Von grundlegender Bedeutung für moderne liberale Gesellschaften ist eine zivilgesellschaftliche Ordnung, die massgeblich auf freiwilligem Engagement beruht (Klein et al. 2004). Im ersten Unterkapitel 7.1. beschreibe ich in der gebotenen Kürze, wie sich freiwilliges Engagement in der Schweiz entwickelt hat und in welchen Formen es ausgeübt wird. Dann wende ich mich der Beantwortung der ersten Forschungsfrage zu: Welchen Einfluss üben Religiosität (Abschnitt 7.2) und Religion (Abschnitt 7.3) auf freiwilliges Engagement in der Schweiz aus?

1 Freiwilliges Engagement in der Schweiz

Freiwilliges Engagement bezeichnet Tätigkeiten, bei denen Menschen freiwillig und ohne nennenswerte finanzielle Gegenleistung Zeit aufwenden und Ressourcen erzeugen, die anderen zu Nutze kommen. Es ist in der Schweiz weit verbreitet und mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte ist, zumindest gesamthaft und langfristig betrachtet, kein Rückgang feststellbar (Freitag und Manatschal 2016, 123; Lamprecht et al. 2020, 33) (vgl. Abb. 7.1).Footnote 1

Abbildung 7.1
figure 1

(Anmerkungen: Graue Markierungen = informelle Freiwilligenarbeit; Weisse Markierungen = formelle Freiwilligenarbeit; schwarze Markierungen = formelle und informelle Freiwilligenarbeit. Runde Markierungen = Schweizer Arbeitskräfteerhebung (SAKE); Raute-Markierungen = Schweizer Freiwilligen-Monitor (FM); Dreieckige Markierung = KONID 2019. Datenpunkt informelle Freiwilligenarbeit 2006 FM: Die 37 % beziehen sich auf informelle Freiwilligenarbeit im weiten Sinne, das heisst inklusive unbezahlter Care-Arbeit für verwandte Personen ausserhalb des Haushalts – im Gegensatz zu den weiteren Daten, die sich auf informelle Freiwilligenarbeit im eigentlichen Sinne, das heisst ohne unbezahlte Care-Arbeit für Verwandte ausserhalb des Haushalts beziehen (Lamprecht et al. 2020, 24, 32). Datenpunkt formelle und informelle Freiwilligenarbeit 2009 FM: gleiche Werte. Quellen: Bundesamt für Statistik 2015, 2021a, 2021b, 2021c, Lamprecht et al. 2020, 32–34, KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Freiwilliges Engagement in der Schweiz 1997–2020.

2019 engagierte sich knapp die Hälfte (48 %) der Bevölkerung in der Schweiz über 15 Jahre gemäss des KONID Survey 2019 freiwillig. Von den 52 % nicht Engagierten gab wiederum die Hälfte an, früher einmal engagiert gewesen zu sein. Drei Viertel der Bevölkerung haben sich also einmal freiwillig engagiert oder tun das auch gegenwärtig. Dieses Engagement findet in unterschiedlichen Bereichen statt (vgl. Tab. 7.1).

Tabelle 7.1 Freiwilliges Engagement

Jeder Fünfte (18 %) geht einem freiwilligen Engagement im Bereich Sport und Bewegung nach, wobei der Fussball (4 %) die am häufigsten genannte Sportart ist, gefolgt von Turnen (4 %) und Skifahren (2 %). 10 % der Bevölkerung engagieren sich in den Bereichen Freizeit und Geselligkeit sowie Kultur und Musik. 8 % gehen einem freiwilligen Engagement im religiösen Bereich nach und 7 % im Bereich der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit. Je 5 % gehen einem freiwilligen Engagement im sozialen Bereich, in der Volksschule oder im Bereich Umwelt, Naturschutz oder Tierschutz nach. In der Politik engagieren sich rund 4 % der Bevölkerung.

Fokussieren wir kurz das freiwillige Engagement innerhalb des religiösen Bereichs. Auch hier sind unterschiedliche Betätigungsfelder vorhanden, in denen sich Freiwillige engagieren (vgl. Tab. 7.2).

Tabelle 7.2 Aufgabenbereiche von freiwillig Engagierten im religiösen Bereich

Rund ein Zehntel (9 %) der im religiösen Bereich engagierten Personen leitet religiöse Feiern und ein Fünftel (21 %) wirkt diesbezüglich unterstützend. Ein weiteres Zehntel (12 %) engagiert sich im musischen Bereich.

Ein grosser Teil der im religiösen Bereich Engagierten ist aber in einem im weitesten Sinne sozialen Bereich tätig. Je 13 % sind in der Betreuung und der Seelsorge bzw. Sozialarbeit an sich tätig, 25 % in der Kinder- und Jugendarbeit, 15 % in der Frauen- und Männerarbeit und 11 % in der Seniorenarbeit. 10 % sind in der Mission tätig, knapp 20 % in der Bildung und der Glaubens- und Traditionsvermittlung, 4 % in gesellschaftsbezogener Bildung und 11 % im interreligiösen Bereich. 14 % der im religiösen Bereich Engagierten sind in einer Leitungsfunktion und 9 % um Öffentlichkeitsarbeit bemüht.

