer Effekt: φ = 0.3; großer Effekt: φ = 0.5 (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 560).

Welche statistischen Kennwerte für den U-Test herangezogen werden müssen, hängt sowohl von der Stichprobengröße, als auch von der Normalverteilung sowie von der Rangbindung – Probanden, in diesem Fall Hilfepläne, weisen die gleichen Messwerte auf (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 577) – ab. Die exakte Bestimmung des p-Wertes ist äußerst komplex (Bortz et al., 2008, S. 209; Field, 2013, S. 226) und kann daher nur bei kleineren Stichproben durchgeführt werden (Bortz et al., 2008, S. 208). Was jedoch als kleine Stichprobe angesehen werden kann, ist umstritten (Bortz et al., 2008, S. 208; Bühner & Ziegler, 2012, S. 284; Field, 2013, S. 226; Rasch et al., 2014a, S. 99; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 575). Bortz et al. (2008, S. 208) sprechen von n ≤ 10, beziehungsweise Bühner und Ziegler (2012, S. 284) von N ≤ 20; Sedlmeier und Renkewitz (2018, S. 575) hingegen sprechen von n ≤ 20 und Field (2013, S. 226) von < 50. Auch der Umgang mit identifizierten Rangbindungen ist nicht eindeutig. Field (2013, S. 226) spricht davon, bei einer schlechten Verteilung den exakten Test berechnen zu müssen, wohingegen Sedlmeier und Renkewitz (2018, S. 577) betonen, dass bei kleinen Stichproben und einer Rangbindung, also schlechter Verteilung, der exakte Test größere p-Werte hervorbringt, als der „tatsächlich korrekte p-Wert“ (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 577), wodurch tatsächlich vorliegende Effekte übersehen werden könnten. Dinneen und Blakesley (1973, S. 269), auf denen der Algorithmus zur Berechnung des exakten p-Wertes in SPSS beruht (IBM, 2017, S. 758), geben ebenfalls an, dass ihre Berechnung Rangbindungen nicht berücksichtigt, verweisen jedoch darauf, dass die Effekte gering sind und nicht beachtet werden müssen. Siegel und Castellan (1988, S. 134) bestätigen die geringe Wirkung von Rangbindungen, empfehlen jedoch trotzdem, bei einer großen Anzahl an Rangbindungen – wie sie in der vorliegenden Arbeit zu finden sind – ein Korrektur-Prozedere durchzuführen. Anderenfalls sei der Test konservativ und könne signifikante Ergebnisse übersehen (Siegel & Castellan, 1988, S. 134–136).

Weil in den meisten Fällen eine Stichprobengröße von n > 50 beobachtet werden kann, wird zur Bestimmung der Signifikanz zumeist die asymptotische Signifikanz herangezogen. Bei Stichprobengrößen von n < 10 wird die exakte Signifikanz betrachtet. Den Tabellen 8.8 bis 8.12 sind die verschiedenen n zu entnehmen. Eine Korrekturen-Prozedur (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 577; Siegel & Castellan, 1988, S. 134–137) wird nicht vorgenommen, weil konservative Ergebnisse bevorzugt werden.

Auch hier gilt die anerkannte Grenze von p < .05, ab der Ergebnisse als signifikant deklariert werden (Field, 2018, S. 97). Zur Bestimmung der Unterschiede werden, abhängig von der Verteilung innerhalb der Gruppen, entweder die Mediane oder die mittleren Rangwerte berichtet (s. o.). Pearsons Effektstärke r (zur Berechnung siehe Field, 2013, S. 227) wird gemäß der gängigen Bewertung nach Cohen (1988) interpretiert: kleiner Effekt: r = .10; mittlerer Effekt: r = .30; großer Effekt: r = .50 (Field, 2013, S. 82).

Der hypothesenprüfende Teil der Inferenzstatistik wird mittels Vierfelder χ2-Tests, U-Tests und mehrfaktoriellen univariaten Varianzanalysen durchgeführt. Die Hypothesen, die auf der Ausdifferenzierung der Stigmatisierung der Betreuten beruhen, müssen dabei, aufgrund der Ordinalskalierung der Variablen mit dem U-Test (H1, H2, H4, H5, H7, H9) respektive aufgrund der Nominalskalierung der Variablen, mit dem Vierfelder χ2-Test (H3, H6, H8) durchgeführt werden. Zur Überprüfung der Hypothesen bezüglich des Gesamtscores Stigmatisierung können, aufgrund des Intervalskalenniveaus, mehrfaktorielle univariate Varianzanalysen berechnet werden (H10–H23).

Um bei diesen Varianzanalysen eine ausreichend große Stichprobengröße (n ≤ 20) (Bortz & Schuster, 2010, S. 87; Field, 2018, S. 235) der jeweiligen Mittelwerte zu garantieren, werden nur Haupteffekte und Zwei-Wege- sowie Drei-Wege-Interaktionen berechnet. Zu beachten ist dabei, dass aufgrund der randomisierten Verteilung der Konstrukte eine anschließende, händische Überprüfung der Stichprobengröße durchgeführt werden muss. Werden dabei < 20 beobachtet, müssen Mittelwertsunterschiede aus der Auswertung ausgeschlossen werden. Können bei der Überprüfung der Hypothesen signifikante Interaktionen (p < .05) (Field, 2018, S. 97) identifiziert werden, werden anschließend Simple-Effect-Analysen für paarweise Vergleiche der Mittelwerte durchgeführt (Rasch et al., 2014b, S. 221). Können Haupteffekte und Interaktionseffekte ermittelt werden, muss dabei mittels Interaktionsdiagrammen überprüft werden, welche Haupteffekte und Zwei-Wege-Interaktionen eindeutig zu interpretieren sind (Döring & Bortz, 2016, S. 713; Rasch et al., 2014b, S. 244). Die Effektgröße (η2) wird aus der Angabe der partiellen Effektgröße (η2p) errechnet (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 467–470). Zur Interpretation der Effektgröße gilt Cohens (1988) Konvention: kleiner Effekt: η2 = 0.01; mittlerer Effekt: η2 = 0.06; großer Effekt: η2 = 0.14 (Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 444).

Die Hypothesen H20, H23 und H24 postulieren Vier- beziehungsweise Fünf-Wege-Interaktionen. Bedingt durch die unzureichende Stichprobengröße müssen für diese Hypothesen erneut die Rangreihentests des U-Tests durchgeführt werden. Auch für die Hypothesen, bei denen < 20 beobachtet wurde, werden alternativ U-Tests durchgeführt. Um dabei das postulierte Zusammenwirken verschiedener Variablen zu beachten, werden vor der Testung, je nach Hypothese, die Daten des Datensatzes nach Variablen gefiltert, um jeweils nur den Geschlechterunterschied mit den postulierten Merkmalen testen zu können.

Reliabilität

Neben der Darstellung der identifizierten Intercoder-Reliabilität erfolgt an dieser Stelle auch die Darstellung der Reliabilität respektive internen Konsistenz der erstellten Summenscores (Stigmatisierung, Bedarfe, Verhalten). Eine ausreichend interne Konsistenz wird ab einem Cronbachs-Alpha α ≥ .70 angenommen (Field, 2018, S. 826). Skalen mit α ≥ .60 werden unter Vorsicht ebenfalls für die inferenzstatistische Analyse freigegeben (Field, 2018, S. 823–824). Die Ergebnisse können Tabelle 8.2 entnommen werden. Alle Summenscores können dabei zur Analyse freigegeben werden.

Tabelle 8.2 Interne Konsistenz der verwendeten Skalen mittels Cronbachs-Alpha (α). Die ausreichende Konsistenz von α ≥ .70 ist durch ** gekennzeichnet. Werte von α ≥ .60 werden mit * dargestellt

Das anerkannte Maß zur Bestimmung der Intercoder-Reliabilität ist Krippendorfs Alpha (Rössler, 2017, S. 216). Krippendorf selbst lehnt die Verwendung anderer Maße zur Bestimmung der Übereinstimmung gut begründet ab (Krippendorff, 2004, 2013, S. 301–309; Raupp & Vogelgesang, 2009, S. xxiv). Aufgrund der Berücksichtigung der beobachteten und erwarteten Häufigkeitsverteilungen bei der Berechnung von Krippendorfs Alpha (Krippendorff, 2004, S. 797) ist eine entscheidende Voraussetzung zur Berechnung die gleichmäßige Verteilung der Variable (Raupp & Vogelgesang, 2009, S. xxiv). Verschiedene Variablen zur Beschreibung der Stichprobe sind jedoch zur Erfassung von Extremwerten konzipiert (beispielsweise Variable 3.4.1. – Krankheiten die Ekel und/oder Ablehnung hervorrufen können und Variable 6.5 – stigmatisierende Sprache). Für diese nominalskalierten Variablen wird daher zusätzlich die prozentuale Berechnung des Holsti-Koeffizienten angegeben. Die Ergebnisse sind in der Tabelle 8.3 abgebildet. Bis auf vier Variablen kann für alle Variablen eine ausreichend hohe Intercoder-Reliabilität von mindestens α ≥ .80, beziehungsweise mindestens das hinnehmbare α ≥ .75, nachgewiesen werden (Rössler, 2017, S. 214). Die vier Variablen ohne ausreichend hohes Krippendorf Alpha zeigen jedoch eine hinreichend große Übereinstimmung bei Ermittlung des Holsti Koeffizienten rH < .90 (Raupp & Vogelgesang, 2009, S. xiv; Rössler, 2017, S. 215). Somit kann für alle Variablen eine ausreichend hohe Reliabilität gemessen und dementsprechend die Güte des Codebuchs angenommen werden.

Tabelle 8.3 Intercoder-Reliabilität nach Krippendorf und Holsti. Ein ausreichendes α ≥ .80 ist mit ** und ein hinnehmbares α ≥ .75 mit * gekennziechnet. Ein ausreichendes rH < .95 ist mit einem ++ und ein hinnehmbares rH < .90 mit + markiert

Deskriptiv Statistik

Die Stichprobe besteht aus N = 277 Hilfeplänen. Die soziodemographischen Daten der beteiligten Personen dieser Hilfepläne können der Tabelle 8.4 entnommen werden. Ersichtlich wird, dass die Kategorien Geschlecht der Betreuten, psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum eine ausgewogene Verteilung aufweisen. Das Alter der Betreuten sowie Geschlecht und Alter der Hilfeplanersteller:innen ist hingegen, ebenso wie die formalen Merkmale der Hilfepläne, nicht gleichmäßig verteilt. Zum einen kann dieser Befund auf die ungleichmäßige Verteilung in der Realität hinweisen (Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen), zum anderen liegt der Verdacht nah, dass die quantitative Stichprobenziehung mittels Stichprobenplan (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen und das Unterkapitel Datenerhebung) nicht komplett umgesetzt werden konnte (Art der Betreuung). Aufgrund der ungleichen Verteilung des Alters der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen und des daraus resultierenden zu geringen n können keine inferenzstatistischen Auswertungen durchgeführt werden.

Tabelle 8.4 Soziodemographische Daten der Betreuten der Hilfepläne sowie der Hilfeplanersteller:innen und formale Merkmale der Hilfepläne

Für einen besseren Überblick über die Betreuten der Hilfepläne wird darüber hinaus in der Tabelle 8.5 der Gesundheitsstatus aufgeschlüsselt nach dem jeweiligen Geschlecht der leistungsberechtigten Personen dargestellt. Ob hierbei signifikante Zusammenhänge zwischen dem Geschlecht und dem Gesundheitsstatus der Betreuten identifiziert werden können, wird in der explorativ inferenzstatistischen Analyse geklärt (siehe Unterkapitel Explorative Inferenzstatistik).

Tabelle 8.5 Detaillierte Darstellung des Gesundheitsstatus der betreuten Personen

Tabelle 8.6 ermöglicht einen differenzierten Überblick über die Geschlechterverteilung bezüglich verschiedener formaler Merkmale der Hilfepläne. Auffällig dabei ist, dass in der vorliegenden Stichprobe so gut wie keine Hilfepläne aus einer Ich-Perspektive, beziehungsweise einer Mischform zwischen Ich-Perspektive und Fremd-Prespektive vorliegen. Des Weiteren sind Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern zumeist über männliche Betreute, was die Aussagekraft von Vergleichen zwischen dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen bezogen auf das jeweilige Geschlecht der Betreuten deutlich erschwert. Sowohl Betreute als auch Hilfeplanersteller:innen unter 21 Jahren beziehungsweise über 60 Jahren können in der Stichprobe gar nicht beziehungsweise nur in sehr geringem Maße ausgemacht werden, sodass vergleichende Aussagen nicht möglich sind. Die Untersuchung der Kategorien Herkunft (Stadt vs. Land) und Unterbringungsform (Gruppe vs. dezentral und stationär vs. ambulant) erfolgt in der explorativ inferenzstatistischen Auswertung.

Tabelle 8.6 Formale Merkmale der Hilfepläne und die Geschlechterverteilung der betreuten Personen

Um die Eigenschaften der Stichprobe detailliert zu erfassen, wurden darüber hinaus weitere Kreuztabellen, aufgeschlüsselt in die Kategorien Geschlecht (Geschlecht der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen) und Gesundheit (psychische Auffälligkeiten und Sucht) jeweils für die verschiedenen Variablen (Hilfebedarfe nach jeweiligen Lebensbereichen, Compliance respektive Verhalten der Betreuten bezogen auf spezifische Lebensbereiche sowie die Stigmatisierung nach den ausdifferenzierten Aspekten), erstellt. Die Ergebnisse können den Tabellen (8.78.12) entnommen werden.

Die ausführliche und detaillierte Darstellung der Häufigkeiten der Bedarfe des jeweiligen Verhaltens sowie der Bewertungen der Betreuten zeigt, dass die Verteilung der Ausprägungen, insbesondere für die Kategorien Verhalten (Compliance/Non-Compliance) und Stigmatisierung, teils erhebliche Ungleichheiten aufweist. Für die folgende explorative inferenzstatistische Auswertung, zur genaueren Untersuchung der Stichprobe hinsichtlich signifikanter Zusammenhänge, muss daher besondere Aufmerksamkeit auf die Voraussetzung der Mindest-Zellgröße gelegt werden.

Nichtsdestotrotz können den Häufigkeiten erste Erkenntnisse über die Stichprobe entnommen werden. Insgesamt zeigen die Betreuten der Stichprobe einen hohen Unterstützungsbedarf. Insbesondere in den Lebensbereichen Wohnen und Finanzen weisen fast alle Betreuten (> 90 %) Ziele und Maßnahmen auf. Einzig für die Kategorie Weitere Bedarfe kann mit ca. 20 % ein geringer Anteil an Bedarfen identifiziert werden. Als Grundlage zur Bewilligung der Hilfen müssen diese Ergebnisse jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, weil die Darstellung geringer Bedarfe möglicherweise eine Ablehnung der Hilfen zur Folge haben könnte (mehr dazu im Abschnitt 8.5 Diskussion). Über die einzelnen Lebensbereiche hinweg zeigt sich ein relativ konstantes Bild für die Kategorien: weibliche Betreute haben einen größeren Bedarf als männliche Betreute; weibliche Hilfeplanerstellerinnen identifizieren mehr Bedarfe als männliche Hilfeplanersteller, Betreute mit psychischen Auffälligkeiten haben ebenso mehr Bedarfe wie Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum. Aufgrund der deutlichen Überschneidung des Geschlechts zwischen Betreuten und Hilfeplanersteller:innen – nur vier Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern sind über weibliche Betreute – ist fraglich, ob der größere identifizierte Bedarf durch weibliche Hilfeplanerstellerinnen über das Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen zustande kommt (siehe Abschnitt 8.5 Diskussion).

Tabelle 8.7 Häufigkeitsverteilungen der Kategorien bezüglich der Hilfebedarfe
Tabelle 8.8 Häufigkeitsverteilungen der Kategorien bezüglich des Verhaltens
Tabelle 8.9 Häufigkeitsverteilungen der Kategorie Gesundheit, aufgeschlüsselt in psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum, bezüglich der verschiedenen Variablen von Stigmatisierung
Tabelle 8.10 Häufigkeitsverteilungen der Kategorie Geschlecht – der Betreuten und der Ersteller:innen – bezüglich der verschiedenen Variablen von Stigmatisierung
Tabelle 8.11 Häufigkeitsverteilungen der Kategorie Geschlecht – der Betreuten und der Ersteller:innen – bezüglich der verschiedenen Bewertungen der Hilfen
Tabelle 8.12 Häufigkeitsverteilungen der Kategorie Geschlecht – der Betreuten und der Ersteller:innen – bezüglich der verschiedenen Bewertungen der Hilfen

Des Weiteren wird nur einem geringen Teil der Stichprobe Non-Compliance durch die Hilfeplanersteller:innen zugeschrieben. Die meisten Betreuten werden entweder mit Compliance oder mindestens einem ausgeglichenen Verhalten beschrieben. Die Verteilung der Häufigkeiten spricht dafür, dass männlichen Betreuten eher Non-Compliance zugeschrieben wird und dass männliche Hilfeplanersteller eher Non-Compliance beschreiben. Die Häufigkeitsverteilungen zwischen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Betreuten ohne psychische Auffälligkeiten zeigen ein inkonsistentes Bild. Personen mit psychischen Auffälligkeiten zeigen sowohl eine größere Compliance wie auch Non-Compliance als Betreute ohne psychische Auffälligkeiten. Für die Kategorie Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigt sich wiederum ein konstantes Bild: Personen mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden häufiger mit Non-Compliance beschrieben.

Konsekutiv zu den Häufigkeiten für das Verhalten der Betreuten sind auch die Häufigkeiten der Bewertung der Betreuten durch die Hilfeplanersteller:innen: Insgesamt ist die Bewertung der Betreuten eher positiv. Es können allerdings erneut Unterschiede innerhalb der Kategorien vermutet werden. Männliche Betreute sowie Personen mit psychischen Auffälligkeiten oder Personen mit Drogen-/Suchtmittelkonsum scheinen eher negativ bewertet zu werden. Männliche Hilfeplanersteller bewerten außerdem Betreute eher negativ. Die Variablen Sprache und Weiterer Hilfeumfang sind deutlich ungleichmäßig verteilt, weshalb eine Signifikanzprüfung nicht erfolgen kann.

Ob diese ersten Interpretationen jedoch durch signifikante Unterschiede bestätigt werden können, wird erst in der explorativen inferenzstatistischen Analyse ersichtlich werden.

Die Deskriptive Statistik abschließend, wird in Vorbereitung zur Auswertung der jeweiligen U-Tests die Voraussetzung der gleichen Verteilung mittels Kolmogoroff-Smirnov-Test (Field, 2013, S. 184–185) ermittelt. Zur Berechnung müssen dabei jeweils die standardisierten z-Werte der Abhängigen Variable betrachtet werden (Field, 2013, S. 188–189).

Bei einer Verletzung der Voraussetzung (p < .05) (Field, 2013, S. 191) können die mittleren Ränge interpretiert werden, die bei der Berechnung des U-Tests im SPSS-Output mitangegeben werden. Liegt indes eine Normalverteilung vor, müssen die jeweiligen Mediane zur Bestimmung von Unterschieden betrachtet werden (Eid et al., 2017, S. 237), die in einem gesondertem Schritt durch SPSS erstellt werden können. Die Ergebnisse können den Tabellen 8.13 bis 8.16 entnommen werden.

Tabelle 8.13 Testung auf Normalverteilung der Kategorien nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Compliance. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.14 Mediane der Kategorien in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Compliance
Tabelle 8.15 Testung auf Normalverteilung der Kategorien nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.16 Mediane der Kategorien in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

Inferenzstatistik

Die inferenzstatistische Analyse ist, wie bereits dargestellt, in eine explorative Untersuchung und eine hypothesentestende Untersuchung unterteilt. In der explorativen Untersuchung wird der Zusammenhang der Kategorien Geschlecht (der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen) und Gesundheit (psychische Auffälligkeit und Drogen-/Suchtmittelkonsum) auf die erfassten Variablen (Bedarfe, Verhalten und Stigmatisierung der Betreuten) getestet. Je nach Skalierung wird dafür der χ2-Test oder der U-Test durchgeführt (siehe das Unterkapitel Statistische Auswertung des Abschnitts 8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung). Das Vorgehen orientiert sich dabei sowohl in Bezug auf die Reihenfolge als auch bezüglich der Darstellungsform an der Deskriptiven Statistik. Zu Beginn wird darüberhinaus, wie im Kapitel zur Deskriptiven Statistik angekündigt, der Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsstatus und dem Geschlecht der Betreuten auf signifikante Zusammenhänge überprüft. Zuletzt, die explorativ inferenzstatistische Analyse abschließend und dem postulierten Ziel der Untersuchung – die Analyse der Kategorien Herkunft, Alter und Unterbringungsform – folgend, werden mögliche Effekte dieser Kategorien auf die Stigmatisierung der Betreuten untersucht. Das Alter der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen kann dabei, aufgrund der unzureichenden Verteilung, nicht ausgewertet werden. Ziel der explorativen inferenzstatistischen Analyse ist (1.) das bessere Verständnis der Stichprobe und ein mögliches Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Des Weiteren ist das Ziel der Analyse (2.) die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den Bedarfen sowie dem Verhalten der Betreuten und den im Fokus der Arbeit stehenden Kategorien Geschlecht und Gesundheit.

Die hypothesentestende Untersuchung fokussiert hingegen die Effekte der Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Das Vorgehen ist streng an den bereits formulierten Hypothesen und deren Reihenfolge (siehe das Unterkapitel Hypothesen des Abschnitten 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung) ausgerichtet:

  1. 1.

    Geschlecht

    1. a.

      der Betreuten

    2. b.

      der Hilfeplanersteller:innen

    3. c.

      Kongruenz beziehungsweise Inkongruenz

  2. 2.

    Gesundheit

    1. a.

      psychische Auffälligkeiten/Krankheiten

    2. b.

      Drogen- und Suchtmittelkonsum

  3. 3.

    das Verhalten der Betreuten

  4. 4.

    die Bedarfe der Betreuten

Getestet wird jeweils hinsichtlich der Bewertung der Betreuten. Um dabei ein umfangreiches Bild zu erhalten, werden sowohl eine mögliche allgemeine Stigmatisierung als auch die ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten überprüft. Darüber hinaus werden die zwei Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie das Verhalten und die Bedarfe der Betreuten auch auf mögliche Interaktionseffekte, bezogen auf die Stigmatisierung der Betreuten, getestet.

Explorative Inferenzstatistik

Der Tabelle 8.17 können die Ergebnisse der Überprüfung der Abhängigkeit des Gesundheitsstatus mit dem Geschlecht der betroffenen Personen entnommen werden. Der einzige signifikante Zusammenhang besteht dabei zwischen der Variable Drogen-/Suchtmittelkonsum und dem Geschlecht der Betreuten, wobei eine mittlere Effektstärke gemessen wird (χ2(1) = 31.91, p < .001, φ = .339). Die Abbildung 8.10 zeigt die Verteilung der Kombinationen mit den beobachteten sowie den erwarteten Häufigkeitsverteilungen. Weibliche Betreute zeigen dabei einen geringeren Drogen-/Suchtmittelkonsum als erwartet. Gleichzeitig ist kein Konsum bei weiblichen Personen höher als erwartet. Konträr dazu stehen die Ergebnisse für männliche Betreute. Dementsprechend kann angenommen werden, dass männliche Betreute signifikant häufiger Drogen-/Suchtmittel konsumieren als weibliche Betreute.

Tabelle 8.17 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und dem Gesundheitsstatus der Betreuten. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert
Abbildung 8.10
figure 10

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen Geschlecht und dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten

Im nächsten Schritt werden die Zusammenhänge der Kategorien Geschlecht und Gesundheit in ihrer jeweiligen Aufschlüsselung mit den Bedarfen der Betreuten überprüft. Aufgrund der Verteilung und der erwarteten Häufigkeit < 5 können dabei jedoch einige Berechnungen nicht beachtet werden (siehe Unterkapitel Statistisches Auswertung des Abschnitts 8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung).

Insgesamt können 17 verschiedene signifikante Ergebnisse identifiziert werden (Tabellen 8.18 und 8.19). Das Geschlecht der Betreuten korreliert mit dem Bedarf im Lebensbereich Wohnen (Ziele: χ2(1) = 8.73, p = .004, φ = ‒.178; Maßnahmen: χ2(1) = 12.28, p < .001, φ = ‒.211) und dem Bedarf im Lebensbereich Gesundheit (Ziele: χ2(1) = 12.71, p < .001, φ = ‒.214; Maßnahmen: χ2(1) = 12.74, p = .001, φ = ‒.214). Alle vier signifikanten Ergebnisse weisen einen kleinen Effekt auf. Die Abbildungen 8.11 bis 8.25 zeigen die graphischen Darstellungen der beobachteten sowie erwarteten Häufigkeiten.

Tabelle 8.18 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Kategorie Geschlecht – der Betreuten sowie der Ersteller:innen – und den Hilfebedarfen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet
Abbildung 8.11
figure 11

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Wohnen

Die Abbildung 8.11 (Lebensbereich Wohnen) zeigt, dass weibliche Betreute mehr Ziele als erwartet haben, wohingegen männliche Betreute häufiger als erwartet keine Ziele haben.

Abbildung 8.12 weist die gleichen Tendenzen auf wie Abbildung 8.11, welche die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Maßnahmen im Lebensbereich Wohnen zeigt. Beide Ergebnisse unterstützen die Vermutung, dass weibliche Betreute insgesamt einen höheren Bedarf im Bereich Wohnen haben, als männliche Betreute

Abbildung 8.12
figure 12

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Wohnen

Abbildung 8.13
figure 13

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Gesundheit

Abbildung 8.14
figure 14

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit

Wie den Abbildungen 8.13 und  8.14 zu entnehmen ist, können auch für den Lebensbereich Gesundheit für weibliche Betreute mehr beobachtete als erwartete Ziele respektive Maßnahmen sowie weniger beobachtete Ziele und Maßnahmen als erwartete Ziele und Maßnahmen für männliche Betreute identifiziert werden. Daraus kann die Annahme gezogen werden, dass weibliche Betreute einen höheren Bedarf im Lebensbereich Gesundheit haben als männliche Betreute.

Das Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen korreliert ebenfalls mit dem Bedarf im Lebensbereich Gesundheit (Ziele: χ2(1) = 10.64, p = .002, φ = ‒.196; Maßnahmen χ2(1) = 13.84, p < .001, φ = ‒.224). Die Effektstärke ist dabei jeweils klein. Die Abbildungen 8.15 und 8.16 zeigen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten.

Abbildung 8.15
figure 15

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Ersteller:innen und den Zielen im Lebensbereich Gesundheit

Abbildung 8.16
figure 16

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Ersteller:innen und den Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit

Die beiden Abbildungen 8.15 und 8.16 zeigen die gleiche Tendenz, wie die Abbildungen 8.13 und 8.14 der Betreuten auf. Vermutet werden kann dementsprechend: Hilfepläne von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen weisen mehr Bedarfe auf als Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern.

Der Gesundheitszustand umfasst psychische Auffälligkeiten der Betreuten sowie den Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten. Psychische Auffälligkeiten der Betreuten korrelieren mit den Lebensbereichen Arbeit (Maßnahmen: χ2(1) = 4.17, p = .044, φ = .123), Gesundheit (Ziele: χ2(1) = 7.96, p = .007, φ = .169; Maßnahmen: χ2(1) = 8.59, p = .004, φ = .176) und Soziale Beziehungen (Ziele: χ2(1) = 10.00, p = .002, φ = .190; Maßnahmen: χ2(1) = 11.08, p = .001, φ = .200). Alle signifikanten Ergebnisse weisen eine schwache Effektstärke auf (siehe Tabelle 8.19).

Tabelle 8.19 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Kategorie Gesundheit – differenziert nach psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum – und den Hilfebedarfen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet
Abbildung 8.17
figure 17

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem psychischen Gesundheitszustand der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Arbeit

Der Abbildung 8.17 sind die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Maßnahmen im Lebensbereich Arbeit im Verglichen zwischen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Betreuten ohne psychische Auffälligkeiten zu entnehmen. Für Betreute mit psychischen Auffälligkeiten können mehr Maßnahmen und gleichzeitig seltener keine Maßnahmen beobachtet werden, als erwartet wurden. Konträr dazu liegen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für Betreute ohne psychische Auffälligkeiten. Daraus resultiert die Annahme, dass Betreute mit psychischen Auffälligkeiten einen höheren Bedarf im Bereich Arbeit haben als Betreute ohne psychische Auffälligkeiten. Abbildung 8.18 zeigt die Häufigkeiten der Ziele im Lebensbereich Gesundheit. Auch in diesem Lebensbereich können mehr beobachtete als erwartete Ziele für Betreute mit psychischen Auffälligkeiten identifiziert werden, wohingegen mehr Ziele für Betreute ohne psychische Auffälligkeiten erwartet wurden statt beobachtet wurden. Entgegengesetzt dazu zeigen Betreute mit psychischen Auffälligkeiten seltener als erwartet keine Ziele und Betreute ohne psychische Auffälligkeiten häufiger als erwartet keine Ziele. Betreute mit psychischen Auffälligkeiten weisen, so die daraus zu ziehende Annahme, einen höheren Bedarf im Bereich Gesundheit auf als Betreute ohne psychische Auffälligkeiten.

Abbildung 8.18
figure 18

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem psychischen Gesundheitszustand der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Gesundheit

Äquivalent zu diesen Befunden hinsichtlich der Ziele im Lebensbereich Gesundheit sind die Befunde bezüglich der Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit (siehe Abbildung 8.19). Betreute mit psychischen Auffälligkeiten zeigen, so kann angenommen werden, insgesamt einen höheren Bedarf im Lebensbereich Gesundheit als Betreute ohne psychische Auffälligkeiten.

Abbildung 8.19
figure 19

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem psychischen Gesundheitszustand der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit

Auch die zwei signifikanten Ergebnisse im Lebensbereich Soziale Beziehungen weisen solche Ergebnisse auf. Sowohl für die Ziele als auch die Maßnahmen zeigen Betreute mit psychischen Auffälligkeiten mehr Ziele respektive Maßnahmen als erwartet, wohingegen Betreute ohne psychische Auffälligkeiten häufiger als erwartet keine Ziele hatten (siehe Abbildung 8.20 und 8.21). Dementsprechend wird für den Bereich Soziale Beziehungen ebenfalls ein größerer Bedarf von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten angenommen.

Der Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten korreliert mit den Lebensbereichen Wohnen (Ziele: χ2(1) = 7.13, p = .011, φ = ‒.160; Maßnahmen: χ2(1) = 7.13, p = .011, φ = ‒.160), Gesundheit (Ziele: χ2(1) = 13.74, p < .001, φ = .223; Maßnahmen: χ2(1) = 7.99, p = .006, φ = .170) und Soziale Beziehungen (Ziele: χ2(1) = 4.28, p = .041, φ = .124;Maßnahmen: χ2(1) = 4.86, p = .028, φ = .132). Alle signifikanten Ergebnisse weisen eine schwache Effektstärke auf.

Abbildung 8.20
figure 20

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem psychischen Gesundheitszustand der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Soziale Beziehungen

Abbildung 8.21
figure 21

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem psychischen Gesundheitszustand der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit

Die genaue Betrachtung der einzelnen signifikanten Ergebnisse erfolgt in bekannter Weise mittels verschiedener Balkendiagramme. Die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten im Lebensbereich Wohnen für die Aspekte Ziele und Maßnahmen sind deckungsgleich, weshalb in diesem Fall nur ein Balkendiagramm wiedergegeben wird (siehe Abbildung 8.22). Dem Diagramm kann entnommen werden, dass Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum weniger Ziele/Maßnahmen aufweisen als erwartet. Diesen Fund bestätigend, können für Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum seltener als erwartet keine Ziele/Maßnahmen beobachtet werden. Demzufolge kann für Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum ein geringerer Bedarf im Lebensbereich Wohnen vermutet werden als für Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum.

Abbildung 8.22
figure 22

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten der signifikanten Zusammenhänge zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Wohnen

Die Abbildungen 8.23 und 8.24 zeigen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für die Ziele und Maßnahmen im Bereich Gesundheit. Entgegen der Ergebnisse zum Lebensbereich Wohnen können für Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum mehr Ziele beobachtet werden als erwartet (Abbildung 8.23). Passend dazu zeigen Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum häufiger als erwartet keine Ziele.

Nahezu identische Ergebnisse können für die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Maßnahmen berichtet werden (Abbildung 8.24). Insgesamt kann somit ein größerer Bedarf von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum im Lebensbereich Gesundheit angenommen werden als bei Betreuten ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum.

Abbildung 8.23
figure 23

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Gesundheit

Abbildung 8.24
figure 24

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Gesundheit

Die Abbildungen 8.25 und  8.26 zeigen die Häufigkeiten der Ziele und Maßnahmen für den Lebensbereich Soziale Beziehungen.

Beide Balkendiagramme bilden eine gleiche Tendenz ab: Betreute mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen mehr Ziele als erwartet, wohingegen Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum weniger Ziele aufweisen als erwartet. Vermutet werden kann somit ein größerer Bedarf von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum im Lebensbereich Soziale Beziehungen, im Vergleich zu Betreuten ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum.

Abbildung 8.25
figure 25

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und den Maßnahmen im Lebensbereich Soziale Beziehungen

Abbildung 8.26
figure 26

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und den Zielen im Lebensbereich Soziale Beziehungen

Bezogen auf die Compliance respektive Non-Compliance, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Bereichen, führt das Geschlecht der Betreuten insgesamt zu drei signifikanten Ergebnissen. Die Testung der Verteilung des Geschlechts ergibt für die drei signifikanten Ergebnisse jeweils eine unterschiedliche Verteilung (K-S: p < .05) (Tabelle 8.20).

Die Non-Compliance im Bereich Hinführung zum Arbeitsmarkt von männlichen Betreuten (MRang = 19.23) unterscheidet sich signifikant von der Non-Compliance von weiblichen Betreuten (MRang = 17.59), U = 1775.00, z = ‒2.433, p = .015, r = ‒.209. Mit einer geringen Effektstärke weisen männliche Betreute eine signifikant größere Non-Compliance auf als weibliche Betreute.

Darüber hinaus unterscheidet sich auch die Non-Compliance im Bereich Hinführung zum eigenständigen Leben von männlichen Betreuten (MRang = 92.36) von der Non-Compliance von weiblichen Betreuten (MRang = 70.14), U = 2405.00, z = ‒3.384, p = .001, r = ‒.265. Männliche Betreute weisen mit einer geringen Effektstärke eine signifikant größere Non-Compliance auf als weibliche Betreute.

Schließlich unterscheidet sich die Non-Compliance im Bereich Finanzen von männlichen Betreuten (MRang = 88.66) signifikant von weiblichen Betreuten (MRang = 73.20), U = 2640.00, z = ‒2.370, p = .018, r = ‒.186. Auch hier zeigen männliche Betreute mit einer geringen Effektstärke eine signifikant größere Non-Compliance als weibliche Betreute.

Für das Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen kann bei der Überprüfung von Unterschieden bezogen auf die Compliance/Non-Compliance kein signifikantes Ergebnis festgestellt werden.

Tabelle 8.20 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Kategorie Geschlecht – der Betreuten und der Ersteller:innen – in Bezug auf das Verhalten der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet
Tabelle 8.21 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Kategorie Gesundheit – psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum – in Bezug auf das Verhalten der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

U-Tests zur Überprüfung von Unterschieden durch psychische Auffälligkeiten oder Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten, bezogen auf Compliance beziehungsweise Non-Compliance, ergeben insgesamt zwei signifikante Ergebnisse (Tabelle 8.21). Die zwei signifikanten Ergebnisse beziehen sich jedoch lediglich auf Unterschiede bedingt durch die Variable Drogen-/Suchtmittelkonsum. Psychische Auffälligkeiten der Betreuten führen zu keinen signifikanten Unterschieden. Die zwei signifikanten Unterschiede weisen dabei jeweils unterschiedliche Verteilungen für die Variable Drogen-/Suchtmittelkonsum auf (K-S: < .05).

Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 75.02) zeigen signifikant häufiger und mit einer geringen Effektstärke Non-Compliance in Bezug auf die Hinführung zum Arbeitsmarkt als Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 62.22), U = 1829.00, z = ‒.262, p = .024, r = ‒.195.

Auch für die Compliance/Non-Compliance in Bezug auf Ämter und Behördengänge unterscheiden sich Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 85.31) signifikant von Betreuten ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 72.72), U = 2450.00, z = ‒1.989, p = .047, r = ‒.160. Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen signifikant häufiger Non-Compliance als Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum. Dieses signifikante Ergebnis weist dabei einen schwachen Effekt auf.

Schließlich erfolgt die explorative Untersuchung des Zusammenhangs zwischen einer Stigmatisierung der Betreuten und den Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Weil der Effekt des Geschlechts der Betreuten im hypothesentestenden Teil der Inferenzstatistik überprüft wird, erfolgt im explorativen Teil ausschließlich die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der identifizierten Abwertung der Betreuten und dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen sowie der psychischen Auffälligkeit und dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten. Die Abwertung beziehungsweise Stigmatisierung ist, wie in Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und dem Unterkapitel Hypothesen dargestellt, in neun unterschiedliche Aspekte ausdifferenziert.

Für den Zusammenhang der Stigmatisierung der Betreuten (Variablen 6.1.1, 6.1.2, 6.3 und 6.3.1) mit dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen können zwei signifikante Effekte festgestellt werden (Tabelle 8.22). Die Verteilung des Geschlechts der Hilfeplanersteller:innen weist für die Ursachenzuschreibung zur Wohnsituation eine ähnliche Verteilung (K-S: p = .173) und für die Ursachenzuschreibung zur Lebenssituation eine unterschiedliche Verteilung auf (K-S: p < .05).

Die zu beachtenden Mediane in Bezug auf die Ursachenzuschreibung zur Wohnsituation weisen jedoch keinen Unterschied auf (männliche Hilfeplanersteller: Mdn = 3.00 und weibliche Hilfeplanerstellerinnen: Mdn = 3.00), obwohl der U-Test einen signifikanten Unterschied feststellt, U = 1288.50, z = ‒1.989, p = .047,r = ‒.160. Die Betrachtung der Ränge deutet jedoch daraufhin, dass männliche Hilfeplanersteller (MRang = 83,95) die Ursache der Wohnsituation eher als selbstverschuldet beschreiben und weibliche Hilfeplanerstellerinnen (MRang = 65,66) eher eine unverschuldete Ursache für die Wohnsituation identifizieren.

Bezogen auf die Ursachenzuschreibung zur Lebenssituation unterscheiden sich männliche Hilfeplanersteller (MRang = 122.65) höchst signifikant von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen (MRang = 75.96), U = 1305.00, z = ‒5.513, p < .001, r = ‒.418. Mit einer mittleren Effektstärke beschreiben männliche Hilfeplanersteller Betreute häufiger als selbstverantwortliche:r Täter:innen, wohingegen weibliche Hilfeplanerstellerinnen Betreute häufiger als unverschuldete Opfer beschreiben.

Tabelle 8.22 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Ersteller:innen in Bezug auf die Stigmatisierung der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet
Tabelle 8.23 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen Geschlecht der Ersteller:innen und Stigmatisierung. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

Der Tabelle 8.23 können die Ergebnisse der Überprüfung der Abhängigkeit der Stigmatisierung beziehungsweise der drei nominal verteilten Aspekte der Abwertung und Stigmatisierung mit dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen entnommen werden. Der einzige signifikante Zusammenhang besteht dabei mit der Variable Kontrolle innerhalb der Hilfen und dem Geschlecht, wobei eine geringe Effektstärke gemessen wird (χ2(1) = 13.24, p < .001, φ = .219). Die Abbildung 8.27 zeigt die Verteilung der Kombinationen mit den beobachteten sowie den erwarteten Häufigkeitsverteilungen.

Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern weisen dabei mehr Kontrollen innerhalb der Hilfen auf als erwartet und weniger als erwartet keine Kontrollen auf. Demgegenüber weisen Hilfepläne von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen seltener Kontrolle innerhalb der Hilfen auf als erwartet und zeigen zugleich häufiger keine Kontrolle als erwartet. Daraus kann die Annahme gezogen werden, dass männliche Hilfeplanersteller häufiger als weibliche Hilfeplanerstellerinnen Kontrolle innerhalb der Hilfen erwähnen.

Abbildung 8.27
figure 27

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Ersteller:innen und der Kontrolle innerhalb der Hilfen

Tabelle 8.24 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Ersteller:innen in Bezug auf die Stigmatisierung der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Die Tabelle 8.24 zeigt die Ergebnisse des U-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen und der identifizierten Stigmatisierung der Hilfen. Dabei können keine signifikanten Ergebnisse festgestellt werden.

Ob signifikante Zusammenhänge zwischen psychischen Auffälligkeiten sowie dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und der Abwertung der Betreuten festgestellt werden kann, ist Tabelle 8.25 zu entnehmen.

Die Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Stigmatisierung und psychischer Auffälligkeit der Betreuten ergibt keinen signifikanten Zusammenhang. Hingegen können bezogen auf den Zusammenhang zwischen dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und der Abwertung dieser drei signifikante Effekte beobachtet werden. Die Verteilung des Drogen-/Suchtmittelkonsums ist dabei jeweils ungleich (K-S: p < .05).

Hinsichtlich der Beschreibung der Rolle als Hilfebedürftige:r (Gute:r Bedürftige:r vs. Schlechte:r Bedürftige:r) unterscheiden sich Betreute, die Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen (MRang = 97.56) signifikant von Betreuten, die keinen Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 81.20) zeigen, U = 2910.50, z = ‒2.257, p = .024, r = ‒.171. Das signifikante Ergebnis weist dabei eine schwache Effektstärke auf. Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden häufiger als schlechte Bedürftige dargestellt, wohingegen Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum eher als gute Bedürftige dargestellt werden.

Tabelle 8.25 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Kategorie Gesundheit – psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum – in Bezug auf die Stigmatisierung der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Auch bezogen auf die Ursachenzuschreibung für die Wohnsituation unterscheiden sich die Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 79.44) signifikant und mit einer schwachen Effektstärke von Betreuten ohne Drogen/-Suchtmittelkonsum (MRang = 65.02), U = 1731.00, z = ‒2.078, p = .038, r = ‒.176. Die Wohnsituation von Betreuten mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum wird häufiger als selbstverschuldet beschrieben, und die Wohnsituation von Betreuten ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum häufiger als unverschuldet.

Darüber hinaus kann ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Ursachenzuschreibung für die aktuelle Lebenssituation und dem Konsum von Drogen-/Suchtmitteln festgestellt werden. Liegt ein Drogen-/Suchtmittelkonsum vor, werden die Betreuten (MRang = 107.42) häufiger als selbstverantwortliche:r Täter:innen beschrieben, wohingegen Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 70.93) häufiger als unverschuldete Opfer beschrieben werden, U = 2178.50, z = ‒4.974, p < .001, r = ‒.377. Der signifikante Zusammenhang weist dabei eine mittlere Effektstärke auf.

Tabelle 8.26 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen Gesundheit – psychische Auffälligkeiten und Suchtmittelkonsum – und der Stigmatisierung. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

Die χ2-Tests zur Überprüfung der Abhängigkeit der Kontrolle und des Sprachgebrauchs mit der psychischen Auffälligkeit sowie dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten ergeben zwei signifikante Ergebnisse (Tabelle 8.26). Sowohl für psychische Auffälligkeiten (χ2(1) = 5.25, p = .029, φ = .138) als auch für Drogen-/Suchtmittelkonsum (χ2(1) = 16.04, p < .001, φ = .241) kann eine Abhängigkeit mit der festgestellten Kontrolle durch Institutionen festgestellt werden. Beide Effekte weisen eine schwache Effektstärke auf. Den Abbildungen 8.28 und 8.29 können die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten entnommen werden.

Abbildung 8.28
figure 28

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen Suchtmittelkonsum und der Kontrolle durch Institutionen

Abbildung 8.29
figure 29

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen psychischen Auffälligkeiten und der Kontrolle durch Institutionen

Hilfepläne über Betreute mit psychischen Auffälligkeiten weisen mehr Kontrolle durch Institutionen auf als erwartet und seltener als erwartet keine Kontrollen. Hilfepläne über Betreute ohne psychische Auffälligkeiten hingegen erwähnen eine Kontrolle durch Institutionen seltener als erwartet und häufiger als erwartet keine Kontrolle. Vermutet werden kann daher, dass Betreute mit psychischen Auffälligkeiten häufiger Kontrollen durch Institutionen ausgesetzt sind als Personen ohne psychische Auffälligkeiten.

Ein ähnliches Bild, sogar mit einem höchst signifikanten Ergebnis, zeigen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten von Kontrolle durch Institutionen bei Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum. Hilfepläne über Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen häufiger als erwartet eine Kontrolle durch Institutionen, und gleichzeitig kann seltener als erwartet keine Kontrolle bei diesen Personen identifiziert werden. Analog dazu kann in Hilfeplänen über Betreute ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum seltener, als erwartet, Kontrolle durch Institutionen beobachtet werden und gleichzeitig häufiger als erwartet keine Kontrolle.

Tabelle 8.27 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Kategorie Gesundheit – psychische Auffälligkeit und Suchtmittelkonsum – in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Die Tabelle 8.27 zeigt die Ergebnisse der U-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen psychischen Auffälligkeiten sowie Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten und der identifizierten Stigmatisierung der Hilfen. Dabei können keine signifikanten Ergebnisse festgestellt werden.

Die explorative inferenzstatistische Analyse abschließend, den Fokus der vorliegenden Arbeit auf die Kategorien Geschlecht und Gesundheit ausklammernd und dem postulierten Ziel der Dokumentenanalyse nachkommend – die Untersuchung der Bedeutung der Bedarfe und des Verhaltens der Betreuten bezogen auf die Stigmatisierung dieser durch das Hilfesystem –  werden mögliche Zusammenhänge zwischen dem Bedarf (hoher Bedarf vs. niedriger Bedarf) sowie dem Verhalten (Non-Compliance vs. keine Non-Compliance) und der Stigmatisierung durch das Hilfesystem untersucht.

Die Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen dem Bedarf sowie dem Verhalten und einer allgemeinen Stigmatisierung erfolgt mittels zweier einfaktorieller univariater Varianzanalysen. Für beide Varianzanalysen kann die Voraussetzung der Varianzhomogenität bestätigt werden (Bedarf: F (1, 274) = 1.83, p = .177; Verhalten: F (1, 274) = 0.18, p = .676).

Die Varianzanalyse mit der Abhängigen Variable des Gesamtscores Stigmatisierung für die Unabhängige Variable ‚Bedarf‘ ergibt kein signifikantes Ergebnis. Betreute mit einem hohen Bedarf (M = 1.09; SD = .63) und einem niedrigen Bedarf (M = 1.10; SD = .59) unterscheiden sich nicht signifikant voneinander (F (1, 274) = .01, p = .933, η2 < .001).

Allerdings unterscheiden sich Betreute mit Non-Compliance (M = 1.50; SD = .66) und ohne Non-Compliance (M = 1.04; SD = .59) bezüglich einer allgemeinen Stigmatisierung höchst signifikant voneinander ((1, 274) = 16.06, p = < .001, η2 = .055). Betreute mit Non-Compliance werden mit einer schwachen Effektstärke höchst signifikant negativer bewertet als Betreute ohne Non-Compliance.

Für eine detailliertere Untersuchung erfolgen zusätzlich die Analysen der ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung des Hilfesystems mittels U-Tests und χ2-Tests. Als Voraussetzung für den U-Test müssen die einzelnen und ausdifferenzierten, jeweils z-standardisierten Aspekte hinsichtlich einer gleichen Verteilung bezogen auf die Bedarfe und das Verhalten untersucht werden. Die Ergebnisse der jeweiligen Kolmogorov-Smirnov Tests sind der Tabelle 8.28 zu entnehmen.

Tabelle 8.28 Testung auf Normalverteilung der Bedarfe und des Verhaltens nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.29 Mediane von Verhalten in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

Einzig die Verteilungen zwischen Non-Compliance und keine Non-Compliance bezogen auf die Ursachenzuschreibung für die Wohnsituation beziehungsweise die Lebenssituation, erfüllen die Voraussetzung der gleichen Verteilung und erlauben deshalb die Betrachtung der Mediane zur Bestimmung von möglichen Unterschieden (siehe Tabelle 8.29).

Die Ergebnisse der U-Tests zur Untersuchung von Unterschieden zwischen einem hohen Bedarf und einem niedrigen Bedarf können der Tabelle 8.30 entnommen werden. Wie die Untersuchung der allgemeinen Stigmatisierung vermuten lässt, kann kein signifikanter Effekt identifiziert werden. Demgegenüber können vier signifikante Unterschiede zwischen Non-Compliance und keiner Non-Compliance identifiziert werden (Tabelle 8.31). Für die zugeschriebene Charaktereigenschaft kann ein höchst signifikanter mittlerer Effekt berichtet werden, U = 1632.00, z = −5.539, p < .001, r = −.336. Betreuten, die Non-Compliance (MRang = 203.35) zeigen, wird höchst signifikant eine negativere Charaktereigenschaft zugeschrieben als Betreuten ohne Non-Compliance (MRang = 127.30). Daneben unterscheiden sich Betreute mit Non-Compliance und keinem Non-Compliance signifikant bezüglich der zugeschriebenen Rolle als Hilfesuchende:r, U = 1265.00, z = −3.239, p = .001, r = −.246. Betreute mit Non-Compliance (MRang = 114.15) werden signifikant häufiger als schlechte Bedürftige beschrieben, während Betreute ohne Non-Compliance (MRang = 82.61) häufiger als gute Bedürftige beschrieben werden.

