Religion taucht in gegenwärtigen öffentlichen Diskursen regelmässig konträr in zweierlei Verknüpfung auf: Religion hat einen konfliktiven, negativen Einfluss auf unsere Gesellschaft. So lautet das mögliche Urteil jener, die in der Neuen Zürcher Zeitung über Missbrauchsskandale in hierarchisch-klerikalen Kirchenstrukturen lesen (Mosebach 2022), im Tages-Anzeiger über Kirchenfürsten, die Krieg legitimieren (Brandt 2022) oder in der Republik über Jugendliche, die, von dschihadistischer Ideologie beeinflusst, in den Krieg ziehen (Zitzmann 2019). Religion wirkt brückenbildend und stabilisierend und hat einen positiven Einfluss auf unsere Gesellschaft. So der mögliche Schluss jener, die in der Neuen Luzerner Zeitung über das freiwillige Engagement in den Kirchen lesen (Faessler 2021), in der Neuen Zürcher Zeitung über Kirchenfürsten, die Krieg verurteilen (DPA 2022) oder im Spiegel darüber, dass sich die Hälfte der Muslime in der Flüchtlingshilfe engagiert (Spiegel 2017).

Welchen Einfluss hat Religion auf uns und unser Zusammenleben? Wie sieht das Wechselverhältnis von Religion und Gesellschaft aus? Wie trägt Religion zum Gelingen unserer Zivilgesellschaft bei? Wie wirkt Religion auf den sozialen Zusammenhalt in einer religiös pluralisierten Gesellschaft, wie es die Schweiz ist?

Die vorliegende Studie verortet sich mitten im Geflecht dieser Fragen. Die Antworten darauf sind auch im wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Die einen behaupten: Religiöse Faktoren tragen eher zu Konflikten und gesellschaftlichen Grenzziehungen bei (Huntington 1996; Ysseldyk et al. 2010; Vortkamp 2011, 89–90). Andere betonen: Religion und Religiosität wirken eher positiv auf Zivilgesellschaft (Putnam 2000; Traunmüller 2009; Putnam und Campbell 2010; Traunmüller 2011; Pickel und Gladkich 2011, 2012; Liedhegener 2016a). Die Rolle von Religion und Religiosität hinsichtlich Zivilgesellschaft und sozialer Kohäsion war und ist tatsächlich Gegenstand kontroverser Diskurse (Casanova 1994, 2009; Pickel und Gladkich 2011; Liedhegener 2016b).

Ein zentrales Konzept, wenn es um sozialen Zusammenhalt geht, ist jenes des Sozialkapitals (Coleman 1988, 1990; Putnam 1993, 1995a, 1995b, 2000; Esser 2000). Das Hauptargument besteht darin, dass soziale Beziehungen und Netzwerke einen Wert haben. Und von diesem Wert gelingender Beziehungen und Netzwerke auf Individualebene profitieren nicht nur die direkt beteiligten Individuen, sondern auch die Gemeinschaft insgesamt. Dabei wird in der Forschung zur empirischen Erfassung von Sozialkapital meist auf freiwilliges Engagement als strukturelle Komponente und auf soziales Vertrauen als kulturelle Komponente zurückgegriffen (Esser 2000, 239 ff; Gabriel et al. 2002, 23; Field 2003, 3; Kunz et al. 2008a, 43 ff). In freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen drückt sich der Wert sozialer Beziehungen aus (Field 2003, 12).

Sowohl freiwilliges Engagement als auch soziales Vertrauen gelten als Kernelemente für die Beschreibung des Zustands gesellschaftlicher Kohäsion (Gensicke et al. 2006; Stadelmann-Steffen 2010; Traunmüller et al. 2012; Lamprecht et al. 2018; Lamprecht et al. 2020). Soziales Vertrauen gilt als entscheidend für eine kooperative Kultur (Uslaner 2002b, 193 ff; Freitag 2016a, 149). Und freiwilliges Engagement und eine zivilgesellschaftliche Ordnung als Rahmen dafür sind von grundlegender Bedeutung für moderne liberale Gesellschaften (Klein et al. 2004). Je nach Forschungsbereich stehen dabei unterschiedliche Effekte im Vordergrund: Die Integrations- und Migrationsforschung fokussiert auf die «Integrationsleistung von Vereinen» (Lehmann 2001; Baur und Braun 2003; Braun und Hansen 2004; Debrunner 2007; Braun und Finke 2010; Eggert und Giugni 2010; Strömblad und Adman 2010; Kleindienst-Cachay et al. 2012; Adler Zwahlen et al. 2017); die politische Kulturforschung hält die «Aneignung von Bürgerkompetenzen durch Vereine» als Kernelement fest (Vortkamp 2005, 2008; Schwalb und Walk 2007; Sliep 2011); und die empirische Politik- und Religionsforschung betrachtet «Vereine als Generatoren von Sozialkapital» (Putnam 1993, 1995a, 2000; Hooghe 2003; Hooghe und Stolle 2003; Braun 2007; Paxton 2007; Freitag et al. 2009; Freitag und Ackermann 2016; Freitag und Manatschal 2016). An diesen letzten Forschungsbereich knüpft diese Arbeit an.

Ausgehend vom klassischen Sozialkapitalkonzept von James S. Coleman (1988, 1990) und Robert D. Putnam (1993, 1995a, 2000, 2020 [2000]) lautet eine weit verbreitete Annahme: Religion und Religiosität sind förderlich für freiwilliges Engagement. Religion und Religiosität als auch freiwilliges Engagement sind ihrerseits förderlich für soziales Vertrauen und stärken dadurch gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Annahmen werden vorliegend mit Blick auf die Schweiz einer empirischen Prüfung unterzogen.