Freiwilliges Engagement ist also auch in religiösen Gelegenheitsstrukturen vielfältig. Es reicht von Leitung und Arbeit im Hintergrund, über Begleitung und Unterstützung anderer bis hin zu Bildung und Weitergabe von Ideen, Werten und Inhalten.

Zurück zu freiwilligem Engagement im Gesamten: Der Zeitaufwand, den die Freiwilligen in der Schweiz für ihr Engagement betreiben, ist beachtenswert: 18 % der Engagierten gaben im KONID Survey 2019 an, bis zu einer halben Stunde pro Woche dafür einzusetzen. Bei 37 % beträgt der wöchentliche Zeitaufwand bis zu zwei Stunden und bei weiteren 27 % drei bis fünf Stunden. 13 % wenden wöchentlich bis zu zehn Stunden für das freiwillige Engagement auf und bei den restlichen 5 % sind es noch mehr.

Freiwilliges Engagement, wie es im «Vereinsland Schweiz» betrieben wird, kann also zeitintensiv sein. Welche Faktoren führen nun dazu, dass sich jemand freiwillig engagiert und ohne finanzielle Gegenleistung Zeit aufwendet und Ressourcen erzeugt, die anderen zu Nutze kommen, und welche Rolle spielt dabei die Religiosität?

2 Fördert Religiosität freiwilliges Engagement?

Um die Frage nach dem Einfluss von Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement beantworten zu können, ist zunächst nach dem Effekt von Religiosität auf Individualebene zu fragen.

2.1 Religiosität und freiwilliges Engagement auf Individualebene

Die bivariate Sichtung der Zusammenhänge zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement ergab, dass das Engagement positiv mit einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit, mit der öffentlichen und privaten Praxis sowie mit der religiösen Erfahrung zusammenhängt. Ein negativer Zusammenhang zeigt sich bei einer muslimischen Religionszugehörigkeit. Keine Zusammenhänge konnten zwischen freiwilligem Engagement und der Selbsteinschätzung als religiös bzw. als spirituell sowie zwischen freiwilligem Engagement und der religiösen Überzeugung festgestellt werden.

Modellentwicklung

Um die eingangs gestellte Frage adäquat beantworten zu können, wurde ein logistisches Regressionsmodell erstellt, das in mehreren Schritten entstand: In ein erstes logistisches Regressionsmodell flossen alle Religiositätsvariablen ein (vgl. Tab. A7.3). Dieses Startmodell zeigt auf, dass unter gegenseitiger Kontrolle weiterhin insbesondere eine evangelisch-reformierte Religionszugehörigkeit (OR = 1.69), ganz besonders aber eine wöchentliche öffentliche religiöse Praxis (OR = 5.93), einen positiven Zusammenhang mit freiwilligem Engagement aufweist. Der Effekt des Zusammenhangs zwischen der wöchentlichen öffentlichen Praxis und freiwilligem Engagement nimmt nun im Vergleich zur bivariaten Analyse nicht ab-, sondern sogar zu (ORbivariat = 4.33). Erst unter Kontrolle der anderen Religiositätsvariablen zeigt sich also die Stärke dieses Zusammenhangs. Wie schon bivariat weist die Selbsteinschätzung als religiös bzw. als spirituell auch in diesem Rumpfmodell keine Zusammenhänge auf. Auch die private Praxis, die im Bivariaten noch einen schwachen, aber immerhin kleinen Zusammenhang aufwies, stellt sich nun als bedeutungslos heraus. Die öffentliche religiöse Praxis ist, was den Zusammenhang mit dem freiwilligen Engagement angeht, bedeutungsvoller.

Für den weiteren Verlauf der Modellentwicklung habe ich die Selbstdeklarationen als religiös bzw. als spirituell und die private Praxis ausgeschlossen, da sie bezüglich des freiwilligen Engagements unter gegenseitiger Kontrolle der religiösen Variablen keinen Einfluss haben und da dieser Ausschluss nicht zu Veränderungen der Zusammenhänge bei den anderen Religiositätsvariablen führt (vgl. Tab. A7.5).Footnote 2 Das daraus resultierende Kurzmodell (vgl. A7.4) ist die Grundlage für die finale Modellierung, bei der auch die weiteren Kontrollvariablen hinzugefügt werden.Footnote 3 Diese Kontrollvariablen wurden theoretisch hergeleitet, für den KONID Survey 2019 operationalisiert und uni- und bivariat gesichtet (vgl. Tab. A6.6 sowie A6.11).Footnote 4

Im Rahmen der finalen Modellierung wurde sodann auch ein Modell zur Ausreisseridentifikation erstellt (vgl. Tab. A7.7). Die Ausreisser wurden anhand der Cook Distanzen und der standardisierten Residuen identifiziert und für das finale Modell herausgefiltert (vgl. Abb. A7.1 und A7.2).Footnote 5

Das finale Modell zur Erklärung von freiwilligem Engagement ist, was die Anzahl der unabhängigen Variablen angeht, umfassend. Bei dieser grossen Anzahl besteht das Risiko von Multikollinearitäten. Ein solches Problem war unter den vielfältigen Religiositätsvariablen selbst zu Beginn tatsächlich vorhanden und führte zum Ausschluss der subjektiven Religiosität und der Gemeindeorientierung aus den Analysen (vgl. Tab. 7.1). Für das finale Gesamtmodell wies die Multikollinearitätsanalyse dann aber auf keine weiteren Probleme hin (vgl. Tab. A7.2).

Modell mit Individualfaktoren zur Erklärung freiwilligen Engagements

Das finale Modell (vgl. Abb. 7.2 sowie Tab. A7.6) besitzt eine akzeptable Anpassung an die Daten (Hosmer-Lemeshow-Test: χ2 (8) = 9.397 (.310), ROC (p): .713 (.000)) mit einem mittleren Gesamteffekt (f2= .26). Es leistet also eine ansprechende Erklärung. Ich gehe zuerst auf die einzelnen Religiositätsvariablen und dann noch auf die allgemeinen Prädiktoren für freiwilliges Engagement auf Individualebene ein, das heisst auf die Kontrollvariablen.

Abbildung 7.2
figure 2

(Anmerkungen: Grafische Darstellung der Odds Ratios mit 95 %-Konfidenzintervallen basierend auf logistischem Regressionsmodell mit gewichteten Daten und ausgeschlossenen Ausreissern: n = 2109, -2 Log-Likelihood: 2801.683, Hosmer-Lemeshow-Test: χ2 (8) = 9.397 (.310), ROC (p): .713 (.000), Nagelkerkes R2 (f2): .205 (.26); Vgl. dazu Tabelle A7.6 im elektronischen Zusatzmaterial. Locker gestrichelte vertikale Linie bei .66/1.5: kleiner Effekt; dichter gestrichelte Linie bei .4/2.5: mittlerer Effekt; dicht gestrichelte Linie bei .25/4: starker Effekt. Alle nicht dichotomen Variablen standardisiert. Nicht dargestellt, da kein Effekt vorhanden: Alter, Geschlecht, Persönlichkeitsfaktoren Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus, Autoritarismus, Zivilstand, Schichtzuordnung sowie Kontaktqualität. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Individualeffekte zur Erklärung freiwilligen Engagements.

Religiöse Zugehörigkeit und freiwilliges Engagement

Bei der religiösen Zugehörigkeit zeigen sich unter Kontrolle der verschiedenen Dimensionen der Religiosität und weiterer zentraler demografischer Merkmale keine Effekte (vgl. Abb. 7.2). Weder eine reformierte noch eine muslimische Religionszugehörigkeit steht unter kontrollierten Bedingungen in einem Zusammenhang mit freiwilligem Engagement. Der bisherige Effekt einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit stellt sich unter kontrollierten Bedingungen als nicht robust heraus. Das widerlegt die Annahme für die Schweiz, dass eine reformierte Religionszugehörigkeit zu mehr freiwilligem Engagement führe, und bestätigt die Resultate von Liedhegener (2016a, 156), der unter kontrollierten Bedingungen, insbesondere aufgrund der Drittvariablenkontrolle mit Staatszugehörigkeit, keinen solchen Effekt feststellte. Dass sich die Reformierten und die Katholiken in der Schweiz hinsichtlich der Zusammensetzung nach Staatszugehörigkeit unterscheiden, haben wir schon oben feststellen können. Aber auch eine muslimische Zugehörigkeit an sich hat nicht den im Bivariaten gefundenen negativen Effekt. Auch dieser Effekt ist also auf die demografische Zusammensetzung dieser Gruppe zurückzuführen und auf die daraus resultierenden negativen Zusammenhänge mit freiwilligem Engagement.Footnote 6

Religiöse Zugehörigkeit wirkt in der Schweiz also nicht als Zugangsressource für freiwilliges Engagement. Weder eine katholische und reformierte Zugehörigkeit noch eine muslimische Zugehörigkeit, und damit zu einer Religion in einer Minderheitenposition, weisen einen positiven oder einen negativen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement auf. Ob ein solcher Zusammenhang früher einmal vorhanden war, kann hier nicht beantwortet werden und ist offen zu lassen. Auf alle Fälle besteht gegenwärtig kein solcher Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Der Zugang zu religiösen Gelegenheitsstrukturen eröffnet sich nicht mit der Zugehörigkeit allein.

Religiöse Überzeugung und freiwilliges Engagement

Hinsichtlich der religiösen Überzeugung ist zu unterscheiden zwischen Ausprägung und Ausrichtung. Zunächst zur Ausprägung, das heisst zur Frage, wie stark jemand diese Überzeugung verinnerlicht hat. Gemäss dem berechneten Modell gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem religiösen Glauben an Gott oder an etwas Göttliches und freiwilligem Engagement. Ein solcher Effekt hätte gemäss dem Beobachtermechanismus aufscheinen sollen. Dies ist nicht der Fall und ein Beobachtereffekt kann damit hier nicht belegt werden.

In Bezug zur religiösen inhaltlichen Ausrichtung hat eine liberale Ausrichtung einen äusserst kleinen Hintergrundeffekt (OR = .90).Footnote 7 Ebenfalls keine Rolle spielt eine exklusivistisch-fundamentalistische Einstellung. Daraus folgt, dass es nicht auf die religiöse Ausrichtung ankommt, ob sich jemand mehr oder weniger engagiert. So ist es plausibel, dass sich Personen mit ganz unterschiedlichen (religiösen) Motiven freiwillig engagieren. Welche unterschiedlichen Motive dies sind, kann hier nicht beantwortet werden und weitere Forschung ist nötig (Liedhegener 2022a).Footnote 8

Religiöse Erfahrung und freiwilliges Engagement

Im Rahmen der bivariaten Analyse haben wir gesehen, dass bei jenem Viertel der Befragten, die auch von religiösen Erfahrungen berichten, ein kleiner, aber relevanter bivariater Zusammenhang mit freiwilligem Engagement besteht (OR = 1.72). Dieser Zusammenhang ist unter kontrollierten Umständen nicht mehr vorhanden (OR = 0.96 [0.68, 1.37]). Es besteht also kein robuster Zusammenhang zwischen religiöser Erfahrung und freiwilligem Engagement.

Religiöse Praxis und freiwilliges Engagement

Den einzigen klaren, in diesem Fall sogar mittleren bis starken, Zusammenhang unter den Dimensionen der Religiosität, zeigt sich bei der öffentlichen Praxis. Schon eine mehrmals jährliche Teilhabe an öffentlichen religiösen Ritualen weist einen kleinen Effekt auf (OR = 2.10). Eine wöchentliche (OR = 4.70) oder mehrmalige Teilnahme an solchen Ritualen pro Woche (OR = 6.12) weist einen starken Effekt aus. Der Grund für die grossen Konfidenzintervalle bei den letzteren beiden Gruppen liegt in ihren Gruppengrössen (n = 142 bzw. n = 93) in Kombination mit der Kontrolle auf andere Variablen. Die Spannweite dieser Effekte ist zwar gross, aber wichtig ist hier zu sehen, dass auch die Grenzen der unteren Konfidenzintervalle auf einen mindestens mittleren Effekt hinweisen. Ein positiver Zusammenhang ist also gegeben. Hier zeigt sich eindrücklich die theoretisch prognostizierte Stärke des Effekts von religiösen Gelegenheitsstrukturen auf freiwilliges Engagement.

Doch was heisst das konkret, bezogen auf die Wahrscheinlichkeit, sich zu engagieren, und zwar kontrolliert auf die weiteren Variablen? Um diese Frage zu veranschaulichen, stelle ich im Folgenden proximale, mit dem Regressionsmodell berechnete Wahrscheinlichkeiten dar und untersuche diese explorativFootnote 9.

So liegt die Chance, sich zu engagieren bei Personen, die nie einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besuchen, bei etwas mehr als 41 % (vgl. Abb. 7.3). Diese Wahrscheinlichkeit steigt nun zunehmend mit der Intensität der öffentlichen religiösen Praxis. Wer mehrmals pro Jahr bis monatlich an Gottesdiensten oder Gemeinschaftsgebeten teilnimmt, hat eine proximale Wahrscheinlichkeit von 59 %, sich zu engagieren. Diese Chance erhöht sich dann nochmals bei jenen, die wöchentlich einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besuchen auf 77 %. Anschliessend sinkt dann die proximale Wahrscheinlichkeit wieder auf 71 %.

Abbildung 7.3
figure 3

(Anmerkungen: Proximale Wahrscheinlichkeit für freiwilliges Engagement basierend auf logistischem Regressionsmodell mit Individualfaktoren in Tab. A7.6. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Religiöse Praxis und freiwilliges Engagement.

Ausgehend von diesem Befund eröffnen sich zwei Fragen: (1) Besteht dieser positive Zusammenhang über alle Religionszugehörigkeiten hinweg oder gibt es hier Divergenzen? Und (2), kommt dieser allgemeine positive Effekt der religiösen Praxis daher, dass sich stark praktizierende Personen überproportional im religiösen Bereich engagieren – und in der Folge dann dafür weniger im nicht-religiösen Bereich, dass es also einen Ersetzungseffekt gibt?

Zur ersten Frage. Vorab ist festzustellen, dass sich der Rückgang am oberen Ende der Skala nicht auf den Faktor der religiösen Praxis selbst zurückführen lässt. Wie im Regressionsmodell, abgebildet in Abbildung 7.2. ersichtlich, wird der Zusammenhang mit zunehmender Praxis nicht schwächer, sondern stärker. Der Grund für dieses Absinken muss daher in anderen Faktoren gesucht werden. Wenn wir die proximalen Wahrscheinlichkeiten nun nach religiöser Zugehörigkeit differenzieren, ist festzustellen, dass dieser Rückgang des Zusammenhangs am oberen Ende der Skala nur bei reformierten Personen bzw. bei Personen mit sonstigem christlichen Hintergrund (also auch auf Personen mit evangelisch-freikirchlichem Hintergrund) festzustellen ist (vgl. Abb. 7.4). Bei diesen beiden Gruppen gibt es also Faktoren, die dazu führen, dass die proximale Wahrscheinlichkeit für freiwilliges Engagement bei mehrmals wöchentlicher bis täglicher religiöser Praxis nicht nochmals steigt, sondern sinkt. Eine inhaltlich mögliche Erklärung für dieses Absinken bestünde in den zur Verfügung stehenden Zeitressourcen bei diesen Personen. Werden die individuellen Zeitressourcen primär für religiöse Praxis eingesetzt, fehlen diese für freiwilliges Engagement andernorts. Diese Erklärung ist aber insofern nicht allzu plausibel, als dass dann derselbe Effekt auch bei Personen mit einer römisch-katholischen oder muslimischen Zugehörigkeit auftreten müsste. Die Vermutung ist daher, dass es sich hierbei um einen Effekt ausgehend von der demografischen und sozioökonomischen Zusammensetzung der intensiv praktizierenden Reformierten handelt. Hier wäre weitere Forschung und eine vertiefte Analyse mit Fokus auf diese Gruppen nötig.Footnote 10

Weiter ist aufgrund der Differenzierung zwischen verschiedenen religiösen Zugehörigkeiten zu erkennen, dass der Effekt, den die religiöse Praxis auf freiwilliges Engagement ausübt, unabhängig von der religiösen Tradition erfolgt. Es ist also die öffentliche religiöse Praxis, die unabhängig von der religiösen Tradition einen Zugang zu Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement schafft. Dies ist auch bei Personen mit einer muslimischen Zugehörigkeit der Fall. Die hier sichtbar tiefere proximale Wahrscheinlichkeit, sich als Muslim:in freiwillig zu engagieren, zieht sich durch und es besteht auch hier ein positiver Zusammenhang zwischen öffentlicher Praxis und freiwilligem Engagement. Die Gründe, warum bei der Gruppe der Muslime ein allgemein tieferes Engagementniveau vorhanden ist, liegen nicht in ihrer Religiosität oder in der Zugehörigkeit zum Islam, sondern in der demografischen und sozioökonomischen Zusammensetzung dieser Gruppe.Footnote 11

Abbildung 7.4
figure 4

(Anmerkung: Proximale Wahrscheinlichkeit für freiwilliges Engagement basierend auf logistischem Regressionsmodell mit Individualfaktoren (vgl. Tab. A7.6). Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Religiöse Praxis und freiwilliges Engagement nach Religionszugehörigkeit.

Im Rahmen eines Gottesdienstes, eines Gemeinschaftsgebets oder einer anderen religiösen Handlung treffen sich unterschiedliche Leute und feiern gemeinsam. Offensichtlich ist es allein dieses Feiern im Rahmen eines religiösen Rituals, das einen positiven Effekt aufweist, unabhängig von Zugehörigkeit, Überzeugung und Erfahrung (so auch Putnam und Campbell 2010, 472). Denn sowohl Zugehörigkeit als auch religiöse Überzeugung und Erfahrung stehen gemäss Regressionsmodell in keinem Zusammenhang mit freiwilligem Engagement. Der Effekt ergibt sich also weniger aus dem qualitativen, konkreten Inhalt der religiösen öffentlichen Praxis, das heisst der religiösen Überzeugung, sondern vielmehr aus dem Ritual an sich. Was wir sehen, ist ein quantitativer Effekt der Praxis an sich. Je mehr religiöse öffentliche Praxis, desto mehr freiwilliges Engagement.

Eine plausible Erklärung für diesen starken Effekt religiöser Praxis ergibt sich aus dem Rahmen solcher Feiern und Rituale. Zu diesem Setting gehört einerseits das Ritual an sich, zu dessen Zweck Personen zusammenkommen. Dabei entsteht gemäss dem Efferveszenz-Mechanismus eine soziale Gruppe, die sich aufgrund des gemeinsamen Rituals als solche sieht und sich gegenseitig solidarisch zeigt.Footnote 12 Unter der Annahme, dass sich diese Gruppe nach einem solchen Ritual, zumindest wenn es physisch stattgefunden hat, nicht sofort auflöst, entsteht ein informeller Gelegenheitsraum für den gegenseitigen Austausch, der gekennzeichnet ist von einem Mindestmass an Gruppensolidarität, emotionaler Energie des Einzelnen und geteilten Normen. Das Informelle dieses Raums ergibt sich insbesondere durch die Abgrenzung zum zuvor stattgefundenen formellen Raum des religiösen Rituals und durch die geteilte Gruppensolidarität. Es besteht die Vermutung, dass ein solcher Gelegenheitsraum, der qualitativ vertiefter untersucht werden müsste, die nötige Niederschwelligkeit, Offenheit und Stimmung bietet, andere Personen konkret für freiwilliges Engagement anzufragen und zu bestärken. Umso stärker die Erfahrung des Rituals, desto mehr müssten diese Faktoren dann akut ausgeprägt sein und umso eher könnte ein solcher Gelegenheitsraum auch zu freiwilligem Engagement führen (Corcoran 2020). Ob dies etwas genuin Religiöses ist, ist hier offen zu lassen. So ist es aber denkbar, dass quasi-religiöse Feiern oder andere Interaktionsrituale einen ähnlichen Communitaseffekt (Turner 2005 [1969]) haben. Wir sehen hier aber bestätigt, dass die Teilnahme an religiösen Ritualen einen starken Effekt auf die Wahrscheinlichkeit ausübt, sich freiwillig zu engagieren, unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, Überzeugung und religiöser Erfahrung.

Daran schliesst sich folgende Frage an: Findet dieses durch religiöse Rituale ermöglichte Engagement primär kanalisiert im religiösen Bereich und in den damit verbundenen Gelegenheitsstrukturen statt und kommt es dadurch zu einem allfälligen Ersetzungseffekt mit freiwilligem Engagement im nicht-religiösen Bereich oder geht dieser Effekt über den religiösen Bereich hinaus?

Religiöse Praxis und Ort des freiwilligen Engagements

Wie wir soeben gesehen haben, besteht ein von der Religionszugehörigkeit unabhängiger positiver Zusammenhang zwischen religiöser öffentlicher Praxis und freiwilligem Engagement. Insbesondere bei jenen, die wöchentlich oder öfter einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besuchen, tritt dieser Effekt besonders deutlich hervor. Es könnte nun vermutet werden, dass sich diese Personen zwar sehr wohl häufiger freiwillig engagieren, dass dies aber kanalisiert lediglich im religiösen Bereich geschieht und dass sich die Anfragen für freiwilliges Engagement entsprechend auf diesen Bereich beschränken. Weiter könnte vermutet werden, dass sich diese Personen dann im Gegenzug umso weniger im nicht-religiösen Bereich engagieren. Wenn dem so wäre, würde es sich um einen Ersetzungseffekt handeln: Freiwilliges Engagement würde im religiösen Bereich jenes in anderen Bereichen ersetzenFootnote 13. Umgekehrt bedeutet kein Ersetzungseffekt, dass der Zusammenhang, ausgehend von der religiösen Praxis, über den religiösen Bereich hinaus besteht und in diesem Sinne eine breitere gesellschaftliche Wirkung entfalten würde. Letzteres ist der Fall: Zwar hängt öffentliche religiöse Praxis erwartungsgemäss stark mit freiwilligem Engagement im religiösen Bereich zusammen (CV = .47Footnote 14) und mit zunehmender Intensität der religiösen Praxis nimmt der Anteil an Personen, die sich im religiösen Bereich engagieren, entsprechend markant zu (vgl. Abb. 7.5).

Abbildung 7.5
figure 5

(Anmerkungen: Engagementbereich bivariat; Proximale Wahrscheinlichkeit für freiwilliges Engagement basierend auf logistischem Regressionsmodell mit Individualfaktoren (vgl. Tab. A7.6). Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Religiöse Praxis und freiwilliges Engagement im (nicht-)religiösen Bereich.

Aber gleichzeitig besteht auch ein kleiner, aber klarer Zusammenhang mit Engagement im nicht-religiösen Bereich (CV = .14Footnote 15). Auch hier nimmt die Engagementquote mit zunehmender Intensität der öffentlichen religiösen Praxis zu. Engagieren sich unter den Personen, die nie einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besuchen, fast niemand (0.3 %) im religiösen Bereich und 37 % in einem nicht-religiösen Bereich, so sind es unter jenen, die wöchentlich praktizieren, 51 % im religiösen Bereich, aber gleichzeitig auch 60 % im nicht-religiösen Bereich. Die Quoten nehmen dann wieder bei den äusserst intensiv Praktizierenden ab.

Damit liegt kein Ersetzungseffekt vor. Es ist vielmehr so, dass Personen, die häufig religiös praktizieren, sich im religiösen Bereich und zugleich auch im nicht-religiösen Bereich engagieren und sich daher mehrfach engagieren (CV = .13Footnote 16). Personen, die häufig religiöse Feiern besuchen, erhalten mehr Gelegenheiten für freiwilliges Engagement, und zwar innerhalb und ausserhalb des religiösen Bereichs.Footnote 17

Religiosität hat also einen positiven Effekt auf freiwilliges Engagement, wobei dieser Zusammenhang auf die öffentliche religiöse Praxis zurückzuführen ist. Personen, die monatlich oder häufiger öffentliche Rituale wie Gottesdienste oder Gemeinschaftsgebete besuchen, engagieren sich häufiger, und zwar innerhalb und ausserhalb des religiösen Bereichs. Religiöse Feiern eröffnen Gelegenheitsräume für die gesellschaftliche Koordination von freiwilligem Engagement – innerhalb und ausserhalb des Religiösen. Auf einen darüberhinausgehenden, sozialisierenden Effekt der religiösen Zugehörigkeit, Überzeugung, Ausrichtung oder Erfahrung gibt es keine Hinweise.