Tabelle 8.30 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Bedarfs in Bezug auf die Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Auch für die Ursachenzuschreibung für die Wohnungsnot kann ein signifikanter Effekt identifiziert werden, U = 412.00, z = ‒2.359, p = .018, r = ‒.200. Betreuten mit Non-Compliance (Mdn = 4.00) wird häufiger eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben, während Betreuten ohne Non-Compliance (Mdn = 3.00) häufiger eine unverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben wird. Schließlich kann auch hinsichtlich der Bewertung der Veränderung der Lebenssituation während der Hilfen ein höchst signifikanter schwacher Unterschied zwischen Betreuten mit Non-Compliance und keinem Non-Compliance beobachtet werden, U = 1241.00, z = −3.766, p < .001, r = −.293. Die Lebenssituation während der Hilfen von Betreuten mit Non-Compliance verschlechtert sich (MRang = 109.13), wohingegen sich die Lebenssituation von Betreuten ohne Non-Compliance (MRang = 77.19) eher verbessert.

Tabelle 8.31 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Bedarfs in Bezug auf die Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Zur Überprüfung einer möglichen Korrelation sowohl zwischen Bedarfen und Kontrolle als auch Verhalten und Kontrolle müssen insgesamt vier χ2-Tests durchgeführt werden. Die Überprüfung der Korrelation zwischen einem hohen Bedarf und der identifizierten Kontrolle, welcher Betreute ausgesetzt sind, zeigen keine signifikanten Ergebnisse (Kontrolle durch das Hilfesystem: χ2(1) = .869, p = .357, φ = ‒.057; Kontrolle durch Institutionen: χ2(1) = 1.21, p = .309, φ = ‒.066). Bezogen auf das Verhalten der Betreuten können hingegen zwei signifikante Effekte beobachtet werden (Kontrolle durch das Hilfesystem: χ2(1) = 7.299, p = .009, φ = ‒.162; Kontrolle durch Institutionen: χ2(1) = 6.905, p = .012, φ = ‒.158). Wie in der Abbildung 8.30 dargestellt, kann für Betreute mit Non-Compliance mehr Kontrolle durch das Hilfesystem beobachtet werden als erwartet und seltener als erwartet keine Kontrolle. Zugleich kann, konträr dazu und die Ergebnisse unterstützend, für Betreute ohne Non-Compliance weniger Kontrolle durch das Hilfesystem beobachtet werden als erwartet. Somit kann angenommen werden, dass Betreute mit Non-Compliance mehr Kontrolle durch das Hilfesystem ausgesetzt sind wohingegen Betreute ohne Non-Compliance weniger Kontrolle durch das Hilfesystem ausgesetzt sind. Abbildung 8.31 zeigt die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für die Kontrolle durch Institutionen von Betreuten mit Non-Compliance und keinem Non-Compliance. Die Tendenz der Häufigkeiten stimmt dabei mit den beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für die Kontrolle durch die Hilfen überein. Deshalb kann auch für die Kontrolle durch Institutionen angenommen werden, dass Betreute mit Non-Compliance mehr Kontrolle ausgesetzt sind als Betreute ohne Non-Compliance.

Abbildung 8.30
figure 30

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Verhalten der Betreuten und der Kontrolle innerhalb der Hilfen

Abbildung 8.31
figure 31

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Verhalten der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen

Unterschiede respektive Zusammenhänge zwischen einem hohen oder niedrigen Bedarf mit der Stigmatisierung der Betreuten können nicht festgestellt werden. Allerdings zeigen die Ergebnisse für das Verhalten der Betreuten, dass eben diese mit einem Non-Compliance negativer bewertet werden als Betreuten ohne Non-Compliance und dementsprechend eine größere Stigmatisierung gegenüber Betreuten mit Non-Compliance angenommen werden kann.

Die explorative inferenzstatistische Analyse abschließend und den Fokus auf ein Ziel der Dokumentenanalyse legend, werden mögliche Zusammenhänge zwischen der Kategorie Herkunft (Stadt vs. Land) sowie der Unterbringungsform (Gruppe vs. dezentral und stationär vs. ambulant) und der Stigmatisierung durch das Hilfesystem untersucht. Zur Testung von Unterschieden innerhalb der Kategorie Herkunft sowie den Unterbringungsformen bezüglich der ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten müssen wie gehabt sowohl U-Tests als auch χ2-Tests (zur Überprüfung möglicher Korrelationen) durchgeführt werden. Zur Überprüfung der Voraussetzung der gleichen Verteilung für die U-Tests wird der Kolmogorov-Smirnov-Test durchgeführt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 8.32 dargestellt. Die bei der Erfüllung der Voraussetzung (K-S: > .05) zu betrachtenden Mediane können der Tabelle 8.33 entnommen werden. Die Ergebnisse der U-Tests sind hingegen in der Tabelle 8.34 dargestellt. Insgesamt können drei signifikante Ergebnisse anhand der U-Tests ermittelt werden. Für die Kategorie Herkunft kann ein höchst signifikanter mittlerer Effekt beobachtete werden, U = 1644.00, z = ‒4.277, p < .001, r = ‒.324. Im Vergleich zu Hilfen in kreisangehörigen Städten respektive auf dem Land werden Betreute in (kreisfreien) Städten signifikant häufiger als Täter:in, also aktiv Mitwirkende und Verantwortliche für die eigenen Lebenssituation, dargestellt (Mdn = 4.00), während Betreute mit Hilfen in kreisangehörigen Städten eher als Opfer (Mdn = 3.00) beschrieben werden.

Tabelle 8.32 Testung auf Normalverteilung der Herkunft, Unterbringungsform und Betreuungsform nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.33 Mediane von Herkunft, Unterbringungsform und Betreuungsform in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.34 Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Kategorie Herkunft – Stadt/Land, Gruppe/dezentral und stationär/ambulant in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Zwei weitere signifikante Unterschiede können für die Betreuungsform identifiziert werden: So kann für die Variable Ursachenzuschreibung Wohnungsnot ein signifikanter Unterschied zwischen der stationären Betreuung und der ambulanten Betreuung beobachtet werden, U = 1263.50, z = ‒2.796, p = .005, r = ‒.287. Betreute in stationärer Betreuung (MRang = 85.90) werden signifikant eher als selbstverschuldet für ihre Wohnungsnot beschrieben, wohingegen Betreute in ambulanter Betreuung (MRang = 64.65) eher als unverschuldet für ihre Wohnungsnot dargestellt werden.

Darüber hinaus unterscheiden sich Betreute in stationärer Betreuung höchst signifikant und mit einem schwachen Effekt von Betreuten in ambulanter Betreuung, U = 2155.00, z = ‒3.782, p < .001, r = ‒.287. Betreute in stationärer Betreuung (MRang = 107.82) sind höchst signifikant eher als Täter:in und somit aktiv Mitwirkende an der eigenen Lebenssituation beschrieben, während Betreute in ambulanter Betreuung (MRang = 78.11) eher als Opfer etikettiert werden. Schließlich werden zur Überprüfung möglicher Korrelationen zwischen der Kontrolle und der Kategorie Herkunft, der Unterbringungsform sowie der Betreuungsform insgesamt sechs χ2-Tests durchgeführt (Tabelle 8.35). Ein signifikanter Effekt unterstützt die größere Stigmatisierung von Betreuten in Gruppenunterbringung, χ2(1) = 8.00, p = .005, φ = −.171.

Tabelle 8.35 Ergebnisse des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Kategorie Herkunft und der Stigmatisierung. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

Wie in Abbildung 8.32 dargestellt, kann für Betreute in dezentralen Settings mehr Kontrolle als erwartet durch Institutionen beobachtet werden und seltener als erwartet keine Kontrolle beobachtet werden. Zugleich kann, konträr dazu und diese Ergebnisse unterstützend, für Betreute in Gruppensettings weniger Kontrolle durch Institutionen als erwartet beobachtet werden sowie häufiger keine Kontrolle als erwartet beobachtet werden. Dementsprechend kann angenommen werden, dass Betreute in dezentralen Settings mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt sind als Betreute in Gruppenunterbringungen.

Abbildung 8.32
figure 32

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen der Betreuungsform und der Kontrolle durch Institutionen

Die Kategorie Herkunft, hier betrachtet über die dichotome Aufteilung zwischen der Betreuung in (kreisfreien) Städten und der Betreuung in kreisangehörigen Städten respektive auf dem Land, hat einen signifikanten Effekt auf die Stigmatisierung der Betreuten. Ebenso können für die Betreuungsart in deren Unterscheidung zwischen stationärer und ambulanter Betreuung zwei signifikante Effekte beobachtet werden. Dabei werden Betreute in stationärer Betreuung negativer bewertet als Betreute in ambulanter Betreuung. Das dabei ein Zusammenhang zwischen der Herkunft und der Betreuungsform vorliegt, kann nicht bestätigt jedoch vermutet werden, weil in der Stichprobe stationäre Betreuungsformen eher in Städten vorkamen und ambulante Betreuungsformen eher in kreisangehörigen Städten, also auf dem Land, existierten (siehe Abbildung 8.3).

Der signifikante Effekt einer größeren Kontrolle bei der dezentralen Betreuungsform überrascht und muss in der Diskussion erörtert werden.

Ferner stellt sich die Frage, wodurch die identifizierte Stigmatisierung der Betreuten in stationären Betreuungssettings bedingt ist. Der vermutete höhere Bedarf und die ebenso vermutete geringere Selbstständigkeit der Betreuten in stationären Betreuungssettings als mögliche Erklärung sowie die Geschlechterverteilung innerhalb der verschiedenen Betreuungsformen werden im Abschnitt 8.5 Diskussion erörtert.

Hypothesentestende Inferenzstatistik

In einem zweiten Schritt der Inferenzstatistik werden die aufgestellten Hypothesen getestet. Die Darstellung der Ergebnisse erfolg wie erläutert äquivalent zur Reihenfolge der aufgestellten Hypothesen. Zu Beginn jeder Ergebnisdarstellung erfolgt die Wiedergabe der formulierten Hypothesen.

H0. Männliche Betreute werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute.

Die Überprüfung der Hypothese H0 erfolgt, weil eine Annahme über die Stigmatisierung umfassend formuliert ist, mittels einer univariaten Varianzanalyse und nicht über einen spezifischen Aspekt. Aufgrund der Robustheit von Varianzanalysen kann das Ergebnis (F (1, 274) = 3.89, p = .050) trotz der Verletzung der Varianzhomogenität interpretiert werden (Bortz & Schuster, 2010, S. 129; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 440). Der höchst signifikante, kleine Effekt bestätigt die Annahme der Hypothese ((1, 274) = 13.49, p < .001, η2 = .047). Männliche Betreute (M = 1.23; SD = .65) werden höchst signifikant mehr stigmatisiert als weibliche Betreute (M = .97; SD = .55). Die Hypothese H0 wird demnach bestätigt.

H1. Männlichen Betreuten werden im Hilfesystem mehr negative Charaktereigenschaften zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreuten mehr positive Charaktereigenschaften zugeschrieben werden.

Zur Testung der Hypothese H1 muss ein U-Test zur Überprüfung des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den identifizierten Charaktereigenschaften durchgeführt werden. Die Untersuchung der Verteilung des Geschlechts bezogen auf die Charaktereigenschaften ergibt eine ungleiche Verteilung (K-S: p < .05) (siehe Tabelle 8.15), weshalb zur Unterscheidung die mittleren Ränge betrachtet werden müssen.

Für die Hypothese H1 kann ein höchst signifikanter Effekt identifiziert werden (Tabelle 8.36). Männlichen Betreuten werden eher negative Charaktereigenschaften (MRang = 159.59) zugeschrieben und weiblichen Betreuten eher positive Charaktereigenschaften (MRang = 114.25), U = 6070.00, z = ‒5.223, p < .001, r = −.317. Das Ergebnis weist dabei eine mittlere Effektstärke auf. Die Hypothese H1 kann dementsprechend bestätigt werden.

Tabelle 8.36 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf Charaktereigenschaften der Betreuten. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

H2. Männliche Betreute werden im Hilfesystem eher mit der Rolle des ‚schlechten Bedürftigen‘ beschrieben, wohingegen weibliche Betreute eher mit der Rolle der ‚guten Bedürftigen‘ beschrieben werden.

Tabelle 8.37 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die Rolle Hilfesuchende:r. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

Auch zur Überprüfung der Hypothese H2 muss ein U-Test berechnet werden. Dabei kann erneut eine ungleiche Verteilung des Geschlechts identifiziert werden (K-S: p < .05) (siehe Tabelle 8.15). Der U-Test ergibt kein signifikantes Ergebnis, weshalb die Hypothese H2 nicht bestätigt werden kann und abgelehnt werden muss (siehe Tabelle 8.37).

H3. Männliche Betreute sind im Hilfesystem mehr Kontrolle ausgesetzt als weibliche Betreute.

Für die Überprüfung der Hypothese H3 muss, aufgrund der Nominalskalierung der Variable Kontrolle, ein χ2-Test durchgeführt werden. Die Tabelle 8.38 zeigt die Verteilung der beobachteten Häufigkeiten und die entscheidenden Parameter des χ2-Test. Das Geschlecht der Betreuten korreliert dabei höchst signifikant mit der Kontrolle im Hilfesystem, χ2(1) = 27.97, p < .001, φ = .282. Das Ergebnis zeigt dabei eine schwache Effektstärke. Der Abbildung 8.33 können die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Kreuztabelle entnommen werden. Für männliche Betreute können mehr Kontrollen als erwartet und weniger keine Kontrollen als erwartet beobachtet werden. Demgegenüber stehen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für weibliche Betreute: Hier kann weniger Kontrolle als erwartet beobachtet werden und häufiger als erwartet keine Kontrolle beobachtet werden. Die Ergebnisse unterstützen die in der Hypothese H3 postulierte Annahme, dass männliche Betreute mehr Kontrolle ausgesetzt sind als weibliche Betreute.

Tabelle 8.38 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle innerhalb der Hilfen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet
Abbildung 8.33
figure 33

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch die Hilfen

H3.1. Männliche Betreute sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt als weibliche Betreute.

Das Ergebnis des durchgeführten χ2-Test zeigt ebenfalls ein höchst signifikantes Ergebnis, χ2(1) = 13.31, p < .001, φ = .219. Tabelle 8.39 zeigt die Häufigkeitsverteilung, die zur Korrelation führt. Der Abbildung 8.34 hingegen können die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten entnommen werden. Wie bei der Korrelation des Geschlechts der Betreuten mit der Kontrolle innerhalb der Hilfen kann die gleiche Tendenz der Korrelation des Geschlechts der Betreuten mit der Kontrolle durch Institutionen festgestellt werden. Männliche Betreute sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt als erwartet, und zugleich kann seltener als erwartet keine Kontrolle durch Institutionen beobachtet werden. Demgegenüber stehen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten für weibliche Betreute. Hier werden seltener Kontrollen durch Institutionen beobachtet als erwartet und zugleich häufiger keine Kontrolle ausgemacht als erwartet. Die Ergebnisse unterstützen somit die aufgestellte Hypothese: Männliche Betreute sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt als weibliche Betreute.

Tabelle 8.39 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

è

Abbildung 8.34
figure 34

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen

H4. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher eine selbstverschuldete Wohnungsnotsituation zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreute eher eine unverschuldete Wohnungsnotsituation zugeschrieben wird.

Der durchgeführte U-Test kann einen höchst signifikanten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Ursachenzuschreibung für die Wohnungsnot feststellen (siehe Tabelle 8.40). Zur Bestimmung des Geschlechtsunterschiede müssen dabei die mittleren Ränge betrachtet werden (K-S: p < .05). Männlichen Betreuten (MRang = 86.07) wird signifikant häufiger eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben, während weiblichen Betreuten (MRang = 60.10) signifikant häufiger eine unverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben wird, U = 1427.50, z = −3.824, p < .001, r = −.324. Dieses höchst signifikante Ergebnis weist eine mittlere Effektstärke auf. Die Hypothese H4 kann somit bestätigt werden. Männliche Betreute werden signifikant häufiger für ihre Wohnungsnot verantwortlich gemacht, während weibliche Betreute häufiger ohne eigene Verantwortung für die Wohnungsnot beschrieben werden.

Tabelle 8.40 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die Ursachenzuschreibung der Wohnsituation. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

H5. Männliche Betreute werden im Hilfesystem eher als Täter dargestellt, wohingegen weibliche Betreute eher als Opfer dargestellt werden.

Das Ergebnis des U-Tests zeigt erneut einen höchst signifikanten Effekt (Tabelle 8.41). Die Verteilungen des Geschlechts bezogen auf die Bewertung der Betreuten als Opfer oder Täter zeigen dabei eine unterschiedliche Ausprägung (K-S: p < .05), weshalb zur Bestimmung des Unterschieds die mittleren Ränge angegeben werden müssen. Männliche Betreute unterscheiden sich höchst signifikant und mit einer großen Effektstärke von weiblichen Betreuten, U = 1359.50, z = ‒7.387, p < .001, r = ‒.560. Männliche Betreute (MRang = 119.62) werden eher als Täter, also aktiv Mitwirkende an der eigenen Lebenssituation dargestellt, wohingegen weibliche Betreute (MRang = 64.83) eher als Opfer dargestellt werden. Die Hypothese H5 kann demzufolge bestätigt werden.

Tabelle 8.41 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die Ursachenzuschreibung der Lebenssituation. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit a abgebildet

H6. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher mit einer explizit abwertenden und stigmatisierenden Sprache begegnet als weiblichen Betreuten.

Das Resultat des χ2-Test (Tabelle 8.42) zur Überprüfung des Zusammenhangs des Geschlechts der Betreuten und einer explizit abwertenden und stigmatisierenden Sprache kann aufgrund der ungenügenden Verteilung und einer daraus resultierenden zu geringen Zellengröße (n < 5) nicht ausgewertet werden (Field, 2013, S. 735–736; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 564–565). Die Hypothese kann somit nicht bestätigt werden.

Tabelle 8.42 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

H7. Männlichen Betreuten wird im Hilfesystem eher eine Verschlechterung der Lebenssituation zugeschrieben, wohingegen weiblichen Betreuten eher eine Verbesserung zugeschrieben wird.

Der U-Test ergibt einen signifikanten Effekt des Geschlechts der Betreuten bezüglich der Veränderung der Lebenssituation (Tabelle 8.43). Die Verteilung von männlichen Betreuten und weiblichen Betreuten ist dabei ungleich (K-S: p < .05), weshalb zur Bestimmung des Unterschiedes die mittleren Ränge betrachtet werden müssen. Männlichen Betreuten wird eine Verschlechterung der Lebenssituation (MRang = 89.77) und weiblichen Betreuten eine Verbesserung der Lebenssituation (MRang = 76.31) zugeschrieben, U = 2848.00, z = −2.056, p = .040, r = −.160. Das Ergebnis weist eine schwache Effektstärke auf. Männlichen Betreuten wird eher eine Verschlechterung der Lebenssituation zugeschrieben und weiblichen Betreuten eher eine Verbesserung. Die Hypothese H7 kann demnach bestätigt werden.

Tabelle 8.43 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die Veränderung der Lebenssituation. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

H8. Bei männlichen Betreuten bricht das Hilfesystem die Hilfen eher ab als bei weiblichen Betreuten.

Die Ergebnisse des χ2-Tests können aufgrund der unzureichenden Verteilung und der daraus resultierenden zu geringen Zellenbesetzung (siehe Tabelle 8.44) nicht ausgewertet werden (Field, 2013, S. 735–736; Sedlmeier & Renkewitz, 2018, S. 564–565). Für die Hypothese H8 kann demzufolge keine Bestätigung oder Verwerfung dieser berichtet werden.

Tabelle 8.44 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und dem Weiteren Hilfeumfang. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet

H9. Bei männlichen Betreuten prognostiziert das Hilfesystem das Nicht-Erreichen der Ziele, wohingegen bei weiblichen Betreuten das Erreichen der Ziele prognostiziert wird.

Die Testung der Hypothese mittels U-Test ergibt kein signifikantes Ergebnis (siehe Tabelle 8.45). Die Hypothese, dass bei männlichen Betreuten das Hilfesystem eher ein Nicht-Erreichen der Ziele prognostiziert und zugleich bei weiblichen Betreuten das Erreichen der Ziele prognostiziert, kann somit nicht bestätigt werden.

Tabelle 8.45 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die Prognose des Hilfesystems. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

H10. Männliche Hilfeplanersteller stigmatisieren Betreute mehr als weibliche Hilfeplanerstellerinnen.

Zur Überprüfung der Hypothese H10 muss eine einfaktorielle univariate Varianzanalyse gerechnet werden. Die Voraussetzung der Varianzhomogenität kann mit (1, 274) = .292, p = .590 bestätigt werden. Das signifikante Ergebnis der ANOVA ((1, 274) = 5.46, p < .001, η2 = .020) bestätigt, dass männliche Hilfeplanersteller (M = 1.23; SD = .62) Betreute negativer bewerten beziehungsweise diese mehr stigmatisieren als weibliche Hilfeplanerstellerinnen (M = 1.04; SD = .62) und bestätigt somit die postulierte Annahme.

Um ein genaueres Bild der Stigmatisierung zu erhalten, können die Ergebnisse der explorativen inferenzstatistischen Analyse hinzugezogen werden. Für drei der neun ausdifferenzierten Aspekte (Ursachenzuschreibung für Wohnungsnot, Ursachenzuschreibung für Lebenssituation und Kontrolle innerhalb der Hilfen) kann eine negativere beziehungsweise größere Abwertung (selbstverschuldete Wohnungsnot, Beschreibung als selbstverantwortlicher Täter, mehr Kontrolle) durch männliche Hilfeplanersteller identifiziert werden.

H11. Männliche Hilfeplanersteller stigmatisieren männliche Betreute mehr als weibliche Betreute. Umgekehrt stigmatisieren weibliche Hilfeplanerstellerinnen weibliche Betreute mehr als männliche Betreute.

Die Testung der Voraussetzung auf Varianzhomogenität bestätigt eine Varianzgleichheit ((1, 272) = 1.879, p = .133). Die ANOVA-Testung liefert kein signifikantes Ergebnis ((1, 272) < .001, p = .986, η2 < .001). Zur weiteren Überprüfung der Hypothese werden zusätzlich die ausdifferenzierten einzelnen Aspekte von Stigmatisierung hinsichtlich der postulierten Annahme überprüft. Dafür werden U-Tests und χ2-Tests jeweils für männliche und weibliche Hilfeplanersteller:innen erstellt.

Tabelle 8.46 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf Stigmatisierung von männlichen Erstellern. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Für männliche Hilfeplanersteller kann die Überprüfung der Voraussetzung der Verteilung für die U-Tests, aufgrund der ungenügenden Anzahl an Fällen, nur hinsichtlich des Geschlechts der Betreuten bezogen auf die zugeschriebene Charaktereigenschaft überprüft werden. Hier kann eine Gleichheit der Verteilung identifiziert werden (K-S: p = .557). Die Testung auf Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Betreuten ergibt keine signifikanten Ergebnisse (siehe Tabelle 8.46).

Bei der Überprüfung hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen der ausgesetzten Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten für männliche Hilfeplanersteller kann aufgrund der Verletzung der erwarteten Mindestzellgröße (< 5) kein signifikanter Effekt identifiziert werden (siehe Tabelle 8.47).

Tabelle 8.47 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Stigmatisierung männlicher Ersteller. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet
Tabelle 8.48 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung weiblicher Erstellerinnen. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet

Die Voraussetzung der U-Tests zur Testung von Unterschieden zwischen dem Geschlecht der Betreuten bei Hilfeplänen von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen kann für die Ursachenzuschreibung der Wohnsituation und die Ursachenzuschreibung der Lebenssituation bestätigt werden (siehe Tabelle 8.48), weshalb die Mediane hinsichtlich des Geschlechts der Betreuten dieser beiden Variablen betrachtet werden müssen (siehe Tabelle 8.49).

Tabelle 8.49 Mediane des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung weiblicher Erstellerinnen

Drei der durchgeführten U-Tests führen zu signifikanten Ergebnissen (siehe Tabelle 8.50). Bezogen auf die Charaktereigenschaft unterscheiden sich männliche und weibliche Betreute aus Hilfeplänen von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen höchst signifikant (U = 2455.00, z = −4.822, p < .001, r = ‒.130). Entgegen der postulierten Annahme einer größeren Abwertung von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen gegenüber weiblichen Betreuten werden männlichen Betreuten negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben (MRang = 126.39) und weiblichen Betreute positivere Charaktereigenschaften zugeschrieben (MRang = 87.29). Der höchst signifikante Ergebnis weist eine kleine Effektstärke auf.

Tabelle 8.50 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten in Bezug auf Stigmatisierung von weiblichen Erstellerinnen. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Bezogen auf die Ursachenzuschreibung für die Wohnungsnot kann ein ähnlicher Effekt beobachtet werden (U = 488.50, z = −3.515, p < .001,r = −.341). In Hilfeplänen von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen wird männlichen Betreuten höchst signifikant und mit einer mittleren Effektstärke häufiger eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben (Mdn = 3.50), während weiblichen Betreuten häufiger eine unverschuldete Wohnungsnot (Mdn = 2.00) zugeschrieben wird.

Auch bezogen auf die Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation kann ein ähnlicher und höchst signifikanter Effekt mit einer mittleren Effektstärke beobachtet werden (U = 667.50, z = −5.077, p < .001, r = −.444). In Hilfeplänen von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen werden männliche Betreute signifikant eher als Täter (Mdn = 3.50), also als an der eigenen Lebenssituation aktiv Mitwirkende, dargestellt, wohingegen weibliche Betreute eher als Opfer (Mdn = 2.00) dargestellt werden

Tabelle 8.51 Ergebnis des χ2-Tests bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Stigmatisierung weiblicher Erstellerinnen. Höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) mittels Fischers exaktem Test sind mit ** dargestellt. Signifikante Ergebnisse (p < .05) werden mit * illustriert. Eine nicht ausreichende Zellgröße wird mit # abgebildet
Abbildung 8.35
figure 35

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle im Hilfesystem in Bezug auf weibli-che Erstellerinnen

Abbildung 8.36
figure 36

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen in Bezug auf weibliche Erstellerinnen

Darüber hinaus können auch bei der Testung auf Zusammenhänge zwischen der Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten für Hilfepläne von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen zwei höchst signifikante Effekte (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ²(1) = 11.76, p = .001, φ = .241; Kontrolle durch Institutionen χ²(1) = 12.54, p = .001, φ = .249) identifiziert werden (siehe Tabelle 8.51). Die Abbildungen 8.35 und 8.36 zeigen die beobachteten und erwarteten Häufigkeiten der Geschlechterverteilung der Betreuten bezüglich der Kontrolle in Hilfeplänen von weiblichen Hilfeplanerstellerinnen. Beide Abbildungen zeigen ein ähnliches Bild. Männliche Betreute sind mehr Kontrolle ausgesetzt als erwartet, wohingegen weibliche Betreute weniger Kontrolle ausgesetzt sind als erwartet.

Die Hypothese H11 kann somit nicht bestätigt werden. Der differenzierte Blick auf die einzelnen Aspekte von Stigmatisierung zeigt – konträr zur postulierten Annahme –, dass weibliche Hilfeplanerstellerinnen männliche Betreute in einzelnen Aspekten der Stigmatisierung mehr abwerten als weibliche Betreute.

H12. Betreute ohne psychische Auffälligkeiten werden mehr stigmatisiert als Betreute mit psychischer Auffälligkeiten.

Erneut muss zur Überprüfung der Hypothese eine univariate Varianzanalyse durchgeführt werden. Wie bereits dargestellt, kann – trotz der Verletzung der Varianzhomogenität aufgrund der Robustheit von Varianzanalysen – eine ANOVA durchgeführt werden ((1, 274) = 4.79, p = .029). Ein signifikanter Effekt kann bei der Überprüfung der Hypothese nicht festgestellt werden (F (1, 274) = .295, p = .587, η2 = .001). Um ein genaueres Bild dieser Stigmatisierung zu erhalten, können die Ergebnisse der explorativen inferenzstatistischen Analyse hinzugezogen werden. Einzig ein signifikanter Effekt bei einem χ2-Test zur Testung des Zusammenhangs von Kontrolle und psychischer Auffälligkeit der Betreuten kann identifiziert werden. Der gefundene Effekt unterstützt die Vermutung, dass Betreute mit psychischen Auffälligkeiten mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt sind als Betreute ohne psychische Auffälligkeiten. Die Hypothese H12 kann demnach nicht bestätigt werden. Der gefundene signifikante Effekt weist dabei sogar in die entgegengesetzte Richtung: Betreute mit psychischen Auffälligkeiten werden im Hilfesystem negativer bewertet.

H13. Betreute mit einer Abhängigkeitserkrankung werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute ohne Abhängigkeitserkrankung.

Für die Unabhängige Variable Drogen-/Suchtmittelkonsum kann eine Varianzhomogenität bestätigt werden (Leven Test: p = .840). Allerdings kann, wie in der vorherigen Ergebnisdarstellung zu psychischen Auffälligkeiten, kein signifikanter Effekt mittels der univariaten Varianzanalyse identifiziert werden (F (1, 274) = 2.467, p = .117, η2 = .009). Auch hier kann die explorative inferenzstatistische Analyse hinzugezogen werden, um ein genaueres Bild der Stigmatisierung zu bekommen. Insgesamt vier signifikante Ergebnisse unterstützen die postulierte Annahme einer größeren Stigmatisierung von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum durch das Hilfesystem: So werden Betreute mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum eher in der Rolle des schlechten Bedürftigen wahrgenommen; ihnen wird eher eine Selbstverantwortung für die Wohnungsnot zugeschrieben, und sie werden ebenso eher als selbstverantwortlich für die eigene Lebenssituation, also als Täter, dargestellt. Darüber hinaus sind Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum eher der Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt als Betreute die keinen Konsum aufweisen. Die Hypothese H13 und die Annahme eines Effekts von Drogen-/Suchtmittelkonsum auf eine allgemeine Stigmatisierung von Betreuten kann nicht bestätigt werden. Dennoch bestätigen die vier gefundenen signifikanten Ergebnisse die Annahme einer Abwertung von Betreuten mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum.

H14. Betreute mit Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute mit Compliance.

Die notwendige Überprüfung der Voraussetzung für die Berechnung der ANOVA bestätigt die Varianzhomogenität (Levene Test: p = .676). Die eigentliche univariate Varianzanalyse zeigt einen höchst signifikanten kleinen Effekt ((1, 274) = 16.06, p < .001, η2 = .055). Betreute mit einer hohen Non-Compliance (M = 1.50; SD = .66) werden im Hilfesystem höchst signifikant negativer bewertet respektive stigmatisiert als Betreute ohne Non-Compliance (M = 1.04; SD = .59). Um ein detailliertes Bild von dieser Abwertung zu erhalten werden zusätzlich U-Tests sowie χ2-Tests berechnet.

Die Ergebnisse der Überprüfung der Voraussetzung der gleichen Verteilung für den U-Test können der Tabelle 8.52 entnommen werden. Für die Variablen Ursachenzuschreibung für Wohnsituation sowie Ursachenzuschreibung können, aufgrund der identifizierten ähnlichen Verteilung (K-S: > .05), zur Bestimmung von möglichen Unterschieden die Mediane betrachtet werden (siehe Tabelle 8.53). Bei der Testung auf Unterschiede zwischen Betreuten mit Non-Compliance und Compliance bezogen auf die sechs differenzierten Aspekte einer Stigmatisierung können vier signifikante Ergebnisse identifiziert werden (siehe Tabelle 8.54). Bezogen auf die Charaktereigenschaften werden Betreuten mit Non-Compliance höchst signifikant und mit einer mittleren Effektstärke (U = 1632.00, z = −5.539, p < .001, r = −.336) negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben (MRang = 203.35), während Betreuten mit Compliance positivere Charaktereigenschaft zugeschrieben werden (MRang = 127.30). Auch bezogen auf die Rolle als Hilfesuchende:r kann ein signifikanter Effekt festgestellt werden, U = 1265.00, z = −3.239, p = .001, r = −.246. Betreute mit Non-Compliance werden eher als schlechte Bedürftige dargestellt (MRang = 114.15), während Betreute mit Compliance eher als gute Bedürftige dargestellt werden (MRang = 82.61).

Tabelle 8.52 Testung auf Normalverteilung des Verhaltens der Betreuten nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.53 Mediane des Verhaltens der Betreuten in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

In der Zuschreibung zur Ursache für die Wohnungsnot kann ein weiterer signifikanter Effekt beobachtet werden, U = 412.00, z = ‒2.359, p = .018, r = ‒.200. Mit einem kleinen Effekt wird Betreuten mit Non-Compliance eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben (Mdn = 4.00), wohingegen Betreuten mit Compliance eher eine unverschuldete Wohnungsnot attestiert wird (Mdn = 3.00).

Tabelle 8.54 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Verhaltens der Betreuten in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Schließlich kann auch für die Bewertung der Veränderung der Lebenssituation während der Hilfe ein höchst signifikanter Effekt mit einer kleinen Effektstäke identifiziert werden U = 1241.00, z = −3.766, p < .001, r = −.293. Die Lebenssituation von Betreuten mit Non-Compliance (MRang = 109.13) verschlechtert sich eher, und die Lebenssituation von Betreuten mit Compliance (MRang = 77.19) verbessert sich eher.

Abbildung 8.37
figure 37

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Verhalten der Betreuten und der Kontrolle im Hilfesystem

Die Untersuchung der Korrelation von der Kontrolle mit der Compliance beziehungsweise Non-Compliance der Betreuten ergibt ebenfalls zwei signifikante Ergebnisse (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ2(1) = 7.30, p = .009, φ = ‒.162; Kontrolle durch Institutionen: χ2(1) = 6.91, p = .012, φ = ‒.158). Wie in der Abbildung 8.37 zu sehen, kann für Betreute mit Compliance eine geringere Kontrolle durch das Hilfesystem beobachtet werden als erwartet, während für Betreute ohne Compliance eine größere Kontrolle durch das Hilfesystem beobachtet werden kann als erwartet. Diese Ergebnisse decken sich mit dem gefundenen signifikanten Effekt bezogen auf die Kontrolle durch Institutionen. Abbildung 8.38 ist zu entnehmen, dass Betreute mit Non-Compliance mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt sind als erwartet und gleichzeitig Betreute mit Compliance weniger Kontrolle durch Institutionen als erwartet ausgesetzt sind. Demnach kann angenommen werden, dass Betreute mit Non-Compliance sowohl im Hilfesystem als auch durch Institutionen mehr Kontrolle ausgesetzt sind als Betreute mit Compliance.

Abbildung 8.38
figure 38

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten und der Kontrolle durch Institutionen

Alle signifikanten Ergebnisse der Berechnungen bezüglich der Hypothese H14 zeigen die gleiche Richtung auf: Betreute mit Non-Compliance sind mehr Stigmatisierung ausgesetzt als Betreute mit Compliance. Die Hypothese H14 kann demnach bestätigt werden.

H15. Betreute mit einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als Betreute mit einem geringen Bedarf.

Die Überprüfung der Hypothese erfolgt abermals mittels univariater Varianzanalyse. Die Voraussetzung der Varianzhomogenität ist gegeben ((1, 274) = 1.83, p = .177). Der Test identifiziert kein signifikantes Ergebnis ((1, 274) = .01, p = .933; η2 < .001), weshalb die Hypothese H15 nicht bestätigt werden kann. Erneut werden an dieser Stelle zusätzlich U-Tests sowie χ2-Tests gerechnet, um durch die Ausdifferenzierung der Abwertung in verschiedene Aspekte einer Stigmatisierung ein genaueres Bild zu erhalten.

Die Gleichheit der Verteilung, als Voraussetzung für den U-Test kann für keine der Variablen bestätigt werden (siehe Tabelle 8.55). Die Untersuchungen auf Unterschiede zwischen einem hohen Bedarf und einem geringen Bedarf hinsichtlich der verschiedene Aspekte von Stigmatisierung ergeben kein signifikantes Ergebnis (siehe Tabelle 8.56).

Tabelle 8.55 Testung auf Normalverteilung der Bedarfe der Betreuten nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.56 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede der Bedarfe der Betreuten in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Auch bei der Testung auf Korrelation zwischen dem Bedarf und den verschiedenen Aspekten einer Abwertung kann kein signifikantes Ergebnis beobachtet werden (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ2(1) = .90, p = .357, φ = ‒.057; Kontrolle durch Institutionen: χ2(1) = 1.21, p = .309, φ = ‒.066). Die postulierte Annahme einer größeren Abwertung von Betreuten mit einem hohen Bedarf findet keinerlei Bestätigung.

H16. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten.

Die Varianzhomogenität kann nicht bestätigt werden ((1, 272) = 3.72, p = .012). Dennoch wird die ANOVA aufgrund ihrer Robustheit durchgeführt und ausgewertet. Allerdings kann kein signifikanter Interaktionseffekt berichtet werden. Die psychische Gesundheit und das Geschlecht der Betreuten zeigen keine Interaktion ((1, 274) = 1.58, p = .209; η2 = .005). Neben der Untersuchung eines Gesamtwertes für die Stigmatisierung der Betreuten werden, in einem weiteren Schritt, auch die unterschiedlichen, ausdifferenzierten Aspekte von Stigmatisierung untersucht. Dafür werden sowohl U-Tests als auch χ2-Tests nur für Betreute mit psychischen Auffälligkeiten durchgeführt.

Tabelle 8.57 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.58 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

Die Ergebnisse der Testung der Voraussetzung auf Verteilungsgleichheit können der Tabelle 8.57 entnommen werden. Einzig die Variable der Ursachenzuschreibung für die Wohnsituation ergibt für Betreute mit psychischen Auffälligkeiten eine ähnliche Verteilung von männlichen und weiblichen Betreuten, weshalb die Mediane zur Bestimmung von Unterschieden herangezogen werden können (siehe Tabelle 8.58). Die anschließend durchgeführte Testung auf Unterschiede zwischen dem Geschlecht der Betreuten mittels U-Tests ergibt vier signifikante Ergebnisse (siehe Tabelle 8.59). Bezogen auf die Charaktereigenschaften kann ein höchst signifikanter Effekt mit einer mittleren Effektstärke identifiziert werden, U = 1836.00, z = ‒4.16, p < .001, r = ‒.336. Männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 92.68) werden höchst signifikant häufiger negative Charaktereigenschaften zugeschrieben, als weiblichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 65.10). Auch für die Variable Rolle als Hilfesuchende:r kann ein signifikantes Ergebnis berichtet werden, U = 774.50, z = ‒2.61, p = .009, r = ‒.265. Das Ergebnis weist dabei eine schwache Effektstärke auf. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 57.99) werden häufiger als schlechte Bedürftige, dagegen weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 43.70) eher als gute Bedürftige beschrieben.

Tabelle 8.59 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit Psychischen Auffälligkeiten in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Als drittes signifikantes Ergebnis kann der Effekt für die Ursachenzuschreibung für die Wohnsituation beobachtet werden, U = 419.00, z = ‒2.90, p = .004, r = ‒.333. Mit einer mittleren Effektstärke wird männlichen Betreuten mit einer psychischen Auffälligkeit (Mdn = 4.00) eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben und weiblichen Betreuten mit einer psychischen Auffälligkeit (Mdn = 2.00) eher eine unverschuldete Wohnungsnot attestiert

Schließlich kann auch für die Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation ein höchst signifikanter starker Effekt berichtet werden U = 416.00, z = ‒5.90, p < .001, r = ‒.587. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 72.10) werden im Hilfesystem eher als Täter, also selbstverantwortlich für die eigene Lebenssituation wahrgenommen, während weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 37.82) eher als Opfer, also unverantwortlich für die eigene Lebenssituation, wahrgenommen werden.

Abbildung 8.39
figure 39

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und der Kontrolle im Hilfesystem

Abbildung 8.40
figure 40

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und der Kontrolle durch Institutionen

Auch für die Untersuchung auf einen Zusammenhang zwischen der Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten können zwei signifikante Ergebnisse identifiziert werden (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ²(1) = 11.64, p = .001, φ = .274; Kontrolle durch Institutionen: χ²(1) = 6.49, p = .014, φ = .205). Für männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten wird jeweils mehr Kontrolle beobachtet als erwartet. Indessen kann für weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten jeweils weniger Kontrolle als erwartet beobachtet werden (siehe Abbildung 8.39 und 8.40).

Die postulierte Annahme einer stärkeren generellen Stigmatisierung von männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten kann nicht bestätigt werden. Bezogen auf die ausdifferenzierten Aspekte einer Stigmatisierung der Betreuten unterstützen allerdings insgesamt sechs signifikante Ergebnisse die formulierte Hypothese.

H17. Weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen.

Auch zur Überprüfung der Hypothese H17 muss eine ANOVA gerechnet werden. Die Testung der Voraussetzung ist erfolgreich, die Varianzen sind homogen ((1, 272) = 1.92, p = .126). Erneut kann jedoch kein signifikanter Interaktionseffekt identifiziert werden. Der Drogen-/Suchtmittelkonsum und das Geschlecht zeigen keine signifikante Interaktion bezüglich einer allgemeinen Stigmatisierung ((1, 272) = .30, p = .585; η2 = .001).

Für die Berechnungen mittels U-Tests und χ2-Tests werden nur die Daten für Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum herangezogen. Die gleiche Verteilung des Geschlechts, als Voraussetzung für den U-Test und die Betrachtung der Mediane, kann nur für die Variable Ursachenzuschreibung für Wohnsituation bestätigt werden (siehe Tabelle 8.60 und 8.61). Die Berechnungen des U-Tests identifizieren zwei signifikante Ergebnisse (siehe Tabelle 8.62). Für die Charaktereigenschaft der Betreuten kann ein signifikanter Effekt mit einer kleinen Effektstärke beobachtet werden, U = 1033.00, z = ‒3.15, p = .002, r = ‒.290. Männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 65.92) werden signifikant negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben, während weiblichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum signifikant positivere Charaktereigenschaften (MRang = 46.49) zugeschrieben werden. Bezogen auf die Abhängige Variable Ursachenzuschreibung Lebenssituation kann darüber hinaus ein höchst signifikanter mittlerer Effekt festgestellt werden, U = 363.00, z = ‒3.88, p < .001, r = ‒.437. Auch hier zeigt sich, dass männliche Betreute mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 47.24) eher als Täter, also selbstverantwortlich für die eigene Lebenssituation, wahrgenommen werden, wohingegen weibliche Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum (MRang = 27.52) eher als Opfer betrachtet werden.

Tabelle 8.60 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.61 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

Die Untersuchung auf einen Zusammenhang zwischen Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum ergibt keine signifikanten Ergebnisse.

Tabelle 8.62 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Insgesamt kann die Hypothese H17 demnach nicht bestätigt werden. Die spezifische Betrachtung der ausdifferenzierten Aspekte einer Stigmatisierung gibt allerdings den Hinweis, dass männliche Betreute mit Drogen-Suchtmittelkonsum negativer bewertet werden, als weibliche Personen mit Drogen-/Suchtmittelkonsum.

H18. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance.

Die Testung des postulierten Interaktionseffekts bezüglich des Gesamtscores Stigmatisierung erfolgt mittels univariater Varianzanalyse. Deren Voraussetzung der Varianzhomogenität wird bestätigt ((6, 268) = 2.00, p = .065). Das beobachtete Ergebnis kann die Hypothese nicht unterstützen, da für die Drei-Wege-Interaktion keine Signifikanz beobachtet werden kann ((1, 268) = 0.87, p = .353, η2 = .006). Der detaillierte Blick auf die Hypothese erfolgt wie üblich über die Untersuchung der vermuteten Stigmatisierung von männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance, ausdifferenziert in die verschiedenen Aspekte. Dafür werden nur die Hilfepläne betrachtet, bei denen Betreute eine psychische Auffälligkeit sowie eine Non-Compliance aufweisen. Als Voraussetzung für den U-Test müssen die Verteilungen auf Gleichheit überprüft werden (siehe Tabelle 8.63). Die Variablen Veränderung Lebenssituation (K-S: < .05) und Prognose (unzureichende Größe der Verteilung) können keine annähernd gleiche Verteilung bestätigen. Bei einem signifikanten Ergebnis können die Mediane zur Erfassung der Unterschiede betrachtet werden (siehe Tabelle 8.64). Die Ergebnisse der Durchführung der U-Tests können der Tabelle 8.65 entnommen werden. Insgesamt kann ein signifikantes Ergebnis mit einer starken Effektstärke für die Ursachenzuschreibung zur Lebenssituation identifiziert werden U = 5.00, z = ‒2.95, p = .004, r = ‒.737. Wie in der Hypothese H18 formuliert, werden männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance (Mdn = 3.50) signifikant häufiger und mit einem äußerst starken Effekt als Täter, also als selbstverantwortlich für die eigene Lebenssituation beschrieben werden, wohingegen weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance (Mdn = 2.00) eher als Opfer und dementsprechend als unverantwortlich für die eigene Lebenssituation beschrieben werden.

Tabelle 8.63 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.64 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.65 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Die Berechnungen der Korrelation zwischen dem Geschlecht von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance und der Kontrolle kann aufgrund der unzureichenden Zellgröße der erwarteten Häufigkeiten (n < 5) nicht ausgewertet werden.

Insgesamt kann die Hypothese H18 nicht unterstützt werden. Jedoch zeigt die genauere Betrachtung der einzelnen ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten, dass, wie in der Hypothese H18 formuliert, männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance eher abgewertet werden als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance.

H19. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einem hohen Bedarf.

Die zuerst durchgeführte Berechnung der ANOVA erfüllt die Voraussetzung der Varianzhomogenität nicht ((7, 268) = 2.73, p = .009). Aufgrund der Robustheit der univariaten Varianzanalyse wird nichtsdestotrotz die Berechnung der ANOVA durchgeführt. Der postulierte Interaktionseffekt kann dabei nicht nachgewiesen werden ((1, 268) = 2.20, p = .139, η2 = .008). Für die Berechnung der U-Tests und χ2-Tests werden daraufhin nur die Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf betrachtet. Auch für die Berechnung der U-Tests muss die Voraussetzung der gleichen Verteilung der Geschlechter überprüft werden. Der Tabelle 8.66 können die Ergebnisse der z-standardisierten Variablen mittels Kolmogorov-Smirnov-Test entnommen werden. Die Variablen Rolle als Hilfesuchende:r sowie Ursachenzuschreibung erfüllen dabei die Voraussetzung der gleichen Verteilung, weshalb bei der Beurteilung der Verteilung die Mediane betrachtet werden können (siehe Tabelle 8.67). Mittels des U-Tests können vier signifikante Ergebnisse identifiziert werden (siehe Tabelle 8.68). Bezogen auf die zugeschriebene Charaktereigenschaft kann ein höchst signifikanter mittlerer Effekt beobachtet werden, U = 959.00, z = ‒3.94, p < .001, r = ‒.369. Männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf (MRang = 70.43) wird signifikant häufiger eine negativere Charaktereigenschaft zugeschrieben als weiblichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf (MRang = 47.75).

Tabelle 8.66 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Hilfebedarf nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.67 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und hohem Hilfebedarf in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung

Für die Abhängige Variable der Bewertung der Rolle als Hilfesuchende:r kann ein weiterer signifikanter Effekt identifiziert werden, U = 467.00, z = ‒2.58, p = .010, r = ‒.296. Das signifikante Ergebnis weist eine schwache Effektstärke auf. Aufgrund der Erfüllung der Voraussetzung können zur Feststellung von Unterschieden zwischen dem Geschlecht der Betreuten die Mediane hinzugezogen werden. Diese weisen jedoch keinen Unterschied auf (Mdn = 2). Aufgrund der beobachteten unterschiedlichen Ränge kann allerdings angenommen werden, dass männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf (MRang = 45.93) eher als schlechte Bedürftige beschrieben werden, während weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten (MRang = 33.65) eher als gute Bedürftige beschrieben werden. Ein weiterer signifikanter Effekt, mit einer mittleren Stärke, kann für die Ursachenzuschreibung der Wohnungsnot festgestellt werden, U = 202.00, z = ‒2.53, p = .012, r = ‒.347. Erneut kann über die Betrachtung der Mediane kein Unterschied zwischen den Geschlechtern festgestellt werden. Bei der Betrachtung der mittleren Ränge weist allerdings auch dieses Ergebnis auf eine größere Abwertung von männlichen Betreuten hin; denn die Wohnungsnot von männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und hohem Bedarf (MRang = 33.38) wird häufiger als selbstverschuldet dargestellt, wohingegen die Wohnungsnot von weiblichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohem Bedarf (MRang = 22.81) eher als unverschuldet beschrieben wird.

Tabelle 8.68 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Schließlich kann ein vierter, höchst signifikanter und starker Effekt für die Variable Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation festgestellt werden, U = 254.50, z = ‒4.59, p < .001, r = ‒.534. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf werden eher als Täter beschrieben, also selbstverantwortlich für die eigene Lebenssituation (MRang = 51.41), wohingegen weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf eher als Opfer beschrieben werden, sprich als unverschuldet an der eigenen Lebenssituation (MRang = 29.03).

Auch für die Überprüfung des Zusammenhangs zwischen der Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf können zwei signifikante Ergebnisse identifiziert werden (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ²(1) = 11.63, p = .001, φ = .318; Kontrolle durch Institutionen: χ²(1) = 7.26, p = .008, φ = .251). Für männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf wird jeweils mehr Kontrolle (sowohl innerhalb der Hilfen als auch durch Institutionen) als erwartet beobachtet, während für weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf weniger Kontrolle als erwartet beobachtet werden kann (siehe Abbildung 8.41 und 8.42)

Abbildung 8.41
figure 41

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten sowie einem hohen Hilfebedarf und der Kontrolle innerhalb der Hilfen

Abbildung 8.42
figure 42

Beobachtete und erwartete Häufigkeiten des signifikanten Zusammenhangs zwischen dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten sowie einem hohen Hilfebedarf und der Kontrolle durch Institutionen

Die aufgestellte Hypothese H19 kann nicht unterstützt werden. Es kann keine allgemein größere Stigmatisierung von männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf festgestellt werden. Dennoch zeigen die Untersuchungen der jeweils ausdifferenzierten Aspekte einer Stigmatisierung, dass männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf negativer bewertet werden als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten und einem hohen Bedarf.