Die Schweiz als Untersuchungsfall eignet sich dafür ausserordentlich gut, weil sie in ihrer religiösen Ausgestaltung sowohl auf Individual-, als auch auf Kontextebene, das heisst hier auf Ebene der Kantone, äusserst vielfältig und facettenreich ist. Die Gründe dafür sind geografischer, kultureller und politischer Natur. Die Schweiz wird geprägt vom zerklüfteten Alpenraum rund um den Gotthard, von vier Sprachregionen und von ihrer Position in der Mitte Europas. Die sich daraus ergebenden Talschaften, Kleinregionen und Lebensräume bieten Raum für unterschiedliche Entwicklungen und Eigenständigkeiten, auch in religiösen Fragen. In politischer Hinsicht entwickelten sich in diesem Geflecht volksnahe föderale Institutionen, in denen bis heute unterschiedliche Formen von Selbstverwaltung und direkter Demokratie zum Tragen kommen und eine funktionierende Zivilgesellschaft mit mannigfaltigem Vereinswesen ermöglichen. Die unterschiedlichen, auch historisch geprägten Kulturen des Religiösen und des Sozialkapitals ermöglichen eine nuancierte Analyse der Forschungsfragen.

1.1 Problemstellung und Forschungsfragen

Der Zusammenhang zwischen Religion beziehungsweise Religiosität und SozialkapitalFootnote 1 wurde in der bisherigen empirischen Forschung unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite konnte der positive Einfluss von Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement empirisch ausreichend belegt werden (Wuthnow 2002; Putnam und Campbell 2010, 445 f; Traunmüller 2011, 347; Liedhegener 2016a, 167; Freitag et al. 2016, 73, 209; Maraffi und Vignati 2018, 13). Auf der anderen Seite ist der Einfluss auf soziales Vertrauen weniger klar belegt (Smidt 1999, 187; Liedhegener 2016a, 129). Und auch innerhalb des Sozialkapitalansatzes zeigen sich Unstimmigkeiten: Der von Coleman und Putnam in den 1990er-Jahren theoretisch formulierte Wirkmechanismus, dass freiwilliges Engagement zu einem höheren sozialen Vertrauen und damit zu einer besseren Sozialkapitalausstattung einer Gesellschaft führt, ist empirisch bisher nicht konsistent belegt worden (Claibourn und Martin 2000, 282; Newton 2001b, 204; Gabriel et al. 2002, 263 ff; Westle und Roßteutscher 2008; Dahl und Abdelzadeh 2017; Paxton und Ressler 2018, 162). Vielmehr führt die Beantwortung der ersten beiden Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und Sozialkapital zur Erkenntnis, dass es unterschiedliche Mechanismen sind, die zu freiwilligem Engagement und zu sozialem Vertrauen führen. Diese Erkenntnis führt unweigerlich zur Frage, ob der Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen valide ist. Es ergeben sich drei Forschungsfragen (Vgl. Abb. 1.1):

Forschungsfrage 1::

Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement in der Schweiz?

Forschungsfrage 2::

Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf soziales Vertrauen in der Schweiz?

Forschungsfrage 3::

Welchen Einfluss hat freiwilliges Engagement auf soziales Vertrauen in der Schweiz?

Abbildung 1.1
figure 1

Forschungsfragen. (Abbildung: Eigene Darstellung)

Die vorliegende Studie untersucht also die Zusammenhänge zwischen Religion und Religiosität, freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen in der Schweiz und möchte einen Beitrag zur Klärung dieser wechselseitigen Beziehungen liefern.

1.2 Vorgehen und Aufbau der Studie

Für die Beantwortung der drei Forschungsfragen werden zunächst im folgenden Theoriekapitel 2 die Konzepte Religion, Religiosität und Sozialkapital theoretisch beschrieben und definitorisch gesetzt. Im Theoriekapitel 3 diskutiere ich zunächst die möglichen Mechanismen, welche die Zusammenhänge zwischen Religion und Religiosität, freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen zu erklären vermögen und erörtere dann den dazugehörigen Forschungsstand. Ausgehend von Theorie, Erklärungsmechanismen und bisherigem Forschungsstand ergeben sich entsprechende Hypothesen, die es dann im empirischen Teil zu überprüfen gilt.

Im Methodenkapitel 4 stelle ich den verwendeten Datensatz, den KONID Survey 2019 und die verwendeten Variablen vor. Diese werden uni- und bivariat analysiert und die postulierten Zusammenhänge im Rahmen logistischer Ein- und Mehrebenenmodelle überprüft. Im Methodenkapitel 5 führe ich in diese Methoden ein.

In den Ergebniskapiteln 6, 7 und 8 stelle ich die Ergebnisse vor. In Kapitel 6 schildere ich zunächst in einem einführenden Abschnitt die historischen und gesellschaftlichen Trends, die zur gegenwärtigen religiösen Landschaft der Schweiz geführt haben. Zudem beschreibe ich bivariat die zu untersuchenden Zusammenhänge.

Die Resultate, das sei vorweggenommen, ergeben ein differenzierteres Bild der Lage: Eine erhöhte Religiosität in Form religiöser Praxis hängt mit freiwilligem Engagement zusammen (Kapitel 7). Demgegenüber ambivalent steht es um den Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und sozialem Vertrauen (Kapitel 8). Und der Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen kann nicht belegt werden (Abschnitt 8.4). Entgegen den theoretischen Erwartungen der Sozialkapitaltheorie ist unter kontrollierten Bedingungen kein allgemeiner Zusammenhang belegbar.

Im abschliessenden Kapitel 9 fasse ich die Ergebnisse zusammen und diskutiere sie im Spiegel der bisherigen Theorien und Erkenntnisse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz.