Welche Wirkung haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen in der Schweiz? Mit Blick auf diese beiden Forschungsfragen habe ich im Theoriekapitel 2 hergeleitet und definiert, was ich unter Religiosität, Religion und Sozialkapital bzw. unter freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen verstehe. Nun untersuche ich im Abschnitt 3.1 zunächst, welche erklärenden Mechanismen es für die möglichen Zusammenhänge zwischen Religion und Sozialkapital gibt. Im Anschluss daran erörtere ich im Abschnitt 3.2 den Forschungsstand zum Zusammenhang von Religion und freiwilligem Engagement sowie sozialem Vertrauen. Mit Blick auf die dritte Forschungsfrage, «welchen Einfluss hat freiwillige Engagement auf soziales Vertrauen?», gehe ich im Abschnitt 3.3 zunächst auf die Prädiktoren von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen und abschliessend auf den entsprechenden Zusammenhang ein.

1 Religion und Sozialkapital: Erklärende Mechanismen

Schon Émile Durkheim (1912) und Victor W. Turner (2005 [1969]) haben auf die einzigartige Rolle von Religion im Allgemeinen und von religiösen Ritualen im Besonderen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hingewiesen. Nun ist Sozialkapital, wie soeben festgestellt, ein wichtiger Faktor für Zivilgesellschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Konzepte sind aber nicht gleichzusetzen. Hier liegt der Fokus auf dem Einfluss von Religion auf Sozialkapital. Welchen Einfluss haben also Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen, das heisst auf Sozialkapital?

Für Putnam (2000; Putnam und Campbell 2010), Coleman (1988) und neuerdings Meißelbach (2019) nimmt Religion eine eigenständige Rolle in der Produktion von Sozialkapital ein. Der positive Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital scheint so offensichtlich zu sein, dass Religiosität sogar schon als Proxy-Variable für Sozialkapital verwendet wird (Reynolds 2019, 118). Die Frage nach der Wirkung von Religion auf das Soziale allgemein und hier konkret auf das Sozialkapital ist aber keine einfache und darf nicht verkürzt werden (Walthert 2020, 452). Wichtig scheint mir die theoretische Herleitung von möglichen Erklärungsmechanismen, um auf deren Grundlage sowie gemäss dem bisherigen Forschungsstand entsprechende Hypothesen für die erwähnten Fragestellungen ableiten zu können.

Zunächst lege ich dar, wie die beiden Klassiker des Sozialkapitalansatzes selbst, nämlich Coleman (1990, 1988) und Putnam (1993, 2000), den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital beschrieben haben. Anschliessend diskutiere ich mögliche weitere Mechanismen für den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital, die auf das spezifisch Religiöse referenzieren.

1.1 Religion und Sozialkapital bei James S. Coleman und Robert Putnam

Sowohl Coleman als auch Putnam haben sich zum Zusammenhang von Religion und Sozialkapital geäussert.

Religion und Sozialkapital bei James S. Coleman

Für Coleman ist Sozialkapital zwar den einzelnen Beteiligten als Handlungsressource zugänglich, es entspringt jedoch aus den sozialen Beziehungen untereinander und entwickelt sich insbesondere in geschlossenen Kontexten. Es umfasst etwa gegenseitiges Vertrauen, die Verfügbarkeit von Informationen und die Aufrechterhaltung von Normen und entsprechenden Sanktionierungen. Als Nebenprodukt der Aktivierung von Sozialkapital in solchen Kontexten ergibt sich neben einem individuellen Nutzen auch ein Mehrwert für die Gesellschaft im Sinne eines öffentlichen Gutes.

Als Beispiel für solche geschlossenen Kontexte führt Coleman (1988, 99) neben Familie und Freiwilligenorganisationen auch religiöse Vergemeinschaftungen auf: sei dies der Diamantenhandel in New York durch jüdische Communities, seien es kirchliche Strukturen in Südkorea. Solche Netzwerke sind aus seiner Sicht Kontexte, in denen Sozialkapital entsteht. Dabei beschreibt er drei Mechanismen, die dazu führen:

Erstens zeichnen sich religiöse Netzwerke durch Geschlossenheit aus. Diese Absonderung, die bei Coleman (1988, 107) ein rein strukturelles Merkmal ist, ermöglicht die Entwicklung von dyadischem bzw. gegenseitigem Vertrauen durch wechselseitige Erwartungen und Verpflichtungen. Sie führt zur Herausbildung und Stabilisierung von Normen, da Sanktionierungen in geschlossenen Netzwerken durch soziale Kontrolle gut funktionieren. Zweitens zeichnen sich religiöse Netzwerke durch eine hohe Verflechtung mit anderen Netzwerken aus, insbesondere mit familiären und schulischen (Coleman 1988, 109, 114). Diese Verflechtung führt zu einem entsprechend potenzierten Effekt durch die Tatsache, dass gegenseitige Erwartungen und Verpflichtungen, soziale Kontrolle, aber auch gegenseitige Informationen nicht nur in einem Kontext gelten und geltend gemacht werden können, sondern in mehreren. Damit steigt die Dichte des Netzwerkes, in denen sich die einzelnen Beteiligten aufhalten. Und drittens, mit Vorherigem verbunden, zeichnen sich religiöse Netzwerke dadurch aus, dass sie intergenerationell schliessend wirken (Coleman 1988, 115). Dadurch steigt wiederum die Möglichkeit sozialer Kontrolle, in diesem Fall insbesondere durch die Eltern über ihre Kinder oder jene ihrer Freunde (Coleman 1988, 108).

Für Coleman steht Religion also zunächst exemplarisch für geschlossene Netzwerkstrukturen, die Sozialkapital begünstigen können. Dabei geht es insbesondere um die lokale, ganz konkrete Vergemeinschaftung bzw. um das entsprechende lokale Netzwerk, in dem Beteiligte aktiv sind und an dem sie sich orientieren. Es ist diese Dichte religiöser Netzwerke, zusammen mit der darin ermöglichten sozialen Kontrolle, die dazu führt, dass religiöse Normen und Vorstellungen in autoritärer Art und Weise alle Aspekte des Lebens durchdringen (Coleman 1990, 296).

Coleman (1990, 320 f.) unterstreicht aber nicht nur die Netzwerkqualität von Religion für die Ausbildung von Sozialkapital, sondern auch die Dimension der religiösen Überzeugungen: «An ideology can create social capital by imposing on an individual who holds it the demand that he act in the interests of something or someone other than himself. This is clear in the effects religious ideology has in leading persons to attend to the interest of others» (Coleman 1990, 320). Religiöse Überzeugungen können also dazu führen, dass sich Menschen altruistisch verhalten. Sie können aber auch negative Folgen haben – nämlich dann, wenn die religiöse Doktrin die Menschen nicht auf das Interesse anderer ausrichtet, sondern auf sich selbst: «… an ideology emphasizing each individual’s separate relation to God, which is a basis of much protestant doctrine, can inhibit the creation of social capital» (Coleman 1990, 321).

Zusammenfassend können wir festhalten: Einerseits beschreibt Coleman den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital positiv, und zwar aufgrund der geschlossenen, dichten religiösen Netzwerkstrukturen. Andererseits sieht er auch deren Ambivalenz: Religiöse Überzeugung kann, je nach ihrer altruistischen oder individualistischen Ausrichtung, Sozialkapital fördern oder hemmen.

Religion und Sozialkapital bei Robert Putnam

Für Putnam ist Religion ein höchst relevanter Faktor für die Ausbildung von Sozialkapital. Dies zeigt sich darin, dass in seiner Analyse gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler David E. Campbell von 2010 zur Frage, wie religiöse Pluralisierung und Polarisierung in Amerika gemeinsam funktionieren können, ein eigenes Kapitel zu Religion und Sozialkapital gewidmet ist (Putnam und Campbell 2010, 443–492). Ganz grundsätzlich übernimmt Putnam von Coleman, wie oben beschrieben, den Kerngedanken von Sozialkapital, wonach soziale Beziehungen und Netzwerke von sich aus Wert und Nutzen haben. Er fragt aber weniger nach Wirkmechanismen im Bereich des privaten Guts, sondern als Politikwissenschaftler nach Sozialkapital als öffentlichem Gut und seiner Rolle für funktionierende Demokratien. Zudem verengt er das Sozialkapitalkonzept auf soziales Vertrauen und freiwilliges Engagement. Wichtig hinsichtlich der Wirkung von Sozialkapital ist für ihn die Unterscheidung zwischen bindendem Sozialkapital (in vertikalen Organisationen) und brückenbildendem Sozialkapital (in horizontalen Organisationen). Insbesondere das brückenbildende Sozialkapital versteht er als Schmiermittel für die Gesellschaft und als positiv für das Funktionieren einer Demokratie. Religiöse Institutionen können beiderlei begünstigen: brückenbildendes, aber auch bindendes Sozialkapital. So kommt Putnam in seiner Italienanalyse denn auch zu einer anderen Wertung von Religion als in seiner Analyse zu Amerika.

In dieser Italienanalyse unterscheidet er zwischen vertikalen und horizontalen sozialen Netzwerken. Dabei beschreibt er die römisch-katholische Kirche in Italien als eine hierarchisch strukturierte Organisation:Footnote 1 «Vertical bonds of authority are more characteristic of the Italian Church than horizontal bonds of fellowship» (Putnam 1993, 107). Des Weiteren sei sie klerikalistisch in ihrer Ausrichtung, was dazu führe, dass Religiosität negativ mit zivilgesellschaftlichem Engagement zusammenhänge. Religion reduziert er hier also auf die römisch-katholische Kirche und beschreibt deren Ausrichtung als klerikal, was negativ auf Sozialkapital wirke. Zentrales Argument dafür ist die Ausrichtung der religiösen Organisation bzw. der Religiosität in Verbindung mit einer hierarchischen Organisationsstruktur. Sowohl die Reduktion des religiösen Feldes in Italien auf die römisch-katholische Kirche als Organisation als auch deren Beschreibung als klerikal in ihrer Ausrichtung, wurde mehrfach kritisiert: Marco Maraffi und Rinaldo Vignati (2018, 6) kritisieren berechtigterweise, dass damit das religiöse Feld in Italien auf die römisch-katholische Kirche als Institution verkürzt und die Religiosität auf individueller Ebene als möglicher Erklärungsansatz völlig ausser Acht gelassen wird. Ebenso sei die Beschreibung als klerikal sehr verkürzt, da sie sowohl die geografisch unterschiedliche Ausprägung von Religiosität als auch ihre Komplexität nicht abbilde und auf nur eine einzige Dimension, nämlich ihre Ausrichtung, einschränke. Dieser Kritik ist zwar zuzustimmen, jedoch ist der Einzelbefund, dass es stark auf die jeweilige Ausrichtung der Religiosität ankommt, eine wichtige Einsicht.

In seinen Analysen zu Amerika kommt Putnam mit Blick auf Religion zu einer differenzierenderen Einschätzung. Hier beschreibt er Religion zunächst als Hort von Sozialkapital schlechthin: «Faith communities in which people worship together are arguably the single most important repository of social capital in America» (Putnam 2000, 66). So sei die Hälfte aller zivilgesellschaftlichen Mitgliedschaften wie auch die Hälfte des gesamten zivilgesellschaftlichen Engagements im kirchlichen Kontext zu verorten. Gründe für diesen starken positiven Zusammenhang sieht Putnam erstens in der Tatsache, dass religiöse Gruppierungen in Amerika stark brückenbildend seien, bzw. dass religiöse Menschen von sich aus sozial stark vernetzt seien: «In fact, religiously involved people seem simply to know more people» (Putnam 2000, 67). Es ist vor allem dieser Community-Effekt, der zu freiwilligem Engagement führt (Putnam und Campbell 2010, 468). Damit verbunden beschreibt er zweitens religiöse Institutionen als Gelegenheitsstrukturen für Engagement. Als solche wirken sie einerseits dadurch, dass sie vielfältige Dienstleistungen und soziale und kulturelle Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen und so die organisatorischen Strukturen für völlig unterschiedliche Aufgaben- und Engagementfelder zur Verfügung stellen. Andererseits, und damit bisweilen verbunden, eröffnen religiöse Institutionen aber auch einen Raum, in dem sich freiwilliges Engagement in dem Sinn vervielfältigt, als dass aktiv für anderes, nicht religiöses Engagement (an)geworben wird (Putnam 2000, 66, 79).

Hinsichtlich der Frage, welchen Effekt religiöse Werte und der religiöse Glaube besitzen, führt Putnam (2000, 67) zunächst die These ein, dass religiöse Werte und religiöser Glaube zu altruistischen Einstellungen führen und ein entscheidendes Motiv für zivilgesellschaftliches Engagement sind. Einen solchen Effekt kann er aber zehn Jahre später gemeinsam mit David E. Campell empirisch nicht belegen und verwirft die These (Putnam und Campbell 2010, 467 f.). Der religiöse Glaube und insbesondere die Ausrichtung diese Glaubens hätten aber insofern einen Einfluss auf Sozialkapital, als dass ein ambivalenter Effekt hinsichtlich sozialen Vertrauens bestehen würde (Putnam und Campbell 2010, 468 f.). Auf der einen Seite würden religiöse Personen mehr Vertrauen aufweisen als säkulare, auf der anderen Seite hängen fundamentalistische Überzeugungen negativ mit sozialem Vertrauen zusammen.

Religion kann also aufgrund der Analysen von Putnam zu Italien und den USA Sozialkapital fördernd wie auch hemmend sein. Fördernde Effekte lassen sich zurückführen auf die brückenbildende Wirkung religiöser Teilhabe und auf die Tatsache, dass religiöse Strukturen Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement sind. Sozialkapital hemmend wirkt Religion, wenn die religiöse Ausrichtung klerikal ist und mit vertikalen Hierarchien verbunden ist (Fall Italien, Putnam 1993) beziehungsweise theologisch fundamentalistisch ausgerichtet ist (Fall USA, Putnam und Campbell 2010).

Religion und Sozialkapital bei Coleman und Putnam

Aus den Arbeiten von Coleman und Putnam lässt sich für den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital Folgendes ableiten:

  1. 1.

    Zugehörigkeit und Netzwerk: Gemäss Putnam hat die soziale Teilhabe an religiösen Strukturen einen positiven Einfluss, da diese als Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement dienen. Ein Mitglied einer religiösen Organisation hat eher Zugang zu diesen Gelegenheitsstrukturen und Netzwerken. Aufgrund der Dichte religiöser Netzwerkstrukturen (Coleman) bzw. aufgrund der brückenbildenden Kontakte innerhalb dieser Netzwerke (Putnam) entwickelt sich dann Sozialkapital. Je stärker und intensiver jemand mit einer religiösen Organisation verbunden ist bzw. sich daran orientiert, desto mehr wird freiwilliges Engagement geleistet und soziales Vertrauen gebildet.

  2. 2.

    Glaube und Ausrichtung: Gemäss Putnams erster Amerikaanalyse sollte religiöser Glaube, das heisst die religiöse Überzeugung an sich, eine positive Wirkung auf Sozialkapital haben, da dies ein starkes Motiv für zivilgesellschaftliches Engagement sei. Empirisch konnte er dies aber nicht belegen. Ganz sicherlich spielt aber die Ausrichtung der Religiosität eine Rolle. Sie wirkt positiv oder negativ auf Sozialkapital, je nachdem, ob sie altruistisch oder individualistisch (Coleman), nicht-klerikal (in horizontalen Strukturen) oder klerikal (in vertikalen Strukturen) (Putnam) oder theologisch fundamentalistisch ausgestaltet ist.

Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital lassen sich von Coleman und Putnam her zwei konkrete Mechanismen ableiten, warum es hier eine Korrelation geben sollte.

1.2 Das spezifische Religiöse im Rahmen erklärender Mechanismen

In Bezug auf mögliche Erklärungsmechanismen für den Zusammenhang zwischen Religion, Religiosität und Sozialkapital wird häufig auf Forschungsarbeiten und entsprechende Mechanismen aus den Bereichen Ökonomie, Psychologie und Soziologie zurückgegriffen. Das machen exemplarisch auch Coleman und Putnam. Religion und Religiosität stellt sich dabei vielleicht als besonderes Beispiel heraus, aber dennoch nur als Beispiel für Mechanismen allgemeiner Natur. Nach dem spezifisch Religiösen im Rahmen erklärender Mechanismen wird nicht gefragt.

Nur am Rande wird in diesem Sinne religionswissenschaftlich danach gefragt, ob es Effekte oder Mechanismen aufgrund der Spezifizität von Religion und Religiosität gibt.Footnote 2 Denn wenn es um die spezifische Rolle von Religion und Religiosität geht, stellt sich die Frage, was religiöse Symbolsysteme und Vergemeinschaftungen sowie religiöse Zugehörigkeiten, Überzeugungen, Praktiken und Erfahrungen von anderen unterscheidet und ob diese qualitativen Differenzen einen genuin eigenständigen Effekt auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und damit auf Sozialkapital ergeben (Meißelbach 2019, 390). Alternativ wäre auch denkbar, dass es nicht die qualitativen Eigenheiten von Religion und Religiosität sind, die wirken, sondern dass der Organisations- bzw. Netzwerkcharakter an sich der entscheidende Faktor ist und Religion in organisierter Form eine Organisation bzw. ein Netzwerk unter mehreren darstellt und entsprechend wirkt (Roßteutscher 2011). In diesem Sinne geht es hier hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Religion und Sozialkapital um eine Rückfrage an die Sozial- und insbesondere an die Religionswissenschaft und Religionssoziologie, was das spezifisch Religiöse sein könnte, das entsprechende Effekte erklären würde. Ich diskutiere hierzu im Folgenden vier Mechanismen, die bewusst auf das spezifisch Religiöse eingehen. Es sind dies (1) Durkheims Efferveszenz-Mechanismus, (2) der Beobachtermechanismus, (3) der Mechanismus teurer Signale und (4) Allports Ambivalenz religiöser Effekte.

(1) Der Efferveszenz-Mechanismus nach Emile Durkheim und Randall Collins

Einschlägig für allfällige Effekte von Religiosität ist zunächst die Ritualtheorie (Turner 2005 [1969]; Bell 1992; Walthert 2020) und hier insbesondere das, was Durkheim (1912, 312) als «Effervescence collective» bezeichnete (Sosis 2005, 8; Schüler 2012, 79 ff.; Meißelbach 2019, 389).

Das Konzept der kollektiven Efferveszenz wurde im Nachgang zu Durkheim (1912, 312) zunächst in der Rezeption des radikalen Durkheimismus durch Robert Hertz und Marcel Mauss (Mauss und Ritter 1990) und in weiterer Folge im Rahmen der Arbeiten des Collège de Sociologie weiterentwickelt (Moebius 2006; Marroquín 2005). Es hat lange Zeit nicht Eingang in die englisch- und deutschsprachige Religionssoziologie gefunden. Erst Randall Collins (2005) hat dieses Konzept in seiner Mikrosoziologie wieder aufgegriffen und weiter theoretisiert. Unterdessen hat das Konzept auch (wieder) Eingang in die Religionswissenschaft und weitere Religionsforschung gefunden (Schüler 2012, 79 ff.; Walthert 2020, 234 f.; Corcoran 2020; Draper 2021a, 2021b).Footnote 3 Kollektive Efferveszenz ist bei Collins (2005, 47 ff.) der zentrale Mechanismus von Interaktionsritualen schlechthin (vgl. Abb. 3.1).

Der Efferveszenz-Mechanismus funktioniert wie folgt: Durch physische Co-Präsenz, Absonderung gegen aussen und Ausrichtung auf einen gemeinsamen Fokus können kollektive Stimmungen entstehen und sich gegenseitig aufschaukeln. Dieses efferveszieren, daher aufbrausen der Gruppe ereignet sich als kollektive Efferveszenz. Diese erzeugt ihrerseits Gruppensolidarität, emotionale Energie für einzelne Gruppenmitglieder, sakrale Objekte in Form von Symbolen für die Beziehungen innerhalb der Gruppe sowie Moralstandards und Normen. Die individuelle emotionale Energie lässt dabei bei Bruch dieser Normen entsprechende Empörung entstehen.

Abbildung 3.1
figure 1

(Quelle: Collins 2005, 48 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Kollektive Efferveszenz in Interaktionsritualen.

Religiöse Praxis im Sinne eines Rituals sollte demnach einerseits einen Effekt auf Gruppensolidarität und damit auf Nah-Vertrauen und identitätsbasiertes Vertrauen haben. Andererseits wäre durch die Festigung entsprechender Normen und Moralstandards auch ein positiver Effekt auf soziales Vertrauen erklärbar. Dies aber nur unter der Bedingung, dass die Abgrenzung zu Aussenstehenden, die ja Voraussetzung für den beschriebenen Mechanismus ist, nicht Überhand gewinnt. Daraufhin muss also kontrolliert werden. Zentral ist, dass die religiösen Rituale auch Wirkung entfalten und nicht bedeutungslos für die Teilnehmenden sind (Staal 1979). Entsprechend sollte mit einem Effekt von religiöser Praxis, der durch kollektive Efferveszenz erklärt wird, auch ein Effekt von religiöser Erfahrung einhergehen. Mit dem Efferveszenz-Mechanismus wären daher neben Wirkungen aufgrund religiöser Praxis auch solche aufgrund religiöser Erfahrungen erklärbar. Religiöse Erfahrungen als Erfahrungen kollektiver Efferveszenz, interpretiert und gedeutet im Rahmen von religiösen Symbolsystemen, müssten entsprechende Effekte zeigen.

(2) Der religiöse Beobachtermechanismus

Der religiöse Beobachtermechanismus beschreibt Wirkungen ausgehend von der Vorstellung «von omnipräsenten transzendenten Agenten, welche in die Welt hineinwirken und Normverletzungen bestrafen» (Meißelbach 2019, 392). Solche transzendente Agenten bzw. individuelle Vorstellungen von Gott, Göttern oder Göttlichem sollten aufgrund ihrer vorgestellten Präsenz und des dadurch Sich-ständig-beobachtet-fühlens entsprechende prosoziale Wirkungen haben (Shariff und Norenzayan 2007; Piazza et al. 2011; Gervais und Norenzayan 2012). «The point is that one reason religious groups successfully overcome the challenges of collective action […] is because their material and supernatural punishment and reward mechanisms reinforce and complement each other» (Sosis 2005, 15). Der religiöse Beobachtermechanismus ist als Variante eines Hawthrone-Effekts zu verstehen. Hawthrone-Effekte beschreiben Effekte auf das Verhalten von Personen aufgrund ihres Wissens, beobachtet zu werden (Wirtz 2020).

Prosozialere Einstellungen und damit auch freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen aufgrund einer stärkeren Ausprägung des Glaubens an Gott oder an etwas Göttliches wären durch den Beobachtermechanismus erklärbar. Ein solcher Effekt bedingt aber einerseits eine sehr bestimmte theistische oder zumindest deistische Vorstellung von Gott oder des Göttlichen. Anderseits hängt er damit stark von den damit verbundenen Konnotationen ab: Ein strafendes Gottesbild könnte im Gegensatz zu einem liebevollen Gottesbild unterschiedliche Wirkungen haben – es käme daher auch hier auf die Ausrichtung des Gottesbildes an, und damit auf eine Kontrolle der religiösen Ausrichtung (Zwingmann et al. 2017).

(3) Religion als teures Signal

Eine intensiv gelebte Religiosität, die sich durch zeitintensive religiöse Praktiken, aber auch durch materielle und sprachliche Performanz, das heisst durch das Tragen von Symbolen und die Verwendung einer entsprechenden Sprache, zeigen würde, wird unabhängig voneinander von zahlreichen Forschenden als ein teures Signal betrachtet (Berman 2000; Atran 2002; Sosis und Ruffle 2003; Sosis 2005; Meißelbach 2019, 390).Footnote 4

Die Idee dahinter ist, dass hochreligiöse Personen durch ihre Aufopferung ein teures Signal an ihre soziale Umwelt aussenden. Die Logik des Zusammenhangs mit sozialem Vertrauen besteht im Folgenden: Einzelne religiöse Personen werden von ihrem Umfeld als vertrauenswürdiger eingestuft als andere, weil sie durch ihre Religiosität ein entsprechendes teures Signal aussenden. Ihnen wird dadurch mehr Vertrauen entgegengebracht, so dass sie selbst wiederum ein höheres soziales Vertrauen ausbilden. Ein solcher Mechanismus ist in hohem Mass vom Umfeld abhängig. Je nachdem wie Religiosität oder eine bestimmte religiöse Gruppe in einer Gesellschaft konnotiert ist, würden davon unterschiedliche Wirkungen ausgehen. Der Mechanismus teurer Signale könnte also mit Blick auf Religion sowohl Effekte ausgehend von einer hohen allgemeinen Religiosität an sich, als auch unterschiedliche Effekte je nach Zugehörigkeit erklären.

(4) Ambivalente Wirkung von Religion

Religion und Religiosität können unterschiedlich ausgerichtet sein. Je nach Ausrichtung können daher auch unterschiedliche Auswirkungen auftreten. Religion kann in diesem Sinne sowohl verbindend als auch trennend wirken (Uslaner 2002, 87–88; Pickel 2014, 43; Liedhegener et al. 2019).

Die Erkenntnis, dass Religion ambivalent und damit sowohl bindend als auch trennend wirken kann, stammt ursprünglich von Allport (1954). Im Rahmen seiner Überlegungen zu Vorurteilen kam er zum Schluss, dass Religion je nach Ausrichtung zu beidem motiviert: Vorurteile zu hemmen oder zu befördern. Dabei unterschied er zwischen einer ethnozentrischen, exklusivistischen Ausrichtung und einer universalistischen: «Religion, however, is a large factor in most people’s philosophy of life. We have seen that it may be of an ethnocentric order, aiding and abetting a life style marked by prejudice and exclusiveness. Or it may be of a universalistic order, vitally distilling ideals of brotherhood into thought and conduct» (Allport 1954, 456). Unter der Annahme, dass Vorurteile soziales Vertrauen eher hemmen, sollte eine universalistische und liberale religiöse Ausrichtung einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen haben, eine exklusivistisch-fundamentalistische und konservative Ausrichtung hingegen eine negative Wirkung.

Die potenziell negative Wirkung von Religion erklärt, warum van Deth (2010, 654), wie schon angedeutet, zum Schluss kam, dass insbesondere religiöse Gelegenheitsstrukturen Ausgangspunkt von dunklem Sozialkapital sind. In diesem Sinn müssten liberale und konservative Ausrichtungen von Religiosität unterschiedliche Wirkungen auslösen, wie das zum Beispiel auch schon Ellen Dingemans und Erik van Ingen (2015, 752) beschrieben haben. Und auch nach Putnam und Campbell (2010, 469) hat Religiosität einen positiven Effekt auf Sozialkapital, religiöser Fundamentalismus hingegen einen entgegengesetzten Effekt.

Wenn es einen solchen ambivalenten Effekt von Religion gibt, dann ist es entscheidend, daraufhin zu kontrollieren. Wenn die Ausrichtung der Religiosität nicht in die Modellbildung miteinbezogen wird, besteht theoretisch das Risiko, dass dadurch andere religiöse Effekte unterdrückt und nicht erkannt würden.

Ich habe nun vier Mechanismen erörtert, wie spezifisch religiöse Faktoren mit Blick auf Sozialkapital wirken. Zusammenfassend ist festzuhalten: Coleman und Putnam liefern Erklärungen für Effekte von religiöser Zugehörigkeit, Netzwerk, religiösem Glauben und der religiösen Ausrichtung. Effekte ausgehend von der Zugehörigkeit lassen sich auch mit teuren Signalen erklären. Der Beobachtermechanismus erklärt vertieft allfällige Effekte religiöser Überzeugung – ebenso Allports These der Ambivalenz von Religion. Und gemäss des Efferveszenz-Mechanismus sollten sowohl religiöse Praxis als auch religiöse Erfahrung Einfluss auf Sozialkapital haben.

2 Religion, freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen: Forschungsstand

Im Folgenden lege ich dar, welche Zusammenhänge zwischen Religion, Religiosität, freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen bereits erforscht wurden und welche empirischen Resultate sich dabei ergeben haben. Wie im theoretischen Teil erörtert, unterscheide ich dabei systematisch einerseits zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, andererseits zwischen verschiedenen Dimensionen von Religion.

Die bisherige Forschung hat insbesondere die Wirkung von Religion und Religiosität auf strukturelles Sozialkapital, das heisst auf das freiwillige Engagement, untersucht (Smidt 1999; Hoof 2010; Traunmüller 2011, 347; Essen et al. 2014, 1; Freitag et al. 2016, 72, 90; Liedhegener 2016a). Auf die Gründe für den Fokus auf freiwilliges Engagement gehe ich weiter unten ein. Hier zeichne ich zunächst nach, wie der Zusammenhang von Religion und Religiosität mit freiwilligem Engagement gesehen wird, anschliessend stelle ich deren Zusammenhang mit dem sozialen Vertrauen dar.

2.1 Religiosität und freiwilliges Engagement

Wenn der Zusammenhang zwischen Religion, Religiosität und freiwilligem Engagement theoretisch untersucht wird, stellt sich die Frage, inwieweit unterschiedliche Dimensionen von Religiosität beziehungsweise Religion auf Kontextebene einen Einfluss auf den Zugang zu Gelegenheitsstrukturen haben, sowie auf individuelle Handlungsressourcen und Handlungsmotive, die zu freiwilligem Engagement führen. Dabei scheint es sich laut vieler Studien grundsätzlich um einen tendenziell positiven Zusammenhang zu handeln (Traunmüller 2011, 347). Demgegenüber steht die Organisationsthese, die zum Beispiel von Roßteutscher (2011) vertreten wird. Sie besagt, dass alleine die Kontakte innerhalb von Organisationen auf Sozialkapital wirken, unabhängig davon, ob diese Organisationen religiöser Natur sind oder nicht (Liedhegener 2016a, 133). Nach dieser These dürften sich keine Auswirkungen ergeben, die über Netzwerkmechanismen hinausgehen und sich zum Beispiel auf die religiöse Überzeugung oder auf die religiöse Ausrichtung beziehen.

Ich gehe nun die vier Dimensionen und damit verbundenen möglichen Zusammenhänge mit freiwilligem Engagement durch.

Religiöse Zugehörigkeit und freiwilliges Engagement

Gemäss Putnam sollte die soziale Teilhabe an religiösen Strukturen, das heisst die Mitgliedschaft, einen positiven Einfluss auf freiwilliges Engagement haben, da diese Teilhabe den Zugang zu Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement eröffnet (ebenso Putnam und Campbell 2010b, 445). Wer Mitglied einer religiösen Organisation ist, hat eher Zugang zu diesen Gelegenheitsstrukturen. Richard Traunmüller (2012, 56 ff.) greift in seinem einschlägigen Werk zu Religion und Sozialkapital auf diese Idee der Gelegenheitsstrukturen zurück, spricht in diesem Zusammenhang aber von Netzwerken. Durch Religion entstehende Gelegenheitsstrukturen für Kontakte sollten demnach positive Effekte auf Sozialkapital und auf freiwilliges Engagement haben.Footnote 5

Liedhegener (2016a, 167) kam für die Schweiz zum Schluss, dass Zugehörigkeit an sich schon einen positiven Effekt auf freiwilliges Engagement hat. Personen ohne Religionszugehörigkeit wiesen in seiner Untersuchung der Daten des Freiwilligen-Monitors durchweg ein niedrigeres Engagement im Vergleich zu den Mitgliedern von Religionsgemeinschaften auf (Liedhegener 2016a, 167). Und auch die Arbeiten von Robert Wuthnow (2002), Pickel und Gladkich (2011) sowie Markus Freitag (2016, 209) bestätigen, dass die Zugehörigkeit bzw. Mitgliedschaft eine vorteilhafte Wirkung auf die Ausübung von freiwilligem Engagement hat. Es kann also erwartet werden, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und freiwilligem Engagement gibt.

Mit der Frage nach der Wirkung von Zugehörigkeit stellt sich auch die Frage, ob unterschiedliche Zugehörigkeiten einen unterschiedlichen Effekt haben. Spezifische religiöse Traditionen mit ihren unterschiedlichen Symbolsystemen, sozialen Vergemeinschaftungen inklusive damit verbundener historischer Pfadabhängigkeiten und vor allem unterschiedlicher gemeinschaftsorientierter Gruppennormen könnten einen unterschiedlichen Effekt auf die Ausübung von freiwilligem Engagement haben (Traunmüller 2012, 65).

So führte zum Beispiel Coleman (1990, 321) die These ein, dass insbesondere reformierte Traditionen einen negativen Effekt auf das Sozialkapital hätten, weil sie stark auf die individuelle Beziehung zu Gott rekurrieren und bei ihnen also das Individuum und nicht die Gemeinschaft im Fokus stehen würde. Demgegenüber unterstrichen Putnam (1993, 2000), aber auch Traunmüller (2012, 59ff, 209) und schon Gerhard Lenski (1963), dass die mit einem protestantischen Individualismus einhergehende Selbstverantwortung wiederum zu mehr freiwilligem Engagement führen sollte, da Aufgaben selbst in die Hand genommen werden, statt sie an Staat und Kirche zu delegieren (Traunmüller 2012, 60). Die historisch damit verbundene Abwertung hierarchisch-klerikaler Strukturen bei gleichzeitiger Aufwertung der Laienarbeit in den lokalen Kirchgemeinden wäre das Erklärungsmuster für einen solchen positiven Zusammenhang (Bennett 2014, 79; Liedhegener 2016a, 131). Liedhegener (2016a, 156) relativierte aber zugleich einen solchen konfessionellen Effekt für die Schweiz insofern als er verschwindet, sobald auf Staatsangehörigkeit hin kontrolliert wird.

Wenn religiöse Zugehörigkeit dadurch wirkt, dass sie eine Zugangsressource für religiöse Gelegenheitsstrukturen darstellt, wäre anzunehmen, dass im Fall der Schweiz von jenen religiösen Traditionen ein positiver Effekt ausgeht, die solche Gelegenheitsstrukturen bereitstellen, und umgekehrt ein negativer Effekt von jenen, die keine oder weniger Strukturen aufweisen. Breite und vielfältige Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement bieten in der Schweiz aufgrund ihrer Geschichte und der damit verbundenen zivilgesellschaftlichen Verflechtung insbesondere die römisch-katholischen und reformierten Kirchen.Footnote 6 Demgegenüber ist anzunehmen, dass neuere religiöse Traditionen ohne eine historisch erfolgte systemische Integration (noch) keine solch vielfältigen Gelegenheitsstrukturen aufbauen konnten und dass daher von ihnen kein Gelegenheitsstruktureffekt ausgehen sollte. Im Schweizer Fall wären muslimische Gemeinschaften eher solch jüngere Organisationen. Markus Freitag und Anita Manatschal (2016, 134) belegen tatsächlich einen solchen negativen Zusammenhang für den Islam in der Schweiz.

Religiöse Zugehörigkeit wirkt also, theoretisch betrachtet, als Zugangsressource zu Gelegenheitsstrukturen und als Differenzmerkmal unterschiedlicher gemeinschaftsorientierter Gruppennormen. Es stellt sich aber die Frage, ob es tatsächlich die Zugehörigkeit und damit verbundene Normen sind, die wirken oder nicht eher bestimmte Formen der Religiosität oder demographische Merkmale, die sich in bestimmten religiösen Gruppen häufen. Mit der differenzierten Analyse verschiedener Dimensionen von Religiosität und der Kontrolle auf zentrale demografische Merkmale hin kann dies geprüft werden.

Religiöse Überzeugung und freiwilliges Engagement

Hinsichtlich der religiösen Überzeugung ist zwischen Ausprägung und Ausrichtung zu unterscheiden. Mit Blick auf die Ausprägung geht es um die Frage, wie stark jemand ein religiöses Symbolsystem verinnerlicht hat und beispielsweise an Gott oder etwas Göttliches glaubt. Gemäss Putnam (2000, 67)Footnote 7 und insbesondere gemäss des dargestellten Beobachtermechanismus sollte religiöser Glaube eine positive Wirkung auf freiwilliges Engagement haben, da Glaube ein starkes Engagementmotiv ist (Essen et al. 2014, 2). Die religiöse Überzeugung sollte via Motiven zu freiwilligem Engagement führen. Die Vermutung wäre daher, dass religiöser Glaube und freiwilliges Engagement positiv zusammenhängen. Traunmüller (2012, 149 f.) kommt demgegenüber aber zum Schluss, dass, wenn überhaupt, hier ein eher negativer Zusammenhang besteht, daher intensiverer Glaube eher mit geringerem freiwilligen Engagement einhergeht, wobei dies vor allem in katholisch dominierten Ländern der Fall sei (Traunmüller 2012, 192).

Neben der Ausprägung spielt auch die Ausrichtung der Religiosität eine Rolle. So gehen Putnam und Campbell (2010, 468 f.) davon aus, dass sich eine fundamentalistisch ausgerichtete Religiosität negativ auf freiwilliges Engagement auswirkt. Es ist daher die Vermutung zu prüfen, ob, und wenn ja, welcher Zusammenhang zwischen religiöser Ausrichtung und freiwilligem Engagement besteht.

Religiöse Praxis und freiwilliges Engagement

Je stärker und intensiver jemand mit einer religiösen Organisation verbunden ist bzw. sich daran orientiert, desto mehr freiwilliges Engagement sollte geleistet werden. Die öffentliche religiöse Praxis steht exemplarisch für die Verbundenheit mit einer religiösen Organisation und vor allem auch mit dem Zugang zu entsprechenden Gelegenheitsstrukturen (Vermeer und Scheepers 2012; Essen et al. 2014, 2). Diese Praxis, nämlich der «gemeinschaftlich gefeierte und gelebte Glaube» (Liedhegener 2016, 132), motiviert also und bietet Anlass, sich zu engagieren. Von einem solchen positiven Zusammenhang gingen auch schon Sidney Verba, Kay Lehmann und Henry E. Brady (1995), Putnam und Campbell (2010, 445) und Freitag (2016, 73) aus. Katie E. Corcoran (2020) konnte eine solchen positiven Effekt auch ausgehend vom Efferveszenz-Mechanismus und dabei entstehender emotionaler Energie belegen.Footnote 8

Traunmüller (2012, 146) kommt im internationalen Bereich zum Schluss, dass die öffentliche Praxis unterschiedliche Effekte auslöst: von nahezu keiner Wirkung bis hin zu einer Wirkung, die deutlich über jener der ökonomischen Situation einer Person liegt. Maraffi und Vignati (2018, 13) sagen hingegen, dass ein solcher Zusammenhang auch international belegt sei. Für die Schweiz ist ein positiver Zusammenhang zu vermuten, da ein solcher in mehreren Studien belegt wurde (Stadelmann-Steffen 2010, 67 f.; Liedhegener 2016a; Freitag et al. 2016, 74).

Hinsichtlich privater religiöser Praxis liegt kein direkter erklärender Mechanismus vor. Es sind dazu auch kaum Forschungen vorangetrieben worden. Traunmüller (2012, 120) verwendet die private religiöse Praxis als ein Item unter dreien, die er faktoranalytisch zum Faktor «Subjektiver religiöser Glaube» zusammenfasste.Footnote 9 Dieser subjektive Glaube hat dann, wie schon oben beschrieben, eher eine hemmende Wirkung auf freiwilliges Engagement (Traunmüller 2012, 149f, 192).

Religiöse Erfahrung und freiwilliges Engagement

Auch hinsichtlich der religiösen Erfahrung liegen keine direkten, theoretisch plausiblen und erklärenden Mechanismen vor. Es sind auch keine entsprechenden Forschungen bekannt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass freiwilliges Engagement stark mit Motiven zusammenhängt, dann könnten religiöse Erfahrungen positiv auf freiwilliges Engagement wirken.

Mit Blick auf die erste Forschungsfrage «Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement in der Schweiz?» lässt sich hinsichtlich Religiosität resümierend feststellen, dass dieser mehrheitlich positiv zu sein scheint. Wir können daher davon ausgehen, dass Religiosität mit freiwilligem Engagement positiv korreliert. Dementsprechend lautet die erste Hypothese dieser Studie:

H1: :

Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement in der Schweiz.

2.2 Religiosität und soziales Vertrauen

Zunächst ist an die Arbeitsdefinition von Sozialem Vertrauen zu erinnern:Footnote 10 Als Grundvertrauen in Menschen allgemein ist es die Überzeugung und damit verbundene Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Soziales Vertrauen ist ressourcenabhängig, es spielen aber auch biografische Sozialisierungs- und Lernerfahrungen eine Rolle. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Religiosität und sozialem Vertrauen stellt sich damit die Frage, inwiefern die unterschiedlichen Dimensionen von Religiosität einen Einfluss auf jene Ressourcen und Sozialisierungs- und Lernerfahrungen haben, die zu sozialem Vertrauen führen.

Die diesbezügliche Forschungslage ist aber nicht so klar wie beim freiwilligen Engagement. Hierfür und für die Fokussierung der diesbezüglichen Forschung auf freiwilliges Engagement gibt es mehrere Gründe. Ein erster Grund liegt in der Tatsache, dass sich schon Putnam (1993, 1995, 2000) vornehmlich auf freiwilliges Engagement fokussierte, da soziales Vertrauen daraus folgen würde. Dieses Narrativ wurde in der Forschung aufgenommen und fand dort entsprechenden Niederschlag, sodass der Fokus auf freiwilligem Engagement liegt. Diese Fokussierung wird nochmals unterstrichen angesichts der Überschneidung des Sozialkapitalansatzes mit der Zivilgesellschaftsforschung. Beiden gemein ist der Ausgangspunkt beim freiwilligen Engagement. So fokussierte sich zum Beispiel auch Liedhegener (2016a) auf freiwilliges Engagement. Er tat dies wohlbegründet. Mit Verweis auf die disparaten Befunde blieb soziales Vertrauen als zentrales abhängiges Konstrukt unberücksichtigt.

Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass freiwilliges Engagement als Konstrukt klar definiert und auch valide gemessen werden kann. Zwar mag es Nuancierungen geben hinsichtlich einzelner Dimensionen.Footnote 11 Die Effekte bleiben aber trotzdem grundsätzlich die gleichen, was auf die Klarheit des Konzepts hinweist. Die Folge: Die Zusammenhänge zwischen Religion und Engagement treten empirisch in der bisherigen Forschung klarer und robuster hervor als jene zwischen Religion und Vertrauen (Smidt 1999, 187; Liedhegener 2016a, 129). Demgegenüber wird soziales Vertrauen unterschiedlich theoretisiert (Liedhegener 2016a, 130). Wie wir im Theoriekapitel gesehen haben, gibt es innerhalb der Vertrauensforschung zwei unterschiedliche Strömungen mit Blick auf die Frage, wie Vertrauen definiert wird. Damit haben sich auch unterschiedliche Frageformate entwickelt, was natürlich einer Vergleichbarkeit nicht dienlich ist.Footnote 12 Aber nicht nur soziales Vertrauen, sondern auch Religion und Religiosität hat die bisherige Forschung bald mehr, bald weniger differenziert untersucht (Tan 2014, 524 f.; Chuah et al. 2016, 282). Dieses Problem hat sich zwar unterdessen etwas entschärft (Smidt 2003; Traunmüller 2012, 346). Die Folgen sind aber bis heute eine Diffusität im Forschungsstand.

Ein dritter Grund ist die Kontextabhängigkeit von sozialem Vertrauen. Wenn soziales Vertrauen zur Erwartungshaltung führt, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind, dann spielen kulturelle Faktoren und damit verbundene biografische Erfahrungen (Sozialisierung und Lernorte) eine wichtige Rolle. Personen aus Ländern mit Bürgerkriegserfahrung und entsprechenden traumatischen Erlebnissen und Diskriminierungserfahrungen (Alesina und La Ferrara 2002, 207) haben verständlicherweise eine getrübte Erwartungshaltung hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit aller Menschen. Das Umgekehrte ist der Fall für Personen aus Ländern wie der Schweiz mit langer Friedenserfahrung und stabilen Verhältnissen.

Der vierte Grund ist, dass in der Forschung die Annahme beziehungsweise Vorgehensweise weit verbreitet ist, dass für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen Religiosität, Religion und sozialem Vertrauen dieselben erklärenden Mechanismen angenommen werden wie im Zusammenhang mit freiwilligen Engagement (so zum Beispiel auch Traunmüller 2012). Wie ich oben gezeigt habe, mögen sich die Prädiktoren von freiwilligem Engagement (Handlungsressourcen und Handlungsmotive) und sozialem Vertrauen (Ressourcen, Sozialisierung, Lernerfahrungen) zwar überlappen, sind aber dennoch klar differenziert, insbesondere hinsichtlich ihrer Erklärungsfunktion, zu betrachten. Wenn diese theoretischen Unterschiede nicht herausgestellt werden, ist es nicht verwunderlich, wenn empirisch diffuse Ergebnisse entstehen. Denn spätestens bei der Interpretation der Ergebnisse ergeben sich Schwierigkeiten, weil keine adäquaten erklärenden Mechanismen zur Verfügung stehen.

Damit zusammenhängend besteht ein fünfter Grund darin, dass das Nichtbeachten insbesondere der religiösen Ausrichtung in der Theorie dann andere religiöse Effekte in der Empirie statistisch unterdrückt bzw. überlagert. Die diesbezügliche Ausgangslage scheint konsistent zu sein: Die religiöse Ausrichtung ist zentral hinsichtlich der Ausbildung von sozialem Vertrauen. Ist dem so, würde dies einerseits die Inkonsistenz, andererseits die allgemein eher schwachen Effektstärken in den Zusammenhängen erklären. Solange nicht zwischen der inhaltlichen Ausrichtung differenziert wird und die unterschiedlichen Dimensionen die Religiosität ohne inhaltliche Füllung und Ausrichtung erfassen, könnten sich allfällige Effekte gegenseitig aufheben. Umso wichtiger scheint es, differenziert zu untersuchen, welche Dimension welche Effekte erzeugt, und dabei gleichzeitig die inhaltliche Ausrichtung der Religiosität zu beachten.

Es zeigt sich also: Die Bandbreite an verwendeten Indikatoren, möglichen Zusammenhängen und entsprechenden Resultaten ist äusserst vielfältig und auch nicht konsistent (Chuah et al. 2016, 282). Umso wichtiger ist daher eine differenzierte Ausbreitung des Forschungsstands, folgend entlang der Dimensionen von Religiosität.

Religiöse Zugehörigkeit und soziales Vertrauen

Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen religiöser Zugehörigkeit und sozialem Vertrauen stellt sich folgende Frage: Welchen Einfluss hat die Zugehörigkeit auf jene Ressourcen und Sozialisierungs- und Lernerfahrungen, die zu sozialem Vertrauen führen?

Gemäss Putnam (2000, 66) sollte die Teilhabe an religiösen Strukturen einen positiven Einfluss ausüben, da diese als Gelegenheitsstrukturen für Sozialisierungs- und Lernerfahrungen dienen, welche die Ausbildung von Sozialkapital und damit auch sozialem Vertrauen fördern. Wer Mitglied einer religiösen Organisation ist, hat analog zum freiwilligen Engagement eher Zugang zu diesen Gelegenheitsstrukturen. Auch Traunmüller (2012, 56 ff.) legt den Schwerpunkt auf die durch Religion entstehenden Gelegenheitsstrukturen für Kontakte und die dadurch hervorgerufenen Effekte auf Sozialkapital, das heisst auch auf soziales Vertrauen.

Hinsichtlich der Wirkung von Religionszugehörigkeit an sich kam Rotter (1967) mittels Varianzanalysen zum Schluss, dass College-Studierende in den USA mit einer Religionszugehörigkeit ein höheres Vertrauen auswiesen als jene ohne Zugehörigkeit. Zu ähnlichen Ergebnissen kam für die USA und Kanada auch Corwin Smidt (1999).

Joseph Daniels und Marc von der Ruhr (2010) und Benajmin Hsiung und Paul Djupe (2019, 613) kamen zum Schluss, dass es weniger die Zugehörigkeit an sich sei, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition, die zu mehr oder weniger sozialem Vertrauen führe. In dieser Hinsicht haben Forschende insbesondere eine reformierte Religionszugehörigkeit als vertrauensfördernd herausgestellt (Delhey und Newton 2005; Traunmüller 2011, 356). Für die Schweiz konnte aber ein solcher Reformierteneffekt auf soziales Vertrauen bisher nicht nachgewiesen werden (Freitag und Bauer 2016, 171, Fussnote 15). Dingemans und van Ingen (2015, 752) fanden hinsichtlich der Wirkung unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten auf soziales Vertrauen nur äusserst kleine Effekte.

Insbesondere der Mechanismus teurer Signale könnte Effekte unterschiedlicher Zugehörigkeiten erklären. Ein solcher Mechanismus ist stark vom Umfeld abhängig und steht in Verbindung mit Mechanismen der Social Identity Theory SIT (Tajfel 1982; Turner et al. 1987). Je nachdem, wie Religiosität oder eine bestimmte religiöse Gruppe in einer Gesellschaft konnotiert ist, müssten davon unterschiedliche Effekte ausgehen. Religionszugehörigkeit und Religiosität wirken in diesem Zusammenhang dann eher als Marker für Diskriminierung denn als Ausgangspunkt für soziales Vertrauen allgemein (Chuah et al. 2016, 280). Solche Mechanismen führen daher eher zu identitätsbasiertem Vertrauen, also zu Vertrauen in die Eigengruppe bzw. zu Eigengruppenbevorzugung und zu Misstrauen und Abwertung der Fremdgruppen, das heisst von Personen mit einer anderen Religionszugehörigkeit. Die Eigengruppenbevorzugung und Fremdgruppenabwertung konnte vielfach bestätigt werden (einen Überblick über den Forschungsstand bietet Shaver et al. 2018, 3). Vorliegend geht es aber nicht um identitätsbasiertes Vertrauen, sondern um soziales Vertrauen allgemein.

Fremdgruppenabwertung und erfahrene Diskriminierung könnten aber ihrerseits auf soziales Vertrauen wirken. Wenn nämlich solche Abwertung und Diskriminierung dazu führen, dass Minderheitengruppen vonseiten der Bevölkerungsmehrheit Misstrauen entgegengebracht wird, schlägt sich dieses in der entsprechenden Erfahrungen nieder, dass nicht allen Menschen vertraut werden kann. Das heisst, dass soziales Vertrauen gehemmt wird. Ob sich in Anbetracht der Komplexität dieses Mechanismus auch ein solcher Effekt unter kontrollierten Bedingungen zeigt, ist fraglich. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sich, analog zur Wirkung auf das freiwillige Engagement, die Unterschiede ausgehend von religiöser Zugehörigkeit unter kontrollierten Bedingungen einebnen und die Effekte verschwinden werden.

Wie steht es um Religiosität im Sinne einer Zugehörigkeitsdeklaration zu einem religiösen Symbolsystem an sich? Religiosität allgemein hat gemäss einer experimentellen Studie aus Deutschland von Jonathan Tan und Claudia Vogel (2008, 839) einen positiven Einfluss auf soziales Vertrauen. Dieses Ergebnis widerspricht jenen aus ebenfalls experimentellen Studien in Grossbritannien und Malaysia von Swee-Hoon Chuah et al. (2009). Für die Schweiz konnte wiederum im Rahmen der Auswertung von Repräsentativbefragungen ein positiver Effekt von Religiosität belegt werden (Freitag und Bauer 2016, 170). In diesem Sinne wäre zu erwarten, dass eine religiöse Selbsteinschätzung und soziales Vertrauen positiv zusammenhängen.

Religiöse Überzeugung und soziales Vertrauen

Bezüglich der religiösen Überzeugung unterscheide ich zwischen Ausprägung und Ausrichtung. Die Ausprägung beschreibt die Stärke und das Ausmass eines Glaubens an Gott oder etwas Göttliches. Mit der Ausrichtung ist die Verortung der Religiosität als liberal oder konservativ bzw. als exklusivistisch-fundamentalistisch gemeint.

Zunächst zur Ausprägung. Gemäss Putnam sollte religiöser Glaube, das heisst die religiöse Überzeugung, eine positive Wirkung auf Sozialkapital und damit auch auf soziales Vertrauen haben. Grund dafür sind entsprechende Glaubensinhalte und tradierte Normen. Auch gemäss dem Beobachtermechanismus sollte es einen Effekt geben, der von der Vorstellung «von omnipräsenten transzendenten Agenten, welche in die Welt hineinwirken und Normverletzungen bestrafen» (Meißelbach 2019, 392) ausgeht. Das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, würde entsprechende prosoziale Effekte zeitigen (Shariff und Norenzayan 2007; Piazza et al. 2011; Gervais und Norenzayan 2012). Entsprechend sollte eine stärkere Ausprägung des Glaubens an Gott oder an Göttliches positiv zusammenhängen mit sozialem Vertrauen. Alberto Alesina und Eliana La Ferrara (2002, 208) konnten aber im Rahmen ihrer Untersuchung keinen Effekt auf soziales Vertrauen belegen. Traunmüller (2012, 151) wies je nach Religionszugehörigkeit unterschiedliche Effekte nach, so einen positiven insbesondere bei Personen mit einem muslimischen und protestantischen Glauben und einen negativen bei Personen mit einer christlich-orthodoxen Zugehörigkeit. Diese disparaten Ergebnisse lassen bezweifeln, ob die Stärke der Ausprägung religiöser Überzeugung und soziales Vertrauen zusammenhängen.

Damit komme ich zur religiösen Ausrichtung, mithin zur Frage, welcher Effekt von einzelnen Vorstellungen und den damit verbundenen Konnotationen ausgeht. Auch für Coleman und Putnam spielte die Ausrichtung der Religiosität eine wichtige Rolle, ebenso für Putnam und Campbell (2010, 469) und Uslaner (2002, 87–88, 168). Gemäss Allport (1954) sollten die Effekte ambivalent ausfallen: Eine universale und liberale religiöse Ausrichtung hätte demnach einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen, eine exklusivistisch-fundamentalistische und konservative Einstellung eine negative Wirkung. Die Tatsache eines solchen Zusammenhangs ist breit abgestützt: Von einem konservativ negativen bzw. einem liberal positiven Effekten berichten Dingemans und van Ingen (2015, 752) ebenso wie Smidt (1999), Uslaner (2002, 99). Daniels und Ruhr (2010), Seymour et al. (2014), Maraffi und Vignati (2018), John Shaver et al. (2018) und Hisung und Djupe (2019). Es ist daher anzunehmen, dass eine religiös liberale Einstellung einen positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen aufweist und eine religiös exklusivistisch-fundamentalistische Einstellung einen negativen Zusammenhang.

Religiöse Praxis und soziales Vertrauen

Gemäss Coleman und Putnam sollte öffentliche religiöse Praxis Sozialkapital und damit auch soziales Vertrauen generieren, und zwar insbesondere aufgrund der Dichte religiöser Netzwerkstrukturen bzw. aufgrund der brückenbildenden Kontakte, die sich im Rahmen des Vollzugs religiöser Praxis ergeben. Und auch der Efferveszenz-Mechanismus geht von einem positiven Effekt auf soziales Vertrauen aus, wenn denn auf die inhaltliche Ausrichtung und damit auf mögliche Ausgrenzungseffekte hin kontrolliert wird.

Smidt (1999) konnte für die USA und Kanada, basierend auf Mittelwertsvergleichen, einen positiven Effekt von religiöser öffentlicher Praxis belegen, welche auch unter Kontrolle verschiedener Denominationen robust blieb. Für Italien konnten Maraffi und Vignati (2018) einen solchen Zusammenhang belegen, wobei dieser insbesondere beim sozialen Vertrauen stark ausgeprägt war.

Für Deutschland wurde ein solcher Zusammenhang zwischen religiöser Praxis und sozialem Vertrauen von Traunmüller (2011, 356) bestätigt, von Ernst Fehr et al. (2003) aber nicht. Keinen solchen Zusammenhang fanden auch Lisa Anderson et al. (2010, 173) im Rahmen von experimentellen Studien in den USA. Und Dingemans und van Ingen (2015, 752) kamen gar zum Ergebnis, dass eine erhöhte religiöse Praxis insbesondere in der Kindheit einen kleinen negativen Effekt auf Vertrauen habe. Für die Schweiz kamen Markus Freitag und Paul Bauer (2016, 171) zum Schluss, dass kein Zusammenhang zwischen der Kirchgangshäufigkeit und sozialem Vertrauen bestehe.Footnote 13

Trotz der etwas unterschiedlichen Ausgangslage im Forschungsstand gehe ich aufgrund der theoretischen Überlegungen und aufgrund der Tatsache, dass ich auf die inhaltliche Ausrichtung der Religiosität hin kontrolliere, davon aus, dass die öffentliche religiöse Praxis und soziales Vertrauen in einem positiven Zusammenhang stehen.

Wie schon beim freiwilligen Engagement, so liegt auch beim sozialen Vertrauen hinsichtlich allfälliger Effekte privater religiöser Praxis kein direkter erklärender Mechanismus vor.Footnote 14

Religiöse Erfahrung und soziales Vertrauen

Gemäss dem Efferveszenz-Mechanismus sollte, zusammen mit einem positiven Effekt aufgrund religiöser öffentlicher Praxis, ein positiver Effekt religiöser Erfahrung auf soziales Vertrauen auftreten. Diesbezügliche Forschungen sind keine bekannt. Aber aufgrund der Theorie gehe ich davon aus, dass die religiöse Erfahrung und soziales Vertrauen in einem positiven Zusammenhang stehen.

Die Zusammenhänge zwischen sozialem Vertrauen und den verschiedenen Dimensionen von Religiosität sind als diffuser zu bewerten als jene zum freiwilligen Engagement. Gesamthaft betrachtet ergibt sich aber auch hier, wenn auch etwas nivellierter, der Schluss, dass Religiosität einen positiven Einfluss auf soziales Vertrauen haben sollte. Entsprechend lautet die zweite Hypothese:

H2: :

Es gibt einen positiven Zusammenhang in der Schweiz zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen.

Damit sind mögliche Zusammenhänge zwischen Religiosität auf Individualebene und Sozialkapital diskutiert. Es stellt sich nun aber die Frage, ob auch Kontexteffekte zur Erklärung von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen herangezogen werden können.

2.3 Kontexteffekte von Religion auf Sozialkapital

Kontexteffekte sind, gerade wenn es um Religion und Sozialkapital geht, mitzudenken und daraufhin zu kontrollieren (Maraffi und Vignati 2018; Hsiung und Djupe 2019, 610). Solche Effekte werden erst dann sichtbar, wenn auch unterschiedliche Kontexte vorhanden sind. Es ist dies der Grund, warum die Schweiz und ihre kantonalen Kontexte gerade in religiöser Hinsicht für diese Studie besonders gut geeignet sind. Die Unterschiede ergeben sich historisch bedingt, aber auch hinsichtlich religiöser Diversität und dem Grad der Säkularisierung.Footnote 15

Kollektive Sozialisierung durch Kulturkampf und Sonderbundskrieg

Aufgrund der Reformationsgeschichte des 16. Jahrhunderts und des Kulturkampfes des 19. Jahrhunderts haben sich die Kantone als katholisch, reformiert oder gemischt-konfessionell deklariert.Footnote 16 Unterschiedliche Pfadabhängigkeiten und institutionelle Bedingungen könnten zu unterschiedlichen Ausprägungen von Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement, aber auch zu unterschiedlichen Niveaus sozialen Vertrauens geführt haben.

Wie schon dargestellt gehen zum Beispiel Putnam (1993, 2000), aber auch Traunmüller (2012, 59ff, 209) davon aus, dass die mit dem protestantischen Individualismus einhergehende Selbstverantwortung zu mehr freiwilligem Engagement geführt hat. Ebenso würden Institutionelle und kulturelle Pfadabhängigkeiten dazu führen, dass Werte und Einstellungen je nach Kontext bis heute unterschiedlich ausgeprägt sind, zum Beispiel auch mit Blick auf soziales Vertrauen (Dingemans und van Ingen 2015, 752).

In Analogie zu dieser Überlegung sollten daher in ehemals reformierten Gebieten der Schweiz historisch bedingt vermehrt Gelegenheitsstrukturen für Laien, also für freiwilliges Engagement gefördert worden sein. Zwar konnte Liedhegener (2016a, 167), wie schon erwähnt, für die Schweiz belegen, dass es einen solchen Reformierteneffekt auf Mikroebene nicht gibt. Aber für die Kontextebene ist ein solcher Effekt noch nicht untersucht worden. Für Deutschland konnte Traunmüller (2011, 353) belegen, dass die religiöse kulturelle Tradition in ehemals reformierten Gebieten tatsächlich bis heute einen Einfluss hat, und zwar auf die Ausbildung von sozialem Vertrauen der einzelnen Personen, und dies unabhängig von ihrer gegenwärtigen Religionszugehörigkeit. Einen solchen Effekt konnten auch Christian Bjornskov (2006), Jan Delhey und Ken Newton (2005) sowie Ronald Inglehart und Wayne Baker (2000) für andere Länder nachweisen. Für die Schweiz konnten Freitag und Bauer (2016, 171) aufgrund einer zu tiefen Varianz auf Kantonsebene keine solchen Differenzen aufdecken.

Hinsichtlich einer solchen kollektiven Sozialisierungsthese ist für die Schweiz zudem die Frage relevant, ob es zusätzlich zur historischen Prägung als reformiert auch einen Effekt ausgehend vom historischen Sonderbundstatus eines Kantons gibt. Ein solcher würde sich durch die Tatsache erklären, dass diejenigen katholischen Kantone, die sich zum Sonderbund zusammenschlossen, im Sonderbundskrieg 1847 eine demütigende Niederlage erlitten haben.Footnote 17 Die Vermutung hier wäre, dass die kontextuelle Zugehörigkeit zum ehemaligen Sonderbund zunächst in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht.Footnote 18 Hinsichtlich des freiwilligen Engagements wäre durchaus auch ein positiver Effekt erklärbar, nämlich in dem Sinne, dass sich Personen in Sonderbundkantonen mittels freiwilligem Engagement vor Eingriffen des neu geschaffenen liberalen Bundesstaates geschützt haben.

Neben diesen historischen Pfadabhängigkeiten könnten Effekte auch von der gegenwärtigen religiösen Situation auf Kontextebene ausgehen, das heisst konkret von religiöser Diversität und Säkularisierungsgrad.

Religiöse Diversität und soziales Vertrauen

Allport (1954) und Sherif (1961) haben im Rahmen ihrer Kontakthypothese erklärt, warum es in bestimmten Situationen nicht zu Vorurteilen kommt, sondern zu Kooperation und gegenseitigem Vertrauen.Footnote 19 Es stellt sich die Frage, ob religiöse Diversität im Schweizer Kontext eher zu Vorurteilen oder zu Kooperation und gegenseitigem Vertrauen führt.

Der diesbezügliche allgemeine Forschungsstand ist widersprüchlich. So haben Stephen Knack und Philip Keefer (1997) einen negativen Effekt von religiöser Diversität auf soziales Vertrauen festgestellt. Traunmüller (2011, 353, 2012, 203) konnte wiederum keine solchen Effekte belegen. Dingemans und van Ingen (2015, 753) berichten Gegenteiliges: «Our final conclusion is perhaps the most remarkable one. In contrast to previous studies that showed negative effects of fractionalization […] on trust, religious diversity was found to have a positive effect on social trust.»Footnote 20 Die gefundenen Differenzen zwischen den bisherigen Resultaten hängen wahrscheinlich mit einer zeitlichen Komponente zusammen. Neu entstandene religiöse Diversität könnte in einem bestimmten Kontext kurzfristig aufgrund akuter Unsicherheit eine hemmende Wirkung auf soziales Vertrauen haben, aber langfristig dann positiv wirken (Dingemans und van Ingen 2015, 753). Dass es erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einem positiven Effekt kommt, liegt wiederum daran, dass es hierfür genügend häufigen Kontakt in der entsprechenden Bevölkerung braucht, bis ein solcher entsteht (Dingemans und van Ingen 2015, 753).

Wenn wir annehmen, dass die Bedingungen der Kontakthypothese auf eine Mehrheit der alltäglichen Begegnungen in der Schweiz zutreffenFootnote 21, und wenn wir weiter konstatieren, dass die Diversifizierung der religiösen Landschaft seit den 1970er-Jahren inklusive dem Auftreten neuer religiöser Gemeinschaften wie den Muslimen insbesondere in den 1990er-Jahren aufgrund der Bosnienkriege schon einige Jahre her ist, könnte die religiöse Vielfalt in der Schweiz dazu führen, dass Konflikte und Vorurteile (unterdessen) eher abgebaut denn geschürt werden, was sich in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen niederschlagen sollte. Es ist daher davon auszugehen, dass die religiöse Vielfalt auf Kantonsebene in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht.

Säkularisierung und soziales Vertrauen

Unter Säkularisierung versteht die einschlägige Forschung die Annahme, dass Religion in der Moderne an Bedeutung verliert, da sie in einem Spannungsverhältnis zur Modernisierung steht (Martin 1978, 2005; Dobbelaere 1987, 2002; Bruce 2002; Pollack 2009; Voas 2009; Pollack und Rosta 2015; Stolz und Tanner 2019; Inglehart 2021). Ebenso wie Modernisierung ist auch Säkularisierung als ein komplexer, langfristiger Prozess im Sinne einer Pfadabhängigkeit zu verstehen. Sie verläuft je nach Kultur oder Land unterschiedlich, wobei alle Verläufe einen ähnlichen langfristigen Bedeutungsrückgang von Religion abbilden (Pickel 2011, 174). Der Haupttreiber für diesen Bedeutungsverlust ist die Tatsache, dass Religiosität nicht mehr über Generationen hinweg weitergegeben wird (Crockett und Voas 2006). Mit Blick auf diese Säkularisierungstheorie gibt es vielfältige Einwände, die ihrerseits zu einer Vielzahl an Differenzierungen und Nuancierungen geführt haben (so zum Beispiel Casanova 1994 oder Dobbelaere 2002). Aber trotz aller theoretischen Differenzen und Finessen gilt sie mittlerweile für den Grossteil der religionssoziologischen Forschung, ausgehend von einem Sozialisierungseffekt, als belegt (Stolz 2020a). Auch für die Schweiz konnten Jörg Stolz und Jeremy Senn (2022) eine solche Kohortensäkularisierung empirisch belegen.

Es stellt sich nun die Frage, inwiefern diese Säkularisierung auch einen Einfluss auf die langfristige Entwicklung von Sozialkapital ausübt. Wie dargestellt, geht Putnam (2000) davon aus, dass Religion und Religiosität einen positiven Effekt auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen haben. Nimmt das Erste ab, sollte auch das Zweite abnehmen. Der soziale Bedeutungsverlust von Religion würde demnach einen Verlust von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen nach sich ziehen.

Eine konträre Position nehmen diverse Modernisierungstheoretiker ein. Freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen sollten aus ihrer Sicht in säkularisierten Kontexten nicht erodieren, sondern im Gegenteil aufblühen (Bruce 2002; Inglehart 1998, 2003; Norris und Inglehart 2004). Begründet wird dies damit, dass säkular-rationale Einstellungen individualistische und emanzipatorische Ideale in den Vordergrund stellen und damit Gemeinsinn und Toleranz und folglich auch soziales Vertrauen und aktives Engagement fördern (Traunmüller 2012, 75 f.).

Gert Pickel und Anja Gladkich (2011, 101) kommen zum Schluss, dass eher das Zweite zutrifft, nämlich dass soziales Vertrauen bei einem höheren Modernisierungsgrad nicht erodiert, sondern ansteigt. Säkularisierung würde dazu führen, dass Abgrenzungstendenzen zwischen religiösen Gruppen abnehmen und damit gesellschaftliche Integration gefördert wird: «Säkularisierung erweist sich durch das Aufbrechen der kulturellen Abschottungstendenzen als ein heterogene Gesellschaften integrierender Prozess, der brückenbildendes strukturelles Sozialkapital nicht beeinträchtigt, aber konfliktträchtiges ‘bonding’-Sozialkapital abbaut.» (Pickel und Gladkich 2011, 103). Und auch Traunmüller (2012, 202 f.) kann mit seiner Studie die Befürchtungen Putnams für den europäischen Kontext nicht bestätigen: «Vielmehr ist das Gegenteil der Fall – in den säkularisierteren Gesellschaften Europas ist die zivilgesellschaftliche Vernetzung der Bürger in der Regel stärker.» (Traunmüller 2012, 202 f.).

Auf Basis des hier verwendeten Datenmaterials können keine Kausaleffekte direkt geprüft werden. Ein allfälliger Säkularisierungseffekt müsste sich aber zeigen, wenn geprüft wird, in welchem Ausmass freiwilliges Engagement bzw. soziales Vertrauen bei jenen zum Ausdruck kommt, die keiner Religion angehören und ihr keine Bedeutung mehr zumessen. Gemäss Putnam wäre dabei ein negativer Zusammenhang, gemäss den Modernisierungstheoretikern ein positiver zu erwarten.

Zusammenfassend ergeben sich mit dem Blick auf den Forschungsstand hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Religion und Religiosität und sozialem Vertrauen zwei Hypothesen und unterschiedliche mögliche Kontexteffekte. Mit Blick auf die erste Forschungsfrage «Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement in der Schweiz?» lässt sich hinsichtlich Religiosität feststellen, dass dieser mehrheitlich positiv zu sein scheint. Wir können daher davon ausgehen, dass Religiosität positiv korreliert mit freiwilligem Engagement in der Schweiz (H1). Die bisherigen Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen sind diffuser, aber gesamthaft betrachtet kann auch hier vorsichtig vermutet werden, dass Religiosität in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht (H2). Diese Zusammenhänge sind auf mögliche Kontexteinflüsse hin zu kontrollieren, konkret auf mögliche Effekte kollektiver Sozialisierung und Pfadabhängigkeiten durch die historische religiöse Prägung eines Kantons sowie die religiöse Diversität und den Grad der Säkularisierung des kantonalen Kontexts.

Nachdem der Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital, das heisst freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, hinsichtlich Forschungsstand diskutiert ist und Hypothesen vorliegen, soll dies nun auch noch hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen geschehen.

3 Sind «Vereine» tatsächlich «Schulen des Vertrauens»?

Mit «Vereinen» als «Schule des Vertrauens», bisweilen sogar «Schulen der Demokratie», greife ich eine diesbezügliche Redensart auf (Freitag et al. 2009; Grossrieder 2011). Damit ist für die vorliegende Studie aber keine Engführung dahingehend zu verstehen, dass freiwilliges Engagement per se in Vereinen stattfindet.

Mit Blick auf die Forschungsfrage, welchen Einfluss das freiwillige Engagement selbst auf die Ausbildung von sozialem Vertrauen in der Schweiz hat, ist zunächst daran zu erinnern, dass theoretisch betrachtet die Erklärungsmechanismen, wie es zu freiwilligem Engagement und zu sozialem Vertrauen kommt, nicht exakt identisch sind. Aus diesem Grund gehe ich folgend separat auf den Forschungsstand zu den Prädiktoren von freiwilligem Engagement (Abschnitt 3.3.1) und sozialem Vertrauen (Abschnitt 3.3.2) ein. Erst anschliessend diskutiere ich den Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen an sich und erstelle eine entsprechende Hypothese (Abschnitt 3.3.3).

3.1 Forschungsstand zu den Prädiktoren für freiwilliges Engagement

Freiwilliges Engagement ist im Rahmen von Gelegenheitsstrukturen möglich und es sind bestimmte Handlungsressourcen und Handlungsmotive nötig. Diese hängen ihrerseits von Einstellungen und von Faktoren der Demografie und Persönlichkeit ab.