H20. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

Aufgrund der zu geringen Größe der Stichprobe kann die postulierte Vier-Wege-Interaktion der Hypothese nicht mit einer univariaten Varianzanalyse berechnet werden. Zur Überprüfung der Hypothese werden nur die Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten einer Non-Compliance sowie einem hohen Bedarf betrachtet. Die Untersuchung erfolgt dabei mittels U-Tests sowie χ2-Tests für die verschiedenen ausdifferenzierten Aspekte einer Stigmatisierung der Betreuten. Die Ergebnisse der Überprüfung der Voraussetzung für die U-Tests können der Tabelle 8.69 entnommen werden. Bezogen auf das Geschlecht derBetreuten erfüllen alle Variablen, mit Ausnahme der Verteilung des Geschlechts für die Variable Prognose über den weiteren Hilfeverlauf, die Voraussetzung auf eine gleiche Verteilung. Die Prognose über den weiteren Verlauf der Hilfen zeigt eine ungenügende Größe zur Erfassung der Verteilung. Die deswegen zu beachtenden Mediane zur Erfassung möglicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern der Betreuten können der Tabelle 8.70 entnommen werden. Der Tabelle 8.71 können die Resultate der verschiedenen U-Tests entnommen werden. Nur für die Abhängige Variable der Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation kann ein signifikanter Effekt identifiziert werden. Dieses Ergebnis weist eine starke Effektstärke auf, U = 4.50, z = ‒2.47, p = .015, r = ‒.685. Das Ergebnis unterstützt die formulierte Annahme der Hypothese H20: Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten, Non-Compliance und einem hohen Bedarf (Mdn = 3) werden durch das Hilfesystem eher als Täter, also als selbstverantwortlich für die Lebenssituation beschrieben, während weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten, Non-Compliance und einem hohen Bedarf (Mdn = 2) eher als Opfer und somit als unverschuldet an der Lebenssituation dargestellt werden.

Tabelle 8.69 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, einem Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.70 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, einem Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.71 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Die Berechnungen der Korrelation der Kontrolle mit dem Geschlecht der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, Non-Compliance und einem hohen Bedarf können aufgrund zu geringer erwarteter Häufigkeiten (n < 5) nicht ausgewertet werden.

Die Hypothese H20 kann nur für die Ursachenzuschreibung der Lebenssituation, also die Beschreibung der Betreuten entweder als Täter oder Opfer, bestätigt werden. Für die anderen Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten kann kein signifikantes Ergebnis identifiziert werden. Die Hypothese H20 kann demnach partiell bestätigt werden.

H21. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance.

Die Voraussetzung der Varianzhomogenität für die Berechnung der univariaten Varianzanalyse kann bestätigt werden ((7, 268) = 1.19, p = .311). Die Interaktion zwischen dem Geschlecht der Betreuten, der psychischen Auffälligkeit und der Compliance zeigt keinen signifikanten Effekt ((1, 268) = .05, p = .825; η2 < .001). In einem weiteren Schritt wird die Hypothese auf die einzelnen ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten überprüft. Die Voraussetzung der Gleichheit der Verteilung für die U-Tests wird mittels Kolmogorov-Smirnov-Test überprüft. Dessen Ergebnisse können der Tabelle 8.72 entnommen werden. Für die beiden Abhängigen Variablen Charaktereigenschaft sowie Rolle Hilfesuchende:r kann die Bestätigung der Voraussetzung berichtet werden. Für die anderen Variablen besteht keine ausreichende Größe zur Erfassung der Verteilung. Die zur Bestimmung von Unterschieden heranzuziehenden Mediane sind der Tabelle 8.73 zu entnehmen. Die Überprüfung auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern mittels der U-Tests ergibt keine signifikanten Ergebnisse (siehe Tabelle 8.74). Die Berechnung der Korrelationen zwischen dem Geschlecht der Betreuten und den Abhängigen Variablen mittels χ2-Tests kann aufgrund der unzureichenden Größe der erwarteten Häufigkeiten nicht ausgewertet werden. Insgesamt findet sich somit keine Bestätigung der Hypothese H21.

Tabelle 8.72 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und einem Non-Compliance nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.73 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und einem Non-Compliance in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.74 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und Non-Compliance in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

H22. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einem hohen Bedarf.

Zur Überprüfung der Hypothese hinsichtlich einer allgemeinen Stigmatisierung mittels eines Gesamtscores für Stigmatisierung wird keine ANOVA gerechnet. Die Voraussetzung der Normalverteilung kann bei einem n = 14 nicht garantiert werden. Darüber hinaus erfolgt die detaillierte Überprüfung der Hypothese hinsichtlich der einzelnen Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten. Die Voraussetzung der Gleichheit der Verteilung für den U-Test wird mittels Kolmogorov-Smirnov-Test überprüft (K-S: p > .05). Die Ergebnisse der Verteilung vom Geschlecht der Betreuten können der Tabelle 8.75 entnommen werden. Wird eine gleiche Verteilung bestätigt, können zur Bestimmung möglicher Unterschiede die Mediane betrachtet werden (siehe Tabelle 8.76). Die Ergebnisse der U-Tests wiederum sind der Tabelle 8.77 abgebildet. Insgesamt können zwei signifikante Ergebnisse berichtet werden. Für die dargestellten Charaktereigenschaften der Betreuten wird ein Ergebnis mit einer mittleren Effektstärke beobachtet, U = 478.00, z = ‒2.89, p = .004, r = ‒.315. Männliche Betreute mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf (MRang = 47.26) werden eher mit einer negativen Charaktereigenschaft beschrieben und weibliche Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf (MRang = 31.88) eher mit einer positiven Charaktereigenschaft. Ein, in Bezug auf die Richtung der Bewertung, ähnliches Ergebnis kann für die Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation identifiziert werden, U = 206.50, z = ‒3.00, p = .003, r = ‒.394. Auch hier werden männliche Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf (MRang = 34.07) eher negativ, als Täter, also als selbstverantwortlich für die Lebenssituation beschrieben, während weibliche Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf (MRang = 20.83) eher positiv, als Opfer und somit als unverschuldet an der Lebenssituation dargestellt werden.

Tabelle 8.75 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und einem hohen Hilfebedarf nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.76 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.77 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf Stigmatisierung. Mittels asymptotischer Signifikanz ermittelte höchst signifikante Ergebnisse (p < .001) werden mit ** und lediglich signifikante Ergebnisse (p < .05) mit * dargestellt. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

Die Ergebnisse der Untersuchung der Korrelationen zwischen dem Geschlecht der Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf, bezogen auf die, im Hilfesystem oder durch Institutionen ausgesetzte Kontrolle weisen keine signifikanten Ergebnisse auf (Kontrolle innerhalb der Hilfen: χ2(1) = 1.79, p = .246, φ = .144 Kontrolle durch Institutionen: χ2(1) = .58, p = .463, φ = .082).

Die formulierte Annahme einer Abwertung von männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf bezogen auf einen Gesamtscore Stigmatisierung kann nicht bestätigt werden. Die signifikanten Ergebnisse der ausführlichen Betrachtung mittels der ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung unterstützen die Hypothese H22 jedoch.

H23. Männliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute mit Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

Aufgrund der postulierten Vier-Wege-Interaktion wird keine univariante Varianzanalyse zur Überprüfung der Hypothese berechnet. Um die Hypothese zu überprüfen, werden zum einen nur die Fälle von Personen mit einem Drogen-/Suchtmittelkonsum, einer gezeigten Non-Compliance sowie einem hohen Bedarf untersucht und zum anderen die einzelnen ausdifferenzierten Aspekte der Stigmatisierung der Betreuten. Ob die Voraussetzung der gleichen Verteilung für die U-Tests bestätigt wird, kann der Tabelle 8.78 entnommen werden. Die gleiche Verteilung des Geschlechts der Betreuten für die Abhängigen Variablen Charaktereigenschaft und Rolle Hilfesuchende:r kann bestätigt werden. Für alle anderen Fälle kann die Verteilung, aufgrund der ungenügenden Größe respektive Verteilung des Geschlechts nicht berechnet werden. Die aufgrund der gleichen Verteilung zu betrachtenden Mediane der Variablen zur Bewertung von mittels des U-Tests erfassten Unterschieden sind in der Tabelle 8.79 abgebildet. Die Überprüfung auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern mittels U-Tests liefert keine signifikanten Ergebnisse (siehe Tabelle 8.80). Aufgrund der zu geringen Größe der erwarteten Häufigkeiten (n < 5) können auch die Überprüfungen auf Korrelationen zwischen der Kontrolle und dem Geschlecht der Betreuten mittels χ2-Tests nicht ausgewertet werden. Die postulierte Hypothese findet, auch auf der Ebene der einzelnen ausdifferenzierten Aspekte einer Stigmatisierung der Betreuten, keinerlei Bestätigung.

Tabelle 8.78 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.79 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.80 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

H24. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten, Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf werden im Hilfesystem mehr stigmatisiert als weibliche Betreute Personen mit psychischen Auffälligkeiten, Abhängigkeitserkrankungen sowie einer hohen Non-Compliance und einem hohen Bedarf.

Hypothese H24 besteht aus einer komplexen Fünf-Wege-Interaktion, die aufgrund der bereits dargestellten vorgenommenen Beschränkung univariater Varianzanalysen (maximal Drei-Wege-Interaktionen) nur durch die Testung der einzelnen Abhängigen Variablen der Stigmatisierung der Betreuten sowie einer spezifischen Fallauswahl überprüft werden kann. Für alle Fälle mit Betreuten mit einer psychischen Auffälligkeit, einem Drogen-/Suchtmittelkonsum, einer Non-Compliance sowie einem hohen Bedarf kann nur für die Variablen Charaktereigenschaft und Rolle Hilfesuchende:r die Voraussetzung der gleichen Verteilung überprüft werden (siehe Tabelle 8.81). Alle weiteren Abhängigen Variablen weisen eine zu geringe Verteilung des Geschlechts auf. Die Mediane der Geschlechter für diese Variablen können der Tabelle 8.82 entnommen werden. Sowohl die Überprüfung auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern mittels U-Tests (siehe Tabelle 8.83), als auch die Untersuchung auf eine Korrelation zwischen Geschlecht und der ausgesetzten Kontrolle der Betreuten mittels χ2-Test ergibt keine signifikanten Ergebnisse. Für die Hypothese H24 finden sich dementsprechend keine Beweise.

Tabelle 8.81 Testung auf Normalverteilung des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf nach Kolmogoroff-Smirnov für die jeweiligen z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung. Die Verletzung der Normalverteilung ist durch ** (p < .001) und * (p < .05) gekennzeichnet
Tabelle 8.82 Mediane des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten, Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf die z-standardisierten Subskalen von Stigmatisierung
Tabelle 8.83 Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests bezüglich möglicher Gruppenunterschiede des Geschlechts der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten Suchtmittelkonsum, Non-Compliance und einem hohen Hilfebedarf in Bezug auf Stigmatisierung. Signifikante Ergebnisse mittels des exakten Tests werden mit ++ (p < .001) respektive + (p < .05) visualisiert. Eine Normalverteilung der zu vergleichenden Gruppen ist mit abgebildet

8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation

Das sequenziell-explorative Mixed-Methods-Design der Dokumentenanalyse ist nur ein Teil des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design der Analyse des Hilfesystems – die wiederum auch nur ein Bestandteil der vorliegenden Untersuchung ist, die insgesamt als Multi-Methoden-Untersuchung konzipiert wurde. Deshalb werden zum einen an dieser Stelle nur die ersten Ergebnisse der als sequentiell-explorativen Mixed-Methods-Design angelegten Dokumentenanalyse berichtet. Dabei liegt der Fokus auf dem zweiten Schritt der Dokumentenanalyse, der quantitativ-inhaltsanalytischen Codebuchuntersuchung und den Ergebnissen deren deskriptiver, explorativer und inferenzstatistischer Auswertung. Zum anderen werden sich aus diesen Ergebnissen ergebende Fragen formuliert, die im zweiten Teil der Mehrphasen-Mixed-Methods-Untersuchung des Hilfesystems, der Analyse der leitfadengestützten Interviews, wieder aufgegriffen und, wenn möglich, beantwortet werden (siehe Abschnitt 8.4 Leitfadeninterviews). Die Gesamt-Ergebnisse des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design, sowohl mit den Ergebnissen der Dokumentenanalyse(n) als auch deren Kontextualisierung durch die Leitfadeninterviews, werden abschließend gemeinsam dargestellt (siehe Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation) und diskutiert (siehe Abschnitt 8.5 Diskussion).

Die Zusammenfassung der Ergebnisse im weiteren Verlauf dieses Kapitels gliedert sich in eine kurze Erläuterung der Stichprobe sowie die Effekte der Kategorien Geschlecht (der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen) und Gesundheit (psychische Auffälligkeiten und Drogen-/Suchtmittelkonsum) bezogen auf die Stigmatisierung und den Umgang des Hilfesystems. Des Weiteren werden auch die Effekte der Bedarfe und des Verhaltens der Betreuten auf die Stigmatisierung des Hilfesystems dargestellt und schließlich die Effekte der Interaktionen zwischen den Kategorien sowie den Bedarfen und dem Verhalten der Betreuten.

Darüber hinaus werden, die Zusammenfassung abschließend und dem zusätzlichen Ziel der Dokumentenanalyse – der Untersuchung weiterer Kategorien – nachkommend, die Effekte der Kategorien Herkunft, Alter und Unterbringungsform dargestellt. Als Abschluss des Kapitels werden die sich aus den Ergebnissen ergebenden Fragen zusammenfassend dargestellt.

Der konzipierte systematische Auswahlprozess der Quotenstichprobe zur gleichmäßigen Erfassung der für die vorliegende Untersuchung relevanten Kategorien (siehe Abschnitt 8.3.2 Vorgehen und das Unterkapitel Datenerhebung) war nur teilweise erfolgreich. Einzig der Geschlechteranteil der Betreuten weist annähernd eine gleiche Verteilung auf (W = 52,7 %; M = 47,5 %). Für die Kategorie Herkunft mit seiner dichotomen Aufteilung zwischen Stadt respektive kreisfreier Stadt und Land beziehungsweise kreisangehörige Stadt sowie der Betreuungsart (stationär vs. ambulant) kann ein deutliches Ungleichgewicht identifiziert werden (~ 75 % vs. ~ 25 %), was über eine zusätzliche, deutliche ungleiche Verteilung des Geschlechts innerhalb der Kategorien verstärkt wird (~65 % vs. ~ 35 %). Ob diese beobachtete Verteilung der Stichprobe – in Städten eher eine stationäre Betreuung von Männern und auf dem Land eher eine ambulante Betreuung von Frauen – auch auf die Gesamtpopulation der Betreuten in Deutschland übertragen werden kann oder diese Zusammensetzung ein zufälliges Spezifikum der erhobenen Stichprobe ist, kann nicht geklärt werden.

Des Weiteren weisen auch die Kategorien Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen sowie Alter der Betreuten und Hilfeplanersteller:innen eine starke Ungleichverteilung auf. Als Konsequenz dieser Ungleichverteilung kann die Kategorie Alter nicht weitergehend analysiert werden. Die Ergebnisse der anderen Kategorien müssen im weiteren Verlauf mit dem Wissen ihrer ungleichen Verteilung interpretiert werden. Insbesondere muss dabei auf die Geschlechterkongruenz respektive –inkongruenz zwischen den Betreuten und den Hilfeplanersteller:innen geachtet werde. Lediglich 4 Hilfepläne von männlichen Hilfeplanerstellern sind für weibliche Betreute erstellt worden.

Die für die vorliegende Untersuchung bedeutenden Kategorien der Gesundheit – mit der Erfassung psychischer Auffälligkeiten und Drogen-/Suchtmittelkonsum – hingegen zeigen eine sehr ausgeglichene Verteilung, wodurch die Aussagekraft der daraus durchgeführten Untersuchungen deutlich an Gewicht gewinnt.

Darüber hinaus nimmt die Stichprobe über die Verteilung der Bedarfe, des Verhaltens sowie der Bewertung eine deutliche Kontur an. Die Stichprobe zeichnet sich demnach dadurch aus,

  • dass die Betreuten einen großen Hilfebedarf haben,

  • dass die Betreuten meistens Compliance zeigen und

  • dass die Betreuten zum Großteil positiv durch das Hilfesystem bewertet werden.

Der hohe Unterstützungsbedarf der Betreuten zeigt, dass die Betreuten, die das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen, eine hoch vulnerable Personengruppe mit wenig Ressourcen sind. Da die Hilfepläne jedoch zur Bewilligung der Hilfen dienen, müssen die Befunde mit Vorsicht interpretiert werden. Die Hervorhebung von Bedarfen muss auch im Kontext einer möglichen Ablehnung eines Hilfebedarfs betrachtet werden. Der hohe Anteil des Compliances kann durch die Freiwilligkeit der Hilfe erklärt werden. Zum einen benötigt es die eigenständige Motivation der hilfsbedürftigen Personen, die Hilfen aufzusuchen, zu beantragen und Veränderungen aktiv zu gestalten, auf der anderen Seite scheitern Personen, die diese eigene Motivation und Selbstständigkeit nicht aufbringen wollen oder können möglicherweise an der Hilfebeantragung. Menschen in Wohnungsnot mit einem großen Non-Compliance können demnach, trotz eines großen Hilfebedarfs, durch das Hilfesystem nicht adäquat versorgt werden. Ausgehend von der Literatur zur Bedeutung der Geschlechterrolle (siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot) liegt die Vermutung nahe, dass insbesondere männliche Personen in Wohnungsnot Hilfen nicht aufsuchen oder annehmen können, mit der Konsequenz einer größeren Verelendung dieser Personen (zum Geschlechterunterschied der Stichprobe bezüglich des Verhaltens siehe den weiteren Verlauf dieses Kapitels).

Die zumeist positive Bewertung der Betreuten durch die Hilfeplanersteller:innen sowie die sehr selten aufkommende ausschließlich negative Bewertung zeigt, dass das Hilfesystem den Betreuten in der Regel wohlwollend zugewandt ist. Dennoch können auch Stigmatisierungen der Betreuten identifiziert werden. Inwiefern signifikante Unterschiede in der Bewertung, bedingt durch die Bedarfe, das Verhalten oder die verschiedenen Kategorien, identifiziert werden können, wird im weiteren Verlauf des Kapitels dargestellt.

Die Untersuchung der Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit auf die Stigmatisierung und die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot ist das Kernelement der vorliegenden Arbeit. Ziel der Dokumentenanalyse ist die Analyse der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot durch das Hilfesystem und einer dadurch zu schlussfolgernden Auswirkung auf die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot (siehe auch Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot). Die Zusammenfassung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse erfolgt deshalb strukturiert nach den signifikanten Effekten der verschiedenen Kategorien.

Für die Kategorie Geschlecht (der Betreuten) können folgende signifikante Unterschiede identifiziert werden:

  • weibliche Betreute haben eher psychische Auffälligkeiten

  • männliche Betreute zeigen eher einen Drogen-/Suchtmittelkonsum

  • weibliche Betreute zeigen einen größeren Hilfebedarf in den Bereichen Wohnen und Gesundheit

  • männliche Betreute zeigen insgesamt eher Non-Compliance

  • männliche Betreute zeigen explizit in den Bereichen Hinführung zum Arbeitsmarkt, Hinführung zu einem eigenständigen Leben und Finanzen eher Non-Compliance

  • männliche Betreute werden insgesamt negativer bewertet

  • männliche/n Betreute werden/wird explizit

    1. negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben

    2. durch das Hilfesystem stärker kontrolliert

    3. durch Institutionen stärker kontrolliert

    4. eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben

    5. eher als Täter, also selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben darüber hinaus

    6. eher eine Verschlechterung der Lebenssituation während der Hilfen zugeschrieben.

Das Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen produziert die nachgehenden signifikanten Unterschiede:

  • weibliche Hilfeplanerstellerinnen stellen insgesamt eher mehr Bedarfe fest

  • weibliche Hilfeplanerstellerinnen identifizieren dabei im Bereich Gesundheit mehr Bedarfe

  • männliche Hilfeplanersteller bewerten die Betreuten insgesamt negativer

  • männliche Hilfeplanersteller

    1. formulieren häufiger, dass Betreute Kontrolle innerhalb der Hilfen ausgesetzt sind

    2. beschreiben Betreute eher als selbstverschuldet an der eigenen Wohnungsnot

    3. stellen die Betreuten eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation, dar

Zusätzlich zu diesen Ergebnissen bezogen auf das Geschlecht wurde auch das Zusammenwirken zwischen dem Geschlecht der Betreuten und dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen hinsichtlich der Stigmatisierung der Betreuten durch die Hilfeplanersteller:innen überprüft (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und das Unterkapitel Hypothesen). Wie bereits dargestellt sind die Ergebnisse der Geschlechterkongruenz respektive –inkongruenz aufgrund der ungleichen Verteilung nur bedingt aussagefähig. Demnach kann die Frage, ob männliche Hilfeplanersteller männliche Betreute negativer bewerten als weibliche Betreute, nicht geklärt werden. Es zeigt sich lediglich, dass weibliche Hilfeplanerstellerinnen männliche/n Betreute/n

  • insgesamt negativer bewerten

  • negativere Charaktereigenschaften zuschreiben

  • eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot unterstellen

  • eher als Täter darstellen

Ferner berichten weibliche Hilfeplanerstellerinnen bei männlichen Betreuten

  • häufiger von Kontrolle durch das Hilfesystem

  • häufiger von Kontrolle durch Institutionen

Die deutliche Mehrheit der gefundenen signifikanten Effekte wird durch die in der Literatur (siehe insbesondere Kapitel 4 Geschlecht als Kategorien im Kontext Wohnungsnot) dargestellte Bedeutung von Geschlecht sowie durch die formulierten Hypothesen unterstützt.

Die geschlechtsspezifische Prävalenz psychischer Auffälligkeiten sowie von Drogen-/Suchtmittelkonsum (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) kann durch die vorliegende Untersuchung bestätigt werden. Die weiblichen Betreuten der Stichprobe zeigen mehr psychische Auffälligkeiten als männlichen Betreuten, während diese mehr Drogen-/Suchtmittelkonsum aufweisen.

Dass weibliche Betreute mehr Ziele und Maßnahmen in den Bereichen Wohnen und Gesundheit aufweisen, kann mit der bereits dargestellten Einteilung in einen öffentlichen männlichen Raum und einen privaten weiblichen Raum (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) sowie dem gesundheitsbewussteren Verhalten von Frauen erklärt werden (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit). Orientieren sich die Betreuten an der Unterscheidung zwischen öffentlichen männlichen Raum und privaten weiblichen Raum, ist – so kann angenommen werden – der eigene Wohnraum für Männer trotz der akuten Wohnungsnot weniger bedeutsam als für Frauen. Ob der Unterschied auch durch die Verteilung der Stichprobe zwischen der zumeist ambulanten Betreuung in eigenem Wohnraum für weibliche Betreute und der stationären Betreuung für männliche Betreute ohne eigene Wohnraum erklärt werden kann, bleibt unklar. Ein Einfluss der Betreuungsart muss aber angenommen werden. Der Geschlechterunterschied im Bereich der Gesundheit weist auf die Bedeutung des Zusammenwirkens der Kategorien Geschlecht und Gesundheit hin. Ob der identifizierte höhere Bedarf weiblicher Betreuten im Lebensbereich Gesundheit jedoch auf einen Geschlechterunterschied im Gesundheitsstatus oder einem unterschiedlichen Umgang mit Gesundheit beruht, kann nicht geklärt werden. Drüber hinaus bleibt ebenfalls unklar, welchen Einfluss das Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen bei der Formulierung von Zielen und Maßnahmen im Bereich Gesundheit hat. Möglich ist, dass Betreute mit einem objektiv feststellbaren großem Bedarf im Bereich Gesundheit keinen Hilfebedarf sehen oder formulieren können und/oder auch keine Unterstützung in diesem Bereich annehmen wollen.

Daie höhere Non-Compliance von männlichen Betreuten deckt sich mit den, in Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot, vorgestellten Forschungsergebnissen: Männer (in Wohnungsnot) haben Probleme, Hilfen aufzusuchen und anzunehmen. Interessant ist, dass männliche Betreute explizit in den Bereichen Non-Compliance aufweisen, die insbesondere für die männliche Geschlechtsrollenidentität eine große Bedeutung aufweisen: Arbeit, Finanzen sowie eine eigenständige Lebensführung. Inwiefern die geschlechterkonforme Rollen-Erwartung der Hilfeplanersteller:innen an männliche Betreute zu einer Identifizierung (angeblichen) Non-Compliances führt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

Die negativere Bewertung von männlichen Betreuten durch das Hilfesystem wurde bereits in der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung postuliert und mündete in der Formulierung der Hypothesen. Zugleich stehen die verschiedenen Befunde einer Stigmatisierung von männlichen Betreuten im Widerspruch zu den Ergebnissen des Experiments und der darin identifizierten öffentlichen Stigmatisierung von weiblichen Personen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 7.4 Diskussion)Footnote 8. Dieser Widerspruch wird in der abschließenden und umfassenden Darstellung der Ergebnisse (siehe Kapitel 9 Diskussion) als ein zentraler Befund aufgegriffen und eingeordnet werden müssen.

Inwiefern die jeweils aktive Konstruktion der eigenen Geschlechtsrollenidentität – beispielsweise als aktiver Mann oder eher passive Frau – zu einer Bewertung – beispielsweise als Täter oder Opfer – führt, kann nicht abschließend geklärt werden. Eine Auswirkung wird jedoch angenommen, weil die Hilfeplanersteller:innen auch auf die Erzählung und Bewertung der Betreuten angewiesen sind, für die bereits eine geschlechtsspezifische Deutung der Ursachen für eine Wohnungsnot beschrieben wurde (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext Wohnungsnot). Die Relevanz einer subjektiven und geschlechtsspezifischen Deutung und Bewertung des eigenen Verhaltens für die Stigmatisierung des Hilfesystems wird als offene Frage in die Auswertung der leitfadengestützten Interviews und als Diskussionspunkt in die abschließende Diskussion der Befunde (siehe Abschnitt 8.5) mitgenommen.

Die Stigmatisierung der männlichen Betreuten verläuft indes eher subtil. So kann kein häufigerer vorzeitiger Abbruch der Hilfen beobachtet werden, ferner kann keine schlechtere Prognose oder ein negativerer Sprachgebrauch gegenüber männlichen Betreuten identifiziert werden. Allerdings können zum einen für die Variable des negativen Sprachgebrauchs gegenüber den Betreuten für alle 277 Hilfepläne insgesamt nur drei Tendenzen einer abwertenden Sprache identifiziert werden (siehe die Deskriptive Statistik im Abschnitt 8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung) zum anderen muss die Bewertung der Hilfen auch vor dem Hintergrund der Finanzierung der Leistungsträger durch den Kostenträger erfolgen. Die eigenen existenzsicherenden Maßnahmen der Leistungsträger sind im Kontext des Hilfesystems ein häufig wiederkehrendes Element (siehe Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot). Werden Hilfen schnell abgebrochen, weil die Betreuten beispielsweise zu wenig Eigenantrieb für ein hilfreiches Betreuungssetting mitbringen, entfallen zugleich die Einnahmen für den Leistungsträger. Die Tatsache, dass ein signifikanter Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Betreuten in Bezug auf die Veränderung der Lebenssituation während der Hilfen identifiziert werden kann, spricht für eine inadäquate Versorgung von männlichen Betreuten.

Bedingt durch die Verteilung des Geschlechts der Betreuten aufgeteilt nach dem Geschlecht der Hilfeplanersteller:innen müssen die beobachteten signifikanten Effekte des Geschlechts der Hilfeplanersteller:innen kritisch überprüft werden. Die identifizierten Ergebnisse könnten auch auf der Tatsache beruhen, dass männliche Hilfeplanersteller fast ausschließlich Hilfepläne über männliche Betreute verfasst haben. Dadurch würden die Effekte eher auf einen Unterschied zwischen männlichen Betreuten, die durch männliche Hilfeplanersteller betreut werden, sowie weiblichen und männlichen Betreuten, die durch weibliche Hilfeplanerstellerinnen betreut werden, basieren. Unterstützt wird diese Vermutung durch die große Ähnlichkeit der Effekte von männlichen Hilfeplanerstellern mit männlichen hilfeberechtigten Personen.

Überraschend ist die konträr zur formulierten Hypothese gefundene größere Stigmatisierung von männlichen Betreuten durch weibliche Hilfeplanerstellerinnen. Die vermutete Stigmatisierung von Betreuten bei einer Geschlechterkongruenz zur Person der Hilfeplanerstellung kann insgesamt nicht bestätigt werden. Inwiefern die gefundenen Effekte mit der ungleichen Verteilung des Geschlechts der Hilfeplanersteller:innen (72.9 % weiblich) korrespondiert und durch die konträren Ergebnisse der Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung und der dort bestehenden ungleichen Verteilung des Geschlechts der Rezipient:innen (31.2 % weiblich) unterstützt werden, kann nicht geklärt werden. Die mögliche Auswirkung dieser ungleichen Verteilungen und der jeweiligen Effekte der größeren Stigmatisierung des inkongruenten Geschlechts muss in der abschließenden Diskussion der Ergebnisse erneut aufgegriffen und erörtert werden.

Die Kategorie Gesundheit umfasst sowohl die psychische Auffälligkeit als auch den Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten. Insgesamt zeigen oder zeigten 71.48 % der Betreuten entweder eine psychische Auffälligkeit (56 %) oder einen Drogen-/Suchtmittelkonsum (44 %). Die große Bedeutung der Kategorie Gesundheit sowie die hohe Prävalenz psychischer Auffälligkeiten sowie der dazu gehörende problematisierte Drogen-/Suchtmittelkonsum können bestätigt werden. Jedoch kann die von Bäuml, Baur, Brönner et al. (2017, S. 130) identifizierte extrem hohe Prävalenzrate (93 %) nicht repliziert werden, was die dezidierte Kritik von Busch-Geertsema (2018a) und Kunstmann (2017) am Vorgehen von Bäuml et al. bestätigt.

Der Zusammenhang zwischen den Kategorien Geschlecht und Gesundheit kann, wie bereits dargestellt, bestätigt werden.

Für die Kategorie Gesundheit – hier die psychische Auffälligkeit der Betreuten – können folgende signifikante Unterschiede identifiziert werden:

  • Betreute mit psychischen Auffälligkeiten zeigen insgesamt einen größeren Hilfebedarf

  • Betreute mit psychischen Auffälligkeiten haben einen größeren Hilfebedarf in den Lebensbereichen

    1. Arbeit

    2. Gesundheit

    3. Soziale Beziehungen

  • Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt

Demgegenüber produziert die Kategorie Gesundheit – hier der Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten – nachgehende signifikante Unterschiede:

  • Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum haben einen geringeren Hilfebedarf im Bereich Wohnen

  • Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum haben größere Hilfebedarfe in den Lebensbereichen Gesundheit und Soziale Beziehungen

  • Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen eher Non-Compliance bei der Hinführung zum Arbeitsmarkt

  • Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum zeigen eher Non-Compliance bei Ämter- und Behördengängen

  • Betreute/n mit Drogen-/Suchtmittelkonsum wird/werden explizit

    1. eher mit der Rolle als schlechte Bedürftige beschrieben

    2. durch Institutionen stärker kontrolliert

    3. eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot unterstellt

    4. eher als Täter, also selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

Die in der Literatur zu findende größere Stigmatisierung von psychischen Krankheiten (siehe Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung) kann, betrachtet man nur die psychischen Auffälligkeiten ohne Drogen-/Suchtmittelkonsum, nicht bestätigt werden. Zwar sind die Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten der Stichprobe vermehrt Kontrolle ausgesetzt, diese erfolgt jedoch nicht durch das Hilfesystem selber, sondern durch andere Institutionen wie beispielsweise durch das Jobcenter. Der allgemeine größere Hilfebedarf von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten bestätigt das geringerer eigene Bewältigungsvermögen dieser (siehe Abschnitt 5.2.1 Psychische Krankheiten als Ursache oder Folge von Wohnungsnot?).

Der vermehrte Hilfebedarf im Lebensbereich Gesundheit ist selbsterklärend. Zum einen gibt es mit der psychischen Auffälligkeit einen konkreten Unterstützungsbedarf im Lebensbereich Gesundheit und zum anderen sind Frauen, die aufgrund der bestätigten signifikanten Korrelation auch in der vorliegenden Stichprobe vermehrt psychische Auffälligkeiten aufweisen, offener gegenüber eben diesen psychischen Auffälligkeiten und einer Auseinandersetzung mit ihren psychischen Auffälligkeiten. Die erhöhten Bedarfe in den Lebensbereichen Arbeit und Soziale Beziehungen können hingegen nicht auf Anhieb erklärt werden. Die Tatsache, dass mehr weibliche Betreute psychische Auffälligkeiten aufweisen, kann den vermehrten Bedarf im Lebensbereich Soziale Beziehungen erklären: Zum einen finden sich bei Frauen beziehungsorientierte Ursachen für die Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) zum anderen ist die Lebenssituation von Frauen in Wohnungsnot geprägt von traditionellen Rollenerwartungen und der Zuschreibung von Verantwortung für Familie und Kinder. Darüber hinaus verfügen Frauen in Wohnungsnot zumeist über ein größeres soziales Netzwerk als Männer in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot).

Allerdings kann diese Erklärung des erhöhten Hilfebedarfs im Lebensbereich Soziale Beziehungen durch die Korrelation mit Geschlecht nicht auf den Lebensbereich Arbeit übertragen werden. Arbeit ist ein zentraler Bestandteil der männlichen Geschlechtsrollenidentität (siehe Abschnitt 4.2.4 Geschlecht, Arbeit und Armut). Der erhöhte Bedarf im Lebensbereich Arbeit von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten gegenüber Betreuten ohne psychische Auffälligkeiten explizit und das Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit allgemein werden als offene Fragen mit in die Analyse der leitfadengestützten Interviews genommen sowie in der abschließenden Diskussion der Ergebnisse aufgegriffen.

Der Konsum von Drogen-/Suchtmitteln hat im Vergleich zu den psychischen Auffälligkeiten deutlich mehr Auswirkungen. Die Stigmatisierung respektive Abwertung von Konsum (siehe Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung) kann dabei deutlich bestätigt werden.

Der höhere Hilfebedarf im Bereich Gesundheit kann, wie im Kontext der psychischen Auffälligkeiten, über die Tatsache eines konkreten Unterstützungsbedarfs im Lebensbereich Gesundheit erklärt werden. Zur Erklärung des geringeren Bedarfs im Lebensbereich Wohnen von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum kann erneut die Korrelation von Geschlecht und Gesundheit benützt werden. Signifikant mehr männliche Betreute weisen einen Drogen-/Suchtmittelkonsum auf. Die Einteilung in einen öffentlichen männlichen Raum und einen privaten weiblichen Raum (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) verweist auf eine möglicherweise geringere Bedeutung von Wohnen und einen damit einhergehenden geringeren Bedarf von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum. Unterstützt wird diese Annahme durch den signifikant erhöhten Bedarf im Bereich Wohnen von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und deren signifikanter Korrelation mit Geschlecht.

Dahingegen steht der beobachtete größere Bedarf im Bereich Soziale Beziehungen konträr zu dieser Erklärung über die Korrelation mit dem Geschlecht der Betreuten. Die Vermutungen, dass entweder die jeweiligen Aspekte der Kategorie Gesundheit zu einer vermehrten sozialen Isolation und somit einem größeren Hilfebedarf führen oder der Drogen-Suchtmittelkonsum mit der konsumierenden Peer-Group problematisiert wird, werden als offene Fragen in die Analyse der Leitfadeninterviews genommen und in der zusammenfassenden Diskussion der Ergebnisse aufgegriffen.

Das identifizierte Non-Compliance in den Bereichen Arbeit und Ämter- und Behördengänge kann erneut über die Korrelation von Drogen-/Suchtmittelkonsum und männlichen Betreuten erklärt werden. Dabei deckt sich das Non-Compliance mit dem in der Literatur gefundenen Problem von Männern (in Wohnungsnot) Hilfen aufzusuchen und anzunehmen, sowie den Ergebnissen des Geschlechts der Betreuten. Auch hier ergibt sich die Frage, welche Bedeutung der geschlechterkonformen Rollen-Erwartung der Hilfeplanersteller:innen bei der Benennung (scheinbaren) Non-Compliances innewohnt. Diese offene Frage wird in der Analyse der leitfadengestützten Interviews erneut aufgegriffen werden.

Die Abwertung von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum kann zwar nicht allgemein festgestellt werden, ist jedoch deutlich. Dabei ist diese Abwertung der Abwertung von männlichen Betreuten sehr ähnlich. Wie bei diesen kann keine explizite Auswirkung auf die Hilfen oder ein explizit negativer Sprachgebrauch identifiziert werden. Allerdings werden Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum signifikant schlechter in ihrer Rolle als Hilfesuchende:r bewertet. Darüber hinaus wird ihnen eine größere Selbstverantwortung für ihre Wohnungsnot zugeschrieben und eine Selbstverantwortung für ihre eigene Lebenssituation, also eine Beschreibung als Täter. Der signifikante Effekt der Kontrolle von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum durch Institutionen kann, zumindest teilweise, dadurch erklärt werden, dass auch die Substitutionskontrolle in dieser Variable miterhoben wird. Überraschend ist jedoch – und das spricht für eine deutliche Abwertung durch das Hilfesystem –, dass gerade Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum eine Selbstverantwortung für ihre Wohnungsnot und ihre aktuelle Lebenssituation zugeschrieben wird, obwohl der Konsum als Ursache für diese angenommen werden kann (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem). Dass darüber hinaus diesen Personen auch zugeschrieben wird, schlechte Bedürftige zu sein – also nicht motiviert mitzuarbeiten, nicht dankbar zu sein und kein Vertrauen in die Hilfen zu haben – verdeutlicht die Abwertung des Hilfesystems. Dabei liegt der Verdacht nahe, dass das Hilfesystem keine Abstraktion des Konsums der Betreuten vornimmt und die Folgen des Konsums mit dem Verhalten der Betreuten assoziiert. Die Auswirkungen des Konsums sind entweder nicht bekannt oder werden bewusst ausgeblendet. Die Zuschreibung einer Selbstverantwortung aufgrund des Konsums beziehungsweise Suchtverhaltens sowie die Beschreibung als unmotiviert an dieser Situation etwas zu verändern, sind die klassischen Kernelemente von Abwertung und Stigmatisierung (siehe Abschnitt 5.4.1 Bedingungen und Auswirkungen der Schnittstellenproblematik).

Weil Bedarfe und Verhalten der Betreuten eine bedeutende Rolle im Prozess der Abwertung einnehmen – zum einen als Kennzeichen des Nicht-Erfüllens einer meritokratischen Leistungsnorm sowie im Kontext individueller Schuldzuschreibung –, werden die Effekte dieser beiden Aspekte auf die Stigmatisierung des Hilfesystems dargestellt.

Ob Betreute einen großen oder kleinen Hilfebedarf haben, hat keinen Einfluss auf die Stigmatisierung des Hilfesystems. Das unterschiedliche Verhalten der Betreuten führt indes zu einer Vielzahl von Abwertungen. Für das Verhalten können folgende signifikante Unterschiede beobachtet werden:

  • Betreute mit Non-Compliance werden insgesamt mehr stigmatisiert

  • Betreute/n mit Non-Compliance wird/werden explizit

    1. eher schlechte Charaktereigenschaften zugeschrieben

    2. eher mit der Rolle als schlechte Bedürftige beschrieben

    3. durch das Hilfesystem mehr kontrolliert

    4. durch Institutionen stärker kontrolliert

    5. eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot unterstellt darüber hinaus wird Betreuten mit Non-Compliance

    6. eher eine Verschlechterung der Lebenssituation während der Hilfen zugeschrieben.

Der Unterschied zwischen einem hohen und einem geringen Hilfebedarf führt nicht zu einer unterschiedlichen Stigmatisierung der Betreuten. Demnach kann angenommen werden, dass das Hilfesystem meritokratische Leistungsnormen nicht auf die Betreuten anwendet, beziehungsweise ein Nicht-Erfüllen der Norm nicht zu einer größeren Abwertung führt. Dieser Befund unterstützt die Beobachtung einer insgesamt geringen Abwertung und Stigmatisierung des Hilfesystems.

Diese offene Haltung gegenüber den Betreuten und die Akzeptanz eines hohen Bedarfs sowie das Nicht-erfüllen der Leistungsnorm sind Wesensmerkmale sozialarbeiterischer Hilfe und demnach wenig überraschend. Jedoch ist aus dem psychiatrischen Hilfesystem bekannt, dass trotz einer angenommenen Offenheit gegenüber der Zielgruppe, Personen des Hilfesystems die zu betreuenden Personen negativer bewerten als die Allgemeinbevölkerung (P. W. Corrigan, 2000, S. 48–49; Harangozo et al., 2014, S. 360; Larkings & Brown, 2018, S. 929; Lebowitz & Ahn, 2016, S. 176; Schulze & Angermeyer, 2003). Ferner könnte der identifizierte größere Bedarf von Betreuten zu Mehraufwand in der Betreuung führen, wodurch wiederum eine größere Abwertung gegenüber Betreuten mit einem großen Hilfebedarf denkbar wäre. Die Ergebnisse sind demzufolge dennoch beachtenswert.

Demgegenüber kann für Betreute mit Non-Compliance eine deutliche Stigmatisierung identifiziert werden. Neben einer generell größeren Abwertung können auch für sechs von acht ausdifferenzierten Aspekten einer Stigmatisierung signifikante Effekte beobachtet werden. Die Frage, wie diese Ergebnisse zu interpretieren sind, führt zu der kontrovers geführten Debatte der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ Inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und das Unterkapitel Hypothesen): Stehen die ausdifferenzierten Aspekte tatsächlich für eine größere Stigmatisierung oder entspricht die Darstellung der Realität? Konkret gibt es beispielsweise eine große Überschneidung mit Non-Compliance und der Beschreibung der Betreuten mit der Rolle als schlechte:r Bedürftige:r. So führen Verhaltensweisen wie die Hilfe nicht annehmen zu können oder für die Hilfe nicht dankbar zu sein zur Kodierung eine:r schlechten Bedürftigen und zugleich zur Kodierung von Non-Compliance. Des Weiteren ist es nicht verwunderlich, dass Betreute, die Non-Compliance zeigen, auch keine Verbesserung ihrer Lebenssituation während der Hilfen erreichen.

Die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot bei Betreuten mit Non-Compliance hingegen entspricht der Individualisierung der Problemlagen und somit der üblichen Abwertung von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung von Wohnungsnot). Auch die identifizierte signifikant größere Kontrolle der Betreuten mit Non-Compliance durch das Hilfesystem sowie andere Institutionen ist ein typisches Indiz für die Abwertung und Marginalisierung von Wohnungsnot. Zwar ist es naheliegend, dass mehr Überwachung und Kontrolle aufgeführt werden, um den Fortschritt und auch den Erfolg der Hilfen zu erfassen, allerdings ist fraglich, ob somit das Ziel der Hilfen, die Überwindung von besonderen sozialen Problemen, erreicht werden kann. Ebenso kann bezweifelt werden, dass mehr Kontrolle zu einem besseren Verständnis der Non-Compliance der Betreuten führt. Zur Bewertung der Kontrolle durch das Hilfesystem muss darüber hinaus angemerkt werden, dass die Wiedereingliederungsmaßnahmen auf der gesetzlichen Grundlage der §§ 67–69 des SGB XII der vorliegenden Stichprobe freiwillige Hilfen ohne Kontrollauftrag durch andere Institutionen sind und die Betreuten trotz der sozialen Schwierigkeiten autonome erwachsene Menschen sind. Die beobachtete Kontrolle des Hilfesystems und von Institutionen kann mit der generellen Abwertung von Wohnungsnot, der Zuschreibung von individuellen Defiziten und der daraufhin nötigen Überwachung schlüssig erklärt werden.

Der Zusammenhang zwischen Non-Compliance und den zugeschriebenen negativen Charaktereigenschaften der Betreuten kann durch den engen inhaltlichen Zusammenhang der beiden Variablen erklärt werden – beispielsweise beinhalten beide Variablen Aspekte eine Vermeidung oder eine mangelnde Motivation zur Veränderung der Lebenssituation. Darüber hinaus ist der identifizierte Einfluss von Non-Compliance auf die Stigmatisierung der Betreuten naheliegend und logisch nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz verweist der Zusammenhang auch auf eine Abwertung der Betreuten durch das Hilfesystem. So liegt der Verdacht nahe, dass das Non-Compliance mit individuellen charakterlichen Defiziten erklärt wird. Eine solche simplifizierende Erklärung würde jedoch zum einen der Komplexität des Verhaltens nichts gerecht werden und entspricht zum anderen der klassischen Abwertung und Marginalisierung von Wohnungsnot. Dass das Geschlecht beziehungsweise geschlechtsspezifische Verhaltensmuster jeweils einen Einfluss auf das beschriebene Non-Compliance sowie die Stigmatisierung der Betreuten haben, ist bereits dargestellt worden. Ein Zusammenhang zwischen Geschlecht, einem beschriebenen Non-Compliance und einer Stigmatisierung kann demnach ebenso angenommen werden. Wie in Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und dem Unterkapitel Hypothesen erwähnt, wird eine negative Bewertung als Stigmatisierung angesehen.

Die bedeutende und relevante Diskussion, ob eine tatsächliche Stigmatisierung oder eine Beschreibung der Realität vorliegt, soll und kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Aufgrund der großen Relevanz für die Interpretation der Ergebnisse der Dokumentenauswertung aber auch für die Einordnung der Abwertung des Hilfesystems sowie für die Beantwortung der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit muss die Diskussion im abschließenden Kapitel 9 Diskussion erneut aufgegriffen werden. Außerdem wird der Zusammenhang zwischen Verhalten und Stigmatisierung insbesondere im Kontext von Geschlecht im Rahmen der Analyse der Leitfaden Interviews als offene Frage aufgegriffen. Die Analyse dient zwar der Kontextualisierung der Dokumentenanalyse und der identifizierten offenen Fragen, allerdings liegt der Fokus der leitfadengestützten Interview-Untersuchung auf den Kategorien Geschlecht und Gesundheit in seiner Aufteilung in psychische Auffälligkeiten und dem Konsum von Drogen/Suchtmitteln, weshalb nur ein geringer Erkenntnisgewinn für den Zusammenhang zwischen Verhalten und Stigmatisierung erwartet werden kann.

Neben der Untersuchung der Auswirkung der einzelnen Kategorien sowie der Bedarfe und des Verhaltens der Betreuten muss, der Intersektionalität als konstituierendem Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit folgend (siehe Abschnitt 2.1 Was ist Intersektionalität), auch das Zusammenwirken der einzelnen Kategorien der Bewertung der Betreuten untersucht werden.

Für das Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit können folgende signifikante Effekte des Geschlechts beobachtet werden:

  • männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten werden negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben

  • männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten werden eher mit der Rolle als schlechter Bedürftiger beschriebe

  • männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sind mehr Kontrolle durch das Hilfesystem ausgesetzt

  • männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt

  • männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten wird eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben

  • männliche Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten werden eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

  • männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben

  • männliche Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden eher mit der Rolle als schlechter Bedürftiger beschrieben

  • männliche Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

Um die Ergebnisse des Zusammenwirkens einordnen zu können, bedarf es des Vergleichs mit den Effekten der einzelnen Kategorien. Für die Abwertung der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten spielt das Geschlecht eine zentrale Rolle. Kann, bis auf eine vermehrte Kontrolle durch Institutionen, keine Stigmatisierung von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten beobachtet werden, führt die Interaktion mit Geschlecht zu einer Vielzahl signifikanter Unterschiede. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten werden deutlich stärker abgewertet als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten. Die beobachteten signifikanten Effekte sind dabei nahezu deckungsgleich mit der generellen Stigmatisierung von männlichen Betreuten.

Die Effekte bestätigten die Relevanz einer Normabweichung für den Prozess der Abwertung und Stigmatisierung. Der postulierte positive Zusammenhang zwischen weiblichem Geschlecht und psychischen Auffälligkeiten wird in der vorliegenden Stichprobe bestätigt: weibliche Betreute zeigen mehr psychische Auffälligkeiten als Männer. Männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten stellen somit eine Abweichung der Norm da und werden dementsprechend negativer bewertet als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten.

Darüber hinaus bestätigten die Ergebnisse die generelle und deutliche Abwertung von männlichen Betreuten. Auch wenn diese aufgrund einer psychischen Auffälligkeit mehr Unterstützung benötigen und eine solche psychische Auffälligkeit als Erklärung für den Hilfebedarf hinzugezogen werden kann, werden sie negativer bewertet als weibliche Betreute. Inwiefern die signifikanten Effekte der Stigmatisierung männlicher Betreuter mit psychischen Auffälligkeiten mit der ungleichen Verteilung des Geschlechts der Hilfeplanersteller:innen korrespondiert, kann nicht geklärt werden. Der Einfluss der Geschlechterkongruenz für die Bewertung wird jedoch angenommen und wird sowohl in der abschließenden Diskussion erneut aufgegriffen als auch als offene Frage in die Auswertung der leitfadengestützten Interviews einbezogen.