2.2 Allgemeine Prädiktoren für freiwilliges Engagement auf Individualebene

Die Effekte zentraler Kontrollvariablen zeigen sich im Bereich des Erwarteten. Einerseits spielen dabei Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle, wobei diese Effekte nur im Hintergrund erscheinen. Insbesondere gegen aussen gerichtete, extravertierte Persönlichkeiten (OR = 1.33) weisen auch unter kontrollierten Bedingungen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich zu engagieren. Keinen Zusammenhang gibt es mit der Verträglichkeitsdimension (OR = 1.01 [0.92, 0.11]).

Wie erwartet gibt es auch einen positiven Zusammenhang zwischen der Aktivität in der Kindheit und gegenwärtigem freiwilligem Engagement nicht nur bivariat, sondern auch unter kontrollierten Bedingungen (OR = 2.26). Kinder, die Angebote von Vereinen oder Organisationen besucht haben, werden entweder direkt in den Vereinen ihren entsprechenden Weg gehen und sich früher oder später auch dafür engagieren. Oder bei positiven Erfahrungen in der Kindheit werden sie auch später eher an Aktivitäten teilnehmen und sich dann auch eher engagieren. Dieser kleine, aber in seiner Ausprägung dennoch klare Effekt bestätigt die Wichtigkeit der Sozialisierung im Kindesalter (Wilson 2000, 218). Denn gerade im Kindesalter sind es insbesondere die Eltern und das direkte Umfeld, die eine solche Aktivität anregen, dazu motivieren und diese auch mittragen, unter der Bedingung, dass entsprechende Aktivitätsstrukturen vorhanden sind (Şaka 2016).

Ein höherer Bildungsgrad geht auch unter kontrollierten Bedingungen einher mit intensiverem freiwilligem Engagement (OR = 1.13), wobei es sich um einen Hintergrundeffekt handelt, der nicht sonderlich relevant ist. Ebenso wie die Bildung ist auch die finanzielle Ressourcenausstattung kein ausschlaggebender Faktor: Zwar weist, wie erwartet, materielle Deprivation, also Armutsbetroffenheit, einen negativen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement auf, dies aber auch wiederum nur im Hintergrund (OR = 0.88). Viel wichtiger sind offensichtlich die zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen, so hat Erwerbstätigkeit einen Einfluss auf freiwilliges Engagement. Personen, die Vollzeit arbeiten, haben weniger zeitliche Ressourcen, um sich freiwillig zu engagieren, als Personen, die Teilzeit arbeiten (OR = 1.64), in Ausbildung stehen (OR = 2.50) oder pensioniert sind (OR = 2.04).

Weiter engagieren sich Personen mit Migrationshintergrund eher weniger (1. MG, OR = 0.71), was im Einklang steht mit bisherigen Forschungsergebnissen (Mascherini et al. 2011, 797; Lamprecht et al. 2020, 49). Dieser Negativeffekt ist einerseits auf Sprachbarrieren zurückzuführen: Personen, die sich nicht in derselben Sprache ausdrücken können wie diejenigen, für die sie sich engagieren, werden entweder gar nicht erst für das entsprechende freiwillige Engagement angefragt oder werden sich dies selbst auch aufgrund der damit verbundenen Erwartungshaltung weniger zutrauen. Andererseits werden Personen mit Migrationshintergrund, je nach der Dauer, während der sie schon in der Schweiz sind, mehr oder weniger Anschluss an Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement gefunden haben. Dass dem so ist, bestätigt die Tatsache, dass Personen der zweiten Migrationsgeneration weder einen positiven noch einen negativen Zusammenhang aufweisen im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund und daher hinsichtlich freiwilligem Engagement gleichauf sind.

Schliesslich spielt auch der Ort, an dem jemand wohnt, auch unter kontrollierten Bedingungen eine marginale Rolle: Je ländlicher der Wohnort, desto eher ist jemand freiwillig engagiert (OR = 1.18). Das bestätigt ebenfalls die bisherigen Forschungsergebnisse (Gabriel et al. 2002; Bühlmann und Freitag 2004; Freitag und Ackermann 2016, 66). Es ist hier aber auch anzumerken, dass es sich dabei ebenfalls nur um einen Hintergrundeffekt handelt. Der Stadt-Land-Unterschied darf hinsichtlich freiwilligen Engagements nicht zu stark bewertet werden.