Mögliche Einstellungen und Wertorientierungen lassen sich zunächst auf den religiösen Hintergrund des Einzelnen zurückführen. Die diesbezüglichen Zusammenhänge sind Gegenstand dieser Studie. Wichtig im Zusammenhang mit Motiven ist die Einsicht, dass der Zusammenhang zwischen abstrakten Werten und freiwilligem Engagement nicht reliabel ist, das heisst dieselben Einstellungen und Werte führen nicht immer zum selben freiwilligen Engagement (Wilson 2000, 219). Der Hauptgrund dafür ist, dass Engagement in ganz unterschiedlichen Konstellationen und mit ganz unterschiedlichem Inhalt stattfinden kann und damit auch mit vielfältigen Werten zusammenhängt. Wenn entsprechende Werte und Motive untersucht werden sollen, dürfen diese also nicht zu abstrakt abgegriffen, sondern müssen konkret und auch in einer entsprechenden Bandbreite erfragt werden.

Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Werten und Motiven spielt aber die Sozialisierung durch das Elternhaus und die Schule (Wilson 2000, 218). Die Eltern, aber auch Peers und andere Bezugspersonen, geben entsprechende Einstellungen und Motive, sich freiwillig zu engagieren, weiter, wobei neben der Weitergabe von Einstellungen insbesondere auch die aktive Beteiligung der Kinder an entsprechenden Aktivitäten wichtig ist (Şaka 2016). Ein wichtiger Prädiktor für freiwilliges Engagement sollten demnach Aktivitäten in der Kindheit sein. Kinder, die Angebote von Vereinen oder Organisationen besucht haben, werden entweder direkt in den Vereinen ihren Weg machen und sich früher oder später auch dafür engagieren oder zumindest bei positiven Erfahrungen in der Kindheit auch später eher an Aktivitäten teilnehmen und sich dann auch eher engagieren.

In diesem Zusammenhang spielt auch die jeweilige Persönlichkeitsstruktur eine Rolle. Im Vergleich haben zwar bisher nur relativ wenig Studien diesen Faktor mitbedacht (Freitag et al. 2016, 221; Reynolds 2019). Auch haben diverse Studien nur einzelne Merkmale herausgegriffen und Persönlichkeitsstrukturen nicht als Gesamtes mituntersucht (Reynolds 2019, 34). Tatsächlich zeigt sich aber, dass insbesondere eine gegen aussen gerichtete, extravertierte Persönlichkeit (Freitag et al. 2016, 227), aber auch eine offene und gesellige Persönlichkeit positiv und eine emotional instabile Persönlichkeit hingegen negativ mit freiwilligem Engagement zusammenhängt (Reynolds 2019, 136).

Hinsichtlich des Einflusses demografischer Faktoren auf freiwilliges Engagement spielen zunächst das Geschlecht und das Alter eine Rolle. Männer scheinen vordergründig eher freiwillig engagiert zu sein als Frauen (Bühlmann und Freitag 2004), wobei hier insbesondere Sportvereine einen Bias bedingen (Freitag und Ackermann 2016, 66). Je nach Einbezug von Kontrollvariablen muss sich daher auch kein Geschlechtereffekt ergeben. Dass Alter einen Einfluss auf die Aufnahme von freiwilligem Engagement hat, scheint zunächst ebenfalls klar zu sein, da je nach Altersphase eine unterschiedliche Menge an finanziellen und zeitlichen Ressourcen vorhanden ist (Wilson 2000, 226). Dabei sind aber unterschiedliche Effekte möglich, wie kurvilineare Zusammenhänge (Bühlmann und Freitag 2004) oder auch negative (Freitag und Manatschal 2016, 134; Freitag und Ackermann 2016, 66). Es kommt hier wohl stark darauf an, ob nur ein bivariater Zusammenhang untersucht wird, oder ob auf andere Faktoren hin kontrolliert wird.

Ein zentraler Faktor ist der Bildungsgrad: Ein höherer Bildungsgrad geht einher mit häufigerem freiwilligem Engagement (Wilson 2000; Bühlmann und Freitag 2004; Mascherini et al. 2011, 797; Freitag und Manatschal 2016, 134; Lamprecht et al. 2020, 49 f.). Weitere zentrale Faktoren sind der Zivilstand (Wilson 2000, 225 f.) oder auch die Erwerbstätigkeit (Wilson 2000; Lamprecht et al. 2020, 49 f.). So haben Personen, die Vollzeit arbeiten, tendenziell weniger zeitliche Ressourcen, um sich freiwillig zu engagieren, als Personen, die Teilzeit arbeiten, in Ausbildung stehen oder pensioniert sind. In diesem Zusammenhang ist auch die persönliche finanzielle Ressourcenausstattung nicht unerheblich, immerhin ist freiwilliges Engagement der Einsatz von eigenen Ressourcen, ohne monetär etwas dafür zurückzuerhalten. Das Einkommen und die damit verbundene Verfügbarkeit von Ressourcen haben tatsächlich einen positiven Einfluss auf freiwilliges Engagement (Mascherini et al. 2011, 804; Freitag und Ackermann 2016, 69; Lamprecht et al. 2020, 49 f.). Im Umkehrschluss sollten daher sowohl Armut, das heisst materielle Deprivation, als auch relative Deprivation, das heisst das Gefühl, nicht zu erhalten, was einem zustehen würde, aber auch die Selbstverortung zu einer tieferen gesellschaftlichen Schicht einen negativen Effekt auf freiwilliges Engagement haben.

Weiter engagieren sich auch Personen mit Migrationshintergrund eher weniger (Mascherini et al. 2011, 797; Lamprecht et al. 2020, 49). Dieser Negativeffekt ist einerseits auf Sprachbarrieren zurückzuführen: Personen, die sich nicht in derselben Sprache ausdrücken können wie diejenigen, für die sie sich engagieren, werden entweder gar nicht erst für das entsprechende Engagement angefragt, oder werden sich dies selbst auch weniger zutrauen. Andererseits werden Personen mit Migrationshintergrund je nach Dauer, die sie schon in der Schweiz sind, mehr oder weniger Anschluss an entsprechende Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement finden.

Auch der Ort, wo jemand wohnt, steht in Zusammenhang mit freiwilligem Engagement. Je ländlicher der Wohnort, desto eher ist jemand freiwillig engagiert (Gabriel et al. 2002; Bühlmann und Freitag 2004; Freitag und Ackermann 2016, 66).

Einfluss des Kontexts

Neben Handlungsressourcen und Handlungsmotiven, die sich aufgrund von Einstellungen, Demografie und Persönlichkeit ergeben, müssen aber auch Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement vorhanden sein, um sich engagieren zu können.

So weiss man mit Blick auf die Schweiz, dass es markante Unterschiede zwischen den Sprachregionen gibt, wobei sich in der Deutschschweiz mehr Personen freiwillig engagieren als in der lateinischen, insbesondere französischen Schweiz (Stadelmann-Steffen 2010, 117 f.; Freitag und Manatschal 2016, 131; Freitag und Ackermann 2016, 47, 66; Lamprecht et al. 2020, 48). Erklärt werden kann dieser sprachregionale Effekt mit der unterschiedlichen Ausformung direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten und einer differierenden Rolle der Familie und damit mit der sozialen Organisation (Bühlmann und Freitag 2004, 334). Ganz allgemein sind regionale Kontexteffekte wichtig, wenn es darum geht, Sozialkapital zu erforschen (Ferragina 2012). So hängen beispielsweise mit der Sprachregion auch unterschiedliche länderübergreifende Diskursräume zusammen. Daher orientieren sich Personen in der französischsprachigen Schweiz auch eher an französischen Diskursen, Personen in der deutschsprachigen Schweiz eher an Diskurse in Deutschland und Österreich etc. Auch dies kann zur Erklärung unterschiedlicher Engagementniveaus dienen.

Zentrale Kontextfaktoren könnten zudem auch die kontextuelle Ressourcenausstattung und damit verbunden auch die sozioökonomische Ungleichheit sein (Bühlmann und Freitag 2004, 332). In einem Kontext, in dem genügend Ressourcen vorhanden sind, sollten die materiellen Bedürfnisse der Einzelnen eher gestillt und freiwilliges Engagement sollte eher möglich sein. Diesbezüglich konnten aber Marc Bühlmann und Markus Freitag (2004, 341) keinen Effekt für die Schweiz nachweisen. Demgegenüber konnte Emanuele Ferragina (2010, 2012, 185, 2016, 2017) in umfangreichen Studien sehr wohl belegen, dass regionale Unterschiede des Engagementniveaus im europäischen Raum eng mit unterschiedlichen Ungleichheitsniveaus in Verbindung stehen (ebenso: Mascherini et al. 2011, 804).

Gemäss der bisherigen Forschung stellen also sowohl die Einstellungen, Handlungsressourcen und Handlungsmotive auf Individualebene als auch Kontextfaktoren relevante Prädiktoren für freiwilliges Engagement dar. Wie sieht dies für das soziale Vertrauen aus?

3.2 Forschungsstand zu den Voraussetzungen für soziales Vertrauen

Soziales Vertrauen als Grundvertrauen in Menschen allgemein ist die Überzeugung und die damit verbundene Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Es hängt theoretisch betrachtet von den äusseren Umständen, verfügbaren Ressourcen und den damit verbundenen Risiken ab, den Menschen vertrauen zu können. Soziales Vertrauen entwickelt sich vorerst aber durch Sozialisierung, das heisst durch Verhaltens- und Einstellungsübernahme von Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen.

Eine solche Einstellung sind autoritäre Werthaltungen. Ein autoritärer Erziehungsstil sollte zu autoritären Werthaltungen und gleichzeitig zu niedrigerem sozialem Vertrauen führen, da in der Kindheit erfahrener Hass nicht auf die Eltern, sondern auf Fremde projiziert wird und damit soziales Vertrauen hemmt (Decker et al. 2020, 185; Pickel et al. 2020b, 105). Schon Uslaner (2002, 104) konnte einen Einfluss autoritärer Einstellungen auf soziales Vertrauen nachweisen. Weiter sollte sich ein durch die Eltern sozialisiertes soziales Vertrauen darin zeigen, dass Erfahrungen mit Fremden, zum Beispiel im Rahmen von Gruppenaktivitäten, eher gefördert wurden. Solche Gruppenaktivitäten könnten denn auch als Lernort für soziales Vertrauen dienen, wenn darin wiederholt Vertrauenswürdigkeit erfahren wurde. So konnte James Laurence (2020) neuerdings belegen, dass gerade im Kindesalter die gemäss Kontakthypothese vorausgesagte hemmende Wirkung von Kontakten auf Vorurteile gut funktioniert und nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig Wirkung zeigt.

Ganz generell sollten damit verbunden auch positive Kooperationserfahrungen und positiver Kontakt in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen stehen (Allport 1954; Sherif 1961; Uslaner 2002, 113). Im Zusammenhang mit Sozialisierung und Lernerfahrungen stehen auch Persönlichkeitsmerkmale. So sollten offene, gesellige und extravertierte Personen eher zugänglich sein für den Kontakt mit Fremden (Tulin et al. 2018; Rapp et al. 2019). Dass dem so ist und dass auch emotionale Stabilität positiv wirkt, belegten Markus Lamprecht et al. (2018, 45 f.) für die Schweiz.

Positive Kontakte und positive Fremderfahrungen sollten dem sozialen Vertrauen zuträglich sein. Umgekehrt wirken traumatische und negative Erfahrungen hemmend auf soziales Vertrauen (Alesina und La Ferrara 2002, 207). Insbesondere einschneidende Erfahrungen im Nahbereich, zum Beispiel der Tod oder die Trennung von Partner:innen, aber auch traumatische Negativerfahrungen mit Fremden, wie sie im höchstem Masse in kriegerischen Auseinandersetzungen vorkommen, haben einen nachhaltigen Effekt auf die psychische Verfassung (Koch et al. 2006). Ich gehe davon aus, dass solche Erfahrungen auch einen hemmenden Effekt auf soziales Vertrauen haben und dass sie daher in einem negativen Zusammenhang stehen.

Hinsichtlich soziodemografischer Voraussetzungen für soziales Vertrauen lässt sich folgendes sagen: Ob das Geschlecht eine Rolle spielt, ist bestritten und der Forschungsstand ist für die Schweiz uneinheitlich. So wurde einerseits festgestellt, dass Frauen eher soziales Vertrauen aufweisen (Freitag und Bauer 2016, 170). Andererseits gibt es Studien, die keinen Einfluss des Geschlechts feststellten (Lamprecht et al. 2018, 39). Demgegenüber scheint das Alter einen allgemein positiven Effekt auf soziales Vertrauen zu haben (Freitag und Bauer 2016, 170; Lamprecht et al. 2018, 39).

Einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen, da mit Ressourcenausstattung verbunden, sollte der Bildungsgrad haben: Ein höherer Bildungsgrad sollte in Zusammenhang stehen mit einem erhöhtem sozialem Vertrauen; für die Schweiz wurde dies bisher stets bestätigt (Freitag und Bauer 2016, 170; Lamprecht et al. 2018, 39). Ebenso wie Bildung wirkt sich auch die ökonomische Ressourcenausstattung positiv auf soziales Vertrauen aus (Alesina und La Ferrara 2002, 207; Freitag und Bauer 2016, 162; Lamprecht et al. 2018, 41).

Negative Erfahrungen im Fremdkontakt, eine verminderte Ressourcenausstattung, aber auch die Zugehörigkeit zu diskriminierten Gruppen (Alesina und La Ferrara 2002, 207) bilden sich in einem negativen Zusammenhang zwischen Personen mit Migrationshintergrund und sozialem Vertrauen ab, wie ihn für die Schweiz Lamprecht et al. (2018, 41) nachwiesen.

Neben individuellen Voraussetzungen für soziales Vertrauen gibt es auch kontextuelle Einflussfaktoren. So wäre ein Einfluss der Sprachregion wie beim freiwilligen Engagement auch beim sozialen Vertrauen denkbar, wie ihn Lamprecht et al. (2018, 41) auch belegen konnten. Ebenso könnten die kontextuelle Ressourcenausstattung und die Ungleichheit auf Kontextebene eine Rolle spielen (Uslaner 2002, 254–255; Ferragina 2010, 2012, 185).

Gemäss Forschungsstand sind demnach insbesondere Sozialisierungs- und Lernerfahrungen, aber auch die Ressourcenausstattung Voraussetzungen für soziales Vertrauen. Was sich hier im Vergleich mit den Voraussetzungen für freiwilliges Engagement zeigt, ist, dass die demografischen und sozioökonomischen Voraussetzungen für soziales Vertrauen und freiwilliges Engagement durchaus Ähnlichkeiten aufweisen.

3.3 Freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen

Es stellt sich nun die Frage, welchen Einfluss freiwilliges Engagement auf die Ausbildung sozialen Vertrauens in der Schweiz hat. Die klassische Sozialkapitaltheorie, wie im Theoriekapitel 2 dargestellt, geht von einem kausalen, positiven Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen aus.

Wichtig ist eingangs der Hinweis darauf, dass das Zusammenwirken der unterschiedlichen Mechanismen, die von freiwilligem Engagement zu sozialem Vertrauen führen, sowohl bei Coleman wie auch bei Putnam unklar geblieben sind: Coleman (1988, 101) begründet dies mit der Tatsache, dass funktional betrachtet nicht die Mechanismen zentral seien, sondern die entsprechenden Wirkungen: «By identifying this function of certain aspects of social structure, the concept of social capital constitutes both an aid in accounting for different outcomes at the level of individual actors and an aid toward making the micro-to-macro transitions without elaborating the social structural details through which this occurs» (Unterstreichung A.O.). Und auch Putnam (2000, 137) lässt die exakten Wirkmechanismen offen: «The causal arrows among civic involvement, reciprocity, honesty, and social trust are as tangled as well-tossed spaghetti. Only careful, even experimental, research will be able to sort them apart definitively. For the present purposes, however, we need to recognize that they form a coherent syndrome» (Unterstreichung A.O.).Footnote 22 Viel wichtiger scheint ihm die Tatsache zu sein, dass es diesen positiven Effekt des Sozialkapitalmechanismus auf soziales Vertrauen und damit auf Demokratie gibt.Footnote 23

Das Offenlassen der exakten Wirkmechanismen führt konsequenterweise zu entsprechender Kritik, insbesondere am konkreten Mechanismus selbst. Diese Kritik wird auch mit empirischem Material unterlegt. Insofern vermag nicht zu überraschen, dass die These, dass freiwilliges Engagement zu sozialem Vertrauen führt, mit Blick auf den Forschungsstand bislang empirisch nicht klar und robust belegt ist (Delhey und Newton 2003; Westle und Roßteutscher 2008; Dahl und Abdelzadeh 2017).

Auf Ebene der unterschiedlichen Mikromechanismen wird kritisiert, dass unklar bleibt, wie nun genau soziales Vertrauen entstehen solle. Dabei scheint es weniger umstritten zu sein, dass es im Rahmen von freiwilligem Engagement die erwähnten Wirkmechanismen geben kann und dass konkret beispielsweise auch Nah-Vertrauen ausgebildet wird. Es wird aber in Frage gestellt, ob dann beispielsweise aus diesem Nah-Vertrauen im Sinne eines «Spillovers» auch soziales Vertrauen entwickelt wird (Seubert 2009, 80; Liedhegener und Werkner 2011, 18). Tatsächlich führt die Sezierung der unterschiedlichen sozialpsychologischen Mechanismen, wie im Theoriekapitel 2 vorgeführt, zur Erkenntnis, dass es alleine positive Kooperations- und Kontakterfahrungen sind, die einen solchen Effekt erklären könnten. Alle anderen, insbesondere von Putnam ins Feld geführten Mikromechanismen vermögen diesen Übergang tatsächlich nicht zu erklären.

Sodann wird die Kausalitätsannahme und damit der Sozialkapitalmechanismus an sich, dass freiwilliges Engagement zu sozialem Vertrauen führe, in Frage gestellt. So merken Bettina Westle und Sigrid Roßteutscher (2008, 167) an, dass es offen sei, wie die Kausalzusammenhänge zwischen diesen beiden Konstrukten verlaufen. Insbesondere wurde die unterstellte Kausalrichtung von Dietlind Stolle (2003, 23 ff.) und Uslaner (2002, 40, 93, 128, 2017, 2018) in Frage gestellt (ebenso auch Newton 2001a, 227; Gabriel et al. 2002, 29; Hooghe 2003; Delhey und Newton 2005). Statt der Annahme, dass das freiwillige Engagement selbst einen Effekt auf soziales Vertrauen hat, gehen sie davon aus, dass ähnliche Faktoren zu beidem führen, daher dieselben Selektionsmechanismen zum gleichzeitigen Auftreten von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen beitragen und es sich daher beim besagten Zusammenhang um einen Selektionseffekt handeln würde (Uslaner 2002, 128). Demgemäss gäbe es tatsächlich gar keinen Zusammenhang. Zu diesem Schluss kommt auch Wolfgang Vortkamp (2008, 238) für Deutschland: «Die blosse Mitgliedschaft in Vereinen […] bietet keinen Hinweis auf höhere Integration, bürgerschaftliches Engagement oder ein grösseres Ausmass an generalisiertem Vertrauen im Vergleich zu Nicht-Vereinsmitgliedern.»

Zwar kamen sowohl Dhavan Shah (1998) als auch Brehm und Rahn (1997)Footnote 24 in ihren Studien zum Schluss, dass der Effekt eher vom Engagement zum Vertrauen als umgekehrt verläuft, ebenso Michele Claibourn und Paul Martin (2000). Aber auch letztere stellten fest: «Ultimately, for such an important theory, […], we would expect the relationship between trusting and joining to be clear and robust and not unduly reliant on a particular data set or a particular model specification. The results of these analyses indicate the need to move beyond a generalized expectation of the relationship between voluntary associations and interpersonal trust» (Claibourn und Martin 2000, 282).

Auch Freitag (2009, 505) weist darauf hin, dass die Kausalrichtung nicht nur vom freiwilligen Engagement hin zum sozialen Vertrauen, sondern gut begründet auch in die andere Richtung laufen könne. Ebenso formulieren es van Ingen und Bekkers (2015, 290). Das Argument lautet, dass Menschen, die ein höheres soziales Vertrauen besitzen, sich auch eher freiwillig engagieren, weil der Anschluss an ein soziales Netzwerk Vertrauen in andere voraussetze (Uslaner 2002, 40, 93, 128; Stolle 2003, 23 ff.; Westle und Roßteutscher 2008, 168). Und auch Pamela Paxton und Robert Ressler (2018, 162) kamen nach Sichtung des neuesten Forschungsstands zum Schluss: «In sum, empirical evidence on the relationship between associations and trust produces somewhat mixed results.»

Für die Schweiz kamen allerdings Markus Freitag, Nicolas Griesshaber und Richard Traunmüller (2009, 513) zum Schluss, dass freiwilliges Engagement tatsächlich zur Ausbildung von sozialem Vertrauen beiträgt. Zudem konnten sie zeigen, dass dieser Effekt primär ein quantitativer und kein qualitativer ist: Je mehr Engagement, desto mehr soziales Vertrauen, egal in welchem Bereich und ob es isolierte oder verbundene (Paxton 2007) oder brückenbildende oder abgrenzende Vereine (Zmerli 2003) sind. Van Ingen und Bekkers (2015, 291) sowie Patrick Sturgis et al (2017, 85–87) kamen demgegenüber aufgrund der Auswertung von Paneldaten, so auch jenen des Schweizer Haushalt-Panels SHP, zum Schluss, dass es sich bei den vermuteten Kausalzusammenhängen zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen eher um Selektionseffekte handle. Fragen Sturgis et al. (2017, 16) mit Blick auf zukünftige Forschung allgemein nach möglichen Gründen für Selektionseffekte, so weisen Van Ingen und Bekkers (2015) darauf hin, dass bisherige Studien insbesondere Persönlichkeitsmerkmale und pro-soziale Werthaltungen nicht miterfasst und mitkontrolliert hätten.Footnote 25 Zudem sollte in zukünftigen Studien insbesondere ein Augenmerk auf die frühen Entwicklungsphasen der Kindheit und Jugend gelegt werden (Uslaner 2002, 93; van Ingen und Bekkers 2015, 292; Sturgis et al. 2017, 17).

Hinsichtlich der Forschungsfrage, welchen Zusammenhang es zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen in der Schweiz gibt, ist der Forschungsstand also widersprüchlich. Ausgehend von den theoretischen Grundannahmen und aufgrund der Tatsache, dass in der Schweiz der Zusammenhang und die Kausalrichtung mit Verweis auf die einschlägigen Werke von Tocqueville (1840) und Putnam (1993, 2000) zwar häufig angenommen, aber regelmässig nicht belegt wirdFootnote 26, soll die klassische Putnamsche These überprüft werden:

Hypothese 3: :

Es gibt in der Schweiz einen positiven Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen.

Diese Hypothese soll gemeinsam mit den anderen zwei Hypothesen nun empirisch überprüft werden.

4 Hypothesen im Überblick

Vor den Hintergrund des theoretischen und empirischen Forschungsstands ergeben sich mit Blick auf die in der Einleitung gestellten Forschungsfragen drei Hypothesen (vgl. Abb. 3.2).

Abbildung 3.2
figure 2

Forschungsfragen und Hypothesen. (Abbildung: Eigene Darstellung)

Zu den ersten beiden Forschungsfragen nach dem Einfluss von Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement bzw. soziales Vertrauen in der Schweiz lauten die Hypothesen:

Hypothese 1::

Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement in der Schweiz.

Hypothese 2::

Es gibt einen positiven Zusammenhang in der Schweiz zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen.

Zur dritten Forschungsfrage nach dem Einfluss freiwilligen Engagements auf die Ausbildung sozialen Vertrauens in der Schweiz ergibt sich folgende Hypothese:

Hypothese 3::

Es gibt in der Schweiz einen positiven Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen.

Diese Hypothesen mögen gerade nach dem Versuch einer differenzierenden Darstellung der verschiedenen Konstrukte und unterschiedlichen Mechanismen etwas überraschen. Es ist aber diese differenzierende Darstellung, die zur Erkenntnis führt, dass insbesondere hinsichtlich Sozialkapitalkonzeption theoretische Unsicherheiten und ambivalente Befunde vorliegen. Um basierend auf dieser Ausgangslage einen Erkenntnisbeitrag leisten zu können, ist es nötig, auf die Ausgangspunkte zurückzukommen und mit grundsätzlichen Hypothesen zu arbeiten. Diese liegen für die drei Forschungsfragen vor und diese gilt es empirisch zu überprüfen.