Der deutliche Effekt des Geschlechts beim Zusammenwirken mit psychischen Auffälligkeiten kann im Zusammenwirken mit dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten nicht beobachtet werden. Die beobachteten Effekte entsprechen nahezu der generellen Abwertung von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum. Die Annahme, dass diese Ähnlichkeit der Effekte auf dem angenommenen und bestätigten positiven Zusammenhang zwischen männlichen Betreuten und Drogen-/Suchtmittelkonsum beruht, liegt nahe.

Der Konsum von Drogen-/Suchtmitteln der Betreuten führt dazu, dass weniger Unterschiede zwischen den Geschlechtern identifiziert werden. Wird männlichen Betreuten generell sowie Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben, so wird demgegenüber männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum nicht mehr eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben. Des Weiteren kann, im Unterschied zu einer größeren Kontrolle von männlichen Betreuten sowie Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum durch Institutionen, kein Geschlechterunterschied in Bezug auf die Kontrolle von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum durch Institutionen identifiziert werden. Eine Erklärung für diesen Befund ist die Annahme, dass das Geschlecht für die in der Kontrolle durch Institutionen miterhobene Substitutionskontrolle keine Bedeutung spielt. Insgesamt kann ein geringerer Einfluss der Kategorie Geschlecht im Kontext von Drogen-/Suchtmittelkonsum bestätigt werden. Trotzdem wird auch im Zusammenwirken der Kategorie Geschlecht und dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten die größere Abwertung männlicher Betreuter identifiziert. Die Hypothese einer, aufgrund einer Normabweichung, größeren Abwertung von weiblichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum kann nicht bestätigt werden.

Sowohl männlichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten als auch mit Drogen-/Suchtmittelkonsum werden negativere Charaktereigenschaft zugeschrieben als weiblichen Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten oder Drogen-/Suchtmittelkonsum. Dagegen kann für Betreute mit psychischen Auffälligkeiten oder Drogen-/Suchtmittelkonsum keine Zuschreibung negativerer Charaktereigenschaften identifiziert werden. Des Weiteren werden männliche Betreute allgemein negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben als weiblichen Betreuten. Somit liegt zum einen der Verdacht nahe, dass männlichen Betreuten eine psychische Auffälligkeit oder der Konsum von Drogen oder Suchtmitteln, im Gegensatz zu weiblichen Betreuten, eher als individuelle Charakterschwäche zugeschrieben wird. Zum anderen bleibt die Zuschreibung negativer Charaktereigenschaften von männlichen Betreuten bestehen, auch wenn mit den psychischen Auffälligkeiten oder dem Drogen-/Suchtmittelkonsum mögliche Erklärungsansätze für das Verhalten vorliegen. Beide Annahmen bestätigten die deutliche Stigmatisierung von männlichen Betreuten.

Das Zusammenwirken von Geschlecht und psychischen Auffälligkeiten sowie von Geschlecht und Drogen-/Suchtmittelkonsum ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Daher und aufgrund der nicht bestätigten Hypothese einer größeren Abwertung von weiblichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum wird der Zusammenhang respektive das Zusammenwirken der Kategorien in der anschließenden Analyse der Leitfadeninterviews erneut aufgegriffen. Darüber hinaus wird die Bedeutung der Geschlechtskongruenz und –inkongruenz beleuchtet.

Schließlich wird ebenfalls untersucht, inwiefern das Verhalten sowie die Bedarfe einen Einfluss auf die Effekte des Zusammenwirkens der Kategorien Geschlecht und Gesundheit haben.

Dabei können folgende Geschlechterunterschiede von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten identifiziert werden:

  • männliche Betreute mit Non-Compliance werden eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

  • männliche/n Betreute/n mit einem hohen Bedarf werden/wird

    1. negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben

    2. eher mit der Rolle als schlechte Bedürftige beschrieben

    3. durch das Hilfesystem stärker kontrolliert

    4. durch Institutionen stärker kontrolliert

    5. eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben

    6. eher als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben darüber hinaus werden

  • männliche Betreute mit Non-Compliance und hohem Bedarf eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

Außerdem können für Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum nachgehende Geschlechterunterschiede beobachtet werden:

  • männliche/n Betreute/n mit einem hohen Bedarf werden

    1. negativere Charaktereigenschaften zugeschrieben

    2. eher als Täter, also als selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

Non-Compliance ist bereits als Indikator für eine Stigmatisierung identifiziert. Ebenso ist bekannt, dass männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten negativer bewertet werden als weibliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten. Wenn allerdings überprüft wird, ob das Geschlecht ebenfalls einen Unterschied in der Stigmatisierung der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und Non-Compliance hervorbringt, können deutlich weniger Unterschiede beobachtet werden, als für Non-Compliance oder die Interaktion von Geschlecht und psychischen Auffälligkeiten. Diese Ergebnisse in ihrem Vergleich bestärken die Bedeutung von Non-Compliance als Indikator für eine Stigmatisierung der Betreuten: zeigen beide Geschlechter Non-Compliance, welches normalerweise eher bei männlichen Betreuten beobachtet wird, kann nur ein Unterschied in der Bewertung der Ursachenzuschreibung für die Lebenssituation ausgemacht werden. Diese Beschreibung einer Selbstverschuldung der Lebenssituation, also der Beschreibung als Täter, ist für männliche Betreute wiederum äußerst konstant. Sowohl wenn die gesamte Gruppe der männlichen Betreuten mit der Gruppe der weiblichen Betreuten verglichen wird, als auch beim Vergleich der Geschlechter bei Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten werden männliche Betreute eher als Täter und weibliche eher als Opfer beschrieben. Diese Beobachtung passt zu den typischen Merkmalen der heteronormativen Geschlechtsrollenidentitäten (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) und bestätigt somit die Bedeutung der Kategorie Geschlecht. Nähere Hinweise sowie Erklärungen, inwiefern die Beschreibungen als Täter für männliche und als Opfer für weibliche Betreute im Hilfesystem eine Kohärenz aufweisen, werden in der Analyse der leitfadengestützten Interviews erwartet. Wenn diese Beschreibung auch dort identifiziert werden kann, rekurrieren daraus die offenen Fragen, ob und wie die Bedeutung von Geschlechterrollen, insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichen größeren Abwertung männlicher Geschlechterrollen, reflektiert wird.

Ob ein Non-Compliance beschrieben wird, hängt davon ab, ob die Betreuten psychische Auffälligkeiten zeigen. Ca. 71 % der Betreutenn bei denen die Hilfeplanersteller:innen Non-Compliance beschreiben, weisen eine psychische Auffälligkeit auf. Eine psychische Auffälligkeit ist demnach ein Prädiktor für die Beschreibung von Non-Compliance. Dass Betreute mit psychischen Auffälligkeiten im Gegenzug auch mit Non-Compliance beschrieben werden, kann nicht bestätigt werden. Die bereits dargestellte Bedeutung psychischer Auffälligkeiten für die Stigmatisierung von männlichen Betreuten steht dementsprechend nicht im Zusammenhang mit Non-Compliance.

Indes hat der Hilfebedarf der Betreuten keine Auswirkung auf die Stigmatisierung der Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten. Auch wenn ein hoher Bedarf und eine psychische Auffälligkeit vorliegen, werden männliche Betreute gleicherweise bewertet wie männliche Betreute, bei denen nur eine psychische Auffälligkeit vorliegt.

Das Zusammenwirken psychischer Auffälligkeiten, eines hohen Hilfebedarfs und Non-Compliance bezogen auf einen Geschlechtsunterschied der Betreuten bestätigt die bisher zusammengetragenen Erkenntnisse. Non-Compliance hat einen Einfluss auf die Stigmatisierung der Betreuten, zeigt jedoch keinen Einfluss auf einen möglichen Geschlechtsunterschied. Weisen Betreute Non-Compliance auf, ist deren Geschlecht zweitrangig für die Stigmatisierung. Allerdings wird gleichzeitig auch die Bedeutung der Kategorie Geschlecht und ferner die Geschlechtsrollenidentität bestätigt: Männliche Betreute werden – der Befund ist sehr konstant – eher als Täter und weibliche Betreute eher als Opfer beschrieben; unabhängig von Hilfebedarf, Verhalten und psychischer Auffälligkeit.

Die Ergebnisse bezogen auf das Zusammenwirken von Droge-/Suchtmittelkonsum, dem Geschlecht sowie dem Verhalten und den Bedarfen der Betreuten unterstützen die Ergebnisse bezogen auf das Zusammenwirken dieser Kategorien mit psychischen Auffälligkeiten der Betreuten. Non-Compliance nimmt eine bedeutende Funktion im Kontext der Abwertung der Betreuten ein. Wenn diejenigen Betreuten betrachtet werden, die sowohl Drogen-/Suchtmittelkonsum wie auch Non-Compliance zeigen, kann kein Geschlechtsunterschied mehr identifiziert werden. Hingegen kann ein solcher Geschlechterunterschied beobachtet werden, wenn das Verhalten nicht beachtet wird. Der Unterschied, den ein großer Hilfebedarf auf die Stigmatisierung der Betreuten hat, ist marginal. Die Abwertung von männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum und einem hohen Bedarf entspricht nahezu gänzlich der Abwertung von männlichen Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum ohne hohen Bedarf. Der bereits als konstant identifizierte Effekt der Beschreibung von männlichen Betreuten als Tätern und von weiblichen Betreuten als Opfern kann auch beobachtet werden, wenn sowohl männliche wie auch weibliche Betreute einen hohen Hilfebedarf und einen Drogen-/Suchtmittelkonsum aufweisen.

Wenn Betreute sowohl eine psychische Auffälligkeit als auch ein Drogen-/Suchtmittelkonsum aufweisen und darüber hinaus nicht nur einen hohen Hilfebedarf haben sondern auch Non-Compliance zeigen, können keine weiteren Geschlechterunterschiede beobachtet werden. Dieser Befund zeigt, dass die identifizierten Geschlechterunterschiede der Stigmatisierung der Betreuten durch weitere Faktoren wie das Verhalten aber auch das Vorliegen psychischer Auffälligkeiten oder eines Drogen-/Suchtmittelkonsums, beeinflusst werden.

Allerdings ist die Verteilung für diese spezifischen Merkmalskombinationen eingeschränkt. So kann beispielsweise für das Zusammenwirken von psychischer Auffälligkeit, Drogen-/Suchtmittelkonsum, Verhalten und dem Hilfebedarf die Variable „Ursachenzuschreibung Wohnungsnot“ nicht berechnet werden, weil keine weiblichen Betreuten in der Stichprobe vorliegen. Für die anderen Variablen können U-Tests durchgeführt werden, allerdings ist die Anzahl der Fälle zumeist sehr gering (n < 10) und die Verteilung des Geschlechts der Betreuten sehr deutlich (min. 71 % männliche Betreute). Das Zusammenwirken speziell von Non-Compliance mit der Abwertung von männlichen Betreuten, psychischen Auffälligkeiten und/oder Drogen-/Suchtmittelkonsum wird daher in der Auswertung der Interviews erneut in den Blick genommen.

Zuletzt werden die Ergebnisse der Effekte der Kategorie Herkunft, Alter sowie der Unterbringungsform bezüglich der Stigmatisierung der Betreuten dargestellt. Effekte des Alters der Betreuten sowie der Hilfeplanersteller:innen können aufgrund der ungenügenden Verteilung nicht berichtet werden.

Für die Kategorie Herkunft kann ein signifikanter Effekt beobachtet werden:

  • Betreute in (kreisfreien) Städten werden häufiger als Täter, also verantwortlich für die Lebenssituation beschrieben

Die Unterbringungsform und die Betreuungsform verursachen insgesamt drei signifikante Effekte:

  • Betreute in dezentralen Unterbringungsformen sind mehr Kontrolle durch Institutionen ausgesetzt

  • Betreuten, die stationär untergebracht sind, wird eher eine selbstverschuldete Wohnungsnot zugeschrieben

  • Betreute, die stationär untergebracht sind, werden eher als Täter also selbstverantwortlich für ihre Lebenssituation beschrieben

Eine Interpretation und Einordnung dieser Ergebnisse erfolgt zum Großteil ohne die Möglichkeit des Bezuges zur Literatur. Weder der Vergleich zwischen Stadt und Land noch die Betreuungsform waren bisher Untersuchungsgegenstand bei der Betrachtung von Wohnungsnot. Dennoch beruht das explorative Vorgehen auf der Annahme der Bedeutung der Kategorie Herkunft (siehe Abschnitt 3.7.2 Kategorie Herkunft) sowie der vermuteten Relevanz der Unterbringungsform. Die klassische und aufgrund der historischen Entwicklung auf Männer ausgerichtete Wohnungslosenhilfe besteht, wenn auch in einem Wandel begriffen, aus stationären Gruppensettings für Männer (siehe Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot). Auf dem Land kann dabei, im Vergleich zur Stadt, auch aktuell noch eine Unterversorgung der Zielgruppe identifiziert werden.

Die aufgrund eines angenommenen größeren Hilfebedarfs vermutete größere Abwertung von Betreuten in stationärer Unterbringung kann bestätigt werden. Allerdings kann, ausgehend von den Befunden zum Hilfebedarf der Betreuten, keine größere Abwertung aufgrund eines größeren Hilfebedarfs beobachtet werden. Als Erklärung der Befunde bietet sich abermals die generelle Abwertung von männlichen Betreuten an. Die Geschlechterverteilung für die Betreuungsform und die Herkunft weist im Vergleich zur allgemeinen Verteilung des Geschlechts der Betreuten in der Stichprobe ein deutliches Geschlechterbias auf. Liegt die Verteilung des Geschlechts in der Stichprobe bei 52,7 % weiblichen Betreuten, liegt die Verteilung des Geschlechts für stationär, dezentral und Stadt bei jeweils mindestens 60 % männlichen Betreuten (siehe das Unterkapitel Deskriptive Statistik des Abschnitt 8.3.4 Ergebnisse der quantitativ-inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung). Aufgrund der geringen Datenlage bezogen auf die Kategorie Herkunft und die Unterbringungformen bedarf es der Kontextualisierung der beobachteten Effekte. Diese Kontextualisierung erfolgt, wie bereits erwähnt, mittels leitfadengestützter Interviews. Die Angebotsstruktur in seinen Ausdifferenzierungen und mit seinen Auswirkungen auf die Stigmatisierung der Betreuten muss nähergehend betrachtet werden. Dabei stehen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit im Fokus der Auswertung dieser Interviews zur Kontextualisierung.

Die Ergebnisse weisen sowohl Implikationen für die gesamte Multi-Methoden-Untersuchung – zur Untersuchung der Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot – als auch für das Mehrphasen-Mixed-Methods-Design, als Teil dieser Untersuchung – für die über den zweiten Zugang realisierte Untersuchung des Hilfesystems – auf. Die Darstellung dieser Implikationen erfolgt vorrangig für das Mehrphasen-Mixed-Methods-Design in Form von offenen Fragen, die in der Auswertung der leitfadengestützten Interviews aufgegriffen werden. Die Implikationen für die gesamte Multi-Methoden-Untersuchung werden an dieser Stelle nur kurz und zusammenfassend dargestellt. Die Ergebnisse des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design mit seinen Implikationen sind erst mit der Kontextualisierung mittels der Auswertung der Leitfadeninterviews vollständig interpretierbar. Demnach werden die endgültigen Implikationen abschließend mit den Limitationen der Untersuchung des Hilfesystems in Abschnitt 8.5 Diskussion dargestellt.

Multi-Methoden-Untersuchung

Die Mehrheit der Betreuten wird im und durch das Hilfesystem nicht abgewertet beziehungsweise stigmatisiert. Die Betreuten weisen einen hohen Hilfebedarf auf und zeigen zugleich zumeist Compliance wobei die Hilfeplanersteller:innen diesen zumeist wohlwollend zugewandt sind. Dennoch können signifikante Unterschiede insbesondere in Bezug auf die Stigmatisierung des Geschlechts der Betreuten durch das Hilfesystem identifiziert werden. Folglich kann die offene Forschungsfrage (siehe Unterkapitel Hypothesen des Abschnitten 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung), wenn auch mit Einschränkungen, bestätigt werden. Die Unterschiede in diesen offiziellen Dokumenten, welche die Grundlage der Bewilligung der professionellen Einzelfallhilfen und das Instrument zur Planung und Überprüfung individueller Hilfen sind (siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitten 8.3.2 Vorgehen), sind ein deutlicher Indikator einer Stigmatisierung verschiedener Kategorien durch das Hilfesystem.

Männliche Betreute werden, im Gegensatz zu den Ergebnissen einer größeren Öffentlichen Stigmatisierung von weiblichen Betreuten, im Hilfesystem negativer bewertet respektive stigmatisiert. Diese Stigmatisierung hat konkrete Auswirkungen. Im Vergleich zu weiblichen Betreuten verschlechtert sich die Lebenssituation von männlichen Betreuten während der Hilfe signifikant.

Konsistent mit den Ergebnissen zur Öffentlichen Stigmatisierung ist der Befund einer größeren Stigmatisierung durch männliche Personen, hier durch männliche Hilfeplanersteller. Darüber hinaus kann für weibliche Hilfeplanerstellerinnen eine größere Stigmatisierung von männlichen Betreuten beobachtet werden. Inwiefern die Kongruenz beziehungsweise Inkongruenz des Geschlechts für den gesamten Stigmatisierungsprozess Bedeutung hat, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Jedoch wird aufgrund der identifizierten Bedeutung des Geschlechts und der Relevanz der Differenzierung zum jeweils anderen Geschlecht eine Bedeutung angenommen und in der Kontextualisierung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse erneut aufgegriffen.

Die im Fokus der Arbeit stehenden verschiedenen Kategorien – Geschlecht und Gesundheit – erweisen sich als relevant für die Abwertungs- respektive Stigmatisierungsprozesse und bestätigen somit die Bedeutung der Intersektionalität. Zum einen, weil die einzelnen für Wohnungsnot adaptierten Kategorien eine Auswirkung auf die Stigmatisierung im Hilfesystem und somit Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot haben und zum anderen, weil jeweils auch deren Zusammenwirken spezifische Auswirkungen auf die Bewertung der Betreuten hat.

Wie im Experiment zur Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung identifiziert, werden auch im Hilfesystem Betreute mit Drogen-/Suchtmittelkonsum stigmatisiert. Die positive Bewertung psychischer Auffälligkeiten kann jedoch für das Hilfesystem nicht bestätigt werden. Hier werden, zwar nur im Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Betreuten, Männer mit psychischen Auffälligkeiten negativer bewertet als Frauen.

Darüber hinaus kann der vermutete Einfluss des Verhaltens der Betreuten auf Stigmatisierung durch die Hilfeplanersteller:innen bestätigt werden. Die Kontroverse bezüglich der Frage, ob die Abwertung der Hilfeplanersteller:innen (nur) eine Reaktion auf das Verhalten ist, bekommt dadurch einen neuen Impuls. Ein abschließendes Urteil erfolgt jedoch erst im Kapitel 9 Diskussion. Allerdings kann wiederholt festgehalten werden, dass die identifizierten Abwertungen den üblichen Abwertungen von Wohnungsnot entsprechen: Individuelle Schwächen sowie eine Selbstverschuldung der Wohnungsnot. Diese üblichen Abwertungen sind eng verknüpft mit typisch männlichen Attributen wie aktiv, unabhängig, (willens-)stark, selbstsicher, überlegen und leistungsorientiert (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Der sehr konstante Effekt der Beschreibung von männlichen Betreuten als Täter und dementsprechend einer Selbstverantwortung für die Lebenssituation durch die Hilfeplanersteller:innen betont die Bedeutung der Kategorie Geschlecht. Gleichzeitig kann dieser Effekt in seinem Zusammenwirken mit der Abwertung von Verhalten als Erklärung für die Abwertung von männlichen Betreuten herangezogen werden. Geschlechtstypisches Verhalten von männlichen Betreuten wird stärker abgewertet und stigmatisiert.

Die Herkunft beziehungsweise die Unterbringungs- und Betreuungsform haben zwar eine Bedeutung für Stigmatisierungsprozesse, allerdings bedarf es für ein besseres Verständnis der Kontextualisierung durch die leitfadengestützten Interviews.

Ausblick auf die Leitfdadeninterviews

Neben den Ergebnissen der Dokumentenanalyse werden sich aus diesen Ergebnissen ergebende Fragen formuliert, die im zweiten Teil der Mehrphasen-Mixed-Methods-Untersuchung des Hilfesystems, der Analyse der leitfadengestützten Interviews beantwortet werden sollen. Die Fragen nehmen demnach auch bei der Entwicklung des Kategoriensystems eine entscheidende Funktion ein (siehe Abschnitt 8.4.2 Vorgehen).

Aufgrund der gegensätzlichen Effekte der Bewertung der Betreuten im Hilfesystem und in der öffentlichen Wahrnehmung muss der Frage nachgegangen werden, ob eher Männer oder eher Frauen in Wohnungsnot negativer bewertet werden.

  • Kann die Stigmatisierung von männlichen Betreuten durch das Hilfesystem bestätigt werden?

Die Interviews sollen aber auch einen Aufschluss über die weiteren Manifestationen der Stigmatisierung von Wohnungsnot liefern (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Dabei wird sowohl ein Augenmerk auf die Öffentliche Stigmatisierung von Wohnungsnot als auch auf die sich auf der Identitätsebene befindende Selbststigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot sowie die Stigmatisierung durch Verbindungen von ‚aktiven‘ Personen im Hilfesystem gelegt.

  • Kann ein Selbststigma der Personen in Wohnungsnot oder eine Stigmatisierung durch Verbindungen der Personen im Hilfesystem identifiziert werden?

Im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht muss auch die Relevanz von Geschlecht allgemein und im Besonderen die Bedeutung der Geschlechterkongruenz für den Hilfeprozess eruiert werden.

  • Welche Bedeutung wird der Kategorie Geschlecht im Kontext von Wohnungsnot zugemessen?

  • Wie bewerten die Interviewpartner:innen die Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz zwischen Betreuter:m und Hilfeplanersteller:in/Betreuer:in?

Neben der Einschätzung zur Bedeutung der Kategorie Gesundheit in deren Unterteilung in psychische Auffälligkeiten sowie Drogen-/Suchtmittelkonsum steht insbesondere das Zusammenwirken mit der Kategorie Geschlecht im Fokus der Analyse der Interviews. Die angenommene Bedeutung des Zusammenwirkens der Kategorien konnte sowohl im Experiment als auch in der Dokumentenanalyse bestätigt werden. Allerdings sind diese Ergebnisse inkonsitent. In der öffentlichen Wahrnehmung werden alle Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten eher weniger stigmatisiert, wohingegen im Hilfesystem männliche Betreute mit psychischen Auffälligkeiten negativer bewertet werden als weibliche Bereute mit psychischen Auffälligkeiten.

  • Welche Bedeutung wird den psychischen Auffälligkeiten und dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten zugeschrieben?

  • Wie bewertet die Interviewten das Zusammenwirken von Geschlecht und psychischen Auffälligkeiten sowie Drogen-/Suchtmittelkonsum insbesondere in Bezug auf die Bewertung der Betreuten?

Die Effekte der Kategorie Gesundheit in ihrer Ausdifferenzierung in psychische Auffälligkeiten und Drogen-/Suchtmittelkonsum werden auch mit der angenommenen und bestätigten Korrelation einer erhöhten psychischen Auffälligkeit bei weiblichen Betreuten sowie einem erhöhten Drogen-/Suchtmittelkonsum bei männlichen Betreuten erklärt. Konträr zu dieser Erklärung steht jedoch ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Arbeit von Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten sowie ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Soziale Beziehungen von Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum. Dieser jeweilige erhöhte Bedarf steht jedoch im Gegensatz zu den typischen geschlechtsspezifischen Bedarfen. Um dafür einen Erklärungsansatz zu finden, wird auch ein Blick auf die verschiedenen Lebensbereiche und die damit verbundenen Themen geworfen.

  • Welche geschlechtsspezifischen Bedarfe respektive Themen der Betreuten werden genannt?

  • Können Erklärungen für die überraschenden geschlechtsunspezifischen Befunde – ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Arbeit bei Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Soziale Beziehungen bei Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum – eruiert werden?

Zumeist handelt es sich bei dem Drogen-/Suchtmittelkonsum von Menschen in Wohnungsnot um einen missbräuchlichen Alkoholkonsum. Die Hypothese einer damit einhergehenden Zuschreibung für eine Selbstverantwortung für die aktuelle Wohnungsnot sowie einer darauf beruhenden größeren Abwertung in der öffentlichen Wahrnehmung sowie dem Hilfesystem kann bestätigt werden. Die Verbindung zwischen missbräuchlichem Alkoholkonsum und einer, analog zu Weiners Attributionstheorie (1995) erkennbaren Zuschreibung einer Selbstverantwortung für die Wohnungsnot soll aufgrund der möglichen doppelten Stigmatisierung (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierungen für Menschen in Wohnungsnot) von Menschen in Wohnungsnot untersucht werden.

  • Kann die Zuschreibung der Selbstverantwortung für die eigene Wohnungsnot aufgrund von Alkoholmissbrauch durch die interviewten Personen bestätigt werden?

Bereits im qualitativen Teil der sequenziell-explorativ angelegten Dokumentenanalyse wurde im Team (zum Thema Team siehe Unterkapitel Methode der qualitativen Inhaltsanalyse des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen) die Frage der Bedeutung des Verhaltens der Betreuten für die Stigmatisierung des Hilfesystems kontrovers diskutiert. Die Ergebnisse der quantitativen Dokumentenanalyse bestätigten die Relevanz des Verhaltens und insbesondere des Non-Compliance Verhaltens für Stigmatisierungsprozesse im Allgemeinen und im Speziellen für geschlechtsspezifische Stigmatisierungsprozesse. Die Bedeutung von Geschlecht und insbesondere der Geschlechtsrollenidentität, die einerseits durch die heteronormative Gesellschaft vorgegeben ist und andererseits von jedem Individuum in einem ständigen Prozess für sich selber konstruiert wird (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot), für diesen Zusammenhang zwischen Verhalten und Bewertung muss dabei in den Blick genommen werden. Ferner soll die Auswirkung des bestätigten Zusammenhangs der Kategorien Geschlecht und Gesundheit hinsichtlich des Verhaltens der Betreuten und der Bewertung des Hilfesystems untersucht werden. Offene Fragen für die Analyse der Leitfadeninterviews sind demnach:

  • Kann ein Zusammenhang zwischen der Bewertung des Verhaltens und der Abwertung der Betreuten allgemein identifiziert werden?

  • Wie wird geschlechtsspezifisches Verhalten bewertet?

  • Welche Rolle spielen die Kategorien für den Zusammenhang zwischen Verhalten und Bewertung?

Von besonderem Interesse für die Bedeutung von Geschlecht für den Zusammenhang zwischen Verhalten und Bewertung ist der identifizierte und konstante Effekt der Beschreibung von männlichen Betreuten als Täter und weiblichen Betreuten als Opfer. Die typischen Merkmale von Männern und Frauen, wie sie auch Goldschmidt et al. (2014, S. 98) verwenden – Männer sind aktiv, unabhängig, willensstark, etc. und Frauen sind passiv, sanft, freundliche, etc. – stimmen mit dieser Bewertung überein.

  • Kann der Effekt, Männer als Täter und Frauen als Opfer zu beschreiben, auch in den Interviews identifiziert werden und wie bewerten die interviewten Personen diese Zuschreibung als Täter oder Opfer?

Als letzte offene Frage muss die Bedeutung der Kategorie Herkunft, in ihrer Aufteilung zwischen Stadt und Land, sowie der Unterbringungsform (Gruppe vs. dezentral, stationär vs. ambulant) für die Abwertungs- und Stigmatisierungsprozesse geklärt werden.

  • Welche Bedeutung hat die Angebotsstruktur, also die Örtlichkeit sowie die Angebotsform für die Stigmatisierung der Betreuten?

8.4 Leitfadeninterviews

Die Untersuchung der Leitfadeninterviews steht in einem engen Zusammenhang mit den Dokumentenanalysen. Insgesamt als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design angelegt, kontextualisiert die Interviewstudie die Erkenntnisse der Dokumentenanalyse und gleicht somit einen bedeutenden Nachteil der Dokumentenanalyse aus (Döring & Bortz, 2016, S. 537). Um dabei einen umfassenden Blick auf das Hilfesystem gewinnen zu können, werden sowohl Personen, die aktuell in Wohnungsnot sind und vom qualifizierten Hilfesystem betreut werden, sowie Personen, die im Hilfesystem als Sozialarbeiter:innen und/oder Hilfeplaner:innen arbeiten oder eine Leitungsfunktion einnehmen, interviewt (siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitten 8.4.2 Vorgehen). Die konkrete Verbindung zu den Ergebnissen der Dokumentenanalyse wird über 14 Fragen hergestellt (siehe Unterkapitel Ausblick auf die Leitfadeninterviews des Abschnitten 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation). Diese Fragen beinhalten Aspekte, die durch die Dokumentenanalyse aufgeworfen wurden, jedoch nicht beantwortet werden konnten. Die Fragen werden in die Interpretation und Einordnung der Ergebnisse eingebunden und im Unterkapitel Kontextualisierung der Dokumentenanalyse beantwortet. Die gesamten Erkenntnisse des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design über die Strukturelle Stigmatisierung von Wohnungsnot werden abschließend in Abschnitt 8.5 Diskussion dargestellt. Hier erfolgt auch die Darstellung der Limitationen der Untersuchungsanalge sowie der einzelnen Studien.

8.4.1 Ziel

Für die Untersuchungen des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design (Schreier & Odağ, 2017, S. 13) ist die übergeordnete Fragestellung der gesamten Muli-Methoden-Untersuchung handlungsleitend – Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für Stigmatisierung und Teilhabe im Kontext von Wohnungsnot? Im Fokus des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design steht das qualifizierte Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe und somit die Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung sowie deren Auswirkung auf die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot. Demnach lautet die übergeordnete Forschungsfrage des zweitens Zugangs: Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung der Betreuten durch das Hilfesystem?

Als dritter Teil des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design ergänzen die Leitfadeninterviews die bereits gewonnenen Erkenntnisse aus den ersten beiden Teilen des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design, der Dokumentenanalyse (siehe Abschnitt 8.2 Vorgehen). Ziel der Untersuchung mittels leitfadengestützter Interviews ist die Kontextualisierung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse. Die Nachteile der Dokumentenanalyse – das Fehlen von Kontextinformationen sowie die beschränkte Aussagekraft (Döring & Bortz, 2016, S. 537–538) aufgrund des systematischen Auswahlprozesses der Quotenstichprobe (siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen) – werden durch die Leitfadeninterviews ausgeglichen. Das konzipierte themenzentrierte Interview (Döring & Bortz, 2016, S. 377) ermöglicht es, Erklärungen für die offenen Fragen (siehe Abschnitt 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation) sowie Einschätzungen, „Argumente und Begründungen“ (Mey & Mruck, 2017, S. 16) für die Bedeutung der Kategorien im Hilfesystem zu explorieren (Döring & Bortz, 2016, S. 356). Darüber hinaus konzedieren die Interviews die Herausarbeitung „abgewehrte[r] und latente[r] Sinngehalte“ (Döring & Bortz, 2016, S. 377).

Zusätzlich zu dieser Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung werden, der Manifestationen von Stigmatisierung (Pryor & Reeder, 2011, S. 791) folgend, auch die Stigmatisierung durch Verbindungen sowie die Selbststigmatisierung untersucht, welche, der Intersektionalen Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) folgend, auf der Identitätsebene angesiedelt sind (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie).

8.4.2 Vorgehen

Die detaillierte Beschreibung des Vorgehens ist ein zentraler Aspekt der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit einer qualitativen Studie und demnach von herausragender Bedeutung für die Bestimmung der Güte (Döring & Bortz, 2016, S. 107–111). Ausgehend von der Untersuchungsanlage und dem Ziel des dritten Teils des Mehrphasen-Mixed-Methods-Designs (siehe Abschnitt 8.4.1 Ziel) ergeben sich die zu benützende Datenerhebungsmethode sowie Auswertungsmethode. Insbesondere das im anschließenden Unterkapitel Methode vorgestellte methodische Vorgehen muss ausführlich beschrieben werden. Dabei stehen die Prozesse der Kategoriengenerierung und vor allem die Erstellung des Kategoriensystems im Fokus der deduktiv-induktiv orientierten inhaltlich-strukturierenden qualitativen Auswertungsmethode. Die Darstellung des entwickelten Leitfadens erfolgt im anschließenden Unterkapitel Instrument. Das methodische Vorgehen wird dann durch die Beschreibung der Datenerhebung abgeschlossen (siehe Unterkapitel Datenerhebung). Die Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse werden in Abschnitt 8.4.3 Ergebnisse dargestellt und abschließend in Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation diskutiert.

Methode

Die Ziele des dritten Teils des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design sowie die vorgegebene Funktion der Untersuchung innerhalb der Multi-Methoden-Untersuchung beinhalten verschiedene Implikationen für die Datenerhebung und Datenauswertung. Der Untersuchungsgegenstand, die Kategorien Geschlecht und Gesundheit, ist bekannt und gleichermaßen bedarf es, um auch latente Sinnstrukturen zu erfassen, der Möglichkeit, induktive Schlüsse aus offenen Fragen ziehen zu können. Als Methode der Datenerhebung wird daher ein halbstrukturierter Interviewleitfaden konzipiert (Döring & Bortz, 2016, 356; 358; Hussy et al., 2013, S. 277), der explizit die Kategorien Geschlecht und Gesundheit thematisiert – und dementsprechend als problemzentriertes respektive themenzentriertes Interview gilt (Mey & Mruck, 2017, S. 11–12). Um möglichst umfassende Informationen sowie die jeweils individuellen Aspekte des Verhaltens und des Erlebens zu erfassen, werden die Interviews als direkte Dyade zwischen Interviewenden und interviewter Befragungsperson realisiert (Döring & Bortz, 2016, S. 359–360; Mey & Mruck, 2017, S. 11). Die interviewten Personen sind, um ein detailliertes Bild des Hilfesystems zu erhalten, sowohl Personen, die aktuell von Wohnungsnot betroffen sind und durch das Hilfesystem unterstützt werden, als auch Personen, die im Hilfesystem als Sozialarbeiter:innen und Hilfeplanersteller:innen arbeiten sowie drei Expertinnen, die auf einer jeweiligen Leitungsebene die Hilfe koordinieren. Die Konzeption des Leitfadens ist im folgenden Unterkapitel Instrument, und die Fallauswahl im darauffolgenden Unterkapitel Datenerhebung dargestellt. Als Auswertungsmethode für diese teilstandardisierten Leitfadeninterviews ist insbesondere die qualitative Inhaltsanalyse geeignet (Döring & Bortz, 2016, S. 542; Hussy et al., 2013, S. 277).

Neben der Datenerhebungsmethode spricht auch der Analyserahmen der Intersektionalen Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) für ein prinzipiell deduktiv angelegtes Analyseverfahren auf der Strukturebene (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). Ferner bestehen ein klares Erkenntnisinteresse sowie erste Ergebnisse und somit ein feststehendes Thema, das ebenfalls für ein deduktives Vorgehen spricht (Kuckartz, 2018, S. 63–64). Allerdings erfordern die Ziele der Untersuchung, wie die Kontextualisierung und das Aufdecken latenter oder abgewehrter Sinnstrukturen, ebenso ein offenes und somit induktives Vorgehen (Döring & Bortz, 2016, S. 538). Auch Winker und Degele schlagen ein induktives Vorgehen vor, wenn die Untersuchung, so wie an dieser Stelle, auf der Identitätsebene zu verorten ist. So wird neben der Untersuchung der Stigmatisierung durch Verbindungen und der Selbststigmatisierung auch die induktive Identifikation von weiteren Kategorien ermöglicht.

Demnach muss das Vorgehen der klassischen inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018, S. 97–122; Mayring, 2017, S. 3; Schreier, 2014, 3–4) gewählt werden. Dabei ist jedoch weiterhin offen, wie die Kategorien und insbesondere die Unterkategorien und das daraus entstehende Kategoriensystem, also das Kernelement einer jeden Inhaltsanalyse (Schreier, 2013a, S. 256), entwickelt werden (Kuckartz, 2018, S. 97). Entscheidend für die Beantwortung dieser Fragen sind das Erkenntnisinteresse und die spezifischen Forschungsfragen (Kuckartz, 2018, S. 63). Ausgehend von der deduktiv-induktiv angelegten Vorgehensweise (Kuckartz, 2018, S. 96) orientiert sich der Ablauf der Analyse sowohl an den von Schreier (2014, S. 4) vorgeschlagenen Arbeitsschritten als auch an der von Steigleder (2008, S. 185–188) modifizierten Auswertungsmethode:

  1. 1.

    Ableitung von Hauptkategorien aus der Fragestellung/dem Interviewleitfaden

  2. 2.

    Vertraut machen mit dem Material

  3. 3.

    Entwicklung von Unterkategorien

  4. 4.

    Überprüfung und Überarbeitung des Kategoriensystems

  5. 5.

    Erprobung des Kategoriensystems und weitere Entwicklung von Unterkategorien

  6. 6.

    Überprüfung und Überarbeitung des Kategoriensystems

  7. 7.

    Erprobung des Kategoriensystems und weitere Entwicklung von Unterkategorien

  8. 8.

    Überprüfung und Überarbeitung des Kategoriensystems

  9. 9.

    Kodieren des gesamten Materials mit dem überarbeiteten Kategoriensystem sowie weitere Entwicklung von Unterkategorien

  10. 10.

    Überprüfung des Kategoriensystems

  11. 11.

    Komplette und finale Kodierung

  12. 12.

    Ergebnisdarstellung, Interpretation, Beantwortung der Forschungsfragen

Die HauptkategorienFootnote 9 werden deduktiv aus der Fragestellung beziehungsweise aus dem daraus entwickelten Interviewleitfaden abgeleitet. Demgegenüber werden die Unterkategorien induktiv am Material gebildet. Dieses Vorgehen ist, wie bereits für die qualitativ inhaltsanalytische Dokumentenauswertung (siehe Unterkapitel Methode der qualitativen Inhaltsanalyse des Abschnitten 8.3.2 Vorgehen), angelehnt an Kuckartz‘ (2018, S. 86–96) direkter Kategorienbildung am Material.

Vor der Darstellung der einzelnen Schritte der Inhaltsanalyse müssen zwei Aspekte herausgestellt werden, die die Güte des Verfahrens sicherstellen und gleichzeitig kennzeichnend für den vorgestellten Ablauf sind. Die Methodik der induktiven Kategorienbildung von Kuckartz verhindert – oder mindestens erschwert – die Überprüfung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit mittels eines zweiten Kodieres (Kuckartz, 2018, S. 72). Der systematische Einsatz von Gütekriterien ist jedoch insbesondere im Kontext von qualitativen Inhaltsanalysen von großer Bedeutung (Kuckartz, 2018, S. 201–203; Mayring, 2017, S. 5; Schreier, 2013a, S. 258). Zirkularität (Döring & Bortz, 2016, S. 67–68) respektive Rückkopplungsschleifen (Mayring, 2017, S. 5) sowie wiederkehrende kontinuierliche Überprüfung des Kategoriensystems durch ‚peers‘ (Kuckartz, 2018, S. 218; Lincoln & Guba, 1985, S. 308–309) sichern die Güte des Verfahrens. Darüber hinaus erhöhen die Konzeption der vorliegenden Arbeit als Multi-Methoden-Untersuchung (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie) und die Funktion der leitfadengestützten Interviews innerhalb des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design (siehe Abschnitt 8.4.2 Vorgehen) die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse im Sinne einer Triangulation (Kuckartz, 2018, S. 219).

Der Prozess der Zirkularität bezieht sich dabei nicht auf den gesamten Forschungsprozess, sondern lediglich auf den Prozess der Erstellung des Kategoriensystems (Döring & Bortz, 2016, S. 68). Ausgehend von einer vorher festgelegten Fallauswahl (siehe Unterkapitel Datenerhebung) sowie dem vorab erstellten Interview-Leitfaden (siehe das folgende Unterkapitel Instrument) werden die während des ersten Interviews erstellten Kategorien und das darauf aufbauende Kategoriensystem mit jedem weiteren Interview beständig angepasst und weiterentwickelt. Zusätzlich werden die Arbeitsschritte neun und zehn zirkulär wiederholt, bis das finale Kategoriensystem feststeht. Die Notwendigkeit einer Probekodierung (Mayring, 2017, S. 5; Schreier, 2013a, S. 258) entfällt aufgrund dieser kontinuierlichen Anpassung und Überprüfung der am Material gebildeten Kategorien (Schreier, 2014, 4).

Die Überprüfung des Kategoriensystems findet im Rahmen des von Lincoln und Guba (1985, S. 308–309) entwickelten peer debriefings statt (Kuckartz, 2018, S. 218). Spall (1989, S. 280) beschreibt den Nutzen des peer debriefing wie folgt:

Peer debriefing contributes to confirming that the findings and the interpretations are worthy, honest, and believable.

Insgesamt standen dafür fünf unterschiedliche peers, außerhalb des Forschungsprojektes jedoch mit wissenschaftlicher Expertise, zur Verfügung. Vier dieser Personen befanden sich in ihrer wissenschaftlichen Qualifizierungsphase (Promotion in Rehabilitationswissenschaften, Bildungswissenschaften, Journalistik). Eine weitere Person hat einen breiten und fundierten wissenschaftlichen Hintergrund (Beratung und Begleitung verschiedener Abschlussarbeiten). Aufgaben dieser Experten sind die Überprüfung und kritische Auseinandersetzung mit dem bisherigen Kategoriensystem hinsichtlich interner Konsistenz, Logik und Anwendbarkeit. In einem anschließenden Gespräch werden offene Fragen und Anmerkungen diskutiert und das Kategoriensystem überarbeitet. Aufgrund des induktiven Vorgehens der Kategorienbildung sowie der Notwendigkeit der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit muss an dieser Stelle auch auf das Vorwissen des Autors verwiesen werden, welches einen Einfluss auf die Kategorienbildung hat (Döring & Bortz, 2016, S. 66–67). Der Autor arbeitet seit 2011 bei einem Träger der Wohnungslosenhilfe in Dortmund und verantwortet seit 2019 als ‚Einrichtungsleitung‘ den Bereich der Wohnungslosenhilfe des Trägers. Dabei ist er vernetzt in der kommunalen Hilfelandschaft sowie organisiert in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Mit der Thematik Stigmatisierung und (medialer) Destigmatisierung beschäftigt sich der Autor intensiv seit 2015. Als Stipendiat aus Gleichstellungsmitteln sind schließlich auch Geschlecht und Geschlechterfragen im Fokus des Autors.

Die übergeordnete Fragestellung sowie die Konzeption der vorliegenden Arbeit implizieren, welche Hauptkategorien im ersten Arbeitsschreit abgeleitet werden. Neben den Kategorien Geschlecht und Gesundheit, die explizit als Themen im Interview-Leitfaden erwähnt werden, können die Stigmatisierung sowie die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot als weitere Hauptkategorien deduktiv bestimmt werden. Neben der generellen Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot liegt der Fokus jedoch auch auf dem Einfluss des Hilfesystems auf diese beiden Aspekte.

Im zweiten Arbeitsschritt werden alle Interviews, die selbstständig erhoben und zum Großteil selbstständig transkribiert wurden (siehe Unterkapitel Datenerhebung), intensiv gelesen und relevante Textstellen notiert.

Der dritte Arbeitsschritt erfolgte anhand der ersten drei geführten Interviews. Die Unterkategorien werden dabei, wie bereits erwähnt, mittels Kuckartz‘ direkter Kategorienbildung am Material erstellt (Kuckartz, 2018, S. 83–86). Kuckartz‘ sechs Schritte umfassende Guideline zur Kategorienbildung am Material und deren konkrete Umsetzung werden aufgrund der herausragenden Bedeutung für die Fundierung des Kategoriensystems (Kuckartz, 2018, S. 63; Schreier, 2013a, S. 256–258) folgend präzise, doch knapp dargestellt:

  1. 1.

    Ziel der Kategorienbildung auf der Grundlage der Forschungsfrage bestimmen

  2. 2.

    Kategorien und Abstraktionsniveau bestimmen

  3. 3.

    Mit den Daten vertraut machen und Art der Kodiereinheiten festlegen

  4. 4.

    Die Texte sequenziell bearbeiten und direkt am Text Kategorien bilden. Zuordnung existierender oder Neubildung von weiteren Kategorien

  5. 5.

    Systematisieren und Organisieren des Kategoriensystems

  6. 6.

    Das Kategoriensystem festzurren

Das Ziel der Kategorienbildung entspricht dem übergeordneten Ziel der leitfadengestützten Interviewstudie: Die Kontextualisierung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse. Im Fokus stehen die als Hauptkategorien identifizierten Kategorien und deren Zusammenwirken sowie die Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot. Gesondertes Interesse liegt dabei auf dem Hilfesystem und dessen Umgang mit den Kategorien sowie dessen Bedeutung für die Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot. Neben der Öffentlichen Stigmatisierung werden darüber hinaus auch die auf der Identitätsebene verortete (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie) Selbststigmatisierung und die Stigmatisierung durch Verbindungen und die daraus resultierenden möglichen Hindernisse für die Teilhabe erfasst. Konkret bedeutet das, dass alle Aussagen, die den genannten Aspekten zugeordnet werden können, am Material gebildet und kodiert werden müssen.

Die Kategorien erfassen hauptsächlich konkrete unmittelbare Aussagen und deren manifeste Bedeutungen, also explizite Erklärungen zu den angesprochenen Themen und Antworten auf Nachfragen (Döring & Bortz, 2016, S. 544). Ferner werden auch latente Inhalte auf einer tieferen Bedeutungsebene (Döring & Bortz, 2016, S. 544) erfasstFootnote 10. Diese interpretative Leistung fußt einerseits auf einer der Grundannahmen der objektiven Hermeneutik – der Differenz zwischen latenter Sinnstruktur und subjektiver Sinnrepräsentanz (Schreier, 2013a, S. 251) – und identifiziert andererseits aktive Stigmatisierung der Interviewten gegenüber Menschen in Wohnungsnot, Stigmatisierung durch Verbindungen sowie die Selbststigmatisierung der Interviewten. Des Weiteren kann sowohl die Bedeutung (wie auch die Bedeutungszuschreibung) der Kategorie Geschlecht für die interviewten Personen festgestellt werden als auch das Verhalten der interviewten Personen in Wohnungsnot interpretiert werden. Demnach werden sowohl thematische Kategorien als auch analytische Kategorien gebildet (Kuckartz, 2018, S. 34). Auf den tieferliegenden Unterkategorien werden darüber hinaus auch in-vivo-Codes gebildet (Kuckartz, 2018, S. 35).

Um sich mit den Daten vertraut zu machen, werden jeweils die zu kodierenden Interviews erneut quergelesen und mit Memos versehen. Als Kodiereinheiten gelten sowohl einzelne Wörter und Sätze als auch aus mehreren Sätzen bestehende komplette Aussagen (Kuckartz, 2018, S. 84).

Der vierte Arbeitsschritt der Guideline zur Kategorienbildung beinhaltet die sequenzielle und kleinschrittige Bearbeitung der jeweiligen Interviews (Kuckartz, 2018, S. 84–85). Dabei wird sukzessive ein hierarchisches Kategoriensystem aufgebaut (Früh, 2017, S. 81; Kuckartz, 2018, S. 38) und die Systematisierung und Organisation des Kategoriensystems in einem beständigen Prozess angepasst. Demzufolge entfällt der von Kuckartz (2018, S. 85) entwickelte Schritt Fünf als eigenständiger Arbeitsschritt. Zusätzlich unterbleibt an dieser Stelle auch der sechste Schritt von Kuckartz‘ Guideline. Die finale Bestimmung des Kategoriensystems erfolgt nach der Kodierung aller Interviews und der finalen Überprüfung des Kategoriensystems im Sinne des peer debriefing (s. o.).

Der vierte Schritt der Analyse besteht aus der Überprüfung und Überarbeitung des Kategoriensystems. Dafür lesen zwei peers unabhängig voneinander zuerst die Interviews und bewerten anschließend das bis dahin entwickelte Kategoriensystem hinsichtlich Passung zum Material und der inhaltlichen Stringenz. Schließlich werden drittens die jeweiligen Erkenntnisse in separaten Gesprächen mit dem Kodierer diskutiert und reflektiert. Danach erfolgt ausgehend von der Diskussion und Reflexion die Überarbeitung des Kategoriensystems.

Das überarbeitete Kategoriensystem wird im fünften Schritt der Analyse an die nächsten drei Interviews angelegt und erprobt. Zugleich erfolgt die Erstellung weiterer Unterkategorien, wie sie im dritten Schritt der Analyse dargestellt ist.

Die Überprüfung und Überarbeitung im sechsten Schritt der Analyse erfolgt analog zum Vorgehen des vierten Schrittes, allerdings erfolgen die Arbeitsschritte durch andere peers als im vierten Schritt. Die anschließende Erprobung des überarbeiteten Kategoriensystems und die Erstellung weiterer Unterkategorien im siebten Schritt der Analyse erfolgt kongruent zum bisherigen Vorgehen an drei weiteren Interviews. Auch das Prozedere der daran anschließenden Überprüfung und Überarbeitung ist bereits dargestellt worden. Einziger Unterschied ist die Zusammensetzung der peers. Die bisher nicht eingebundene Person wird in den Prozess der Überprüfung und Überarbeitung zusätzlich mit einer bereits eingesetzten Person einbezogen.

Nachdem bereits neun Interviews kodiert wurden und den Überprüfungsprozess des peer debriefing durchlaufen haben, erfolgt schließlich, im neunten Schritt der Analyse, die Kodierung des gesamten Materials und die weitere Erstellung von Kategorien sowie der Anpassung des Kategoriensystems, wie im dritten Schritt der Analyse dargestellt. Dieser Prozess ist zirkulär mit dem zehnten Schritt der Analyse verbunden. Nach der ersten vollständigen Kodierung des Materials erfolgt die Überprüfung im Sinne des peer debriefing. Dabei wird jeweils das nach der Diskussion und Reflexion überarbeitete Kategoriensystem der nächsten peer zur Überprüfung hinsichtlich Passung und Stringenz zur Verfügung gestellt. Somit entstehen mindestens fünf Überarbeitungsphasen. Der Überprüfungsprozess kann erst als erfolgreich klassifiziert werden, wenn alle peers die Passung und Stringenz des Kategoriensystems bestätigt haben.

Im elften Schritt der Analyse wird, mit dem nun finalen Kategoriensystem, das gesamte Interviewmaterial erneut und komplett kodiert. Die Arbeit am Material ist mit diesem Schritt abgeschlossen.

Die Analyse abschließend werden im zwölften Analyseschritt die gewonnenen Ergebnisse dargestellt und interpretiert. Die Darstellung und Interpretation rekurriert auf Kuckartz‘ Vorschlag zum Auswertungsprozess und schließt mit der Beantwortung der Forschungsfragen (2018, S. 117–121).

Instrument

Zweck des Interviewleitfadens sind die Strukturierung der Interviewsituation (Mey & Mruck, 2017, S. 13) sowie die Vergleichbarkeit der Interviews (Schreier, 2013b, S. 225). Zugleich kann der Leitfaden flexibel an die jeweilige Interviewsituation angepasst werden und gewährt durch offene Fragen ohne vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ein großes Maß an Freiheitsgeraden (Döring & Bortz, 2016, S. 372). Der Aufbau der Leitfäden gliedert sich dabei in drei Arten von Fragen (Schreier, 2013b, S. 225–226):

  • Einstiegsfragen/einleitende Fragen

  • Hauptfragen/Leitfadenfragen

  • Nachfragen/Ad-hoc-Fragen

Tabelle 8.84 Fragen der jeweiligen Leitfadeninterviews

In der Regel ist der Umfang hierbei auf ein bis zwei Seiten mit acht bis 15 Fragen begrenzt (Döring & Bortz, 2016, S. 372; Mey & Mruck, 2017, S. 13). Im Sinne des problemzentrierten respektive themenzentrierten Interviews behandeln die Hauptfragen die für die Untersuchung und die Untersuchungsfrage relevanten Themen (Döring & Bortz, 2016, S. 372; Mey & Mruck, 2017, S. 13; Schreier, 2013b, S. 226), also die Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Bedingt durch die Zusammensetzung der Gruppe der interviewten Personen unterscheiden sich die Leitfäden im Detail voneinander, die Struktur sowie die Themensetzung sind allerdings gleichbleibend. Der Leitfaden zur Befragung der Personen, die aktuell in Wohnungsnot sind und durch das Hilfesystem betreut werden, besteht aus insgesamt elf Fragen und erfasst explizit die persönlichen Erfahrungen. Dahingegen besteht der andere Leitfaden aus neun Fragen, wobei zwei Fragen als indirekte Fragen konzipiert sind, um den kritischen Sachverhalt zu kaschieren und über die Distanz der befragten Person zum Sachverhalt eine Aussage zu erleichtern (Bierhoff & Petermann, 2014, S. 177–178). Der Tabelle 8.84 können die jeweiligen Fragen entnommen werden, die benützten Interviewleitfäden mit den Ad-Hoc-Fragen, den Erläuterungen sowie den Zusatzfragen sind im Anhang F Interviewleitfäden zu finden. Der final formulierte Leitfaden wurde dabei sowohl in der Entwicklung durch das kritische Feedback von wissenschaftlich ForschendenFootnote 11 als auch in der Durchführbarkeit mittels eines Probeinterviews validiert (Döring & Bortz, 2016, S. 372–373).

Datenerhebung

Aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit zum Feld sowie des Ziels der Kontextualisierung wird, entgegen der Empfehlungen (Döring & Bortz, 2016, S. 365), kein ausführlich begründeter Stichprobenplan aufgestellt und verfolgt. Die Interviewanfragen laufen lediglich über die für die Dokumentenanalyse entstandenen Kontakte ins Feld der Wohnungslosenhilfe. Angefragt wurden jeweils Interviewoptionen mit Personen, die aktuell in Wohnungsnot sind und vom qualifizierten Hilfesystem betreut werden sowie Personen die im Hilfesystem als Sozialarbeiter:innen und/oder Hilfeplaner:innen arbeiten oder eine Leitungsfunktion einnehmen. Insgesamt wurden im Zeitraum vom Mai 2017 bis September 2017 N = 18 Interviews realisiert. Sieben Interviews konnten dabei mit Personen geführt werden, die aktuell in Wohnungsnot sind und vom Hilfesystem betreut werden (W = 60 %), weitere acht Interviews mit Sozialarbeiter:innen und/oder Hilfeplaner:innen (W = 87,5 %) sowie drei Personen mit Leitungsfunktionen (W = 100 %). Die Personen stammen dabei, so wie die Dokumente der Dokumentenanalyse, aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen.

Wie bereits erwähnt, werden die Interviews ihrer Konzeption folgend als direkte Dyade zwischen Interviewer und interviewter Person realisiert (Döring & Bortz, 2016, S. 359–360; Mey & Mruck, 2017, S. 11). Die Interviews finden aus forschungsökonomischen Gründen (Döring & Bortz, 2016, S. 364) in den Örtlichkeiten der jeweiligen Trägereinrichtungen statt. In allen Fällen stand dafür ein separater geschlossener Raum zur Verfügung.

Alle Interviews werden mittels Audioaufzeichnung dokumentiert (Mey & Mruck, 2017, S. 14). Im Sinne der Forschungsethik werden alle Interviewpartner:innen vorab über den Ablauf des Interviews, den Zweck der Forschung, die Freiwilligkeit der Durchführung und der Audioaufzeichnung sowie die Archivierung und Vernichtung der Daten informiert (Döring & Bortz, 2016, S. 124). Die schriftliche Einverständniserklärung wird in zweifacher Ausführung vor Beginn des Interviews vom Interviewer und der interviewten Person unterzeichnet (Döring & Bortz, 2016, S. 124).

Ein weiterer zentraler Bestandteil der Datenerhebung ist die Aufbereitung (Döring & Bortz, 2016, S. 583) beziehungsweise Transformation (Dresing & Pehl, 2017, S. 5) der Audioaufzeichnung in eine Schriftform. Weil neben den Erläuterungen und Erklärungen zu den Kategorien auch abgewehrte und latente Sinngehalte (siehe Abschnitt 8.4.1 Ziel) erfasst werden sollen, bedarf es einer vollständigen Transkription der Interviews (Döring & Bortz, 2016, S. 583; Schreier, 2013a, S. 246). Diese fokussiert jedoch lediglich den Inhalt der Äußerungen und schließt die Äußerungsform aus, um zum einen die Lesbarkeit zu erhöhen und den Zeitaufwand zu minimieren (Ayaß, 2017, S. 422; Dresing & Pehl, 2017, S. 9; Schreier, 2013a, S. 246–247). Die benützten Transkriptionsregeln entsprechen der vertikalen Transkription (Ayaß, 2017, S. 423) und orientieren sich an Schirmers Vorschlag zu gängigen Schreibweisen (Schirmer, 2009, S. 203).

8.4.3 Ergebnisse

Das Kategoriensystem als Kern der Inhaltsanalyse (Mayring, 2017, S. 5; Schreier, 2013a, S. 256–258) ist Ziel und Ergebnis der leitfadengestützten Interviewuntersuchung (Früh, 2017, S. 81). Durch das vollständige Kategoriensystem wird der komplette (mehrdimensionale) Bedeutungsraum des Forschungsobjekts – hier insbesondere die Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie die Teilhabe, Stigmatisierung und die Bedarfe und das Verhalten von Menschen in Wohnungsnot – erfasst. Demnach handelt es sich bei der Analyse um eine Fallübergreifende respektive Thematische Analyse (Döring & Bortz, 2016, S. 605). Das Kategoriensystem strukturiert und begrenzt dabei den Bedeutungsraum, in den die Untersuchungsobjekte eingeordnet werden können (Früh, 2017, S. 81). Als erster Schritt der Analyse und Interpretation der Interviews wird demnach folgend das Kategoriensystem umfassend vorgestellt und erläutert. Die Darstellung fußt auf Kuckartz‘ Ausdifferenzierung des Auswertungsprozesses (2018, S. 117–121). Der zweite Schritt der Analyse und Interpretation erfolgt in Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation mit der Bezugnahme auf die Forschungsfrage und das Ziel der Leitfadeninterviews (Kuckartz, 2018, S. 120) sowie der Beantwortung der aus der Dokumentenanalyse abgeleiteten offenen Fragen (siehe das Unterkapitel Offene Fragen des Abschnitten 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation). Die Adaption der von Kuckartz‘ (2018, S. 118) chronologisch aufeinander aufbauenden Formen der Auswertung und somit das konkrete weitere Vorgehen stellt sich wie folgt dar:

  1. 1.

    Kategorienbasierte Auswertung der Haupt- und Subkategorien

  2. 2.

    Zusammenhänge zwischen den Kategorien

  3. 3.

    Kreuztabellen – qualitativ und quantitativ

Haupt- und Subkategorien

Das finale Kategoriensystem umfasst acht Hauptkategorien mit 32 Subkategorien, dabei wurden insgesamt 181 Codes erstellt. Der Abbildung 8.43 kann das ausführliche und komplexe Kategoriensystem entnommen werden. Die Darstellung des hierarchischen Kategoriensystems ist dabei kreisförmig angeordnet. Die acht Hauptkategorien befinden sich im Zentrum und die verschiedenen Sub- respektive Unterkategorien sind jeweils zirkulär um dieses Zentrum angeordnet. Das komplette Kategoriensystem mit den Ankerbeispielen kann im Anhang G Kategoriensystem mit Ankerbeispielen eingesehen werden.

Die vorab als Hauptkategorien identifizierten Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie die Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot (siehe Unterkapitel Methode des Abschnitts 8.4.2 Vorgehen) können nicht in ihrer Gesamtheit als Hauptkategorien für das finale Kategoriensystem übernommen werden. Bei der sukzessiven Erstellung des Kategoriensystems und insbesondere dem jeweiligen peer debriefing kristallisiert sich die besondere Bedeutung der Kategorie Geschlecht heraus. Sechs der acht Hauptkategorien befassen sich demnach mit der Bedeutung respektive der Auswirkung der Kategorie Geschlecht für Menschen in Wohnungsnot. Die anderen vorab als Hauptkategorien definierten Aspekte werden als Sub- oder Unterkategorien verortet, nehmen jedoch weiterhin eine zentrale Rolle im Kategoriensystem ein. Neben den Hauptkategorien bezüglich der Auswirkungen der Kategorie Geschlecht befasst sich eine weitere Hauptkategorie mit der Auswirkung von Wohnungsnot allgemein. Die letzte Hauptkategorie sammelt alle sonstigen Bedeutungsinhalte, die nicht den anderen Hauptkategorien zugeordnet werden können.

Abbildung 8.43
figure 43

Kategoriensystem der Leitfaden-Studie. Im inneren Kreis sind die acht Hauptkategorien verortet. In konzentrischen Kreisen, um den inneren Kreis herum, sind die jeweiligen Sub- beziehungsweise Unterkategorien dargestellt. Jedem Kategorienstrang ist eine Farbe zuzuordnen

Wie in Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie dargestellt übernimmt die vorliegende Arbeit die heteronormative und somit dichotome Einteilung von Geschlecht. Diese Zweigeschlechtlichkeit und der daraus resultierende Fokus auf Geschlechterunterschiede bildet sich auch in den Leitfäden und den Interviews ab. Daraus leitet sich eine für das Kategoriensystem handlungsleitende Unterscheidung zwischen Frau und Mann beziehungsweise eine Unterscheidung zwischen der Auswirkung von Weiblichkeit und Männlichkeit abFootnote 12. Die Hauptkategorien eins und zwei sind die zentralen Kategorien des Kategoriensystems und dementsprechend mit 134 vergebenen Codes äußerst umfangreich und komplex. Die Hauptkategorien lauten:

  1. 1.

    Auswirkungen von Weiblichkeit

  2. 2.

    Auswirkungen von Männlichkeit

Darüber hinaus können weitere Auswirkungen der Kategorie Geschlecht identifiziert werden, die keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können (Hauptkategorie 3). Im Gegensatz zu diesen Benennungen der Auswirkungen von Geschlecht werden die unterschiedlichen Auswirkungen der Kategorie Geschlecht auf Menschen in Wohnungsnot auch generell abgelehnt respektive verneint (Hauptkategorie 4). Beim Vergleich der verschiedenen Aussagen eines jeden Falls können Widersprüche in Bezug auf die Feststellung von unterschiedlicher Auswirkungen der Kategorie Geschlecht auf der einen Seite und in Bezug auf die Verneinung solcher unterschiedlichen Auswirkungen auf der anderen Seite festgestellt werden (Hauptkategorie 5).

Ferner werden generelle Aussagen in Bezug auf die Bewertung der Bedeutung von Geschlecht und den klassischen Geschlechterrollen (zu den klassischen Geschlechterrollen siehe das Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot und die typische Merkmale von Gender nach Goldschmidt et al. (2014, S. 98)) getätigt (Hauptkategorie 6). Die Hauptkategorien heißen demnach:

  1. 3.

    Weitere Auswirkungen von Männlichkeit und Weiblichkeit

  2. 4.

    Verneinung von Unterschieden zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit

  3. 5.

    Widersprüche bezogen auf die Auswirkung von Geschlecht

  4. 6.

    Bedeutungen von Geschlechterrollen

Schließlich lauten die letzten zwei Hauptkategorien, wie bereits angerissen:

  1. 7.

    Allgemeine Auswirkungen von Wohnungsnot

  2. 8.

    Sonstiges

Die Tabelle 8.85 sowie die Abbildung 8.44 zeigen die ersten beiden Hierarchieebenen (Hauptkategorien und Subkategorien) des Kategoriensystems und ermöglichen somit einen ersten Überblick über die Struktur des Kategoriensystems. Die grau hinterlegten Subkategorien der Tabelle zeigen dabei jene Kategorien an, denen der Autor latenten und/oder abgewehrte Sinnstruktur zuordnet, die im weiteren Verlauf jeweils bei der Erläuterung der Kategorie nährgehend dargelegt werden.

Tabelle 8.85 Haupt- sowie Subkategorien. Grau hinterlegte Kategorien entstammen latenten Sinngehalten der Interviewpartner:innen
Abbildung 8.44
figure 44

Haupt- und Subkategorien des Kategoriensystems. Jedem Kategorienstrang ist eine Farbe zugeordnet

Hauptkategorie 1 – Weiblichkeit und Hauptkategorie 2 – Männlichkeit

Um eine gute Vergleichbarkeit zwischen den zugeordneten unterschiedlichen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zu garantieren, konnten identische Subkategorien für beide Hauptkategorien hergestellt werden. Die Abbildung 8.45 zeigt die beiden Hauptkategorien mit ihren jeweiligen Unterkategorien in einer Gegenüberstellung. Die Darstellung beider Hauptkategorien und derer Erläuterungen erfolgt deshalb gebündelt in einem gemeinsamen Schritt. Die vier identischen Subkategorien lauten:

  1. A.

    Positive Auswirkungen

  2. B.

    Negative Auswirkungen

  3. C.

    Verhalten der interviewten Person (in Wohnungsnot)

  4. D.

    Themen in Wohnungsnot

Abbildung 8.45
figure 45

Gegenüberstellung der beiden Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer jeweils vollständigen Ausdifferenzierung in Sub- und Unterkategorien

Die zentralen Subkategorien der beiden Hauptkategorien sind die Zuordnung zu positiven Auswirkungen sowie negativen Auswirkungen von Weiblichkeit beziehungsweise Männlichkeit. Den vier Subkategorien können ca. 33 % aller kodierten Textstellen zugeordnet werden. Dabei sind auch diese beiden Unterkategorien (annähernd) identisch aufgebaut. Positive wie negative Auswirkungen können in den Bereichen (I) Gesundheit und Krankheit, (II) Hilfesystem, (III) Stigmatisierung, (IV) Wohnungsverlust und (V) soziales Geschlecht identifiziert werden und ermöglichen somit eine Vergleichbarkeit innerhalb der Kategorien Weiblichkeit respektive Männlichkeit und zwischen diesen beiden Kategorien (siehe Tabelle 8.86 und Abbildung 8.46).

Für die Hauptkategorie Weiblichkeit können insgesamt 192 positive Auswirkungen und 195 negative Auswirkungen identifiziert werden. Im Gegensatz dazu können für die Hauptkategorie Männlichkeit nur 71 positive Auswirkungen jedoch 240 negative Auswirkungen zugeordnet werden.

Abbildung 8.46
figure 46

Gegenüberstellung der jeweiligen Subkategorien Positive Auswirkungen und Negative Auswirkungen mit einer Ausdifferenzierung in die jeweiligen Unterkategorien

Bis auf die nicht vorhandene positive Auswirkung von Weiblichkeit bei Wohnungsverlust sind die Unterkategorien der Auswirkungen für Weiblichkeit und Männlichkeit übereinstimmend. Als negative Auswirkung können darüber hinaus jeweils noch Textstellen die Stigmatisierungen enthalten, kodiert werden. Dabei bestehen Kodierungen bezüglich der Selbststigmatisierung aus durch den Autor vorgenommenen, interpretative Sinnrekonstruktionen.

Neben der Zuordnung von Textstellen zu den fünf Unterkategorien werden Sinneinheiten, die explizit positive oder negative Auswirkungen beinhalten, direkt den Subkategorien Positive Auswirkungen und Negative Auswirkungen zugeordnet. Diese können wiederum vier Bereichen zugeordnet werden: Der Rolle als Hilfesuchende:r, Charaktereigenschaften, Ressourcen/Barrieren und die Beschreibung geschlechtstypischen Verhaltens sowie dessen Einordnung auf einer Meta-Ebene. Bedingt durch die mangelnde Trennschärfe zwischen den vier Bereichen werden diese jedoch nicht als einzelne Kategorien aufgeführt. Für alle vier Bereiche sowie für Weiblichkeit wie auch Männlichkeit können sowohl Textstellen mit positiven Auswirkungen als auch Textstellen mit negativen Auswirkungen identifiziert werden. Die zwei Bereiche Rolle als Hilfesuchende:r und Charaktereigenschaften entsprechen zwei Kodierungen des Codebuchs der Dokumentenanalyse (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung) und bestätigen somit die Relevanz dieser Aspekte für die Bewertung von Menschen in Wohnungsnot respektive den Betreuten im Hilfesystem. Aufgrund der Häufigkeitsverteilungen der positiven wie negativen Auswirkungen (Weiblichkeit – positive Auswirkungen: 132, negative Auswirkungen: 100; Männlichkeit – positive Auswirkungen: 38, negative Auswirkungen: 99) kann an dieser Stelle bereits von einer Bestätigung des Ergebnisses der größeren Abwertung von männlichen Betreuten durch das Hilfesystem gesprochen werden.

Tabelle 8.86 Gegenüberstellung der jeweiligen Subkategorien Positive Auswirkungen und Negative Auswirkungen von Weiblichkeit sowie Männlichkeit. Grau hinterlegt sind die interpretativ gewonnenen Sinnstrukturen

Die jeweiligen Zuordnungen entsprechen zumeist den typischen Gendermerkmalen, wie sie auch Goldschmidt et al. (2014, S. 98) postulieren (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot): Frauen seien freundlich, hilfsbereit, zielstrebig jedoch auch ängstlich, zurückhaltend und unterwürfig. So formuliert Interviewpartnerin 3 passend und in Abgrenzung zur männlichen Rolle:

So das hat auch was mit Rollen zu tun. Äh, ich erlebe es auch noch mal Rollenverständnis in der Tagesstätte. Die Männer hier die haben: Wann gibt es Essen, wann gibts dieses, wann gibts jenes, kein Duschzeug da. Und die Frauen in der Frauenberatung organisieren sich selbst. Die kaufen fürs Frühstück ein, (.) bereiten das Frühstück. Fragen dann mal was ist, können wir nicht mal Marmelade hier kochen? Äh, unterstützen sich gegenseitig, ähm, jemand kann gut nähen, die nächste kann was anderes. Tauschen Kinderkleidung aus und da ist nicht die Erwartung, ich werde versorgt, sondern die freuen sich, dass sie da nen Raum haben, wo sie was gestalten können.

(3: #0:18:48-9# – #0:19:40-7#)

Tabelle 8.87 Die vier verschiedenen Bereiche der direkten Zuordnung und ihre jeweiligen Aspekte positiver Auswirkungen für Weiblichkeit und Männlichkeit

Männern werden jedoch auch mit den klassischen positiven Attributen Stärke, Selbstbewusstsein und Unbekümmertheit beschrieben. Insgesamt fällt auf, dass die jeweiligen Zuschreibungen und Beschreibungen zumeist aus zwei Perspektiven betrachtet werden können. Ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Autonomie kann zugleich dafür stehen, die Hilfe nicht annehmen zu wollen/können oder stur zu sein. Diese Ambivalenz wird insbesondere in Bezug auf mögliche Ressourcen und Barrieren deutlich. Beispielsweise kann die Beziehungsorientierung von Frauen sowohl als Ressource, im Sinne eines stabilisierenden Netzwerkes, als auch als Barriere, hier als falsche Fokus-Setzung, Überforderung oder als ‚falscher Lösungsweg‘ verstanden werden. Den Tabellen 8.87 und 8.88 können die einzelnen Überschriften der den vier verschiedenen Bereichen zugeordneten Sinnstrukturen jeweils für Weiblichkeit und Männlichkeit entnommen werden. Neben der Ambivalenz einzelner Aspekte kann beobachtet werden, dass Aspekte wie die Bereitschaft, Hilfe annehmen zu wollen, für beide Geschlechter zutreffend sind. Im besonderen Fall der Bereitschaft, Hilfe annehmen zu wollen, kann dabei für Weiblichkeit wie für Männlichkeit eine Bestätigung und demnach eine positive Auswirkung sowie eine Verneinung, also eine negative Auswirkung identifiziert werden.

Tabelle 8.88 Die vier verschiedenen Bereiche der direkten Zuordnung und ihre jeweiligen Aspekte negativer Auswirkungen für Weiblichkeit und Männlichkeit

Die jeweiligen Unterkategorien der Subkategorien Positive Auswirkungen und Negative Auswirkungen – (I) Gesundheit und Krankheit, (II) Hilfesystem, (III) Stigmatisierung, (IV) Wohnungsverlust und (V) soziales Geschlecht – sind, wie bereits erwähnt, identisch aufgebaut und unterscheiden sich nur in der Zuordnung in positive oder negative Auswirkungen. Die auch hierbei zu beobachtende Ambivalenz respektive Unterschiedlichkeit verschiedener Sinnzuschreibungen wird über die Differenz zwischen latenter Sinnstruktur und subjektiver individueller Sinnrepräsentanz (siehe das Unterkapitel Methode des Abschnitten 8.4.2 Vorgehen) erklärt.

Die Unterkategorie Gesundheit und Krankheit differenziert äquivalent zur differenzierten Betrachtung der Kategorie Gesundheit (siehe Kapitel 5. Gesundheit als Kategorie im Kontext von Wohnungsnot) zwischen psychischer Gesundheit respektive Krankheit und AbhängigkeitserkrankungenFootnote 13. Als positive Auswirkungen – von Weiblichkeit wie auch von Männlichkeit – gelten für beide Aspekte der Unterkategorie ein jeweils offener Umgang mit der Thematik sowie eine Resilienz. Demgegenüber sind die negativen Auswirkungen eine größere Prävalenz sowie das Nicht-Thematisieren. Die Häufigkeit der Kodierungen (siehe Tabelle 8.89) bestätigt dabei zum einen die Prävalenz der psychischen Auffälligkeiten respektive Krankheiten sowie den geschlechtsspezifischen Umgang mit psychischen Auffälligkeiten und Sucht (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht).

Tabelle 8.89 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf die psychische Gesundheit und Sucht

Die Unterkategorie Hilfesystem erfasst die Bedeutung der Geschlechtskongruenz beziehungsweise Geschlechtsinkongruenz zwischen Betreuten in Wohnungsnot und Mitarbeiter:innen des Hilfesystems, sowie die der Unterkategorie Negative Auswirkungen von Männlichkeit zugeordneten höheren Erwartungen des Hilfesystems an Männlichkeit in Wohnungsnot. Sowohl für die Kongruenz wie auch die Inkongruenz in Bezug auf Männer und Frauen können Aussagen zu positiven wie negativen Auswirkungen gefunden werden. Interviewpartnerin 12 beschreibt die positiven wie negativen Auswirkungen einer weiblichen Hilfeplanerin folgendermaßen:

Ich würde vermuten ähmmm eine Hilfeplanerin bei einem Mann (.) vielleicht auch ein bisschen fordernder und-(.) ist und mehr erwartet. Also bei ner Frau geht man ja mit-mit (Sanftheit): Und ja, ich weiß es ist auch ganz schwer und ähm über manches mag man ja auch nicht sprechen und das müssen Sie jetzt ja auch nicht. Nur haben Sie bitte Verständnis, ich brauche für die Hilfepläne ja auch einiges an Information. Wir kennen die- aber ich kann Ihnen zusichern, das ist wirklich- ich geh da ganz vertraulich mit um. Diese Worte wird sie bei einem Mann in der Form nicht benutzen.

(12: #0:39:48-1# – #0:40:35-7#)

Weiblichen Hilfeplanerinnen respektive Mitarbeiterinnen des Hilfesystems werden insgesamt, sowohl in der Kongruenz zu weiblichen Betreuten sowie in der Inkongruenz zu männlichen Betreuten, eher positive Auswirkungen zugeschrieben (siehe Tabelle 8.90).

Tabelle 8.90 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf die Geschlechterkongruenz der betreuenden Person

Die Unterkategorie Abwertung/Stigmatisierung ist – logischerweise, – nur für die Subkategorie der negativen Auswirkungen definiert. Um die Stigmatisierung von Wohnungsnot in ihrer Komplexität zu erfassen, gliedert sich die Unterkategorie in drei der Manifestationen von Stigmatisierung nach Pryor und Reeder (2011, S. 791): (a) Öffentliche Stigmatisierung, (b) Strukturelle Stigmatisierung und (c) Selbststigmatisierung. Die Kategorie der Öffentlichen Stigmatisierung differenziert zwischen der Stigmatisierung der Öffentlichkeit sowie der Stigmatisierung der interviewten Person. Die Stigmatisierung(en) der interviewten Personen werden dabei in einem interpretativen Prozess aus latenten Sinnstrukturen herausgearbeitet. Die berichtete Stigmatisierung der Öffentlichkeit deckt sich mit den gängigen Stigmatisierungen von Menschen in Wohnungsnot, wie sie in Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot dargestellt werden:

Jaaaa, gesellschaftlich gesehen, der wohnungslose Mann den wir zugeschrieben (.) der trinkt, der ist dreckig, der stinkt… Die wohnungslose Frau […] auf jeden Fall Versager […] dumm, unintelligent. Und aus irgendeinem Grund fällt mir ähm die Formulierung Schlampe ein.

(12: #00:16:54-0# – #00:19:04-3#)

Die identifizierte Strukturelle Stigmatisierung bezieht sich hauptsächlich auf die negativen Auswirkungen der Angebotsstruktur wie auch auf eine institutionelle Ursachenzuschreibung, die auf den klassischen Geschlechtsrollenerwartungen rekurriert – Frauen sind Opfer, Männer sind Täter. Daraus folgt die Strukturelle Stigmatisierung, dass weibliche Personen in Wohnungsnot zwar schutzbedürftig sind, männliche Personen in Wohnungsnot hingegen weniger Unterstützung bedürfen. Die häufige Nennung der negativen Auswirkung der Angebotsstruktur auf Weiblichkeit bezieht sich auf fehlende frauenspezifische Angebote. Textstellen, die der Selbststigmatisierung zugeordnet werden, sind zum einen erneut Interpretationen von latenten Sinnstrukturen, zum anderen beziehen sich diese nur auf Aussagen von Personen in Wohnungsnot. Der Tabelle 8.91 können die Häufigkeitsverteilungen für die jeweiligen Unterkategorien für Weiblichkeit und Männlichkeit entnommen werden. Auffällig ist dabei die im Vergleich zu den anderen Häufigkeiten extrem hohe Anzahl (n = 70 Kodierungen) der Stigmatisierungen von Männlichkeit durch die interviewten Personen. Die Zuordnungen ähneln dabei jenen Sinneinheiten, die, in vier Bereich unterteilt, direkt der Subkategorie Negative Auswirkungen zugeordnet wurden: die Attribution als schlechter Bedürftiger und mit schlechten Charaktereigenschaften sowie der Beschreibung als Täter. Die Auffälligkeit der Diskrepanz zwischen den Häufigkeiten wird dadurch verstärkt, dass im Gegensatz zur gefundenen Abwertung von Weiblichkeit direkte negative Auswirkungen von Weiblichkeit beschrieben werden können. Als Erklärung für diese zuerst widersprüchlichen Befunde kann die Beschaffenheit der jeweiligen Sinnstrukturen angeführt werden. Eine größere Ängstlichkeit oder die Internalisierung von Frauen kann zwar als negative Auswirkung von Weiblichkeit, jedoch nicht als Abwertung interpretiert werden, wohingegen die negativen Auswirkungen wie Aggressionspotential, Externalisierung oder vermehrtes Lügen von Männern auch als Stigmatisierung von Männlichkeit interpretiert werden können. Darüber hinaus muss auch die Möglichkeit einer verzehrten Wahrnehmung, also einer fehlerhaften Zuordnung von Textstellen, in Betracht gezogen werden. Diese Möglichkeit wird in der Interpretation und der Beantwortung der offenen Fragen erneut aufgegriffen und in die Limitationen miteinbezogen.

Tabelle 8.91 Häufigkeitsverteilung der Negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit differenziert nach den drei Manifestationen von Stigmatisierung

Im Fokus der Unterkategorie Wohnungsverlust steht die Auswirkung des Wohnungsverlustes auf die jeweilige Geschlechterrolle. Für Männlichkeit kann dabei sowohl eine positive – die Möglichkeit der Herstellung von Männlichkeit – wie auch negative Auswirkung – der Verlust von Männlichkeit – identifiziert werden. Für Weiblichkeit hingegen können nur Textstellen, die den Verlust von Weiblichkeit beschreiben, identifiziert werden. Interviewpartnerin 16 formuliert die positive Möglichkeit der Herstellung von Männlichkeit folgendermaßen:

Ja klar, die haben ja dieselbe Wahrnehmung wie wir, und da ist das ja eine Szene, und man muss ja vielleicht auch taff sein, um da durchzukommen, und man wird auch bewundert, wenn man nicht so aussieht, aber trotzdem paar Jahre auf der Platte war. Man kann da glaube ich als Mann eher sagen, ich habe den Dschungel überlebt.

(16: #01:01:51-0# – #01:02:18-5#)

Frauen hingegen wird bei einem Wohnungsverlust eine erhebliche Bedrohung ihrer eigenen Geschlechtsrollenidentität zugeschrieben, was auch an der Menge der identifizierten Textstellen ersichtlich wird (siehe Tabelle 8.92). Die beschriebenen Konsequenzen davon sind, dass Frauen in Wohnungsnot (1.) sich nicht als wohnungslos sehen oder beschreiben, sie (2.) männliches Geschlechtsrollenverhalten adaptieren oder aber, durch den Verlust der eigenen Geschlechterrolle, (3.) jeglichen Halt im Leben verlieren und dadurch mehr verelenden als Männer in Wohnungsnot.

Tabelle 8.92 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit bei Wohnungsverlust

Die letzte Unterkategorie erfasst Auswirkungen des jeweiligen sozialen Geschlechts beziehungsweise der Geschlechtsrollenidentität. In Abgrenzung zu den vorher aufgeführten positiven wie negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die durch das das Zusammenwirken von Sex und Gender bedingt sindFootnote 14, erfasst die letzte Unterkategorie explizit nur die Auswirkung von Gender respektive dem sozialen Geschlecht. Um die Auswirkung des biologischen Geschlechts an dieser Stelle ausschließen zu können, wurde im Interview die Auswirkung von „femininen Männern“ und „maskulinen Frauen“ sowie von homosexuellen Männern wie Frauen exploriert. Aussagen über „feminine“ und/oder homosexuelle Männer wurden demnach den Auswirkungen von Weiblichkeit zugeordnet und umgekehrt. Interviewpartnerin 17 formuliert die Auswirkung des explizit sozialen Geschlechts von Weiblichkeit wie folgt:

Ähhmmmm feminin angehauchte Männer ähh gehen da oft äh unter beziehungsweise könnten auch potenzielle Opfer äh werden um ausgenutzt zu werden. Beispiel: Jemand hat Geld, ja, und ähh ist eher so ein so ein femininer Typ, ne, der wird eher dann äh von anderen äh bedrängt ähh, dass man teilhaben könnte/…_an seinem Geld,/…

[17: #00:45:31-1# – #00:46:33-8#]

Die identifizierte Verteilung der Auswirkungen (siehe Tabelle 8.93) unterstützt die bisherigen Befunde bezüglich der positiven wie negativen Auswirkungen des jeweiligen Geschlechts. Es können mehr positive Auswirkungen von Weiblichkeit als von Männlichkeit identifiziert werden.

Tabelle 8.93 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf das soziale Geschlecht

Die Subkategorie des Verhaltens der interviewten Person besteht fast ausschließlich aus Zuschreibungen des Autors und somit aus interpretativen Sinnrekonstruktionen. Überdies werden, weil nur die Auswirkung von Weiblichkeit und Männlichkeit von Menschen in Wohnungsnot auf das Verhalten dieser abgebildet werden soll, nur die Aussagen der sieben Interviewpartner:innen in Wohnungsnot benützt. Eingeteilt werden die Aussagen in rollentypisches Verhalten und rollen-un-typisches Verhalten. Diese Zuordnung orientiert sich sowohl an den bereits erwähnten jeweiligen klassischen geschlechtstypischen Merkmalen (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) sowie den geschlechtsabhängigen Unterschieden zwischen Männern und Frauen in Wohnungsnot (siehe auch hier Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Die jeweilige Subkategorie des Verhaltens ist sowohl für die Auswirkungen von Weiblichkeit als auch die Auswirkungen von Männlichkeit erneut ähnlich aufgebaut. Zugeordnet zu rollentypisch und rollen-un-typisch kann das Verhalten respektive die Beschreibung des Verhaltens sieben verschiedenen Themen zugeordnet werden:

  1. (a)

    (psychische) Gesundheit,

  2. (b)

    die Unterscheidung zwischen Passivität/Opfer und Aktivität/Stärke,

  3. (c)

    Soziale Beziehungen,

  4. (d)

    die Verantwortungszuschreibung in Selbst- und Fremdverantwortung,

  5. (e)

    Dankbarkeit für die Hilfe,

  6. (f)

    Emotionalität sowie

  7. (g)

    weitere Themen

Die Themen (e) Dankbarkeit und (f) Emotionalität wurden aufgrund der durch die beobachtete Häufigkeit vermutete Relevanz als eigenständige Kategorien definiert, obwohl sie auch unter der Sammelkategorie (g) weitere Themen hätten dargestellt werden können. Die in der Tabelle 8.94 abgebildeten Häufigkeiten bestätigen die angenommenen rollentypischen Verhaltensmuster der Personen in Wohnungsnot. Die Subkategorie Weiblichkeit wird dabei eher mit einer Offenheit gegenüber der eigenen (psychischen) Gesundheit, einer relativ hohen Betroffenheit von Gewalterfahrungen, der Bedeutung von hilfereichen sozialen Beziehungen, der Benennung der eigenen Selbstverantwortung für die derzeitige Wohnungsnot, einer hohen Dankbarkeit gegenüber der erfahrenen Hilfe sowie einer insgesamt deutlichen Emotionalität verbunden. Die Subkategorie Männlichkeit hingegen kennzeichnet sich durch Verhalten, das mit Stärke und Aktivität und mit typischen männlichen Themen wie Arbeit und Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht werden kann. Auch die auf den ersten Blick aus dieser Einteilung herausfallende Kategorie Unterstützungsbedarf bestätigt das antizipierte Verhalten auf den tiefliegenden Hierarchieebenen des Kategoriensystems (siehe Anhang G Kategoriensystem mit Ankerbeispielen). Die weiblichen Interviewpartnerinnen können relativ differenzierte Aussagen über den eigenen Unterstützungsbedarf tätigen, wohingegen die männlichen Interviewpartner nur einen einzigen geringen Unterstützungsbedarf, im Sinne einer Ansprechperson, formulieren können.

Tabelle 8.94 Häufigkeitsverteilung des geschlechterrollentypischen respektive geschlechterrollenuntypischen Verhaltens von Weiblichkeit und Männlichkeit. Die Tabelle ist grau meliert, da es sich um Sinnrekonstruktionen des Autors handelt

Allerdings kann, sowohl für die Subkategorie Weiblichkeit als auch für die Subkategorie Männlichkeit auch rollen-un-typisches Verhalten beobachtet werden. Jeweils ca. 30 % des beobachteten Verhaltens wird dabei als un-typisches Verhalten definiert. Auffällig sind dabei die hohe Anzahl an Verhalten von Frauen, das mit Stärke und Aktivität assoziiert werden kann (n = 32), so wie die hohe Anzahl hilfreicher sozialer Beziehungen, von denen Männer berichten beziehungsweise deren Verhalten mit solchen hilfreichen Beziehungen in Verbindung gebracht wird (n = 12).

Die vierte Subkategorie erfasst jeweils die Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit auf die Art der Themen von Personen in Wohnungsnot. In Abgrenzung zum in Subkategorie drei erfassten Verhalten der Personen werden die Aussagen der im Hilfesystem arbeitenden Personen beachtet. Eine Ausnahme sind Aussagen der Personen in Wohnungsnot, die dezidiert keine Selbstaussagen sind. Die Unterteilung der Themen auf der Hierarchieebene der Unterkategorien erfolgt wiederum und äquivalent zur Subkategorie drei in geschlechtsrollen-typisch und geschlechtsrollen-un-typisch (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot).

Die identifizierten Kategorien (siehe Tabelle 8.95) decken sich dabei sowohl mit den positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit als auch mit den in der Subkategorie drei nachgewiesenen und dem Verhalten zugeordneten Themen. Weil insbesondere die induktive Erfassung von Themen im Fokus der Kategorienbildung stand, können an dieser Stelle keine Aussagen über die Häufigkeitsverteilungen und somit Relevanz der einzelnen Kategorien getätigt werden. Auffällig sind die verschiedenen Aspekte, die jeweils als rollen-un-typische Themen für Weiblichkeit und Männlichkeit zugeordnet wurden. So überrascht die Detailliertheit beziehungsweise große Anzahl der verschiedenen identifizierten Aspekte für die Kategorie Opfer sowie die Bewertung sozialer Beziehungen, als wichtiges Thema von Männlichkeit. Interviewpartnerin 16 formuliert diesen, bisher zumeist unbeachteten, Bedarf wie folgt:

Diese Sache, wieder Kontakt aufnehmen zu verloren gegangenen Kindern, das ist bei Männern früher ganz spät erst gekommen, aber wenn dann auch sehr massiv. Also das ist nicht nur reines Frauenthema, würde ich sehr deutlich sagen, das wurde oft unterschätzt.

[16: #00:33:27-2# – #00:37:08-0#]

Auch die Identifikation der für Weiblichkeit untypischen Themen Drogen-/Suchtmittelkonsum, Stärke respektive Täterin, die Zuschreibung als schlechte Bedürftige sowie die Thematik des „Platte“ Machens ist nicht zu erwarten gewesen. Allerdings werden diese Themen zumeist als Einzelfälle deklariert. Interviewpartnerin 12 beschreibt einen einzigen ihr bekannten Fall des „Platte“ Machens folgendermaßen:

Ich hab hier in den Jahren ähm...ich habs in einem Fall wirklich mal erlebt, wo ne junge Frau auf der Straße gelebt hat … Das is-ist ja immer diese verdeckte Wohnungslosigkeit eigentlich.

[12: #00:10:19-0# – #00:10:48-8]

Tabelle 8.95 Häufigkeitsverteilung der geschlechterrollentypischen respektive geschlechterrollenuntypischen Themen von Weiblichkeit und Männlichkeit

Hauptkategorie 3 – Weitere Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit

Neben den Sinneinheiten, die explizit den jeweiligen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zugeordnet werden (Hauptkategorie 1 und 2), können weitere Auswirkungen der Geschlechtlichkeiten identifiziert werden, die sich einer direkten Zuordnung verwehren. Die Hauptkategorie 3 beinhaltete sowohl Aussagen, die Ambivalenzen beinhalten, als auch solche, die nicht bewertete Geschlechterunterschiede beziehungsweise direkte Vergleiche zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit erfassen. Unterschieden werden diese in Bezug auf einen Vergleich des Verhaltens, der Geschlechterunterschiede in den Ursachen für Wohnungsnot sowie der Geschlechterverteilung von Menschen in Wohnungsnot. Im Vergleich zu der Häufigkeit, mit denen Sinneinheiten Auswirkungen von Weiblichkeit (n = 690) oder Männlichkeit (n = 431) zugeordnet werden können, ist die Häufigkeit von Aussagen, die keine direkte Zuordnung ermöglichen (n = 110), sehr gering.

Die Kodierungen, die Ambivalenzen beinhalten, erfassen drei unterschiedliche Bereiche. Zum einen werden Aspekte benannte, die für die jeweilige Geschlechtlichkeit sowohl eine Barriere als auch eine Ressource darstellen können. Interviewpartnerin 18 beschreibt einen solchen Aspekt für Männlichkeit passend:

Wir haben ja verschiedene Rollenmuster in unserem Rollensatz ähm zu bilden, wenn in dem ähm in einem Rollensatz eine Rolle drin ist, wo man äh unter männlich versteht, dass er äh immer und zu jeder Zeit äh als dominant wahrgenommen wird, dann ist das an vielen Stellen unter Umständen hilfreich, sei es im Männerasyl oder sei es auf dem Marktplatz. Wenn er aber sich davon nicht verabschieden kann, wenn er ins Jobcenter geht (...2). Dann wird das kontraproduktiv für ihn.

[18: #00:32:59-5# – #00:35:25-8#]

Zum anderen werden Aspekte benannt, die für eine Geschlechtlichkeit eine Ressource und für die andere Geschlechtlichkeit eine Barriere sein können. Als einen solchen Aspekt, der für eine Geschlechtlichkeit Vorteile und die andere Geschlechtlichkeit Nachteile beinhaltet, benennt Interviewpartnerin 6 Kinder. Frauen, die sich zumeist um Kinder kümmern, verbleiben länger in kritischen Situationen, wohingegen Männer ohne die Gebundenheit durch Kinder schneller diese Situationen verlassen können. Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass Kinder häufig auch als Ressource dargestellt werden. Das Hilfesystem der Jugendhilfe kann häufig präventiv Unterstützungsleistungen anbieten.

Also da glaube ich, wenn ich jetzt zum Beispiel an Frauen mit Kindern denke, ja die dann eher in einer Wohnung oder in einer Wohnsituation verbleiben, oder dann noch mal so eine ganz andere markante Situation haben, ehhhm glaube ich ist es für Männer trotz alledem (3) ehhm ein bisschen einfacher, weil die selterner die Kinder haben, ja. ehm Männer haben (.)

[6: #00:07:25-0# – #00:07:52-4#]

Auch die nicht bewerteten Geschlechterunterschiede beziehungsweise direkten Vergleiche zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit können in drei Bereiche eingeteilt werden. Geschlechterunterschiede können im Verhalten der Personen in Wohnungsnot, den Ursachen sowie in der Verteilung identifiziert werden. Für die Unterschiede im Verhalt werden eben solche Unterschiede im Kontext von Drogen/- Suchtmittelkonsum gesondert erfasst. Interviewpartnerin 13 vergleicht das Verhalten von Frauen und Männern in Wohnungsnot wie folgt:

Emm typisch war im Grunde, sie hat halt wirklich alles dafür getan, dass sie eine Wohnung findet. Sie hat halt, ich sag jetzt mal, den, die Wohnungssuche, das war, da hat sie den Fokus draufgelegt. Männer setzen glaube ich, [ …] die setzten dann eher den Fokus auf ich gehe arbeiten, gucke dass ich Geld ranschaffe emm sodass ich mir dann diese Wohnung und die ganzen Sachen drum herum kaufen kann.

[13: #00:29:36-6# – #00:30:19-1#]

In Bezug auf die unterschiedlichen Ursachen stellt Interviewpartnerin 16 fest, dass die Ursachen auf den ersten Blick gleich scheinen mögen, sich aber im Detail zumeist unterscheiden:

Vielleicht wenn man in die einzelnen Teilbereiche reinguckt, also wenn die, sagen wir mal so, wenn Frauen und Männer wegen Mietschulden wohnungslos geworden sind und ansonsten gleiche Thematiken hätten, dann könnte man wahrscheinlich feststellen, dass bei Männern Mietschulden anders entstanden sind als bei Frauen, solche Sachen.

[16: #00:33:27-6 – #00:37:08-0]

Neun der 18 Interviewpartner:innen nennen explizit einen Unterschied in der Häufigkeitsverteilung des Geschlechts. Die dabei erwähnte Häufigkeitsverteilung entspricht der allgemein anerkannten Verteilung von 75 % männlichen zu 25 % weiblichen Personen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Eine gesonderte Kategorie erfasst dabei Aussagen, die diese Verteilung mit anderen, zumeist Frauen in Wohnungsnot zur Verfügung stehenden Hilfesystemen, wie die Jugendhilfe oder die Eingliederungshilfe, erklären.

Hauptkategorie 4 – Verneinung von Unterschieden zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit

Hauptkategorie 4 steht im Kontrast zu den ersten drei Hauptkategorien. Erfassen diese ersten drei Hauptkategorien unterschiedliche Auswirkungen von Geschlecht, werden der Hauptkategorie 4 Aussagen zugeordnet, die solche Unterschiede negieren. Diese Negierungen können in fünf Subkategorien unterteilt werden:

  1. A.

    Ablehnung der Thematik

  2. B.

    Individuelle Bedarfe

  3. C.

    Gleiche Bedarfe

  4. D.

    Unterschiede nur in Angebotsstruktur

  5. E.

    Im Lebensbereich Gesundheit und Krankheit

Obwohl die Interviews explizit die verschiedenen Auswirkungen der Geschlechter von Personen in Wohnungsnot fokussiert, können 50 Aussagen identifiziert werden, die die Thematik „Geschlecht“ ausdrücklich ablehnen. Gefragt nach Unterschieden zwischen Männern und Frauen in Wohnungsnot formuliert Interviewpartner 18 seine Ablehnung der Thematik eindrücklich:

Tatsächlich (.) will ich es nicht, aus eher moralischen Erwägungen, aber äh selbst aus pragmatischen kann ich es nicht richtig, äh weil das Geschlechtsspezifische nicht so stark ääh nach vorne kommt.

[18: #00:05:01-3# – #00:06:30-8]

Und weiter:

Da kann ich die gleiche Antwort im Grunde genommen nur ähm geben, die ich Ihnen gegeben habe. Ich habe den Eindruck, dass das eher äh von außen rein interpretiert wird.

[18: #00:12:26-7# – #00:12:55-0#]

Aufmerksam gemacht auf ein zu diesen Aussagen diskrepantes, Verhalten erwidert er:

Genau, das ist-das ist jetzt aber das Bekenntnis einer Schwäche.

[18: #00:48:14-7# – #00:48:19-7#]

Darüber hinaus berichten verschiedene Interviewpartner:innen, dass die Thematik innerhalb ihrer Teams sehr kritisch bewertet werden. Begründet werden diese Kritik und die Ablehnung der Thematik „Geschlecht“ mit der Argumentation, dass die Thematik für Menschen in Wohnungsnot und somit dem Hilfesystem nicht relevant wären. Des Weiteren, so die geschilderte Argumentation, seien solche Geschlechterfragen nicht mehr aktuell – „So, so ungefähr. Das ist doch alles abgearbeitet, das hattet ihr mal und das sind keine Themen mehr“ 16: #00:26:36-5# – #00:28:07-5# – oder würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen – „Ich spreche jetzt in Anführungsstrichen: Das hält ja auf, und da ist ja auch noch die Sache mit dem: „Ich muss noch was schreiben für das SGB II“, das a viel einfacher, und b: Das hat ja alles Fristen und so. Und da kann man sich auch bisschen hinter verstecken“ 16: #00:28:18-5# – #00:29:45-3#.

Der häufigste Grund (n = 65) für eine Negierung der Auswirkung von Geschlecht ist der Verweis auf die Individualität der Hilfebedarfe und des daraus resultierenden individuellen Hilfeplanverfahrens und -verlaufs. Argumentativ ähneln sich alle unter der Subkategorie B erfassten Aussagen. Zwar werden Unterschiede er- und anerkannt, diese Unterschiede beruhten jedoch auf der Individualität der Personen in Wohnungsnot und könnten nicht durch eine Geschlechtszugehörigkeit erklärt werden. Darüber hinaus wird der Bedarf einer geschlechtssensiblen Herangehensweise sowie der Beachtung von Geschlecht und Geschlechterunterschieden mit dem Verweis auf die Konzeption als Einzelfallhilfe abgelehnt. In den dazugehörenden individuellen Hilfeplanverfahren würden alle Bedarfe der Person in Wohnungsnot erfasst werden, eine Beachtung von Geschlecht wäre demnach nicht nötig.

Die nächste Subkategorie, Subkategorie C, registriert Aussagen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den damit einhergehenden unterschiedlichen Bedarfen von Männern und Frauen in Wohnungsnot negieren. Interviewpartnerin 3 beschreibt diese Gleichheit wie folgt:

Also es gibt dann bei beiden wenig tragfähige soziale Beziehungen. Sind mehr Zweckbekanntschaften, Notbekanntschaften, äh, aber nichts was trägt, so. In der Regel ist das aber die Entwicklung dahin, dass irgendwann mal verbrannte Erde da ist, ne? Dass sich Freunde zurückziehen, Verwandte, Familie, äh, sagen ich kann, ich will nicht mehr. (2) Und dann die Wohnungslosigkeit, dass der Endpunkt an der Stelle ist, äh, von existenzieller Armut, ne?

[3: #00:27:10-9# – #00:27:48-1#]

Des Weiteren werden Aussagen der Interviewpartner:innen, die sich in einer Wohnungsnot befinden und von einer Gleichbehandlung berichten, weshalb wiederum keine Geschlechterunterschiede benannt werden könnten, identifiziert. Diese Aussagen gehen somit auch auf die Konzeption als individuelle Einzelfallhilfe ein.

Subkategorie D identifiziert Sinnstrukturen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern einzig in der Struktur der Angebote der Wohnungslosenhilfe erklären. Neben der Annahme, dass gar keine Unterschiede mehr bestehen würden, wenn es die gleichen Angebote für Männer wie Frauen in Wohnungsnot gäbe, bezweifeln acht der 18 Interviewpartner:innen die Aussagekraft der Statistik zur Verteilung des Geschlechts von Menschen in Wohnungsnot. Würde insbesondere die verdeckte Wohnungsnot von Frauen einen Niederschlag in den Statistiken finden, würden keine oder nur geringe Unterschiede in der Verteilung festgestellt werden.

Der letzten Subkategorie werden Aussagen zugeordnet, die sich auf die Negierung von Unterschieden im Bereich Gesundheit beziehen. Differenziert in der bekannten Unterteilung in psychischer Gesundheit und Drogen-/Suchtmittelkonsum können für beide Aspekte Verneinungen von Geschlechterunterschieden beobachtet werden.

Hauptkategorie 5 – Widersprüche in Bezug auf Auswirkungen von Geschlecht

Die Aussagen der Hauptkategorien 1, 2 und 3, die die unterschiedlichen Auswirkungen des Geschlechts von Menschen in Wohnungsnot postulieren, stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Aussagen der Hauptkategorie 4, die die unterschiedlichen Auswirkungen negieren. Diese Diskrepanz besteht jedoch nicht nur zwischen diesen Hauptkategorien und den vermeintlich verschiedenen Interviewpartner:innen sondern kann insbesondere auf einer intrapersonellen Ebene identifiziert werden. Diese intrapersonellen Widersprüche respektive Sinnstrukturen werden jedoch von den Interviewpartner:innen in der Regel weder benannt noch erkannt und verbleiben somit der eigenen subjektiven Wahrnehmung und Deutung verborgen. Die Hauptkategorie 5 besteht daher aus der Identifikation dieser Widersprüche und dementsprechend aus Zuschreibungen des Autors und interpretativen Sinnrekonstruktionen.

Die Widersprüche können dabei abermals in drei Bereiche spezifiziert werden, die sich in drei Unterkategorien abbilden. Unterkategorie A erfasst mit n = 60 die meisten Widersprüche. Die Unterkategorie bezieht sich auf den intrapersonellen Widerspruch zwischen Aussagen, die Unterschiede von Männern und Frauen in Wohnungsnot beinhalten, und Aussagen, die solche Geschlechterunterschiede negieren. Für 15 der 18 Interviewpartner:innen können solche Widersprüche identifiziert werden.

Die Unterkategorien B und C grenzen sich dazu durch eine Erläuterung der eigenen Arbeitsweise in Bezug auf den Umgang mit Geschlechterunterschieden ab. In der Unterkategorie B werden widersprüchliche Sinnstrukturen aufgeführt, die auf der einen Seite aus der Benennung von Geschlechterunterschieden und auf der anderen Seite aus der eigenen Überzeugung mit allen Personen in Wohnungsnot gleich zu arbeiten, bestehen. Mit acht der elf im Hilfesystem arbeitenden Personen kann für einen Großteil dieser Interviewpartner:innen diese Diskrepanz identifiziert werden. Schließlich wird in der letzten Unterkategorie der umgekehrte Widerspruch zusammengefasst: Zum einen können Aussagen beobachtet werden, die Geschlechterunterschiede negieren und herausstellen, mit beiden Geschlechtern gleich zu arbeiten, zum anderen können gleichzeitig Aussagen erfasst werden, aus denen eine auf das jeweilige Geschlecht angepasste Arbeitsweise hervorgeht. Weil für einige Interviewpartner:innen sowohl Widersprüche den Unterkategorie B als auch der Unterkategorie C zugeordnet werden können, ergibt sich daraus eine weitere Diskrepanz. Einige Interviewpartner:innen berichten sowohl, ihre Arbeitsweise an die geschlechtsspezifischen Bedürfnisse der Personen in Wohnungsnot anzupassen, als auch unabhängig vom Geschlecht mit allen Personen in Wohnungsnot gleich zu arbeiten. Als Beispiel für eine widersprüchliche subjektive Sinnstruktur liefert Interviewpartner 18 zwei anschauliche Aussagen:

Ähm, ist eher die Frage, wie ich schon sagt jemand kommt rein äh zu gucken erstmal, also sich nicht gleich festzulegen, egal ob Mann oder Frau.

[18: #00:47:48-0 – #00:48:28-0]

Man muss die Rollenverständnisse beider Geschlechter angucken, sich beide Geschlechter der ähh Ratsuchenden angucken, gucken wie funktioniert das Miteinander und sich da auch überraschen lassen.

[18: #01:24:47-8 – #01:25:29-0]

Die Interviewpartner:in 17 und 18 müssen, aufgrund der Vielzahl an diskrepanten Aussagen, im Zusammenhang mit der Hauptkategorie 5 – Widersprüche – gesondert hervorgehoben werden. Überraschend ist dieser Befund insbesondere vor dem Hintergrund des berichteten, im Vorfeld der Interviewdurchführung durchgeführten, gemeinsamen Diskurses dieser beiden Teilnehmer:innen über die Thematik. Nur bei einer Interviewpartnerin, welche sich bereits seit längerer Zeit mit der Thematik Geschlecht beschäftigt, können keine Widersprüche identifiziert werden. Die Einordnung dieser Befunde erfolgt sowohl in der abschließenden Analyse der Interviews als auch den zu berichtenden Limitationen.

Hauptkategorie 6 – Bedeutung von Geschlechterrollen

Hauptkategorie 6 befasst sich zwar auch mit Geschlecht, erfasst jedoch, im Gegensatz zu den vorherigen Hauptkategorien, die die Auswirkungen von Geschlecht sowie Widersprüchen zwischen Aussagen zu diesen Auswirkungen beschreiben, Aussagen zur Bedeutung von Geschlechterrollen. Unterschieden wird zwischen der Bedeutung von Geschlechterrollen für (A.) das Hilfesystem, (B.) Menschen in Wohnungsnot, (C.) die interviewte Person und (D.) die Gesellschaft (siehe Tabelle 8.96). Die Bedeutung von Geschlechterrollen für die interviewte Person wird über Zuschreibungen des Autors und interpretative Sinnrekonstruktionen identifiziert. Zentral für alle vier Subkategorien ist die Orientierung an „klassischen“ Geschlechterrollen. Diese ergeben sich aus den typischen Gendermerkmalen – Männer: aktiv, unabhängig, (willens-)stark, selbstsicher, überlegen und leistungsorientiert; Frauen: gefühlsbetont, sanft, freundlich, herzlich, verständnisvoll und beziehungsorientiert –, wie sie auch Goldschmidt et al. (2014, S. 98) darlegen. Das Bild der „klassischen“ Geschlechterrollen ist sowohl eine Zuschreibung von als auch eine Aufforderung zu einem vermeintlich normalen heteronormativen Verhalten (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot).

Tabelle 8.96 Sub-und Unterkategorien der Hauoptkategorie 6. Grau hinterlegt sind die Sinnrekonstruktionen des Autors

Die Subkategorie A gliedert sich in drei Unterkategorien, (I) die Bewertung, dass klassische Geschlechterrollen einen großen Einfluss auf das Hilfesystem haben, (II) Aussagen, die einen Einfluss der verschiedenen Geschlechterrollen auf das Hilfesystem beinhalten sowie schließlich (III) der dargestellte Umgang mit der Thematik im jeweiligen Arbeitsumfeld.

Der Unterkategorie I werden Aussagen zugeordnet, die die besondere Herausforderung der hohen Schutzbedürftigkeit von Frauen aufgrund ihrer Geschlechterrolle hervorstellen, worauf das Hilfesystem wiederum reagieren müsse.

Die Unterkategorie II ist in vier weitere Kategorien zu differenzieren. Die Zuschreibung von einem Einfluss der verschiedenen Geschlechterrollen für das Hilfesystem wird unterschieden in Bezug auf

  1. a.

    das Geschlecht der Personen in Wohnungsnot

  2. b.

    das Geschlecht der Bezugspersonen

  3. c.

    die Interaktion zwischen Personen in Wohnungsnot und den Bezugspersonen

  4. d.

    den geschlechtssensiblen Fokus des Hilfesystems

Dabei unterscheiden die Kategorien a und b jeweils zwischen dem Vorhandensein von geschlechtsspezifischen Themen respektive Schwerpunkten und einem geschlechtsspezifischen Umgang mit Themen. Die Kritik der Interviewpartnerin 7 stellt den geschlechtsspezifischen Umgang der Bezugsperson mit ihren Bedarfen eindrücklich dar:

Der gute Mann der das da aufgenommen hat, der ist mehr auf meine Arbeitslosigkeit eingegangen (.) eh als auf (.) meine Wohnungsängste und eh das ich da was gesucht habe geschweige denn darauf, dass ich gesagt habe (...) ich bin in Moment in einem Zustand, da denke ich nicht mal daran.

[7: #00:02:09-3# – #00:04:52-1#]

Die Kategorie c., die Interaktion zwischen Personen in Wohnungsnot und Bezugsperson, hebt speziell die Relevanz der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle und deren Auswirkungen auf Seiten der Bezugspersonen hervor. Diese Reflexion wird beschrieben als essentiell für eine professionelle Arbeitsbeziehung zu der Person in Wohnungsnot und grundlegend zur Wahrnehmung aller, insbesondere geschlechtsrollenspezifischer, Bedarfe (siehe Interviewpartnerin 3: #00:56:03-0# – #00:56:15-8#). Obwohl auch die Notwendigkeit einer Vergrößerung der Anzahl männlicher Bezugspersonen gefordert wird (siehe Interviewpartnerin 16 II: #00:32:34-5# – #00:33:28-2#) postuliert in der Kategorie d die Interviewpartnerin 17 eine Relevanz des Themas Geschlecht einzig für weibliche Personen in Wohnungsnot.

Unterkategorie III erfasst den aktuellen Diskussionstand der Debatte um die Wichtigkeit der Thematik innerhalb des Arbeitsumfeldes. Die dazu identifizierten Aussagen weisen auf eine kontroverse und ambivalente Haltung im jeweiligen Arbeitsumfeld hin. Eine eindeutig positive, bejahende Haltung kann nicht beobachtet werden, eine Ablehnung im Arbeitsumfeld hingegen kann ausgemacht werden.

Auch für die Subkategorie B, die Bedeutung von Geschlechterrollen für Menschen in Wohnungsnot, kann eine dreiteilige Differenzierung auf der Ebene der Unterkategorien vorgenommen werden – (I) große Bedeutung der klassischen Geschlechterrollen; (II) keine große Bedeutung der klassischen Geschlechterrollen; (III) Veränderungen der Bedeutung von Geschlechterrollen. Die identifizierten Sinneinheiten und deren Häufigkeitsverteilung unterstreichen die Relevanz klassischer Geschlechterrollen für Menschen in Wohnungsnot. Insgesamt können n = 26 Aussagen identifiziert werden, die die Bedeutung von klassischen Geschlechterrollen bestätigen, wohingegen nur n = 4 Aussagen beobachtet werden, die einen Einfluss der klassischen Geschlechterrollen negieren. Den klassischen Geschlechterrollen werden dabei positive wie negative Konsequenzen zugeschrieben: Sie gäben zum einen Halt und Verlässlichkeit und zum anderen habe das Nicht-Entsprechen dieser Geschlechterrollen negative Konsequenzen für Personen in Wohnungsnot. Gleichzeitig können Sinneinheiten identifiziert werden, die die Bedeutung klassischer Geschlechterrollen in ihrer scharfen Trennung zwischen männlicher und weiblicher Rolle deutlich hervorheben.

Unter der Kategorie III werden Aussagen zusammengefasst, die einer Veränderung der Bedeutung der Geschlechterrolle sowie dem Verständnis von Geschlechterrollen allgemein zuzuordnen sind. Berichtet wird dabei davon, dass die klassischen Geschlechterrollen früher eine deutlich größere Relevanz gehabt hätten als heute.

Die Subkategorie C erfasst die Bedeutung von Geschlechterrollen für die interviewten Personen und setzt sich dabei sowohl aus expliziten Aussagen der interviewten Person als auch aus Zuschreibungen des Autors und interpretativen Sinnrekonstruktionen zusammen. Erneut weist die Subkategorie eine Dreiteilung auf. Unterschieden wird zwischen (I) Aussagen, die, analog zu den anderen Subkategorien, die große Bedeutung der klassischen Geschlechterrollen für die interviewte Person annehmen lassen, (II) Aussagen von Personen aus dem Hilfesystem, die eine Relevanz der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle postulieren sowie schließlich (III) Aussagen, die explizit die Interviewanfrage und das Interview als Auslöser für eine Auseinandersetzung mit der Thematik Geschlecht und der Bedeutung der verschiedenen Geschlechterrollen benennen. Für die Hälfte der Interviewpartner:innen können Sinneinheiten erfasst werden, die auf eine große Bedeutung der klassischen Geschlechterrollen für die jeweils interviewte Person deuten. Beachtenswert ist, dass gleichzeitig n = 24 Aussagen von ebenfalls der Hälfte der interviewten Personen identifiziert werden, die davon berichten, sich mit der Bedeutung des eigenen Geschlechts und der eigenen Geschlechterrolle in Bezug auf eine Auswirkung auf die Arbeit auseinandergesetzt zu haben. Diese Auseinandersetzung wird dabei als bedeutsam für die eigene Arbeit eingeschätzt. Interviewpartnerin 3 beschreibt die Bedeutung des eigenen Geschlechts und ihre Auswirkung als Frau wie folgt:

Ja, gut, also ich bin ja jetzt ich muss auch immer relativieren und sagen, ich bin jetzt ne Frau.

[…]

Während von Berat und Klientel, Frau zu Frau, sehr häufig auch Beziehungsgeschichten, Sexualität, Verhütung ähh sexuelle Gewalt, Gewalt an sich ne Rolle spielt, ähm fällt das bei Männern sehr raus.

[3: #00:09:44-9# – #00:10:12-1#]

Schließlich wird diese Relevanz der eigenen Geschlechterrolle durch n = 12 Aussagen bekräftigt, die die Interviewanfrage sowie das Interview als Auslöser zur Auseinandersetzung mit der Thematik benennen und diese zugleich positiv bewerten.

Als letzte Subkategorie werden Sinneinheiten identifiziert, die die Bedeutung von klassischen Geschlechterrollen für die Gesellschaft postulieren. Es können nur n = 6 Aussagen beobachtet werden, die jedoch alle eine negative Konsequenz dieser klassischen Geschlechterrollen respektive deren Nicht-Entsprechen für Menschen in Wohnungsnot beschreiben.

Hauptkategorie 7 – Allgemeine Auswirkungen von Wohnungsnot

Unter der Hauptkategorie 7 werden Aspekte erfasst, die sich mit der zweiten im Fokus der vorliegenden Arbeit stehenden Kategorie Gesundheit befassen. Ferner werden Aspekte identifiziert, die die vier verschiedenen Manifestationen von Stigmatisierung nach Pryor und Reeder (2011, S. 791) beinhalten (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung und Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). In Abgrenzung zu den vorherigen Hauptkategorien steht die Kategorie Geschlecht nicht im Zentrum der Aussagen und wird allenfalls am Rande erwähnt.

In Bezug auf die Kategorie Gesundheit wird, wie gehabt, unterschieden zwischen psychischen Auffälligkeiten respektive Krankheiten und dem expliziten Drogen-/Suchtmittelkonsum.

Für beide Unterkategorien können Aussagen über die jeweilige Entwicklung und Verschlechterung im Sinne der Schwere einer psychischen Beeinträchtigung respektive der Konsummenge beobachtet werden. Die Auswirkungen auf den Rechtskreis durch eine psychische Auffälligkeit oder Krankheit stechen als Kategorie aufgrund ihrer Häufigkeit (n = 18), in besonderem Maße hervor. Erwähnt werden dabei sowohl das Schnittstellenproblem und die daraus resultierende Abgrenzungsproblematik zwischen der Wohnungslosenhilfe und der Eingliederungshilfe (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem) sowie der Einfluss des Geschlechts auf dieses Schnittstellenproblem. Frauen in Wohnungsnot mit psychischen Auffälligkeiten, so die Vermutung der interviewten Personen, werden durch die Kostenträger sowie einzelne Mitarbeiter:innen eher in die Zuständigkeit der Eingliederungshilfe verortet. Interviewpartnerin 2 schätzt die Relevanz dieser Schnittstellenproblematik mit 40 % aller Fälle sehr hoch ein (siehe Interview 2: #01:04:27-0# – #01:05:59-0#). Darüber hinaus wird auch auf die Problematik einer Unterversorgung von Menschen mit schwersten psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe eingegangen (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem). Auch hier macht Interviewpartnerin 2 eine prägnante Aussage:

wir haben aber auch auf beiden Seiten einfach Personen, Frauen wie Männer die Ähhm Überhaupt keine Einsicht in ihrer Krankheit haben, Ähh die sogenannten Systemspringer, die also keine Hilfe annehmen wollen

[2: #00:54:29-5# – #00:55:44-0#]

Subkategorie B nimmt eine bedeutende Funktion für die vorliegende Untersuchung ein und ist mit n = 111 identifizierten Sinneinheiten eine der größten Subkategorien des gesamten Kategoriensystems. Erfasst wird die allgemeine Stigmatisierung von Wohnungsnot und somit einer der zentralen Untersuchungsgegenstände der vorliegenden Arbeit. Differenziert wird, wie bereits erwähnt, zwischen den vier Manifestationen von Stigmatisierung nach Pryor und Reeder (2011, S. 791). Die Unterkategorien lauten demnach:

  1. I.

    Öffentliche Stigmatisierung

  2. II.

    Strukturelle Stigmatisierung

  3. III.

    Selbststigmatisierung

  4. IV.

    Stigmatisierung durch Verbindung

Die Öffentliche Stigmatisierung ist mit n = 67 identifizierten Sinneinheiten die relevanteste der vier Manifestationen. Unterschieden wird zwischen einer allgemeinen Öffentlichen Stigmatisierung sowie der von den Interviewpartner:innen berichteten eigenen Stigma-Erfahrungen. Die Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot und Armut wird neben einer stigmatisierenden medialen Berichterstattung (siehe Interviewpartner 11: #01:03:44-9# – #01:03:54-1#) insbesondere durch eine generelle Stigmatisierung der Bevölkerung gegenüber Menschen in Wohnungsnot erläutert. Diese charakterisiert sich vornehmlich durch das Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot):

Ja, auf jeden Fall Versager. … Äh... 'n Mensch der (.) der nichts ähm (.) geschafft hat. °vielleicht auch° dumm, un-intelligent.

[12: #00:16:54-0# – #00:19:04-3]

Elementar für die Stigmatisierung ist auch die Individualisierung der Problemlagen:

Fällt hier immer selber unter Schuld, und selber Schuld ist eine Diskriminierung. Also für mich ist der Hauptbegriff für die Diskriminierung, dieses "Selber schuld", was auch zu diesen Sanktionen führt, mehr als wo anders.

[16II: #00:27:17-4# – #00:28:45-9#]

Darüber hinaus sind negative Stereotype kennzeichnend für die Stigmatisierung:

Kann ich dem dann Geld geben. Der vertrinkt das doch. Ja dann soll er doch trinken, ne?

[3: #01:14:23-2# – #01:15:28-5#]

Zusätzlich erwähnt wird die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Krankheiten.

Die berichteten Stigmatisierungserfahrungen können unterteilt werden in Erfahrungen als betroffene Person der Stigmatisierungen sowie als Beobachter:in von Stigmatisierungen. Die persönlich betroffenen Personen berichten dabei ausschließlich von Beschimpfungen und Beleidigungen, wohingegen die Beobachtungen die bereits erwähnten Aspekte von Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm, Individualisierung der Problemlagen und negativen Stereotypen wiedergeben.

Die Unterkategorie der Strukturellen Stigmatisierung erfasst die Abwertung und Stigmatisierung des Hilfesystems sowie der Einrichtungen sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen. Diese sind jeweils geprägt durch gesellschaftliche Regeln, Gesetze und Abläufe (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Demnach müssen auch die erhöhten Anforderungen durch eine immer komplexere Bürokratie für soziale Unterstützungsleistungen (sieh Interviewpartnerin 6: #00:13:35-7# – #00:14:12-5#) der Strukturellen Stigmatisierung zugeordnet werden. In einem engen Zusammenhang mit diesen erhöhten Anforderungen stehen die Probleme, mit denen Menschen in Wohnungsnot bei Ämtern und Behörden konfrontiert sind, sowie die Haltung dieser gegenüber Menschen in Wohnungsnot. Eine offensichtliche Strukturelle Stigmatisierung von Behörden beschreibt Interviewpartnerin 16 wie folgt:

Ja, da sind auch wieder verschiedene. Und zwar, wird sozusagen was du bringen muss, um überhaupt an deine Ansprüche zu kommen. Also wir hatten zum Beispiel jetzt ein Fall, da hat eine Person nicht mal einen Bescheid gekriegt, über ihre hundert Prozent Sanktion. Ohne diesen Bescheid, hat sie bei der Tafel nichts zu essen gekriegt. Also ein Wohnungsloser, um überhaupt wieder an Leistungen zu kommen, die jeden Anderem zustehen, muss dreimal bis viermal so viel schaffen.

[…]

Weil das ein wirklich sehr sehr hoher Auffand, allein um wieder teilhaben zu können, nur wenn der Ausweis weg ist, und du hast keinen festen Wohnsitz. Wie viele Stationen denn man gehen muss, um nur so einen blöden Ausweis zu kriegen. Und gerade bei Wohnungslosen, die müssen irgendwo hingehen, um ihren Tagessatz zu bekommen, müssen beweisen, dass sie da hingehen. Um da manchmal hinzukommen, bezahlen sie manchmal mehr als dieser Tagessatz wert ist. Das sind Ausschlüsse.

[16II: #00:23:34-4# – #00:25:24-6#]

Eine Stigmatisierung des Hilfesystems der Wohnungslosenhilfe wird jedoch auch berichtet. Diese bezieht sich insbesondere auf Ausschlüsse des Hilfesystems für bestimmte Zielgruppen, wie Frauen, die immer noch häufig übersehen werden würden (16: #00:05:51-5# – #00:07:24-5#), und Familien, die, wenn sie in Wohnungsnot geraten nicht adäquat versorgt werden können, weil die Hilfen als Einzelfallhilfen konzipiert sind (16: #00:51:46-2# – #00:52:46-1#). Als weitere Unterkategorie werden darüber hinaus Aussagen, die eine Stigmatisierung und Abwertung der interviewten Personen, die im Hilfesystem arbeiten, zeigen, erfasst. Diese bestehen aus interpretativ erfassten Sinnrekonstruktionen des Autors. Dazu zählen abwertende Unterstellung sowie die Benutzung einer abwertenden Sprache, wie ‚Stadtstreicher‘ (3: #01:11:22-6# – #01:11:30-2#). Eine Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot durch Personen, die im Hilfesystem arbeiten, kann an dieser Stelle jedoch nicht einwandfrei bewiesen werden. Die erfassten Sinneinheiten sind nicht eindeutig als eine Abwertung auszulegen und kommen auch nur in einer sehr geringen Anzahl von n = 5 vor.

Die Selbststigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot wird ebenfalls über eine Interpretation und Sinnrekonstruktion des Autors erfasst. Die Selbststigmatisierung gleicht dabei der generellen Stigmatisierung der Bevölkerung und deren Charakterisierung durch das Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot) und der damit zusammenhängenden Individualisierung der Problemlagen. Daneben kann ebenfalls ein abwertender Sprachgebrauch gegenüber anderen Menschen in Wohnungsnot identifiziert werden. Dieser ist deutlich prägnanter als der Sprachgebrauch, der bei Personen, die im Hilfesystem arbeiten, identifiziert wurde. Interviewpartner 7 formuliert es drastisch und betont zugleich, dass Menschen in Wohnungsnot liebevolle Menschen seien:

So, aber, ich weiß eins, (4) das sind alles liebevolle Menschen, keine Asozialen Mistratten, wie ich so ganz gerne mal sage.

[7II: #00:01:13-4# – #00:01:58-4#]

Insgesamt können jedoch lediglich n = 6 Sinneinheiten in Bezug auf eine Selbststigmatisierung identifiziert werden. Zu den Personen, die von einer Stigmatisierung durch Verbindung betroffen sind, zählen Angehörige der stigmatisierten Gruppe, aber auch professionell Helfende (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung), wie ein Teil der interviewten Personen. Die Unterkategorie Stigmatisierung durch Verbindung identifiziert sowohl Reaktionen und Abwertungen im persönlichen Umfeld gegenüber der Arbeit mit oder direkt gegenüber Menschen in Wohnungsnot als auch die Ablehnung der Bezeichnung als Wohnungslosenhilfeeinrichtung. Die Kategorien bestehen aus interpretativen Sinnrekonstruktionen des Autors sowie direkten Aussagen der interviewten Personen. Über die elf Interviews mit Personen, die im Hilfesystem arbeiten, hinweg können nur acht Aussagen beobachtet werden, die einer Stigmatisierung durch Verbindung zugeordnet werden können.

Hauptkategorie 8 – Sonstiges

Auf die letzte Hauptkategorie soll an dieser Stelle nur rudimentär eingegangen werden. Gesammelt unter der Hauptkategorie Sonstiges werden alle weiteren Aussagen, die bei der Kodierung als beachtenswert interpretiert wurden, aber für die Beantwortung der Forschungsfrage eine marginale oder keine Rolle spielen, erfasst. Differenziert werden können die n = 239 Kodierungen in fünf verschiedene Subkategorien:

  1. A.

    Fehlendes Verständnis

  2. B.

    Erklärungsmodelle

  3. C.

    Intersektionalität

  4. D.

    Veränderungen

  5. E.

    Wünsche

Die unter der Subkategorie A Fehlendes Verständnis kodierten Sinneinheiten identifizieren Aussagen, die vermuten lassen, dass der respektive die jeweilige Interviewpartner:in nicht in der vom Autor antizipierten Art und Weise auf die Fragen eingehen konnte oder wollte. Dabei entfallen 77,5 % der kodierten Aussagen auf zwei Personen (Interviewpartnerin (14 und 15), die beide jeweils in einer akuten Wohnungsnot leben. Lediglich eine Kodierung kann einer Person zugeordnet werden, die im Hilfesystem arbeitet (Interviewpartner 18).

Die verschiedenen Erklärungen in Bezug auf Wohnungsnot sind überwiegend soziologischen und sozialpsychologischen Ansätzen zuzuordnen. Von insgesamt n = 73 Kodierungen können nur vier Aussagen einem biomedizinischen Erklärungsansatz zugerechnet werden.

Dass Intersektionalität eine bedeutende Perspektive im Kontext von Wohnungsnot ist, kann in dieser Deutlichkeit keiner Aussage entnommen werden. Allerdings werden wiederholt Aspekte benannt, die diese Bedeutung einer intersektionalen Perspektive auf Wohnungsnot unterstreichen. Konkret geschieht dies über die Nennung von, im Hilfeprozess zu beachtenden, Kategorien wie unter anderem Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung.

Die Subkategorie Veränderungen identifiziert die verschiedenen Veränderungen in Bezug auf das Klientel, das Hilfesystem und die Gesellschaft, die die interviewten Personen in ihrer bisherigen Berufslaufbahn beobachten konnten.

Das jeweilige Interview abschließend hatten die interviewten Personen die Möglichkeit, weitere Bereiche oder Aspekte beziehungsweise Wünsche in Bezug auf das Hilfesystem und Menschen in Wohnungsnot zu benennen. Dabei konnten n = 27 Aussagen von Personen identifiziert werden, die sich durchweg Verbesserungen für Menschen in Wohnungsnot, wie mehr Partizipation oder eine Aufklärung der Allgemeinbevölkerung über die Ursachen von Wohnungsnot wünschten.

Zusammenhänge zwischen den Kategorien

Die Kategorie Geschlecht und die damit einhergehenden Hauptkategorien des Kategoriensystems nehmen eine überragende Position für die bisherige Analyse der Leitfadeninterviews ein. Die Forschungsfrage des zweitens Zugangs sowie die übergeordnete Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit fokussieren darüber hinaus jedoch auch die Kategorie Gesundheit. Ziel der Leitfaden-Untersuchung ist ferner die Exploration und Analyse der vier Manifestationen von Stigmatisierung insbesondere mit dem Fokus auf das Hilfesystem sowie die Kontextualisierung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse. Die im folgenden dargestellten Zusammenhänge bündeln dementsprechend die Kategorien in Bezug auf die Kategorie Gesundheit und die Manifestationen von Stigmatisierung. Überdies werden auch die Kategorien in Bezug auf das qualifizierte Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe zusammenfassend betrachtet.

Gesundheit

Der Kategorie Gesundheit können insgesamt n = 204 Sinneinheiten zugeordnet werden. Das Gros dieser Sinneinheiten bezieht sich dabei auf das Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit (siehe Tabelle 8.97). Die weiteren Sinneinheiten beziehen sich auf die Auswirkung der Kategorie Gesundheit der Menschen in Wohnungsnot (siehe Tabelle 8.98) und der Negierung von geschlechtsspezifischen Auswirkungen in Bezug auf die Kategorie Gesundheit. Dabei sticht insbesondere die der Kategorie Gesundheit zugeschriebene Auswirkung auf den Rechtskreis der Hilfegewährung hervor. Interviewpartnerin 2 schätzt die Relevanz dieser Schnittstellenproblematik, wie bereits dargestellt, mit 40 % aller Fälle sehr hoch ein (siehe Interview 2: #01:04:27-0# – #01:05:59-0#). Das im Theorieteil diskutierte Schnittstellenproblem zwischen Wohnungslosenhilfe und Eingliederungshilfe (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem) kann demnach bestätigt werden. Ob jedoch eine Unterversorgung der besonders gefährdeten Personengruppen der Menschen in Wohnungsnot und mit einer psychischen Auffälligkeit besteht, kann nicht bewiesen werden. Allerdings muss eine Auswirkung dieses Schnittstellenproblems angenommen werden. Personen aus dem Hilfesystem berichten von einem strategischen Umgang mit dem Schnittstellenproblem mit dem Ziel, eine aus ihrer Sicht passgenaue Hilfe beantragen zu können (siehe beispielsweise 16II: #00:07:38-2# – #00:09:36-5#). Ferner wird in diesem Kontext erneut auf das Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit verwiesen. Die identifizierten Aussagen unterstützen dabei den in Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht dargestellten Zusammenhang zwischen der Offenheit, das psychiatrische Hilfesystem in Anspruch zu nehmen und, dem weiblichen Geschlecht (siehe 1: #00:39:39-9# – #00:40:00-9# und 3: #00:44:39-2# – 00:45:55-3#). Zugleich ist aus der Literatur bekannt, dass primär Männer häufiger Drogen-/Suchtmittel konsumieren (siehe Abschnitt 5.5 Das Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht). Dieses weitere Schnittstellenproblem – zu suchttherapeutischen Einrichtungen – ist in der Literatur hinlänglich beschrieben (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem), wird jedoch in den Interviews nicht benannt. Eine Unterversorgung für dieses Schnittstellenproblem muss somit angenommen werden. Bemerkenswert ist die Aussage einer der interviewten Personen in Leitungsfunktion, die keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Auswirkungen auf den Rechtskreis feststellen kann (2: #00:54:29-5# – #00:55:42-0#). Die Interviewpartnerin ist jedoch, nach eigenen Bekundungen, nicht angebunden an die tatsächliche Umsetzung der Hilfen. Darüber hinaus wird angenommen, dass sie an dieser Stelle versucht, einem Eindruck möglicher Unterversorgung durch das Hilfesystem entgegenzuwirken.

Tabelle 8.97 Kategorien, die ein Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit darstellen, und deren Häufigkeiten
Tabelle 8.98 Kategorien mit Bezug auf Gesundheit und deren Häufigkeiten

Allerdings können auch weitere Aussagen identifiziert werden, die ein Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit und einen beispielsweise daraus resultierenden Unterschied in den Bedarfen – sowohl für den Bereich der psychischen Auffälligkeiten als auch für den Bereich des Drogen-/Suchtmittelkonsums – negieren. Die Ambivalenz in Bezug auf die Auswirkung der Kategorie Geschlecht wird im weiteren Verlauf erneut aufgegriffen und in Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation abschließend diskutiert.

Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit Gesundheit festgestellt werden kann, ist eine über die Jahre beobachtete Entwicklung zu einer schlechteren Gesundheit von Menschen in Wohnungsnot sowohl in Bezug auf die psychische Gesundheit als auch in Bezug auf den größeren und extensiveren Gebrauch von Drogen- und Suchtmitteln. Ob diese Beobachtung der Realität entspricht oder das Ergebnis einer verzerrten subjektiven Wahrnehmungen ist, kann nicht geklärt werden – es kann weder eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten (Robert Koch-Institut, 2015, S. 120) noch die erhöhte Prävalenz von Drogen-/Suchtmitteln (Seitz et al., 2019, S. 3–6) in der deutschen Allgemeinbevölkerung identifiziert werden.

Die Nennung einer erhöhten Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot mit einer psychischen Krankheit wiederum entspricht den in Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung dargestellten Befunden aus der Literatur. Die beobachteten Aussagen zur Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot werden im weiteren Verlauf des Kapitels zusammenfassend dargestellt.

Die Auswirkungen des jeweiligen Geschlechts auf die Kategorie Gesundheit entsprechen erneut den in Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht dargestellten Zusammenhängen zwischen Geschlecht und Gesundheit. Auch wenn jeweils Ausnahmen identifiziert werden können, kann der Tabelle 8.97 entnommen werden, dass

  1. 1.

    Weiblichkeit zu einer größeren Prävalenz aber auch Resilienz gegenüber psychischen Krankheiten und Auffälligkeiten führt als Männlichkeit.

  2. 2.

    Männlichkeit demgegenüber zu einer größeren Prävalenz und Offenheit gegenüber Drogen-/und Suchtmittelkonsum führt als Weiblichkeit.

Stigmatisierung

Mit insgesamt n = 231 identifizierten Sinneinheiten mit Bezug auf die Stigmatisierung von Wohnungsnot kann die gravierende Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot bestätigt werden (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Auch diese Ergebnisse können differenziert werden zwischen den verschiedenen Auswirkungen von Geschlecht in Bezug auf die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot (siehe Tabelle 8.99) sowie die generelle Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot (siehe Tabelle 8.100). Sowohl die Sinneinheiten mit Bezug auf die jeweiligen Auswirkungen von Geschlecht als auch Aussagen bezüglich der generellen Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot können dabei den unterschiedlichen Manifestationen von Stigmatisierung nach Pryor und Reeder (2011, S. 791) zugeordnet werden. Insgesamt sind die Öffentliche Stigmatisierung und die Strukturelle Stigmatisierung aufgrund ihrer Häufigkeit als die relevantesten Manifestationen zu identifizieren. Beachtenswert ist jedoch, dass allen Manifestationen Sinneinheiten zugeordnet werden können.

Tabelle 8.99 Kategorien mit Bezug auf Stigmatisierung und deren Häufigkeiten
Tabelle 8.100 Häufigkeitsverteilung der Negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit differenziert nach den drei Manifestationen von Stigmatisierung

Die Öffentliche Stigmatisierung ist geprägt durch die gängigen Abwertungen und Stigmatisierungen von Menschen in Wohnungsnot, wie sie in Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot und der Darstellung des Kategoriensystems ausführlich beschrieben werden – ein Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm, die Individualisierung der Problemlagen und negative Stereotypen.

Die Strukturelle Stigmatisierung bezieht sich sowohl auf das Hilfesystem als auch auf Einrichtungen sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen. Für das Hilfesystem können insbesondere Ausschlüsse des Hilfesystems für bestimmte Zielgruppen wie Frauen oder Familien identifiziert werden. Jedoch kann keine generelle Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot durch das Hilfesystem beobachtet werden. In Bezug auf andere Unterstützungsleistungen werden vor allem erhöhte Anforderungen durch eine immer komplexere Bürokratie für soziale Unterstützungsleistungen angeführt, sowie eine generell ablehnende und abwertende Haltung der dort tätigen Personen.

Die Persistenz der Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot wird durch die Identifikation von Aussagen bezogen auf Selbststigmatisierung und Stigmatisierung durch Verbindungen, also eine Internalisierung dieser Abwertung und Stigmatisierung, bestätigt. Die Selbststigmatisierung ist geprägt durch die bereits für die Öffentliche Stigmatisierung identifizierte gängige Abwertung von Wohnungsnot. Der Stigmatisierung durch Verbindung können diese gängigen Abwertungen ebenfalls zugeordnet werden, mit dem Unterschied, dass diese im persönlichen Umfeld der im Hilfesystem arbeitenden Personen gegenüber geäußert werden.

Die unterschiedlichen Auswirkungen von Stigmatisierung auf Weiblichkeit und Männlichkeit sind immens. Herausragend ist der Unterschied in der Öffentlichen Stigmatisierung. Männlichkeit wird, so die reine Anzahl der Aussagen der interviewten Personen, deutlich stärker stigmatisiert als Weiblichkeit. Demgegenüber steht eine gegenläufige Häufigkeit in Bezug auf die Strukturelle Stigmatisierung, welche sich vor allem auf die Angebotsstruktur bezieht. Weiblichkeit führt dabei zu einer größeren Stigmatisierung als Männlichkeit. Letzterer Befund bestätigt eine noch immer unzureichende flächen- und bedarfsdeckenden Hilfelandschaft, besonders im ländlichen Raum, für Frauen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot). Die identifizierte und deutlich größere Stigmatisierung von Männlichkeit deckt sich mit den Ergebnissen der Dokumentenanalyse, widerspricht jedoch den Ergebnissen der experimentellen Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung. Diese entscheidende Diskrepanz muss bei der Interpretation und der Betrachtung der Ergebnisse erneut aufgegriffen werden (siehe Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation und 9 Diskussion).

Das Hilfesystem

Die Kategorien in Bezug auf das Hilfesystem können ebenfalls unterschieden werden zwischen dem generellen Wirken des Hilfesystems in Bezug auf Menschen in Wohnungsnot sowie dem Umgang des Hilfesystems mit der Kategorie Geschlecht. Die Kategorien des generellen Wirkens des Hilfesystems beziehen sich jedoch auf die Strukturelle Stigmatisierung von Wohnungsnot und werden daher, um Redundanzen zu vermeiden, an dieser Stelle nicht weiter erörtert. Gleiches gilt für die Strukturelle Stigmatisierung des jeweiligen Geschlechts. Insgesamt können n = 167 Sinneinheiten mit Bezug auf das Hilfesystem identifiziert werden.

Der Umgang des Hilfesystems mit der Kategorie Geschlecht respektive die Auswirkung darauf wird in Bezug auf die Kongruenz beziehungsweise Inkongruenz zur Bezugsperson sowie der Bedeutung von Geschlechterrollen deutlich.

Die Geschlechtskongruenz beziehungsweise Geschlechtsinkongruenz zur Bezugspersonen ist trotz der jeweils deutlichen Geschlechterverteilung ein bisher wenig beachteter Umstand der Wohnungslosenhilfe (Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Die bereits bekannte Tabelle 8.101 unterstreicht die Bedeutung von weiblichen Sozialarbeiterinnen im Hilfesystem; diese seien sowohl in der Arbeit mit weiblichen als auch männlichen Personen in Wohnungsnot besser geeignet. Diese selbstzugeschriebene Bewertung bedarf indes einer kritischen Analyse, die in der Diskussion der Ergebnisse erfolgt.

Tabelle 8.101 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf die Geschlechterkongruenz zwischen betreuter und betreuenden Person

In Bezug auf die Bedeutung der Geschlechterrollen für das Hilfesystem lassen sich verschiedene ambivalente Aussagen identifizieren, die auch in einem Kontrast zur eben dargestellten und selbst zugeschriebenen Bedeutung von weiblichen Sozialarbeiterinnen im Hilfesystem stehen. So wird den klassischen Geschlechterrollen eine große Bedeutung beigemessen. Zugleich gib es Aussagen, die diese Bedeutung und daraus ableitend einen geschlechtsspezifischen Bedarf nur für weibliche Personen in Wohnungsnot identifizieren. Dennoch können Aussagen festgestellt werden, die sowohl geschlechtsspezifische Themen bei Menschen in Wohnungsnot und einen geschlechtsspezifischen Umgang mit Wohnungsnot dieser konstituieren als auch und ebenso geschlechtsspezifische Arbeitsschwerpunkte bei den Bezugspersonen und einen geschlechtsspezifischen Umgang dieser mit Themen von Menschen in Wohnungsnot identifizieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, und auch dafür können Aussagen erfasst werden, dass die Bezugspersonen sich ihrer eigenen Geschlechterrolle bewusst sein müssen und die Geschlechterverteilung der Bezugsbetreuer:innen von großer Bedeutung ist.

Gleichzeitig wird anhand der ermittelten Sinneinheiten deutlich, dass die Thematik Geschlecht im Arbeitsumfeld eher unterrepräsentiert ist. Ihre Bedeutung wird unterschätzt oder gar ganz abgelehnt (18: #00:05:09-2# – #00:06:30-8#). Festgehalten werden kann, dass das Hilfesystem mit Geschlecht, Geschlechterunterschieden und geschlechtsspezifischen Bedarfen sehr widersprüchlich umgeht. Die Frage, inwiefern diese Widersprüchlichkeit auch mit der bereits dargestellten Negierung eines geschlechtsspezifischen Bedarfs von Menschen in Wohnungsnot im Zusammenhang mit der Kategorie Gesundheit steht, wird im Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation aufgegriffen.

Kreuztabellen

Zur detaillierteren Analyse der bereits in den Blick genommenen Kategorien Geschlecht und Gesundheit sowie der vier Manifestationen von Stigmatisierung und des qualifizierten Hilfesystems werden im Folgenden Verbindungen zu gruppierenden Merkmalen hergestellt (Kuckartz, 2018, S. 119–120). Die Visualisierung dieser erfolgt mittels Kreuztabellen. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Kreuztabellen aufgrund der Konzeption der Leitfadenstudie – die deduktiv-induktiv angelegte Vorgehensweise mit dem Fokus auf einer Kontextualisierung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse und dem Aufdecken latenter oder abgewehrter Sinnstrukturen – nur eine bedingte Aussagekraft haben. Allerdings ermöglichen die Kreuztabellen eine Überprüfung der Generalisierbarkeit der Ergebnisse sowie die Generierung neuer Hypothesen.

Um ein umfassendes Bild des qualifizierten Hilfesystems zu erhalten, wurden sowohl Interviews mit Personen in Wohnungsnot als auch mit Sozialarbeiter:innen, Hilfeplaner:innen und Expertinnen geführt (siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitten 8.4.2 Vorgehen). Der Vergleich dieser gruppierenden Merkmale ist ein wesentlicher Bestandteil der Kreuztabellen.

Die dichotome Differenzierung in Weiblich und Männlich der Kategorie Geschlecht erfolgt über Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen (siehe Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie). Dabei trägt die eigene Zuordnung zu einem Geschlecht und der damit einhergehenden Geschlechtsrollenidentität maßgeblich zur Beschreibung des anderen Geschlechts bei. Überdies ist der Umstand, dass primär Sozialarbeiter:innen im Hilfesystem der qualifizierten Wohnungslosenhilfe arbeiten bisher wenig beachtet (siehe Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Die Bedeutung des Geschlechts der Bezugspersonen konnte allerdings bereits in der vorliegenden Arbeit festgestellt werden (siehe Abschnitt 8.3.5. Zusammenfassung und Interpretation). Zur Kontextualisierung dieser Erkenntnis wird, für ausgewählte Aspekte, ein Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartner:innen hergestellt.

Weil die Datenerhebung auch in Einrichtungen durchgeführt wurde, die explizit frauenspezifische Angebote vorhalten, wird schließlich auch ein Verglich zwischen diesen Angeboten und Angeboten ohne eine solche Spezifität durchgeführt.

Geschlecht

Die Hauptkategorien Auswirkungen von Weiblichkeit und Auswirkungen von Männlichkeit ermöglichen anhand der identisch aufgebauten Subkategorien einen Vergleich zwischen positiven und negativen Auswirkungen von Wohnungsnot sowie zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit. Die Tabelle 8.102 zeigt diese Vergleiche in Bezug auf die Verbindung zu den jeweiligen gruppierenden Merkmalen.

Tabelle 8.102 Häufigkeitsverteilung positiver und negativer Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit differenziert nach verschiedenen Interviewgruppen

In Bezug auf die verschiedenen Interviewpartner:innen kann ein Unterschied zwischen den Sozialarbeiter:innen und Personen in Wohnungsnot auf der einen Seite und den Expertinnen in Leitungsfunktion auf der anderen Seite festgestellt werden. Sozialarbeiter:innen und Personen in Wohnungsnot beschreiben mehr positive Auswirkungen von Weiblichkeit und mehr negative Auswirkungen von Männlichkeit, wohingegen die Expertinnen die meisten Aussagen in Bezug auf negative Auswirkungen von Weiblichkeit tätigen. Die Expertinnen machen im Vergleich zu ihrer Gesamtzahl an Interviews mehr Aussagen, die positive Auswirkungen von Männlichkeit beschreiben und mehr Aussagen, die negative Auswirkungen von Weiblichkeit beschreiben. Allerdings beschreiben die Expertinnen, ebenso wie die anderen Gruppen, mehr positive Auswirkungen von Weiblichkeit als von Männlichkeit. Im Vergleich dazu können von den Personen in Wohnungsnot im Vergleich zu ihrer Gesamtzahl an Interviews weniger Aussagen, die positive Auswirkungen von Männlichkeit und negative Auswirkungen von Weiblichkeit beinhalten, identifiziert werden.

Die identifizierten Unterschiede zwischen den Gruppen könnten im Abstand zu der konkreten Arbeit begründet sein. Ob jedoch die Expertinnen einen besseren Überblick, weniger Detailkenntnis oder einen anderen Fokus – eher auf Strukturen denn auf die konkrete Arbeit – haben, kann nicht geklärt werden. Auch der deutliche Unterschied zuungunsten von Männern in Wohnungsnot, den die Interviewpartner:innen in Wohnungsnot beschreiben, muss in Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation erneut aufgegriffen werden.

Der Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartner:innen muss mit Vorbehalt durchgeführt werden, da insgesamt nur n = 3 männliche Interviewpartner gewonnen werden konnten. Auffällig ist jedoch, dass diese keinen quantitativen Unterschied zwischen den negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit feststellen. Dabei sind insbesondere die, auch im Vergleich zu der Anzahl der durchgeführten Interviews, wenigen Aussagen mit Bezug auf die negativen Auswirkungen von Männlichkeit frappant. Für die Interviews mit weiblichen Personen ist der deutliche Unterschied zwischen positiven und negativen Auswirkungen von Männlichkeit im Vergleich zu den Auswirkungen von Weiblichkeit eklatant.

Für den Vergleich zwischen frauenspezifischen Einrichtungen und geschlechtsunspezifischen Einrichtungen kann festgehalten werden, dass für die frauenspezifischen Einrichtungen im Vergleich zu der Anzahl der mit Personen aus diesen durchgeführten Interviews deutlich weniger positive Auswirkungen sowie gleichzeitig mehr negative Auswirkungen von Weiblichkeit identifizieren. Sowohl diese Erkenntnis als auch die Ergebnisse in Bezug auf den Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartner:innen werden im anschließenden Kapitel diskutiert.

Gesundheit

Das Gros der erfassten Sinneinheiten der Kategorie Gesundheit (n = 111) bezieht sich auf das Zusammenwirken mit der Kategorie Geschlecht. Deshalb wird ebenfalls ein Vergleich zwischen positiver und negativer Auswirkung in Verbindung mit den gruppierenden Merkmalen betrachtet. Der Vergleich differenziert darüber hinaus zwischen positiver wie negativer Auswirkung von psychischen Auffälligkeiten und dem Konsum von Drogen-/Suchtmitteln, weshalb für die jeweiligen Bedingungen nur eine geringe Anzahl an Aussagen festgestellt werden kann. Die Aussagen müssen demnach mit Bedacht interpretiert werden. Die positiven Auswirkungen beziehen sich jeweils auf einen offeneren Umgang sowie eine höhere Resilienz, wohingegen die negativen Auswirkungen jeweils die Prävalenz und den nicht-offenen Umgang beinhalten.

Die Tabelle 8.103 zeigt die Häufigkeiten für die jeweiligen Auswirkungen in Bezug auf psychische Auffälligkeiten und den Konsum von Drogen-/Suchtmitteln sowie die verschiedenen Merkmale. Aufgrund der geringen Anzahl und der ungleichen Verteilung der einzelnen Merkmale können für einige Zellen keine Häufigkeiten berichtet werden. Im Vergleich der verschiedenen interviewten Gruppen können für jede Gruppe Besonderheiten berichtet werden. Den Sozialarbeiter:innen kann ein Großteil der Aussagen mit Bezug zu den verschiedenen Auswirkungen der Kategorie Gesundheit zugeordnet werden wobei diese der Prävalenz und dem geschlechtsspezifischen Umgang aus der Literatur entsprechen (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht).

Tabelle 8.103 Häufigkeitsverteilung positiver und negativer Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf psychische Auffälligkeit und Suchtmittelkonsum differenziert nach verschiedenen Interviewgruppen

Die Interviewpartnerinnen in Leitungsfunktion tätigen im Vergleich zu ihrer Anzahl an Interviews deutlich häufiger Aussagen, die (1.) einen offenen Umgang und eine größere Resilienz von männlichen Personen in Wohnungsnot und (2.) eine höhere Prävalenz von psychischen Auffälligkeiten bei weiblichen Personen in Wohnungsnot sowie (3.) eine ebenfalls erhöhte Prävalenz des Konsums von Drogen-/Suchtmitteln bei männlichen Personen in Wohnungsnot postulieren. Damit bestätigen sie den in der Literatur genannten geschlechtsspezifischen Umgang, der bereits durch die Sozialarbeiter:innen bestätigt werden konnte.

Auch für die Interviewpartner:innen in Wohnungsnot können im Vergleich zu ihrem prozentualen Anteil an der Stichprobe auffällige Häufigkeiten identifiziert werden. Diese betreffen jedoch im Gegensatz zu den zuvor berichteten Ergebnissen die Prävalenz und Resilienz von weiblichen Personen in Wohnungsnot in Bezug auf den Konsum von Drogen-/Suchtmitteln sowie die Resilienz von Männern in Bezug auf psychische Auffälligkeiten. Alle Aussagen der Interviewpartner:innen in Wohnungsnot betrachtet, bilden diese jedoch den bereits genannten geschlechtsspezifischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit ab.

Ähnliches kann für den Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartner:innen beobachtet werden. Die männlichen Interviewpartner berichten häufiger von den positiven Auswirkungen für männliche Personen in Wohnungsnot in Bezug auf psychische Auffälligkeiten sowie von den negativen Auswirkungen für weibliche Personen in Wohnungsnot in Bezug auf ihren Konsum von Drogen-/Suchtmitteln.

Bezüglich des Vergleichs zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten erstaunt, dass die Angebote, die nicht frauenspezifisch sind, häufiger als erwartet von der Resilienz weiblicher Personen in Wohnungsnot hinsichtlich des Konsums von Drogen-/Suchtmitteln beichten. Frauenspezifische Angebote hingegen können eine solche Resilienz nicht feststellen. Des Weiteren überraschen die Aussagen der frauenspezifischen Angebote, die, im Vergleich zu den anderen Angeboten, deutlich mehr Resilienz bei männlichen Personen in Wohnungsnot feststellen. Die auffällige hohe Häufigkeit der Aussagen von anderen Angeboten in Bezug auf die Prävalenz des Konsums von Drogen-/Suchtmitteln männlicher Personen in Wohnungsnot überrascht hingegen nicht und deckt sich mit den bekannten und benannten geschlechtsspezifischen Besonderheiten. Es stellt sich die Frage, weshalb die frauenspezifischen Angebote auffällig viele Aussagen in Bezug auf Männer in Wohnungsnot und umgekehrt die anderen Angebote auffällig viele Aussagen über Auswirkungen für Frauen in Wohnungsnot tätigen. Diese Frage und die Ergebnisse aus den Verbindungen mit den gruppierenden Merkmalen werden im Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation aufgegriffen und erörtert.

Stigmatisierung

Wie bekannt, können Aussagen über die generelle Auswirkung von Wohnungsnot in Bezug auf die Stigmatisierung erfasst werden, gleichwohl lassen sich Aussagen identifizieren, die geschlechtsspezifische Besonderheiten von Menschen in Wohnungsnot bezüglich der Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot beinhalten. Die Stigmatisierungen lassen sich dabei jeweils den von Pryor und Reeder (2011, S. 791) dargestellten Manifestationen zuordnen. Die im Folgenden vor- und dargestellten zwei Kreuztabellen (8.104 und 8.105) bilden die Häufigkeiten dieser verschiedenen Aussagen in Verbindung mit den gruppierenden Merkmalen ab.

Tabelle 8.104 Häufigkeitsverteilung Negativer Auswirkungen von Wohnungsnot differenziert nach den vier Manifestationen von Stigmatisierung aufgeteilt nach verschiedenen Interviewgruppen (Sozialarbeiter:innen, Leitungsfunktion, Menschen in Wohnungsnot, weibliche sowie männliche Interviewpartner:innen, frauenspezifische Angebote und andere Angebote)
Tabelle 8.105 Häufigkeitsverteilung Negativer Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit differenziert nach den vier Manifestationen von Stigmatisierung aufgeteilt nach den verschiedenen Interviewgruppen

Im Vergleich zwischen den verschiedenen interviewten Gruppen stechen die Personen in Leitungsfunktion erneut hervor. Sie identifizieren auffällig häufig eine Öffentliche Stigmatisierung der Bevölkerung. Insbesondere der Vergleich zu den interviewten Personen in Wohnungsnot, die trotz der beobachteten eigenen Betroffenheit auffällig wenige Aussagen mit Bezug auf eine Öffentliche Stigmatisierung der Bevölkerung tätigen, sticht hervor. Darüber hinaus und ebenso frappant ist die Identifizierung Struktureller Stigmatisierung, welche allerdings explizit eine Strukturelle Stigmatisierung des Wohnungslosenhilfesystems ausschließt und sich auf andere Institutionen und übergeordnete Strukturen bezieht. Die Strukturelle Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot durch das Hilfesystem kann einzig bei den Sozialarbeiter:innen beobachtet werden. Die der Manifestation der Stigmatisierung durch Verbindung zugeordneten Ablehnung der Bezeichnung als Wohnungslosenhilfe durch die interviewten Personen in Leitungsfunktion kann durch den Fokus als frauenspezifisches Angebot erklärt werden. Dass für die interviewten Sozialarbeiter:innen Aussagen festgestellt werden können, die eine Stigmatisierung durch Verbindung beinhaltet, bestätigt die erhebliche und umfassende Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot.

Im Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartner:innen fällt insgesamt auf, dass die männlichen Interviewpartner deutlich seltener von den verschiedenen Manifestationen von Stigmatisierung berichten. Jedoch berichten männliche Interviewpartner, als Personen in Wohnungsnot deutlich häufiger betroffen zu sein von Öffentlicher Stigmatisierung. Ferner stigmatisieren männliche Interviewpartner Menschen in Wohnungsnot im Vergleich zur Anzahl der durchgeführten Interviews auffällig häufig. Diese Beobachtung entspricht der einschlägigen Literatur (siehe die Unterkapitel Hypothesen der Abschnitt 7.2.2 Instrument und 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung) sowie den beobachteten signifikanten Effekten der jeweiligen Untersuchungen.

Der Unterscheidung zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten können ebenfalls Besonderheiten der Häufigkeitsverteilung entnommen werden. Die Interviewpartner:innen der anderen Angebote berichten häufiger als erwartet von Öffentlichen Stigmatisierungen der Bevölkerung und stigmatisieren zugleich Menschen in Wohnungsnot häufiger als angenommen. Ob diese Beobachtung für eine generell geringere Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot durch frauenspezifische Angebote im Vergleich zu den anderen Angeboten spricht, bleibt unklar und muss in der Diskussion erneut aufgegriffen werden.

Alle vier Manifestationen von Stigmatisierung können auch explizit für männliche Personen wie auch weibliche Personen in Wohnungsnot identifiziert werden. In der Verbindung mit den gruppierenden Variablen fallen lediglich Unterschiede zwischen den Interviewpartner:innen der frauenspezifischen Angebote auf der einen Seite und Interviewpartner:innen der anderen Angebote auf der anderen Seite auf (siehe Tabelle 8.104). Erneut kann eine unerwartete Häufigkeitsverteilung in Bezug auf die Öffentliche Stigmatisierung beobachtet werden. Die Interviewpartner:innen der anderen Angebote stigmatisieren Männer in Wohnungsnot deutlich häufiger als vermutet. Ein Zusammenhang mit der beobachteten größeren Stigmatisierung der Interviewpartner:innen anderer Angebote muss angenommen und in der Diskussion aufgegriffen werden. Darüber hinaus können unerwartet viele Aussagen von den Interviewpartner:innen anderer Angebote der Strukturellen Stigmatisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit zugeordnet werden. Für Frauen in Wohnungsnot beziehen sich die Aussagen insbesondere auf die mangelnde Angebotsstruktur – ein Hinweis auf die Tatsache, wenige solche Aussagen durch frauenspezifischen Angeboten zu beobachten – wohingegen für Männer in Wohnungsnot vor allem Aussagen mit Bezug auf die Ursachenzuschreibung für Wohnungsnot – Männer sind Täter und demnach verantwortlich für ihre Wohnungsnot – identifiziert werden können. Dass den frauenspezifischen Angeboten keine Aussagen einer größeren Stigmatisierung von Männern in Wohnungsnot zugeschrieben werden können, liegt vermutlich an dem geringeren Kontakt zu dieser Zielgruppe.

Hilfesystem

Analog zur Darstellung der Ergebnisse wird die Verbindung der Kategorien bezüglich des Hilfesystems mit den verschiedenen gruppierenden Merkmalen einzig im Kontext der positiven wie negativen Auswirkungen in Bezug auf Weiblichkeit und Männlichkeit dargestellt. Betrachtet wird dabei die Bewertung der jeweiligen Interviewpartner:innen hinsichtlich der Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz der Bezugsperson mit den Betreuten in Wohnungsnot (siehe Tabelle 8.106).

Tabelle 8.106 Häufigkeitsverteilung der positiven und negativen Auswirkungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Bezug auf die Geschlechterkongruenz zwischen betreuter und betreuenden Person differenziert nach verschiedenen Interviewgruppen

Die Sozialarbeiter:innen können als die Interviewpartner:innen identifiziert werden, die maßgeblich für die allgemeine positive Bewertung einer weiblichen Geschlechterkongruenz verantwortlich sind. Da den Sozialarbeiter:innen jedoch alle negativen Bewertungen einer männlichen Geschlechterkongruenz zugeordnet werden können, ist deren positive Bewertung der Kongruenz ausschließlich auf Sozialarbeiterinnen respektive weibliche Bezugspersonen zu beziehen. Aus den Ergebnissen kann geschlossen werden, dass die Sozialarbeiter:innen weibliche Sozialarbeiterinnen in der Wohnungslosenhilfe präferieren und positiver bewerten.

Anders stellt sich die Situation für die Interviewpartnerinnen in Leitungsfunktion dar. Es können Aussagen beobachtet werden, die sowohl die positive Auswirkung einer Geschlechterinkongruenz für Frauen in Wohnungsnot als auch für Männer in Wohnungsnot postulieren. Widersprüchlich dazu erscheint die positiv bewertete Geschlechterkongruenz bei Männern in Wohnungsnot sowie die negativ bewertete Geschlechterinkongruenz bei Männern in Wohnungsnot. Aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen in Leitungsfunktion lässt sich jedoch insgesamt ableiten, dass für beide Geschlechter eine Inkongruenz zur Bezugsperson von Vorteil sei und gleichzeitig – konträr zu den Bewertungen der Sozialarbeiter:innen – männliche Sozialarbeiter eine wichtige Funktion einnehmen würden. Das komplexe Thema der Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz und deren jeweilige Bewertung wird in der Diskussion erneut aufgegriffen.

Das gruppierende Merkmal des Geschlechts der Interviewpartner:innen überrascht deutlich, da für die männlichen Interviewpartner keinerlei Aussagen in Bezug auf die Bewertung der Kongruenz/Inkongruenz festgestellt werden können. Inwiefern diese Beobachtung mit dem Umstand der im Hilfesystem primär tätigen Sozialarbeiterinnen korreliert, wird ebenfalls in der Diskussion aufgegriffen werden.

Schließlich können auch für den Vergleich zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten ambivalente Ergebnisse berichtet werden. Die Bewertung der Geschlechtsinkongruenz zwischen Männern in Wohnungsnot und weiblichen Bezugspersonen durch Interviewpartner:innen, die nicht bei frauenspezifischen Angeboten tätig sind, ist sowohl auffällig häufig negativ als auch auffällig häufig positiv. Für diese Beobachtung sind zwei Erklärungen denkbar: zum einen könnten die Interviewpartnerinnen aus frauenspezifischen Angeboten nur wenige Bezugspunkte zu der Arbeit mit Männern in Wohnungsnot haben und deswegen nicht in der Lage sein, eine Bewertung abzugeben. Zum anderen könnten die Interviewpartner:innen aus anderen Angeboten ähnlich der interviewten Sozialarbeiter:innen weibliche Bezugspersonen beziehungsweise weibliche Sozialarbeiterinnen in der Wohnungslosenhilfe präferieren.

8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation

Nach der Ergebnisdarstellung erfolgt mittels Zusammenfassung, Interpretation und Einordnung der Ergebnisse der zweite Teil des letzten, zwölften Analyseschrittes (siehe Unterkapitel Methode des Abschnitten 8.4.2 Vorgehen). Diesem zweiten Teil kommen dabei zwei Funktionen zuteil: die konzentrierte Bündelung der Ergebnisse der Interviewstudie sowie die Kontextualisierung der Dokumentenanalyse und die Beantwortung derer daraus identifizierten offenen Fragen (siehe Unterkapitel Ausblick auf die Leitfadeninterviews des Abschnitten 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation).

Ziel der Interviewstudie ist die Exploration von Einschätzungen, Argumenten, Begründungen und latenten Sinngehalten in Bezug auf die Rolle der Kategorien Geschlecht und Gesundheit von Menschen in Wohnungsnot. Im Fokus stehen das qualifizierte Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe, deren mögliche Strukturelle Stigmatisierung wie auch die weiteren Manifestationen von Stigmatisierung. Folgend werden die relevantesten Aspekte der Interviewstudie komprimiert zusammengefasst und interpretiert. Zu beachten ist dabei, dass es sich um Zuschreibungen des Autors an das Hilfesystem, abgebildet durch die drei interviewten Gruppen – Menschen in Wohnungsnot, Sozialarbeiter:innen im Hilfesystem sowie Expertinnen mit Leitungsfunktion im Hilfesystem – handelt.

Die Kategorie Geschlecht kann auch im Hilfesystem als eine der bestimmenden Determinanten herausgestellt werden. Bereits das am Material entwickelte Kategoriensystem verdeutlich die zentrale Bedeutung von Geschlecht für das Hilfesystem. Sechs der acht Hauptkategorien beziehen sich auf die Kategorie, wobei die zwei ersten Hauptkategorien – Auswirkungen von Weiblichkeit und Auswirkungen von Männlichkeit –  und deren Sub- sowie Unterkategorien etwa 75 % des Kategoriensystems und 33 % der insgesamt identifizierten Textstellen abdecken. Der Umgang des Hilfesystems mit der beziehungsweise die Sicht auf die Kategorie ist insgesamt komplex und heterogen. Die Auseinandersetzung mit Geschlecht respektive Gender sowie die Thematik an sich sind im Hilfesystem umstritten. Es gibt sowohl Personen, die die Thematik insgesamt ablehnen oder keine Geschlechterunterschiede identifizieren können – oder wollen – als auch, und das betrifft ein Gros der Interviews, Personen, die widersprüchliche Aussagen in Bezug auf die Auswirkungen von Geschlecht tätigen. Die zwei ersten Hauptkategorien verdeutlichen jedoch sowohl, dass Geschlecht in der heteronormativen und dichotomen Einteilung in Weiblich und Männlich verstanden wird, als auch, dass bedeutende Unterschiede zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit und deren Auswirkungen auf Wohnungsnot identifiziert werden.

Bevor der Blick auf die identifizierten Auswirkungen der Kategorie Geschlecht gerichtet werden kann, muss die generelle Ablehnung der Thematik betrachtet werden. Als Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht auf einer Metaebene ist diese Ablehnung für die vorliegende Untersuchung von besonderem Belang. Auch wenn ein latenter Antigenderismus (siehe Schmincke, 2018, S. 32–33) als mögliche Erklärung in Betracht gezogen werden muss, können dafür keine direkten Belege gefunden werden. Das von den interviewten Personen häufig vorgebrachte Argument der individuellen Einzelfallhilfe, welches quasi gebiete Geschlecht nicht in seinem strukturellen Wirken zu betrachten, und die Thematik somit als irrelevante brandmarke, bedarf einer kritischen Auseinandersetzung. Erstens erscheint es fragwürdig, weshalb eine Betrachtung von Geschlecht und dessen Auswirkungen nicht sowohl gesellschaftlich verortet werden können als auch zugleich individuelle Hilfebedarfe daraus abgeleitet werden könnten. Zweitens muss die generelle Fokussierung auf eine individualisierte Hilfe kritisiert werden. Wie in Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot dargestellt, ist die Individualisierung von Problemlagen – das selber Schuld sein an der eigenen Wohnungsnot –  prägend für die Abwertung und Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot. Allerdings muss auch darauf hingewiesen werden, dass die untersuchten qualifizierten Hilfen nach §§ 67–69 SGB XII als Einzelfallhilfen konzipiert sind (R. Lutz & Simon, 2017, S. 105–106). Die sich daraus ergebenden individuellen Hilfepläne (siehe Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitten 8.3.2 Vorgehen) sind ein hilfreiches Instrument, um individuelle Bedarfe abbilden zu können und zugleich verallgemeinernden pathologiesierenden Erklärungsansätzen, wie beispielsweise der Annahme spezifischer Persönlichkeitsstrukturen (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot), entgegen zu wirken. Strukturelle Erklärungsansätze und somit auch die Kategorie Geschlecht müssen zum Verständnis der Ursachen von Wohnungsnot sowie des Verhaltens der betroffenen Personen in Wohnungsnot und der daraus folgenden Bedarfe hinzugezogen werden.

Als Erklärung für die Ablehnung der Thematik respektive den Verweis auf individuellen Hilfebedarf können zwei identifizierte Befürchtungen des Hilfesystems aufgeführt werden. Zum einen existieren die Befürchtung den individuellen Bedarfen der hilfesuchenden Personen nicht gerecht zu werden zum anderen die Sorge den notwendigen zeitlichen Aufwand für die Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht nicht aufbringen zu können.

Die Befürchtung, den individuellen Bedarfen nicht gerecht zu werden, kann als Abwehrmechanismus interpretiert werden, der auf der antizipierten, jedoch vom Autor nicht intendierten Annahme einer Anzweiflung der Bedarfsdeckung beruht. Bestärkt wird diese Interpretation durch die Tatsache, dass ein Großteil der ablehnenden Aussagen durch die zwei Interviewpartner:innen getätigt wurden, die vor der Durchführung der Interviews darauf bestanden, die Leitfadenfragen vorab zu erhalten. Offen bleibt dabei die Frage, worauf die antizipierte Unterstellung beruht. Denkbar wäre sowohl eine missverständliche Formulierung der Fragen als auch eine tatsächliche Unterversorgung eines Geschlechts.

Auch wenn (Selbst-)Reflexion ein kennzeichnendes und notwendiges Element professioneller sozialer Arbeit ist (Chassé & Wensierski, 2008, S. 9; Heiner, 2004; Urban, 2004 aus Riegel, 2014, S. 191), bedarf die Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht eines zeitlichen Mehraufwands, da eine Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht auch immer die Beschäftigung mit der eigenen Geschlechtsrollenidentität und deren Auswirkungen auf ein Gegenüber mit sich bringt (siehe Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie).

Eine weitere Erklärung für die Ablehnung ist die notwendige Grundversorgung von Menschen in Wohnungsnot, die vorrangig vor Geschlechterfragen geklärt sein muss. So konstatierte die Mehrzahl der Interviewpartner:innen geeigneten Wohnraum als dringlichsten und größten Bedarf von Menschen in Wohnungsnot. Es muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass die qualifizierten Hilfen neben der materiellen Existenzsicherung auch die gesamte Lebenswelt der Betreuten in den Blick nehmen müssen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 106–107), wozu auch zwingend die Kategorie Geschlecht gehört.

Dem Hilfesystem und den Interviewpartner:innen muss jedoch zugleich ein guter Wille attestiert werden, Menschen in Wohnungsnot adäquat zu unterstützen und dabei auch die Kategorie Geschlecht mit einzubeziehen. Diese Kategorie stellt allerdings das Hilfesystem aufgrund der Komplexität und des Zusammenwirkens verschiedener Aspekte vor eine immense Herausforderung. Deutlich wird dies durch die hohe Anzahl widersprüchlicher Aussagen, die identifiziert werden können.

Darüber hinaus müssen der Aufbau und die Gestaltung der Interviewstudie kritisch betrachtet werden. Sowohl die Interviewanfrage als auch die Struktur des Interviewleitfadens stellen die Kategorie Geschlecht in das Zentrum des Interesses. Die Bestimmung als bedeutende Determinante des Hilfesystems ist daher nicht verwunderlich.

Die zentralen Befunde der Auswirkungen der Kategorien Geschlecht decken sich mit den Befunden der Dokumentenauswertung. Die Auswirkungen von Männlichkeit in Wohnungsnot wird deutlich seltener positiv bewertet als die von Weiblichkeit. Insgesamt wird Männlichkeit erheblich häufiger negativ als positiv bewertet. Demgegenüber stehen die positiven Bewertungen von Weiblichkeit in Bezug auf Wohnungsnot. Unterstützt werden diese Befunde durch die deckungsgleiche Bewertung des sozialen Geschlechts. Die unterschiedlichen Bewertungen von Geschlecht stehen in enger Verbindung mit den typischen Gendermerkmalen wie sie in Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot dargestellt werden. Betrachtet man jedoch die Unterschiede im Detail, ergibt sich ein ambivalentes Bild der Auswirkungen. Bestimmte Aspekte wie beispielsweise das Autonomiebestreben von Männern in Wohnungsnot oder die Suche nach sozialen Beziehungen von Frauen in Wohnungsnot können sowohl als Ressource als auch als Barriere identifiziert werden. Zugleich kann die einfache Aufteilung anhand der klassischen Attribute von Gender in der Deutlichkeit nicht aufrechterhalten werden. So können für beide Geschlechter eine Vielzahl geschlechtsrollen-un-typischer Aspekte – beispielsweise 30 % des beobachteten Verhaltens – festgestellt werden. Dennoch können bei einem Wohnungsverlust und einer Wohnungsnot Geschlechterbesonderheiten beobachtet werden. Während Frauen in Wohnungsnot der Verlust der Weiblichkeit droht, haben Männer die Möglichkeit Männlichkeit auch in Wohnungsnot herzustellen. Ob diese Möglichkeit als positiv zu bewerten ist, ist jedoch mehr als fraglich. Die erheblichen negativen Konsequenzen von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot) und der Verdacht einer Verfestigung der Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) sprechen eher für einen erheblichen Nachteil dieser Möglichkeit.

Festgehalten werden kann, dass – und so bewerten es auch die Interviewpartner:innen – die klassischen Geschlechterrollen und die damit verbundenen Attribute eine große Bedeutung für Menschen in Wohnungsnot und das Hilfesystem haben. Allerdings bedarf die Kategorie Geschlecht was ebenfalls deutlich wird einer differenzierten Auseinandersetzung. Neben der genannten Abweichung von den klassischen Geschlechterrollen sprechen sich die Interviewpartner:innen auch explizit für die kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle aus.

Für die berichtete Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Menschen in Wohnungsnot kann keine entsprechende Literatur gefunden werden. Eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung kann ebenfalls nicht bestätigt werden (Robert Koch-Institut, 2015, S. 120; Seitz et al., 2019, S. 3–6). Dennoch kann die Zunahme der Zahl der Menschen in Wohnungsnot insgesamt (siehe Abschnitt 3.3 Relevanz von Wohnungsnot) die Beobachtungen der Interviewpartner:innen erklären.

Des Weiteren wird deutlich, dass die Kategorie Gesundheit einen großen Einfluss auf das bereits beschriebene Schnittstellenproblem zwischen Wohnungslosenhilfe, Eingliederungshilfe und in Teilen der medizinisch-psychiatrischen Versorgung hat (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem). Dem qualifizierten Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe ist diese Schnittstelle bewusst, jedoch bleibt offen, ob dabei eine Unterversorgung entsteht. Die Aussagen des Hilfesystems deuten jedoch daraufhin, dass das Hilfesystem diese Unterversorgung auffängt und sich auch für besser geeignet hält, diese Menschen zu versorgen. Solche positiven Annahmen über die eigene Hilfe sind nicht überraschend, müssen aber angezweifelt werden. Insbesondere für die Schnittstelle zu suchttherapeutischen Einrichtungen, welche nicht erwähnt wird, muss eine Unterversorgung angenommen werden.

Der Großteil der Aussagen mit Bezug auf die Kategorie Gesundheit bezieht sich indes auf dessen Zusammenwirken mit der Kategorie Geschlecht. Die Erkenntnisse decken sich mit den bekannten Geschlechterunterschieden der Prävalenz und Resilienz in Bezug auf psychische Auffälligkeiten und den Drogen-/Suchtmittelkonsum (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht): Frauen in Wohnungsnot sind häufiger von psychischen Auffälligkeiten betroffen und können über diese offener kommunizieren als Männer. Männer wiederum weisen häufiger einen Drogen-/Suchtmittelkonsum auf und können eine offenere Kommunikation über den Konsum führen. Beim gründlichen Blick auf die Unterschiede können nichtsdestotrotz erneut Beispiele identifiziert werden, die konträr zu dieser typischen Aufteilung stehen. Interessant ist, dass einige Interviewpartner:innen in Bezug auf den Konsum keine Geschlechterunterschiede erkennen können. Zwei Interpretationen sind diesbezüglich möglich, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Zum einen kann angenommen werden, dass Geschlechterunterschiede beim Vorliegen einer deutlichen Abhängigkeitserkrankung nicht mehr zu beobachten sind. Zum anderen liegt die Vermutung nah, dass dem Eindruck einer möglichen und durch den Autor auch vermuteten Unterversorgung – insbesondere von Männern mit Abhängigkeitserkrankungen – entgegen getreten werden soll.

Auffällig ist, dass die verschiedenen Interviewpartner:innen sich in Ihrer Interpretation zuweilen deutlich unterschieden. Insbesondere die Interviewpartner:innen in aktueller Wohnungsnot berichten von teils untypischen Auswirkungen – wobei deren Aussagen insgesamt den typischen Auswirkungen entsprechen. Eine abschließende Bewertung der Frage, ob die Personen in Wohnungsnot fundiertere Aussagen treffen können oder doch nur von Einzelfälle berichten und somit eine verzerrte Wahrnehmung haben, kann an dieser Stelle nicht erfolgen.

Schließlich überrascht, dass im Vergleich zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten, die somit zumeist Männer in Wohnungsnot betreuen, jeweils die Angebote für das jeweils andere Geschlecht zumeist positivere Auswirkungen postulieren. Diese positiven Auswirkungen, also die Resilienz und Offenheit, entsprechen dabei den typischen Geschlechterbesonderheiten im Kontext von psychischen Auffälligkeiten sowie Substanzkonsum. Es stellt sich demnach die Frage, ob die konkrete Arbeit und der Kontakt mit Menschen in Wohnungsnot eher dazu führt, dass untypische Geschlechterbesonderheiten beobachtet werden können. Die restlichen Aussagen in diesem Vergleich unterstützen diese Hypothese, nichtdestotrotz muss auch hier festgehalten werden, dass die Aussagen insgesamt die bekannten Geschlechterunterschiede der Prävalenz und Resilienz unterstützen. Die Bedeutung des Kontakts wird im Abschnitt 8.5 Diskussion erneut aufgegriffen und diskutiert.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die typischen Auswirkungen des Zusammenwirkens der Kategorien Geschlecht und Gesundheit mit den Ergebnissen der Dokumentenanalyse übereinstimmen. Zugleich zeigen die Interviews deutlich, dass ein differenzierter Blick auf dieses Zusammenwirken notwendig ist, um den Bedarfen von Menschen in Wohnungsnot gerecht zu werden.

Die gravierende Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot kann bestätigt werden. Für alle vier Manifestationen von Stigmatisierung lassen sich zahlreiche Aussagen beobachten. Am häufigsten können Aussagen mit Bezug auf die Öffentliche Stigmatisierung identifiziert werden. Diese bestehen zumeist aus den gängigen und bereits mehrfach aufgeführten Abwertungen (siehe beispielsweise Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot) – also ein Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm, die Individualisierung der Problemlagen sowie negative Stereotype. Die Strukturelle Stigmatisierung bezieht sich auf gesteigerte Anforderung von Einrichtungen sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen sowie auf eine mangelnde Anzahl frauenspezifischer Einrichtungen und dem Ausschluss bestimmter Zielgruppen. Betrachtet man die unterschiedlichen Auswirkungen des Geschlechts auf Abwertungen und Stigmatisierungen, fällt auf, dass Männer in Wohnungsnot in erheblichem Maße deutlicher und häufiger stigmatisiert werden als Frauen in Wohnungsnot. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Dokumentenanalyse. Die mangelnde Anzahl frauenspezifischer Einrichtungen bestätigt eine noch immer unzureichende flächen- und bedarfsdeckende Hilfelandschaft.

Das Hilfesystem und die Personen die im Hilfesystem arbeiten, sind ebenfalls von Stigmatisierungen betroffen. Gleichzeitig können auch Aussagen identifiziert werden, die eine Stigmatisierung des Hilfesystems belegen. Dabei handelt es sich nicht um eine generelle und explizite Stigmatisierung von Wohnungsnot – abwertende Unterstellungen oder die Benutzung abwertender Sprache, die nur sehr selten auftreten, können als solche nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Die Interviewpartner:innen werten jedoch insbesondere Männer in Wohnungsnot ab, indem sie diesen generell negative Charaktereigenschaften unterstellten und sie diese als Täter beschreiben, die demnach selbstverschuldet in Wohnungsnot seien. Der Vergleich zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten und dessen interessanter Befund – diejenigen Einrichtungen, die eher mit Männern in Wohnungsnot zusammenarbeiten, stigmatisieren diese eher als frauenspezifische Einrichtungen – werden in der Beantwortung der Offenen Fragen erneut aufgegriffen und diskutiert.

Die deutliche Persistenz der Stigmatisierung von Wohnungsnot wird darüber hinaus durch die Selbststigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot und deren Übernahme von Abwertungen gegenüber Menschen in Wohnungsnot deutlich. Zugleich fallen den Menschen in Wohnungsnot Strukturelle Stigmatisierungen nicht auf. Auch die Ablehnung der Bezeichnung als Wohnungslosenhilfe und die berichteten Stigmatisierungen durch Verbindungen verdeutlichen diese Umfassendheit.

Verschiedene Aspekte, wie die Strukturelle Stigmatisierung und die Ablehnung der Thematik, wurden bereits dargelegt, weshalb an dieser Stelle die Geschlechtskongruenz respektive –inkongruenz zur Bezugsperson sowie die Bedeutungszuschreibung des Hilfesystems zur Geschlechterrolle fokussiert werden.

Bisher wenig Beachtung findet der Umstand, dass im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe primär Sozialarbeiterinnen eine akzeptierte Rolle als Helferinnen einnehmen (siehe Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Zugleich überwiegt der Anteil an männlichen Personen in Wohnungsnot und als Klienten des Hilfesystems. Ebenso wie in der Dokumentenanalyse wird deshalb analysiert, welche Bedeutung der Kongruenz zur Bezugsperson beigemessen wird.

Es überrascht nicht, dass weiblichen Sozialarbeiterinnen zugeschrieben wird, sowohl für Frauen in Wohnungsnot als auch für Männer in Wohnungsnot besser geeignet zu sein, ist doch die Mehrzahl der interviewten Sozialarbeiter:innen, wie auch in der Realität des Hilfesystems, weiblich. Im Vergleich zwischen den verschiedenen Gruppen der interviewten Personen können die Sozialarbeiter:innen als die Personen identifiziert werden, die maßgeblich für diese positive Bewertung, zumeist ihres eigenen Geschlechts und somit ihrer eigenen Person, verantwortlich sind. Die Interviewpartnerinnen mit Leitungsfunktion zeichnen dagegen ein diverseres Bild und sprechen auch männlichen Sozialarbeitern eine wichtige Funktion im Hilfesystem zu. Eine solche differente Wahrnehmung zwischen Sozialarbeiter:innen und Personen in Leitungsfunktion kann an verschiedenen Stellen beobachtet werden. Als Erklärung dafür können indes nur Hypothesen gebildet werden. So kann zum einen vermutet werden, dass die Personen in Leitungsfunktion eine Expertenperspektive einnehmen und somit einen besseren Überblick über die gesamten Hilfen haben und zugleich die Aufgabe und die Ressourcen, die Fachöffentlichkeit im Blick zu behalten. Andererseits kann genauso angenommen werden, dass die Sozialarbeiter:innen näher an der tatsächlichen Realität der Wohnungslosenhilfe sind. Die Personen in Wohnungsnot, die maßgeblich von der Kongruenz respektive Inkongruenz zur Bezugsperson betroffen sind, äußern sich erstaunlicherweise so gut wie gar nicht zur Thematik. Ob also eine Kongruenz oder Inkongruenz zur Bezugsperson besser geeignet ist und welchen Effekt die hauptsächlich weiblichen Sozialarbeiterinnen im Hilfesystem haben, kann nicht abschließend geklärt werden.

In diesem Kontext steht auch der geschlechtssensible Umgang des Hilfesystems mit den Betreuten. Beobachtet werden kann, dass Männer in Wohnungsnot vor größere Herausforderungen gestellt werden und zugleich „härter“ angegangen werden, wohingegen Frauen in Wohnungsnot mehr Wohlwollen entgegengebracht wird. Dieser Umgang entspricht dem zumeist beobachteten Verhalten der Personen in Wohnungsnot und den typischen Gendermerkmalen. Zugleich muss dieser geschlechtssensible Umgang der Sozialarbeiter:innen auch kritisch hinterfragt werden, entsteht doch die eigene Geschlechtsrollenidentität als Grundlage geschlechtertypischen Verhaltens im Spannungsfeld zwischen eigener Konstruktion und gleichzeitiger Aneignung von Erwartungen (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Die bisherigen Ergebnisse beweisen die Notwendigkeit, auch untypisches Verhalten sowie untypische Bedarfe in den Blick zu nehmen. Es bedarf einer Reflexion von Geschlecht und der Geschlechterrollenidentität und des daraus entstehenden Verhaltens sowie der Bedarfe, um umfassende und bedarfsgerechte Unterstützungen anbieten zu können. Allen Interviewpartner:innen des Hilfesystem ist, mindestens nach der Durchführung des Interviews, die Relevanz dieser Reflexion bewusst.

Kontextualisierung der Dokumentenanalyse

Um sowohl das Ziel der Kontextualisierung als auch das Ziel der Ergänzung der Ergebnisse der Dokumentenanalyse zu erreichen, werden die identifizierten offenen Fragen der Dokumentenanalyse (siehe Unterkapitel Ausblick auf die Leitfadeninterviews des Abschnitten 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation) folgend beantwortet. Die 14 offenen Fragen lauten:

  1. 1.

    Kann die Stigmatisierung von männlichen Betreuten durch das Hilfesystem bestätigt werden?

  2. 2.

    Kann ein Selbststigma der Personen in Wohnungsnot oder eine Stigmatisierung durch Verbindungen der Personen im Hilfesystem identifiziert werden?

  3. 3.

    Welche Bedeutung wird der Kategorie Geschlecht im Kontext von Wohnungsnot zugemessen?

  4. 4.

    Wie bewerten die Interviewpartner:innen die Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz zwischen Betreuter:m und Hilfeplanersteller:in/Betreuer:in?

  5. 5.

    Welche Bedeutung wird den psychischen Auffälligkeiten und dem Drogen-/Suchtmittelkonsum der Betreuten zugeschrieben?

  6. 6.

    Wie bewerten die Interviewten das Zusammenwirken von Geschlecht und psychischen Auffälligkeiten sowie Drogen-/Suchtmittelkonsum insbesondre in Bezug auf die Bewertung der Betreuten?

  7. 7.

    Welche geschlechtsspezifischen Bedarfe respektive Themen der Betreuten werden genannt?

  8. 8.

    Können Erklärungen für die überraschenden geschlechtsunspezifischen Befunde – ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Arbeit bei Betreuten mit psychischen Auffälligkeiten und ein erhöhter Bedarf im Lebensbereich Soziale Beziehungen bei Betreuten mit Drogen-/Suchtmittelkonsum – eruiert werden?

  9. 9.

    Kann diese Zuschreibung der Selbstverantwortung für die Wohnungsnot aufgrund von Alkoholmissbrauch durch die interviewten Personen bestätigt werden?

  10. 10.

    Kann ein Zusammenhang zwischen der Bewertung des Verhaltens und der Abwertung der Betreuten allgemein identifiziert werden?

  11. 11.

    Wie wird geschlechtsspezifisches Verhalten bewertet?

  12. 12.

    Welche Rolle spielen die Kategorien für den Zusammenhang zwischen Verhalten und Bewertung

  13. 13.

    Kann der Effekt, Männer als Täter und Frauen als Opfer zu beschreiben, auch in den Interviews identifiziert werden und wie bewerten die interviewten Personen diese Zuschreibung als Täter oder Opfer?

  14. 14.

    Welche Bedeutung hat die Angebotsstruktur, also die Örtlichkeit sowie die Angebotsform, für die Stigmatisierung der Betreuten?

Eine Großzahl der offenen Fragen kann, mit Verweis auf die vorhergehenden Darstellungen der Ergebnisse, bereits als beantwortet betrachtet werden. Der Vollständigkeitshalber werden jedoch alle Fragen, zumindest knapp, behandelt.

Frage 1–2

Die Stigmatisierung von männlichen Betreuten durch das Hilfesystem wird ebenso bestätigt wie die deutliche und gravierende Abwertung und Stigmatisierung von Wohnungsnot. Männliche Betreute sind dabei erwartungsgemäß mehr von diesen Abwertungen und Stigmatisierungen betroffen. Die Persistenz der Stigmatisierung von Wohnungsnot wird durch die Identifizierung der Manifestationen Selbststigmatisierung und Stigmatisierung durch Verbindung bestätigt. Eine Strukturelle Stigmatisierung von Wohnungsnot kann ebenfalls klar benannt werden, wobei eine explizite Stigmatisierung des Hilfesystems, etwa durch einen abwertenden Sprachgebrauch, wie auch schon in der Dokumentenanalyse, nicht bestätigt werden kann. Dennoch sind gerade Männer in Wohnungsnot von einer Stigmatisierung durch das Hilfesystem betroffen. Insgesamt sind alle vier Manifestationen der Stigmatisierungen von Wohnungsnot durch die gängigen Abwertungen – ein Nicht-Erfüllen der meritokratischen Leistungsnorm, die Individualisierung der Problemlagen und negative Stereotypen – geprägt.

Frage 3–4

Die Kategorie Geschlecht nimmt eine zentrale Rolle im Kontext von Wohnungsnot ein. Eine mögliche Verzerrung dieses Befundes durch den Aufbau und die Struktur der Interviewstudie wird im anschließenden Abschnitt 8.5 Diskussion diskutiert. Die Bewertung der Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz zwischen Betreuter:m und Bezugsperson ist widersprüchlich. Ein Gros der Interviewpartner:innen hebt insbesondere die positive Bedeutung von weiblichen Sozialarbeiterinnen im Hilfesystem hervor. Diese ist zwar aufgrund der bestehenden Verteilung nachvollziehbar und zugleich in dieser Eindeutigkeit deutlich zu hinterfragen. Trotz der ebenfalls angegebenen Notwendigkeit der Reflexion von Geschlecht und der eigenen Geschlechterrolle scheint eine solche an dieser Stelle (noch) nicht zu erfolgen. Die anzunehmende Rolle der sorgenden Sozialarbeiterin bestärkt, so ist zu vermuten, die Orientierung an den klassischen Merkmalen von Geschlecht und Gender (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) und eine damit einhergehende Verfestigung von geschlechtstypischen Verhaltensweisen.

Frage 5–6

Die Auswirkungen der Kategorie Gesundheit beziehen sich insbesondere auf dessen Zusammenwirken mit der Kategorie Geschlecht. Die Auswirkung auf das Schnittstellenproblem zwischen den verschiedenen Rechtskreisen (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem) kann, auch wenn es nicht im Fokus der meisten Interviewpartner:innen steht, bestätigt werden. Die Relevanz der Thematik wird dabei mit bis zu 40 % aller Fälle als sehr hoch eingestuft. Wie die Auswirkungen jedoch konkret aussehen und ob beispielsweise eine Unterversorgung besteht, kann nicht geklärt werden. Allerdings kann vermutet werden, dass das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe diese Unterversorgung auffängt und sich darüber hinaus für besser geeignet hält, diese Menschen zu versorgen. Letzteres muss aufgrund der fehlenden Qualifizierung deutlich in Frage gestellt werden.

Das Zusammenwirken der beiden Kategorien bestätigt die bekannten Geschlechterunterschiede der Prävalenz und Resilienz in Bezug auf psychische Auffälligkeiten und den Drogen-/Suchtmittelkonsum (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht) und somit die Befunde der Dokumentenanalyse. Eine direkte Verbindung zwischen den Auswirkungen des Zusammenwirkens der Kategorien und der Bewertung der Betreuten kann nicht ausgemacht werden. Nichtsdestotrotz kann aufgrund der allgemeinen Stigmatisierung von männlichen Personen in Wohnungsnot und den identifizierten Annahmen über eben diese in Bezug auf die Prävalenz und Resilienz – vor allem Alkoholkonsum und die Unfähigkeit über die eigenen psychischen Auffälligkeiten reden zu können – ein Zusammenhang zwischen dem Zusammenwirken und einer Stigmatisierung angenommen werden. Insbesondere der Konsum von Alkohol fügt sich in die gängigen Abwertungen und Stigmatisierungen von Wohnungsnot, die selbstverschuldete Wohnungsnot, ein. Des Weiteren passt diese Zuordnung als selbstverschuldet zur männlichen Geschlechtsrollenidentität als aktiv handelnde Person, die wiederum mit der häufig konstatierten Bewertung als aktiver Täter übereinstimmt. Es ist also fraglich, inwiefern der angenommene Zusammenhang der Stigmatisierung nicht auch durch geschlechtsrollenkonformes Verhalten ausgelöst wird. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass zwar die Tendenz der Prävalenz und Resilienz deutlich ist, es jedoch einen erheblichen Anteil untypischen Verhaltens gibt.

Frage 7–9

Die aufgeführten Bedarfe der Menschen in Wohnungsnot sind sehr heterogen. Dabei kann eine Tendenz zu geschlechtstypischen Themen festgestellt werden. Frauen haben einen Bedarf in Bezug auf Gesundheit, Soziale Beziehungen und Emotionalität, wohingegen Männer eher einen Bedarf in Bezug auf Suchtmittelkonsum, Arbeit und Schulden sowie Autonomiebestreben haben. Wie bereits mehrfach aufgeführt, kann indes auch eine Vielzahl an untypischen Bedarfen beobachtet werden. Über den Zusammenhang zwischen der Kategorie Gesundheit und spezifischen Bedarfen können keine Aussagen getätigt werden. Auch eine aufgrund von Alkoholmissbrauch bestehende Zuschreibung einer Selbstverantwortung der eigenen Wohnungsnot kann nicht direkt bestätigt werden. Jedoch muss auch hier auf die Korrelation zwischen der Stigmatisierung und Zuschreibung einer Selbstverantwortung von Männern mit dem vermehrten Drogen-/Substanzkonsums von Männern verwiesen werden, die einen solchen Zusammenhang zumindest als wahrscheinlich erachten lässt.

Frage 10–13

Für den Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Betreuten und deren Abwertung kann ebenfalls keine klare Bestätigung gefunden werden. Jedoch nehmen die Abwertungen häufig Bezug auf konkretes Verhalten, wobei vorwiegend das Verhalten von Männern negativ bewertet wird. Deren Verhalten mündet in der Attribution als schlechter Bedürftiger mit schlechten Charaktereigenschaften sowie der Beschreibung als Täter. Ob das Verhalten jedoch antizipiert oder tatsächlich beobachtet ist, kann nicht geklärt werden.

Insgesamt lässt sich nur eine sehr geringe Anzahl von geschlechtsspezifischen Reaktionen auf Verhalten identifizieren. Das Verhalten kann dabei den typischen Gender-Merkmalen zugeordnet – Frauen als Opfer und Männer als Täter –, welchen wiederum ebenfalls geschlechtsrollencharakteristisch begegnet wird. Den angeblich passiven Frauen wird offen und hilfsbereit begegnet, wohingegen den angeblich aktiven Männern eher mit Argwohn, dem Wunsch nach Überprüfung des jeweiligen Bedarfs und der Motivation begegnet wird. Der Großteil der Interviewpartner:innen des Hilfesystems berichtet indes davon, allen Betreuten gleich gegenüberzutreten. Diese Grundhaltung, jeder betreuten Person in gleiche Weise helfen zu wollen, kann auch im Sinne des Berufsethos angenommen werden. Allerdings lassen sich zugleich widersprüchliche Aussagen der Interviewpartner:innen identifizieren. Aus diesen geht deutlich hervor, dass sie den Betreuten, je nach Geschlecht, unterschiedlich begegnen. Demnach wird das Verhalten der Betreuten geschlechtsspezifisch bewertet. Wie diese Bewertung ausfällt, kann jedoch aufgrund fehlender Aussagen der Interviewpartner:innen nur vermutet werden. Es kann angenommen werden, dass es zu einer Stigmatisierung von männlichen Betreuten kommt. Offen bleibt, weshalb die Interviewpartner:innen keine respektive widersprüchliche Aussagen tätigen. Die Annahmen des Autors diesbezüglich finden sich am Anfang des Kapitels unter der Darlegung zur generellen Ablehnung der Thematik.

Das Zusammenwirken der Kategorien ist bekannt – unter anderem Unterschiede in der Prävalenz sowie bei der Inanspruchnahme von Hilfen und Behandlungsmotivation (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht). Auch im Hilfesystem ist zumindest die Prävalenz verschiedener Krankheiten bekannt und beobachtbar. Ein explizites Verhalten auf die Effekte des Zusammenwirkens der Kategorien kann indes nicht ausgemacht werden. Im Gegenteil dient eine mangelnde Behandlungsmotivation oder die geringere Inanspruchnahme der Hilfen zur Abwertung im Sinne einer negativen Charaktereigenschaft von Männern in Wohnungsnot. Weiterhin muss hier erneut auf die Korrelation von Stigmatisierung mit dem vermehrten Drogen-/Suchtmittelkonsum hingewiesen werden.

Die Zuschreibung als Täter oder Opfer und deren Bewertung durch die interviewten Personen wird an dieser Stelle nochmals gesondert aufgeführt. Die Ein- beziehungsweise Zuteilung entspricht den klassischen Gendermerkmalen, ob jedoch die Realität ebenfalls diese deutliche Einteilung erlaubt, ist fraglich, wenn auch möglich. Wie bereits bekannt, kann insgesamt ein Unterschied zwischen den Geschlechtern festgestellt werden, dieser ist jedoch im Detail viel heterogener als vermutet. Zugleich ist die eigene Darstellung der Ursachen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot geprägt durch die eigene Geschlechtsrollenidentität. Dieses ‚Doing-Gender‘ (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) stellt das Hilfesystem vor eine immense Herausforderung. Die subjektiven Wirklichkeiten von Ursachen und Bedarfen – Männer, die sich als Täter sehen und gesehen werden wollen sowie Frauen, die sich als Opfer sehen und gesehen werden wollen – müssen kritisch hinterfragt werden. Das Hilfesystem muss darauf bedacht sein, das wahrgenommene Auftreten der Menschen in Wohnungsnot kritisch zu reflektieren und detailliert die ‚wahre‘ Lebenssituation respektive die konkreten Bedarfe individuell zu erfassen. Zugleich muss das Hilfesystem Geschlecht und dessen Auswirkungen im Blick behalten. Der Zusammenhang zwischen der üblichen Abwertung von Wohnungsnot durch die Zuschreibung einer Selbstverantwortung für die eigene Wohnungsnot und der Beschreibung von Männern als Täter ist eklatant und unterstreicht die Notwendigkeit der Reflexion der Kategorie Geschlecht.

Frage 14

Sowohl die Auswahl der Interviewpartner:innen als auch das erstellte Kategoriensystem ermöglichen lediglich Aussagen über den Umfang der Angebotspalette sowie den Unterschied zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten. Die Bedeutung der Kategorien Herkunft, Alter und Unterbringungsform auf die Stigmatisierungsprozesse von Wohnungsnot kann durch die Interviewstudie nicht ausgearbeitet werden.

Bestätigung findet das weiterhin fehlende flächen- und bedarfsdeckende Angebot für Frauen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot). Insbesondere die Personen, die bereits in frauenspezifischen Einrichtungen arbeiten, konstatieren diese fehlende Angebotsform als Strukturelle Stigmatisierung, der Frauen ausgesetzt sind.

Im Vergleich zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten kann eine Vielzahl an Unterschieden festgestellt werden. Konsistent ist diesen Unterschieden, dass die Angebotsform einen Einfluss auf die Bewertung von Wohnungsnot hat. Dabei werden diejenigen Personengruppen positiver – beziehungsweise weniger negativ – bewertet, zu denen aufgrund der Angebotsstruktur ein geringerer Kontakt vermutet werden muss. Das heißt konkret: Frauenspezifische Angebote bewerten Männer in Wohnungsnot besser als die anderen Angebote und zugleich bewerten die anderen Angebote Frauen in Wohnungsnot besser als die frauenspezifischen Angebote. Dies mag zuerst kontraindiziert erscheinen, bedenkt man die auf Allport ‘ s (1954) Kontakthypothese basierenden positiven Effekte von Kontakt auf die Bewertung von marginalisierten Gruppen (P. W. Corrigan et al., 2005, S. 184; P. W. Corrigan et al., 2012; P. Corrigan et al., 2015; Evans-Lacko, Brohan et al., 2012; Rüsch et al., 2005). Allerdings ist die Beschaffenheit des Kontakts entscheidend für dessen Wirkung auf die Bewertung (Henderson et al., 2014; Röhm, 2017, S. 21). Verschiedene Studien belegen außerdem, dass Fachkräfte in helfenden Berufen marginalisierte Gruppen mindestens ebenso abwerten und stigmatisieren wie die Allgemeinbevölkerung (Harangozo et al., 2014, S. 360; Henderson et al., 2014; Larkings & Brown, 2018, S. 929; Lebowitz & Ahn, 2016, S. 176). Diese Befunde sind jedoch nicht weiter verwunderlich, benennt Allport (1954, S. 281) doch vier Bedingungen – Statusgleichheit, gemeinsame Zielen, institutionelle Unterstützung und Kooperationsbereitschaft (Röhm, 2017, S. 45) –, die notwendig sind, um Vorurteile zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse in Bezug auf die spezifischen Angebote der Wohnungslosenhilfe schlüssig. Die verschiedenen Bedingungen, die Allport aufführt, sind im konkreten Hilfesetting zumeist nicht gegeben. Vielmehr ist anzunehmen, dass in der direkten Arbeit mit Menschen in Wohnungsnot beispielsweise die jeweiligen Ziele divergent sind und demnach die Personen, zu denen ein direkter Kontakt besteht, mehr abgewertet werden, als Personen, zu denen kein direkter Kontakt besteht.

Schließlich kann dieser Erkenntnis – die Personen, zu denen aufgrund der Angebotsstruktur mehr Kontakt besteht, werden negativer bewertet respektive abgewertet – ein weiterer Impuls zur Frage der Bedeutung des beobachtbaren Verhaltens der Personen in Wohnungsnot in Bezug auf deren Abwertung entnommen werden. Die Ergebnisse indizieren einen Einfluss des beobachteten Verhaltens auf die Abwertung. Beachtenswert ist beim Vergleich zwischen frauenspezifischen Angeboten und anderen Angeboten, dass, so kann angenommen werden, auch das Verhalten von Frauen in Wohnungsnot zu einer größeren Abwertung führt. Dies widerspricht jedoch der Annahme von einer durch typische männliche Gendermerkmale geprägten Abwertung von Wohnungsnot. Die abschließende Diskussion und Bewertung erfolgt jedoch nicht an dieser Stelle, sondern in Abschnitt 8.5 Diskussion.

8.5 Diskussion

Sowohl die Dokumentenanalysen als auch die Interviewstudie zeigen, dass Personen in Wohnungsnot durch das im Fokus der Untersuchungen stehende qualifizierte Hilfesystem nicht direkt abgewertet beziehungsweise stigmatisiert werden. Zugleich liefert insbesondere die Interviewstudie umfangreiche Belege für die Persistenz der Stigmatisierung von Wohnungsnot. Für alle vier Manifestationen von Stigmatisierung – Öffentliche, Strukturelle, Selbststigmatisierung und die durch Verbindungen – können eine Vielzahl an Aussagen identifiziert werden. Im Vergleich zwischen Männern und Frauen in Wohnungsnot sind jedoch vor allem Männer von Stigmatisierungen betroffen. Die Strukturelle Stigmatisierung von Wohnungsnot wird über die gesteigerte Anforderung von Einrichtungen sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen bestätigt. Für das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe werden die mangelnde Anzahl frauenspezifischer Einrichtungen sowie der Ausschluss bestimmter Zielgruppen wie Familien benannt. Auch in den untersuchten qualifizierten Hilfen für Menschen in Wohnungsnot (nach §§ 67–69 SGB XII) können Abwertungen und Stigmatisierungen beobachtet werden. Direkte Stigmatisierungen, beispielsweise durch den Gebrauch abwertender Sprache, können dabei jedoch nicht oder nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Allerdings können erneut Abwertungen insbesondere gegenüber Männern beobachtet werden. Diese entsprechen den typischen Stigmatisierungen von Armut und Wohnungsnot: die Individualisierung der Problemlagen und die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot sowie negativer Charaktereigenschaften.

Der deutliche Effekt der Kategorie Geschlecht unterstreicht die Bedeutung der Intersektionalitätshypothese und somit die Beschaffenheit der Intersektionalität als Ordnungsrahmen und Analyseinstrument für Wohnungsnot wie auch als theoretischer Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit.

Nachfolgend werden die relevanten Ergebnisse der als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design konzipierten Analyse der Strukturellen Stigmatisierung von Wohnungsnot detailliert doch knapp dargestellt. Ausgehend von diesen Ergebnissen müssen fünf noch zu benennende Aspekte einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, die sowohl kontroverse Fragen aufwerfen als auch streitbare Implikationen enthalten. Das Kapitel abschließend werden die Limitationen der Studien des zweitens Zugangs dargestellt.

Das Ziel der Untersuchungen des zweitens Zuganges ist (1) die Untersuchung der Rolle der Kategorien Geschlecht und Gesundheit bei der Stigmatisierung von Wohnungsnot durch das Hilfesystem. Darüber hinaus gilt es, die Fragen, (2) ob die Ungleichheitsdispositionen der Öffentlichen Stigmatisierung bestätigt werden können, (3) ob Stigmatisierungen im Hilfesystem beobachtet werden können und (4) wie die einzelnen Akteur:innen die Öffentliche Stigmatisierung beobachten und bewerten sowie von Selbststigmatisierung oder Stigmatisierung durch Verbindungen betroffen sind, zu beantworten. Schließlich sollen als Implikationen der Ergebnisse der Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung (5) die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und Personen im Hilfesystem in den Blick genommen werden und (6) die positiven Effekte des Kontakts überprüft werden.

Es ist keine explizite Stigmatisierung durch das Hilfesystem feststellbar. Im Gegenteil, die Akteur:innen des Hilfesystems zeichnen sich durch eine offene und wohlwollende Haltung gegenüber den Menschen in Wohnungsnot aus. Jedoch können deutliche Unterschiede in der Bewertung entlang der Kategorien, insbesondere der Kategorie Geschlecht, beobachtet werden. Konkret messbar ist der signifikante Unterschied der Veränderung der Lebenssituation während der Hilfen. Frauen und Männer unterscheiden sich hierbei signifikant voneinander mit einem besseren Abschneiden in der positiven Veränderung der Lebenssituation für Frauen. Allerdings können zugleich keine Unterschiede in der Abbruchquote oder der prognostizierten Zielerreichung, also eine messbare Konsequenz der Abwertungen gemessen werden. Die Strukturelle Stigmatisierung des Hilfesystems zeichnet sich durch Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot aus, die den typischen in Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot dargestellten Stigmatisierungen von Wohnungsnot entspricht: eine Individualisierung der Lebenslagen, die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Notsituation und das angebliche Nicht-Erfüllen meritokratischer Leistungsnormen. In den Dokumentenanalysen werden folgende Kategorien zuerst identifiziert und dann bestätigt: die Zuschreibung negativer Charaktereigenschaften, die Bewertung als schlechter Bedürftiger, die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot sowie die Beschreibung als aktiver selbstverantwortlicher Täter der Lebenssituation. In der Interviewstudie kann insbesondere die Attribution als schlechter Bedürftiger mit schlechten Charaktereigenschaften sowie der Beschreibung als Täter bestätigt werden. Wie die Aufzählung und das schlechtere Abschneiden in der Veränderung der Lebenssituation während der Hilfen bereits suggeriert, sind von diesen Abwertungen insbesondere Männer in Wohnungsnot betroffen.

Die Interviewstudie zeigt, dass sich diese Abwertungen mit den typischen Gendermerkmalen von Männlichkeit – unter anderem aktiv, leistungsorientiert, unabhängig, (willens-)stark (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) – decken. Die besondere Bedeutung der Geschlechterrolle für Menschen in Wohnungsnot sowie der Stigmatisierung dieser, welche auch durch einzelne Interviewpartner:innen bestätigt wird, ist einer der fünf Aspekte, die im weiteren Verlauf kritisch betrachtet werden müssen.

Stigmatisierungen mit Bezug auf die Kategorie Gesundheit können vor allem für den Konsum von Drogen und Suchtmitteln identifiziert werden. Während in der Dokumentenanalyse auch Indizien für eine Stigmatisierung von psychischen Auffälligkeiten gefunden werden können, bestätigt die Interviewstudie die gefundenen Abwertungen beim Drogen-/Suchtmittelkonsum. Diese entsprechen Weiners Attributionstheorie (1995), also einer zugeschriebenen Selbstverantwortung für die Lebenssituation. Auffällig ist, dass diese analog zur bestätigten Prävalenz eines männlichen Konsums von Alkohol insbesondere Männer in Wohnungsnot betrifft. Des Weiteren bestätigt die Interviewstudie den geschlechtsspezifischen Umgang mit Gesundheit, also die prinzipielle Offenheit von Frauen das psychiatrische Hilfesystem in Anspruch zu nehmen (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht) und somit die Bedeutung des Intersektionalen Zusammenwirkens der beiden Kategorien.

Ferner ermöglicht die Dokumentenanalyse weitere Erkenntnisse in Bezug auf die Kategorie Gesundheit. Mit N = 277 Hilfeplänen sind umfassende Aussagen über die Merkmale der Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot möglich. Auffällig ist, dass die von Bäuml, Baur, Brönner et al. (2017, S. 130) identifizierte hohe Prävalenzrate psychischer Auffälligkeiten, zu denen Bäuml et al. auch den Drogen-/Suchtmittelkonsum zählen, nicht erreicht werden kann. Insgesamt zeigen ‚nur‘ 71.48 % der Stichprobe eine psychische Auffälligkeit und beziehungsweise oder einen problematisierten Drogen-/Suchtmittelkonsum. Die dezidierte Kritik an der Studie kann somit bestätigt werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie einschränkend müssen allerdings zwei limitierende Faktoren aufgeführt werden: Die Stichprobe besteht zum einen nur aus Betreuten des qualifizierten Hilfesystems und zum anderen ist die Geschlechterverteilung dieser nicht repräsentativ.

Neben der Bestätigung der Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit liefert der zweite Zugang auch Ergebnisse hinsichtlich der Kategorien Herkunft, Unterbringungsform und Angebotsstruktur, jedoch keine Ergebnisse über die Kategorie Alter. Bedingt durch einen anderen Fokus können die Aussagen über die Herkunft nicht mit den Ergebnissen zur Öffentlichen Stigmatisierung verglichen werden. Für die Kategorien Herkunft und Unterbringungsform kann eine Interaktion mit der Kategorie Geschlecht vermutet werden – hauptsächlich werden Männer in stationären Settings in (kreisfreien) Städten betreut, wobei bei diesen eine größere Stigmatisierung im Vergleich zu ambulanten kreisangehörigen Städten auf dem Land zugeschrieben werden kann. Die Angebotsstruktur hat über die bereits aufgeführte Bedarfsdeckung einen Einfluss auf die Stigmatisierung von Wohnungsnot. Zugleich ergibt der Fokus auf unterschiedliche Angebotsstrukturen Hinweise auf die Bedeutung von Kontakt, welche im weiteren Verlauf dieses Kapitels diskutiert werden.

Die in den Interviews identifizierte Öffentliche Stigmatisierung zeichnet sich durch die gleichen Abwertungen aus, die auch im Hilfesystem beobachtet werden können. Dies ist auch bedingt durch die Übernahme dieser Abwertungen vieler Interviewpartner:innen, zeigt aber zugleich die Persistenz der Abwertung von Wohnungsnot. Eben diese Persistenz wird dadurch bestärkt, dass auch für die zwei weiteren Manifestationen von Stigmatisierung Belege gefunden werden können. Neben der zu erwartenden Selbststigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot überrascht die Identifikation der Stigmatisierung durch Verbindung von Personen, die im Hilfesystem tätig sind.

Sowohl die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und im Hilfesystem tätigen Personen als auch die Bedeutung von Kontakt sind zwei weitere der fünf Aspekte, die im Verlaufe des Kapitels kritisch betrachtet werden müssen.

Bevor diese kritische Betrachtung erfolgt, werden die Konsequenzen der identifizierten Stigmatisierung von Wohnungsnot beleuchtet. Das im zweiten Zugang in den Blick genommene qualifizierte Hilfesystem ist entscheidend für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot (R. Lutz & Simon, 2017, S. 97), doch zugleich wird Stigmatisierung als inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot) eine essentielle Bedeutung für die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot zugeschrieben (siehe Abschnitt 3.4.1 Konsequenzen von Wohnungsnot). Als ein Aspekt der Strukturellen Stigmatisierung kann eine erhöhte Anforderung beim Bezug sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen identifiziert werden. Durch diese erhöhte Anforderung entsteht ein (noch) größerer Bedarf zur Verbesserung der Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot. Auch wenn ein weiterer Aspekt Struktureller Stigmatisierung die fehlende Bedarfsdeckung insbesondere in Bezug auf frauenspezifische Angebote ist, sind im Hilfesystem primär Männer in Wohnungsnot von Stigmatisierungen betroffen. Zwar kann wiederholt darauf hingewiesen werden, dass im Hilfesystem keine expliziten Stigmatisierungen beobachtet werden können und dieses sich generell durch eine wohlwollende Haltung gegenüber Menschen in Wohnungsnot auszeichnet, allerdings ist die Abwertung von Männern evident. Die Verbesserung der Teilhabesituation von Frauen in Wohnungsnot ist demnach über eine fehlende Bedarfsdeckung und die Verbesserung der Teilhabesituation von Männern in Wohnungsnot über die deutlichen Abwertungen im Hilfesystem gefährdet.

In Bezug auf die Kategorie Gesundheit sowie deren Zusammenwirken mit der Kategorie Geschlecht muss an dieser Stelle auch auf das Versorgungsproblem der Schnittstellen hingewiesen werden (siehe Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem). Die Relevanz des Problems wird von den Interviewpartner:innen als hoch erachtet. Zugleich betonen diese, passgenaue Hilfen anbieten zu können. Allerdings muss diese Feststellung mindestens für die Schnittstelle zum suchttherapeutischen Bereich hinterfragt werden. Zum einen wird diese Schnittstelle nicht erwähnt und zum anderen können deutliche Abwertungen der Personen mit Konsum festgestellt werden. Insgesamt bleibt demnach offen, ob das Hilfesystem an dieser Stelle seinem Auftrag der Verbesserung der Teilhabesituation nachkommen kann.

Eine weitere Konsequenz der Stigmatisierung von Wohnungsnot betrifft die bereits angesprochenen Bedeutung der Geschlechtsrollenidentität, welche im weiteren Verlauf des Kapitels nochmals aufgegriffen und kritisch diskutiert werden muss. Als Konsequenz des Stigmas Wohnungsnot droht Frauen bei einem Wohnungsverlust der Verlust der Weiblichkeit und ihrer Geschlechtsrollenidentität. Männer hingegen haben die Möglichkeit, Männlichkeit auch in Wohnungsnot herzustellen. Die erheblichen negativen Auswirkungen von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot) und einer möglichen Verfestigung von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot) beweisen jedoch, dass diese ‚Option‘ erhebliche Nachteile nach sich zieht.

Kritischer Diskurs

Die bereits mehrfach aufgeführten, kritisch zu diskutierenden Aspekte können mit folgenden Überschriften beschrieben werden:

  1. 1.

    Der Einfluss des Verhaltens auf die Bewertung

  2. 2.

    Die Bedeutung des Kontakts in Stigmatisierungsprozessen

  3. 3.

    Die Ablehnung der Thematik Geschlecht/Gender

  4. 4.

    Die Relevanz der Geschlechterrollen und die Bewertung als Täter beziehungsweise Opfer

  5. 5.

    Die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und im Hilfesystem tätigen Personen

Die Abwertungen von Wohnungsnot, die sowohl in den Dokumentenanalysen (siehe Abschnitt 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung und Abschnitt 8.3.5 Zusammenfassung und Interpretation) als auch in der Interviewstudie (siehe Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation) identifiziert und bestätigt werden, entsprechen den üblichen Stigmatisierungen von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot). Insbesondere die Zuschreibung einer Charakterschwäche und einer selbstverschuldeten Wohnungsnot entspricht den gängigen Stigmatisierungen von Wohnungsnot. Darüber hinaus ist die zugeschriebene Abweichung von respektive das Nicht-Einhalten einer meritokratischen (Leistungs-)Norm ein Wesensmerkmal von Stigmatisierung (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung). Zugleich wird an verschiedenen Stellen der Untersuchungen die Frage aufgeworfen, welchen Einfluss das Verhalten der Menschen in Wohnungsnot für die Stigmatisierung von Wohnungsnot hat.

Eine kontroverse Frage, die und deren Implikationen im Folgenden näher betrachtet werden, beinhaltet den Vorwurf, dass Menschen in Wohnungsnot (mindestens) einen eigenen Anteil an der Stigmatisierung von Wohnungsnot haben. Der Vorwurf gewinnt an Brisanz, weil gerade Individualisierung und Schuldzuschreibung ein Grundpfeiler der Stigmatisierung von Wohnungsnot sind. Bereits in der qualitativen Dokumentenanalyse zur Generierung des Codebuches wurde der Einfluss des Verhaltens im Forscher:innenteam kontrovers diskutiert (siehe das Unterkapitel Hypothesen des Abschnitten 8.3.3 Instrument als Ergebnis der qualitativ inhaltsanalytischen Dokumentenauswertung). Die sieben dort ausdifferenzierten Aspekte einer Abwertung der Betreuten entsprechen jedoch deutlich den typischen Stigmatisierungen von Wohnungsnot. Ein weiteres Argument gegen den Vorwurf ist die Implikation der Manifestationen von Stigmatisierung, die eine Auswirkung der bekannten und bereits bestätigten Öffentlichen Stigmatisierung (siehe Kapitel 7 Zugang 1 Öffentliche Stigmatisierung) auf die Strukturelle Stigmatisierung postuliert (Pryor & Reeder, 2011, S. 794).

Allerdings kann in der quantitativen Dokumentenauswertung der Effekt des Verhaltens der Betreuten auf die Abwertung von Wohnungsnot zweifelsfrei identifiziert werden. Insbesondere die Korrelation zwischen Non-Compliance und der Zuschreibung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot, einer vermehrten Kontrolle sowie der Verschlechterung der Lebenssituation unterstreichen die Auswirkungen des Verhaltens. Die Interviewstudie liefert keine eindeutigen Ergebnisse. Die beobachteten Abwertungen nehmen jedoch häufig Bezug auf konkretes Verhalten, wobei dieses zumeist den typischen Gender-Merkmalen entspricht, also in der Folge hauptsächlich Männer in Wohnungsnot betrifft. Das Hilfesystem beschreibt Männer in Wohnungsnot in der Regel als Täter und Frauen in Wohnungsnot als Opfer. Sowohl die Relevanz der Geschlechterrollen als auch die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und Menschen, die im Hilfesystem tätig sind, ist im weiteren Verlauf dieses Kapitels kritisch zu diskutieren.

Beachtenswert ist, dass das in der Interviewstudie direkt beobachtete Verhalten der Menschen in Wohnungsnot deutlich heterogener und somit geschlechts-un-typischer ist als die Aussagen des Hilfesystems vermuten lassen (siehe die Ergebnisse der Interviewstudie zum Verhalten der Menschen in Wohnungsnot). Des Weiteren wird das durch das Hilfesystem beschriebene Verhalten größtenteils antizipiert und nicht beobachtet. Schließlich muss das Verhalten auch vor dem theoretischen Hintergrund eins Labeling-Approach-Ansatzes, der sowohl in den Erklärungsansätzen für Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot) als auch im Zusammenhang mit Stigmatisierung bereits mehrfach erwähnt wurde, betrachtet werden. Verhalten ist demnach eine Reaktion auf negative Stereotype der Öffentlichkeit und deren Aneignung (siehe Rüsch, 2010, S. 288–290 oder auch Goffman, 1972; Link et al., 1987). Die Darstellung des dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnisses von Wohnungsnot (siehe Abschnitt 3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot) beschreibt ein komplexes und dynamisches Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft, welches auch auf das Verhalten der Menschen in Wohnungsnot übertragen werden kann. Folglich ist auch der Einfluss des Verhaltens auf die Stigmatisierung plausibel. Deutlich muss dabei jedoch einer einfachen Kausalität von Verhalten zu Stigmatisierung, also der Annahme, dass Stigmatisierung aufgrund von Verhalten entsteht, widersprochen werden. So ist beispielsweise der identifizierte Zusammenhang von Non-Compliance mit der Stigmatisierung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot ein Gegenbeispiel dieser Kausalität und zugleich Ausdruck der Persistenz der Stigmatisierung von Wohnungsnot. Außerdem werden zu erwartende Effekte der psychischen Auffälligkeit, inklusive des Drogen-/Suchtmittelkonsums oder der subjektiven Deutung der Ursache, Lage und Handlungsmöglichkeiten, auch im Sinne eines ‚Doing-Gender‘ nicht beachtet. Des Weiteren entspricht eine solche Kausalität der üblichen Individualisierung und somit Stigmatisierung von Wohnungsnot. Zugleich schafft der Befund des Zusammenhangs von Verhalten und Stigmatisierung die Möglichkeit einer Strukturellen Destigmatisierung von Wohnungsnot: Verdeutlicht man den im Hilfesystem tätigen Personen den Zusammenhang, können diese in einem reflexiven Prozess ihre eigenen Bewertungen kritisch hinterfragen und gezielt das Problem des Non-Compliances angehen, ohne die Person in Wohnungsnot zu stigmatisieren.

Kontakt nimmt im Stigmatisierungsprozess eine bedeutende Rolle ein (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung sowie das Unterkapitel Kontextualisierung der Dokumentenanalyse des Abschnitten 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation). Der destigmatisierende Effekt von Kontakt konnte in der experimentellen Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung bereits bestätigt werden (siehe Abschnitt 7.4 Diskussion). Der Interviewstudie können allerdings Ergebnisse entnommen werden, die einen negativen Effekt von Kontakt vermuten lassen. Solche negativen Effekte von Kontakt sind aus der Forschung zur Stigmatisierung von psychischen Auffälligkeiten bekannt. Medizinisches Personal, welches Kontakt hat mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, stigmatisiert diese mehr als Personen ohne Kontakt (P. W. Corrigan, 2000, S. 48–49; Harangozo et al., 2014, S. 360; Larkings & Brown, 2018, S. 929; Lebowitz & Ahn, 2016, S. 176; Schulze & Angermeyer, 2003). Die von Allport formulierte Kontakthypothese (1954) ermöglicht jedoch zugleich eine Erklärung dieser Ergebnisse. So formuliert er (1954, S. 281) vier notwendige Bedingungen –  Statusgleichheit, gemeinsame Ziele, institutionelle Unterstützung und Kooperationsbereitschaft (Röhm, 2017, S. 45) – zur Reduktion von Vorurteilen mittels Kontakt. Mindestens die Bedingung der Statusgleichheit liegt nicht vor und auch über die gemeinsamen Ziele kann sicherlich gestritten werden. Über diese Ergebnisse hinaus bestätigt die Interviewstudie die erhöhte Stigmatisierung bei Kontakt, äquivalent zu der bestätigten Stigmatisierung des medizinischen Personals.

Weitere Erkenntnisse aus der Interviewstudie bestärken die Relevanz von Kontakt für Stigmatisierungsprozesse: So kann festgestellt werden, dass frauenspezifische Angebote Frauen mehr abwerten als Angebote, die nicht oder nur selten mit Frauen in Wohnungsnot konfrontiert sind. Diese Beobachtung widerspricht jedoch einer durch typische männliche Gendermerkmale geprägten Abwertung von Wohnungsnot. Demnach sind die Stigmatisierungsprozesse von Wohnungsnot komplexer als angenommen und müssen mindestens um den bedeutenden Effekt des Kontakts ergänzt werden. Aufgrund der Relevanz für Stigmatisierung wird der Effekt des Kontakts im Abschnitt 9.1. Stigmatisierung von Wohnungsnot erneut aufgegriffen und final diskutiert werden.

Die Kategorie Geschlecht ist eine der bestimmenden Determinanten gesellschaftlichen Zusammenlebens und nimmt auch im Kontext von Wohnungsnot eine bestimmende Position ein. Auch in der Forschung und im Hilfesystem ist die Bedeutung von Geschlecht anerkannt und akzeptiert (siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext von Wohnungsnot). Berechtigte Forderungen nach frauenspezifischen Angeboten haben zu einer Erweiterung der Angebote geführt (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot), wenn auch weiterhin eine bedarfsdeckende Hilfelandschaft fehlt (Rosenke, 2017a, S. 306) und Geschlecht zumeist mit dem Fokus Frau behandelt wird (Steckelberg, 2018, S. 38). Der vorhandene ‚Gender Gap‘ ist ein deutliches Zeichen für die durch Geschlecht verursachten Unterschiede in Bezug auf die Ursachen von Wohnungsnot sowie die Lebenslagen, Bedarfe und die subjektiven Deutungsmuster sowie Handlungsoptionen von Menschen in Wohnungsnot (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Auch die Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung zeigt deutlich: Geschlecht ist die zentrale Kategorie im Kontext von WohnungsnotFootnote 15.

Basierend auf dieser Ausgangslage überrascht es umso mehr, dass verschiedene Interviewpartner:innen das Thema Geschlecht ablehnen. Der berechtigte Verweis der Interviewpartner:innen auf die Struktur der Hilfen nach §§ 67–69 SGB XII, als individuelle Einzelfallhilfen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 105–106) und der daraus schlussfolgernden Begründung einer individuellen Betrachtung von Wohnungsnot führt nachvollziehbarereweise zu einem Bruch mit der Untersuchungsanlage der vorliegenden Arbeit, ist doch die Arbeit hauptsächlich auf der Strukturebene verortet. Die überraschende Vehemenz der Ablehnung bedarf jedoch einer nähergehenden Betrachtung.

Naheliegende Gründe für die Ablehnung sind die bereits aufgeführte Konzeption als individuelle Einzelfallhilfe, die eine Antwort auf die pathologiesierenden Erklärungsansätze von Wohnungsnot ist (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot) sowie der Fokus auf der Grundversorgung von Menschen in Wohnungsnot. Klar ist, dass die notwendige Grundversorgung und die Beschaffung geeigneten Wohnraums die dringlichsten Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot sind (siehe auch Abschnitt 8.4.4 Zusammenfassung und Interpretation). Auch der deutliche Verweis auf die Struktur der Hilfen muss mit dem Wissen über die überwundenen pathologisierenden und auf spezifischen defizitären Persönlichkeitsstrukturen aufbauenden Erklärungsansätzen von Wohnungsnot positiv hervorgehoben werden. Die deutliche Ablehnung der Thematik kann allerdings nicht erklärt werden, denn es bleibt weiterhin offen, weshalb eine Betrachtung der Kategorie Geschlecht nicht sowohl gesellschaftlich verortet werden kann und zugleich ein individueller Hilfebedarf daraus abgeleitet werden kann. Vielmehr weisen die Literatur und die Befunde daraufhin, dass, um den individuellen Bedarfen gerecht werden zu können, die Kategorie Geschlecht eine besondere Beachtung erfahren muss.

Als Erklärung für diese Ablehnung müssen demnach zwei andere Annahmen angeführt werden: der zeitliche Aufwand für die Auseinandersetzung mit der Kategorie sowie die Befürchtung, den individuellen Bedarfen nicht gerecht werden zu können.

(Selbst-)Reflexion ist ein kennzeichnendes und notwendiges Element professioneller sozialer Arbeit (Chassé & Wensierski, 2008, S. 9; Heiner, 2004; Urban, 2004 aus Riegel, 2014, S. 191). Die Auseinandersetzung mit der Kategorie stellt dabei einen deutlich zeitlichen Mehraufwand da. Zum einen ist eine große Komplexität kennzeichnend für die Kategorie Geschlecht (siehe Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie) und zum anderen bedarf es einer intensiven Selbstreflexion aufgrund der Beschaffenheit von Geschlecht, durch Fremd- und Selbstzuschreibungen sowie das Zusammenspiel der durch die heteronormative Gesellschaft vorgegebenen Geschlechtsrollenidentität und der eigenen und ständigen Konstruktion dieser Geschlechtsrollenidentität (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Dieser Mehraufwand stellt die im Hilfesystem tätigen Personen vor große Herausforderungen und ist nur schwer umsetzbar.

Vermutlich begründet in der bereits in den 1970er aufkommenden Kritik am Hilfesystem – den Bedarfen von Frauen in Wohnungsnot nicht gerecht zu werden (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) – antizipieren verschiedene Interviewpartner:innen die Unterstellung einer mangelnden Bedarfsdeckung. Auch wenn diese Unterstellung durch die Leitfragen nicht intendiert war, muss eine solche, nicht ausreichende Bedarfsdeckung gerade bei der Nicht-Beachtung von Geschlecht angenommen werden. Die Kategorie Geschlecht muss gesellschaftlich verortet werden und zugleich muss daraus ein individueller Hilfebedarf abgeleitet werden, um den Bedarfen der jeweiligen Person in Wohnungsnot gerecht zu werden. Die generelle Ablehnung muss demnach äußerst kritisch betrachtet werden. Ziel der Hilfen ist die Verbesserung der gesamten Lebenssituation mit dem übergeordneten Ziel, Teilhabe zu ermöglichen respektive zu verbessern. Ein Ziel, das bei der Ablehnung des Themas Geschlecht nicht erreicht werden kann. Festzuhalten bleibt, dass Geschlecht die zentrale Kategorie im Kontext von Wohnungsnot ist, mit der sich das Hilfesystem zwingend auseinandersetzten muss. Für das Hilfesystem spricht, dass die Akteur:innen sich der Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit Geschlecht und der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle trotz aller widersprüchlichen Aussagen bewusst sind.

Ausgehend von dieser bereits dargelegten, zentralen Bedeutung der Kategorie Geschlecht rückt die Relevanz der Geschlechterrollen respektive Geschlechtsrollenidentitäten in den Fokus der Betrachtung (siehe auch Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Die Auswirkungen des Verhaltens von Menschen in Wohnungsnot für Stigmatisierungsprozesse und deren Zusammenwirken mit den Geschlechterrollen konnte bereits dargestellt werden – auch wenn an dieser Stelle erneut eine Monokausalität ausgeschlossen und auf die Wechselwirkungen verwiesen werden muss. In diesem Zusammenspiel zwischen der Kategorie Geschlecht respektive der Geschlechterrolle oder der Geschlechtsrollenidentität und der Stigmatisierung von Wohnungsnot ist insbesondere die Zuschreibung und gleichzeitige Konstruktion der jeweiligen Geschlechterrolle als Täter oder Opfer beachtenswert. Dieses Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft ist dabei deutlich komplexer als es beispielsweise Albrechts Verknüpfung der modifizierten Anomie-Theorie mit Sozialisationstheorie und Theorie der Familienorganisation (1990, S. 32–33) darstellt. Auf einer individuellen Ebene können die Ergebnisse am ehesten mit der Theorie der „Stressful Life-Events“ (Trabert, 2005, S. 168) oder dem auch für Stigmatisierungsprozesse bedeutsamen Labeling-Approach-Ansatz (Rüsch, 2010, S. 288–290) erklärt werden.

Sowohl in der quantitativen Dokumentenanalyse als auch in der Interviewstudie konnte bestätigt werden, dass Männer in Wohnungsnot mehr stigmatisiert werden als Frauen. Diese Stigmatisierungen sind eng verbunden mit den typischen männlichen Gendermerkmalen (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) und dem antizipierten Verhalten der Männer in Wohnungsnot. Die Befunde kumulieren in der Beschreibung von Männern als Täter und Frauen als Opfer; und somit auch in einer individualisierenden also stigmatisierenden Erklärung für männliche Wohnungsnot und einer gesellschaftlichen Erklärung für weibliche Wohnungsnot. Diese Beschreibung wiederum korreliert mit der aus der Literatur bekannten subjektiven Ursachenzuschreibung von Wohnungsnot. Bei objektiv gleichen Ursachen beschreiben sich Männern eher als aktive Täter und Frauen eher als passive Opfer. Interessant ist, dass sowohl Frauen als auch Männer in Wohnungsnot die gesellschaftlichen Geschlechtsrollenerwartungen nicht erfüllen können (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Frauen vermeiden die sichtbare Wohnungsnot dementsprechend. Männer hingegen können sich den eh männlichen öffentlichen Raum auch in der prekären Situation der Wohnungsnot aneignen und orientieren sich dabei an einer Hegemonialen Männlichkeit (Fichtner, 2005, S. 174). Dies überrascht, da Männer in Wohnungsnot eigentlich durch die Hegemoniale Männlichkeit abgewertet werden würden, sie aber über dieses klassische Bild von Männlichkeit Macht legitimieren (Ratzka, 2012, S. 1231). Ein weiteres Indiz für das komplexe Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft und der besonderen Bedeutung der in diesem Zusammenspiel entstehenden Geschlechtsrollenidentität.

Aus der Interviewstudie ist bekannt, dass das vom Hilfesystem zugeschriebene Verhalten – welches relevant ist für die Abwertung von Wohnungsnot – nicht deckungsgleich mit dem beobachtbaren Verhalten ist. Das beobachtbare Verhalten tendiert zwar in seiner Gesamtheit zu den typischen Merkmalen, ist jedoch im Detail deutlich heterogener als vom Hilfesystem beschrieben. Indessen zeigt das Hilfesystem die typischen geschlechtsspezifischen Erwartungen und einen geschlechtsspezifischen Umgang mit Männern und Frauen, allerdings in Form einer Abwertung von männlicher Wohnungsnot. Auch hier kann demnach ein dynamisches Zusammenspiel zwischen gesellschaftlichen (Norm-)Erwartungen und der individuellen Reaktion auf dieses Verhalten beobachtet werden. Zugleich sind auch die im Hilfesystem tätigen Personen individuelle Akteure in diesem Zusammenspiel, die ebenso geprägt sind von gesellschaftlichen Normen und zugleich auf das wiederum durch gesellschaftliche Erwartungen geprägte Verhalten der Menschen in Wohnungsnot individuell reagieren.

Eine Möglichkeit, die Strukturelle Stigmatisierung des Hilfesystems aufzubrechen, besteht folglich darin, dem Hilfesystem bewusst zu machen, dass das abgewertete männliche Verhalten Teil der Geschlechtsrollenkonstruktion der Männer in Wohnungsnot ist, welches sowohl eine Reaktion auf gesellschaftliche Normen als auch auf die Erwartungshaltungen des Hilfesystems ist. Nichtsdestotrotz ist die Abwertung von Wohnungsnot nicht nur auf die Abwertung typisch männlichen Verhaltens zurückzuführen. Auch frauenspezifische Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe stigmatisieren Frauen in Wohnungsnot. Die Stigmatisierung von Wohnungsnot ist insgesamt geprägt durch die Individualisierung der Problemlagen, die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Wohnungsnot sowie das Nicht-Erfüllen meritokratischer Leistungsnormen (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot). Dem Hilfesystem ist indessen ein wohlwollender und helfender Ansatz zu attestieren. Die Relevanz der Geschlechterrolle ist dem Hilfesystem bewusst (siehe Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot), auch wenn das identifizierte Verhalten dies noch nicht vermuten lässt. Mittels der Bewusstmachung der Bedeutung der Geschlechtsrollenidentität bei Stigmatisierungsprozessen und dem Wissen über die vier Voraussetzungen für eine Destigmatisierung durch Kontakt besteht – so ist anzunehmen – die Möglichkeit die Strukturelle Stigmatisierung des Hilfesystems abzubauen.

Der fünfte und letzte zu beleuchtende Aspekt betrifft die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und im Hilfesystem tätigen Personen. Die Interaktion nimmt, wie gezeigt, eine zentrale Funktion in den strukturellen Stigmatisierungsprozessen ein. Bemerkenswert und bisher wenig beachtet ist der Umstand, dass im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe primär Sozialarbeiterinnen eine akzeptierte Rolle als Helferinnen einnehmen (Fichtner, 2005, S. 174), ein Forschungsdesiderat, welches die vorliegende Arbeit ergründet. Infolgedessen wurde sowohl in der Dokumentenanalyse als auch der Analyse der Leitfadeninterviews die Interaktion zwischen Menschen in Wohnungsnot und den im Hilfesystem tätigen Menschen untersucht. In der Dokumentenanalyse fällt auf, dass, äquivalent zur festgestellten Öffentlichen Stigmatisierung, männliche Hilfeplanersteller Wohnungsnot mehr stigmatisieren. Mit dem Fokus auf der Geschlechterkongruenz respektive -inkongruenz fällt jedoch auf, dass weibliche Hilfeplanerstellerinnen männliche Personen in Wohnungsnot im Vergleich zu weiblichen Personen in Wohnungsnot deutlich mehr stigmatisieren. In der Interviewstudie wird – aufgrund der Verteilung des Geschlechts der Interviewpartner:innen wenig überraschend – postuliert, dass Sozialarbeiterinnen als Bezugspersonen sowohl für Männer als auch für Frauen in Wohnungsnot besser geeignet seien. Im Detail wird das begründet mit typisch weiblichen Gendermerkmalen der Bezugsperson – gefühlsbetont, sanft, freundlich, herzlich, verständnisvoll und beziehungsorientiert (Goldschmidt et al., 2014, S. 98), von denen auch Männer in Wohnungsnot profitieren würden. Die Argumentation ist, dass Männer in Wohnungsnot ihre Probleme und Schwächen besser weiblichen Bezugspersonen offenbaren könnten. Interessant ist, dass die Ergebnisse der Untersuchungen einen anderen Effekt zeigen: Weibliche Personen im Hilfesystem stigmatisieren Männer in Wohnungsnot mehr als Frauen in Wohnungsnot. Darüber hinaus liegt aufgrund der engen Verwobenheit von Geschlechterrollen mit der Stigmatisierung von (männlicher) Wohnungsnot der Verdacht nahe, dass durch die Bestärkung der typischen Gendermerkmale die Stigmatisierung von männlicher Wohnungsnot verfestigt wird.

Die Ergebnisse der Dokumentenanalyse sowie der Interviewstudie bezüglich der Interaktion müssen jedoch mit Vorsicht interpretiert werden und sollen deshalb in der vorliegenden Arbeit nicht vertieft werden. Aufgrund der jeweils vorliegenden ungleichen Verteilung der Hilfeplaner:innen sowie Interviewpartner:innen treten Verzerrungen auf. Es bedarf demnach weiterer Forschung, um die Wirkung der Interaktion auf die Stigmatisierungsprozesse besser zu verstehen.

Limitationen

Sowohl für die Dokumentenanalysen als auch für die Leitfadeninterviews müssen verschiedene Limitationen aufgeführt werden. Diese betreffen nicht nur den gesamten zweiten Zugang und dessen Anlage als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design sondern auch die sequenziell-explorative-Mixed-Methods-Dokumentenuntersuchung sowie die leitfadengestützte Interviewuntersuchung.

Die Untersuchungsanlage limitierend muss aufgeführt werden, dass der Aufbau und die Durchführung des Mehrphasen-Mixed-Methods-Design in parallelen Arbeitsschritten erfolgten, auch wenn die Interviewstudie zu den Ergebnissen der Dokumentenanalyse Bezug nimmt. Ein sequenzielles Vorgehen, also ein aus den Ergebnissen der Dokumentenanalyse konzipiertes Interview verspricht einen größeren Erkenntnisgewinn. Ein solcher sequenzieller Ablauf konnte jedoch nur in Bezug auf die Auswertung realisiert werden. Sowohl die Dokumentenanalyse als auch die Interviewstudie zeichnen sich durch einen immensen Aufwand und in der Datenerhebung durch viele Unabwägbarkeiten aus, die in einem komplett sequentiellen Vorgehen den Rahmen der vorliegenden Arbeit überstiegen hätten.

Als gravierender muss die geschmälerte Aussagekraft bezüglich der Strukturellen Stigmatisierung gewichtet werden. Personen in Wohnungsnot, die aufgrund von Strukturellen Stigmatisierungen nicht im Hilfesystem ankommen und demnach auch keinen Einfluss auf die Studien haben, verzerren die Aussagen erheblich. Gleichwohl ist die Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot eine schwer erreichbare respektive zu erforschende Minorität, die sich, zumeist aus Scham vor Stigmatisierungen (siehe Abschnitt 3.8.2 Die Bedeutung von Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot) vermehrt in versteckter Wohnungsnot befinden. Weil die stark strukturell stigmatisierten Personen in Wohnungsnot keine Berücksichtigung finden, muss davon ausgegangen werden, dass die Strukturelle Stigmatisierung von Wohnungsnot stärker als beobachtet ist.

Schließlich wird die Komplexität der Kategorie Geschlecht durch die dichotome Betrachtung von Geschlecht eingeschränkt. Die vorliegende Arbeit rekurriert auf der Annahme von vier verschiedenen Ausprägungen der Geschlechtsrollenidentität (siehe Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie). Die Multidimensionalität der Stigmatisierung von Wohnungsnot führt jedoch zur Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Ferner ermöglicht die Dichotomie die Vergleichbarkeit über für die vorliegende Untersuchung bedeutsame Mittelwertvergleiche.

Die Limitationen der Dokumentenanalyse beziehen sich hauptsächlich auf die Strichprobe. Bereits die Datenerhebung weist aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Sozialdaten (siehe das Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen) erhebliche Verzerrungen auf. Optimal wäre eine standardisierte repräsentative Erhebung im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Erhebung würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem übersteigen und ist im Sinne vergleichender Untersuchungen mit Hilfe des erstellten und geprüften Codebuches eher die Aufgabe zukünftiger Studien. Der Feldzugang über dem Autor bekannte Einrichtungen kann somit als in diesem Rahmen adäquate Datenerhebungsmethode angesehen werden, die mittels des Stichprobenplans die bestmögliche Repräsentativität herstellt.

Die Beschaffenheit der Stichprobe verweist jedoch zugleich auf weitere limitierende Faktoren. Die ungleiche Verteilung des Geschlechts der Hilfeplanersteller:innen (Fichtner, 2005, S. 174) auch innerhalb der Stichprobe führt zu der Konsequenz, dass verschiedene vergleichende Berechnungen nicht durchgeführt werden können. In besonderem Maße ist davon die spannende und für Strukturelle Stigmatisierungsprozesse bedeutsame Interaktion zwischen Hilfeplanersteller:innen respektive Bezugspersonen und Menschen in Wohnungsnot betroffen. Männliche Hilfeplanersteller schreiben zumeist Hilfepläne für Männer in Wohnungsnot, weshalb ein Vergleich der Bewertung männlicher Hilfeplanersteller zwischen männlichen und weiblichen Personen in Wohnungsnot nicht möglich ist. Des Weiteren ermöglichen die erhobenen Daten nur Aussagen über eine abgewandelte Form der Kategorie Herkunft. Als bedeutsam für Wohnungsnot und Stigmatisierungsprozesse identifiziert, bedarf es hier nachfolgender Studien. Die Kategorie Alter kann aufgrund der ungenügenden Verteilung der bedingt durch die Anonymisierung (siehe das Unterkapitel Datenerhebung des Abschnitts 8.3.2 Vorgehen) gebildeten Alterskohorten nicht ausgewertet werden.

Überdies ist die Beschaffenheit der analysierten Dokumente zu betrachten. Die Formalität und Teilstandardisierung der Hilfepläne schränkt den individuellen Gestaltungsspielraum der Hilfeplanersteller:innen des Textes deutlich ein. Dieser ist jedoch maßgeblich für den Untersuchungsgegenstand, weshalb vermutet werden kann, dass in einer direkten Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung größere Effekte messbar wären. Des Weiteren kann ein strategisches Vorgehen der Leistungsträger mit dem auch selbsterhaltenden Ziel der Kostenübernahme nicht ausgeschlossen werden. Zugleich kann eine mögliche Verzerrung der Daten durch den Forschungsprozess ausgeschlossen werden. Auch können durch die Untersuchung dieser offiziellen Dokumente konkrete Auswirkungen der Stigmatisierung untersucht werden. Weitere Vorteile, wie die forschungsökonomische Datenerhebung sowie die Erfassung einer großen Menge an Daten über schwer zugängliche Minoritäten (Döring & Bortz, 2016, S. 537) bestätigen trotz der Nachteile das gewählte Vorgehen.

Darüber hinaus ermöglicht das Design der quantitativen Dokumentenanalyse lediglich Aussagen über Korrelationen. Die Erfassung kausaler Zusammenhänge wäre, wenn auch erstrebenswert, deutlich aufwendiger. Dabei stehen Gruppenunterschiede im Fokus der Berechnungen. Im Detail lassen sich jedoch dadurch keine expliziten Stigmatisierungen, sondern nur Unterschiede respektive Zusammenhänge zwischen Variablen berechnen. Beispielsweise wird das schlechtere Abschneiden männlicher Betreuter in der Variable zugeschriebene Charaktereigenschaften als Stigmatisierung definiert. Dabei handelt es sich um eine Definition, die nicht zwingend zutreffen muss, weil weibliche Betreute ‚positiverer‘ Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Nichtsdestotrotz werden die im qualitativen Prozess im Team entwickelten und in der quantitativen Analyse als reliabel identifizierten Variablen als gutes Messinstrument deklariert.

Trotz der mittels Gütekriterien erfolgten Reduktion der Limitationen auf ein Mindestmaß (siehe Unterkapitel Methode des Abschnitten 8.4.2 Vorgehen) müssen auch für die leitfadengestützte Interviewstudie einschränkende Faktoren aufgeführt werden. Diese betreffen sowohl die Stichprobe als auch die Interviewvorbereitung und -durchführung sowie die Analyse.

Bedingt durch die Stichprobenziehung mittels bestehender Kontakte und der freiwilligen Teilnahme ist mit Verzerrungen der Ergebnisse zu rechnen. Des Weiteren wird deutlich, dass die Interviewpartner:innen in einer akuten Wohnungsnot zumeist keine ausreichenden Ressourcen zur Beantwortung der Fragen aufbringen können. Die beabsichtigte Umfassendheit der Perspektive kann demnach nur noch eingeschränkt gelten. Infolge der schwierigen Zugänglichkeit zum Feld erfolgte die Datenerhebung ohne Stichprobenplan. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist eine ungenügende Verteilung, welche Vergleiche zwischen verschiedenen Gruppen erschwert bis unmöglich macht. Zukünftige Studien sollten folglich zwingend mit einem Stichprobenplan arbeiten.

In der realisierten Interviewvorbereitung kann eine entscheidende Limitation ausgemacht werden. Bereits durch die Anschreiben wurde der Fokus auf die Kategorie Geschlecht gelegt. Folgerichtig muss die Identifizierung von Geschlecht als die zentrale Kategorie mit Vorsicht interpretiert werden.

Bestärkt wird die Einschränkung dieser Feststellung, als die bedeutendste Kategorie, durch den Aufbau des Interviewleitfadens. Insbesondere die Kategorie Geschlecht wird dem Analyserahmen der Intersektionalen Mehrebenenanalyse folgend (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument und das Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie) als deduktive Oberkategorie vorgegeben. Darüber hinaus schränkt der notwendige Leitfaden die Erkenntnismöglichkeiten deutlich ein, weshalb anzunehmen ist, dass verschiedene Aspekte der Stigmatisierungsprozesse von Wohnungsnot nicht erfasst wurden. Allerdings müssen auch zukünftige Forschungen mit der im Kontext der Untersuchung von Stigmatisierung besonders relevanten Problematik sozialer Erwünschtheit Einschränkungen hinnehmen. Des Weiteren muss die konkrete Durchführung kritisch betrachtet werden. Trotz einer umfangreichen Vorbereitung und intensiven Schulung (siehe Unterkapitel Instrument des Abschnitts 8.4.2 Vorgehen) sind dem Autor typische Fehler bei der Interviewdurchführung unterlaufen (Döring & Bortz, 2016, S. 363–364) – unter anderem Suggestivfragen und die Antizipation von Antworten. Diese typischen Fehler müssen, auch wenn sie die Aussagekraft in Teilen limitiert, nichtdestotrotz als notwendig zur Aufrechterhaltung einer gelingenden Befragungssituation bewertet werden. Schließlich muss die limitierende Besonderheit zweier Interviews Erwähnung finden: Beide Interviewpartner:innen bestanden darauf, die leitenden Interviewfragen vorab einzusehen. Auch wenn dies einen sichtbaren Effekt auf die Interviews hatte, gelang es, diese Besonderheit im Kategoriensystem zu berücksichtigen und abzubilden. Der aufwendige Prozess zur Herstellung einer ausreichenden Güte des Verfahrens mittels Zirkularität und ‚peer Debriefing‘ (siehe Unterkapitel Methode des Abschnitts 8.4.2 Vorgehen) ermöglichte, alle Interviews in einem Kategoriensystem darzustellen.

Abschließend muss auf die Gefahr der Fehlinterpretation manifester und latenter Sinngehalte während der Analyseprozesse hingewiesen werden (siehe Früh, 2017, S. 50). Diese wird jedoch aufgrund des aufwendigen methodischen Vorgehens als sehr gering angenommen.