Keine Rolle für das freiwillige Engagement spielen das Alter, das Geschlecht oder auch die relative Deprivation. Hinsichtlich ökonomischer Deprivation sind also die real zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen ausschlaggebend (und nicht die relative Deprivation). Auch weder hemmend noch fördernd sind verträgliche oder gewissenhafte Persönlichkeitsstrukturen sowie autoritäre Einstellungen.

In dieser Hinsicht kann zusammenfassend festgestellt werden: Die Ausübung von freiwilligem Engagement ist insofern voraussetzungsreich, als dass die entsprechenden insbesondere zeitlichen Ressourcen, aber auch Gelegenheit und Zugang zu freiwilligem Engagement vorhanden sein müssen. Personen, die schon in ihrer Kindheit an entsprechenden Aktivitäten teilnehmen konnten, haben eher einen solchen Zugang.

3 Freiwilliges Engagement und kantonale Kontextbedingungen

Nachdem geklärt ist, welche Zusammenhänge zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement auf Individualebene bestehen, wird nun untersucht, welche kantonalen Kontextbedingungen und insbesondere welche religiösen Rahmenbedingungen mit freiwilligem Engagement in einem Zusammenhang stehen. Um diese Kontextvariablen adäquat kontrollieren zu können, wurden Mehrebenenmodelle erstellt.

Mehrebenenmodelle zur Erklärung freiwilligen Engagements

Voraussetzung für ein Mehrebenenmodell ist, dass die Kontextvariablen Erklärungspotenzial besitzen. Hierfür wird die Inter Class Correlation (ICC) berechnet. Ein entsprechendes Null-Modell (vgl. dazu Tabelle A7.8) ergibt für freiwilliges Engagement als abhängige Variable einen ICC von 0.025 und einen Richtwert von 3.79.Footnote 18 Das deutet einerseits darauf hin, dass ein Mehrebenenmodell Sinn macht, dass andererseits aber gleichzeitig auch eine nicht allzu grosse Erklärungsleistung zu erwarten ist.

Das Mehrebenenmodell mit nur Individualfaktoren zur Erklärung von freiwilligem Engagement (vgl. Tab. A7.9) weist im Vergleich zum einfachen Regressionsmodell leicht differierende OR-Schätzungen aus (vgl. Tab. A7.10). Dies ist erklärbar mit der unterschiedlichen Behandlung der Gewichtungen innerhalb der Routinen für das einfache logistische Regressionsmodell und für das verallgemeinerte Modell innerhalb von SPSS.Footnote 19 Die markantesten Differenzen finden sich entsprechend bei jenen Faktoren, deren Ausprägung vor allem auch auf Zielpersonen der Überquotierungen innerhalb des Samplings des KONID Survey 2019 zurückzuführen ist.Footnote 20 Die Veränderungen sind aber insofern unproblematisch, als dass hier die OR hinsichtlich ihrer Aussagekraft robust bewertet werden. Ein Hintergrundeffekt bleibt ein Hintergrundeffekt und wird aufgrund einer veränderten Modellierung nicht plötzlich zu einem starken Effekt oder umgekehrt. Zudem rücken mit den Mehrebenenmodellen die Kontextfaktoren in den Vorder- und die Individualfaktoren in den Hintergrund.

Ergebnisse der Mehrebenenmodelle

Mit Blick auf diese Kontextfaktoren wurden im Anschluss an das Mehrebenenmodell mit nur Individualfaktoren sechs Mehrebenenmodelle mit Individual- und Kontextfaktoren gerechnet, wobei pro Modell ein bestimmter Kontextfaktor bzw. ein einzelnes Set an Faktoren hinzugenommen wurde (vgl. Abb. 7.6).

Abbildung 7.6
figure 6

(Anmerkungen: Grafische Darstellung der Odds Ratios mit 95 %-Konfidenzintervallen basierend auf sechs logistischen Mehrebenenregressionsmodellen mit gewichteten Daten und ausgeschlossenen Ausreissern; Vgl. dazu Tab. A7.11 und A7.12 im elektronischen Zusatzmaterial. Locker gestrichelte vertikale Linie bei .66/1.5: kleiner Effekt; dichter gestrichelte Linie bei .4/2.5: mittlerer Effekt; dicht gestrichelte Linie bei .25/4: starker Effekt. Alle nicht dichotomen Variablen standardisiert. Alle Variablen der Individualebene sind nicht dargestellt. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Kontexteffekte zur Erklärung freiwilligen Engagements.

Zunächst ist feststellbar, dass die religiöse Diversität bzw. die Diversitätsstruktur auch unter kontrollierten Bedingungen keinen Einfluss auf freiwilliges Engagement hat. Ebenfalls keinen Einfluss hat der kontextuelle Säkularisierungsgrad (gemessen anhand des Bevölkerungsanteils ohne Religionshintergrund). Es kann für die Schweiz also weder ein negativer Effekt (wie von Putnam beschrieben) noch ein positiver Effekte (wie es ihn gemäss Modernisierungstheoretiker:innen geben müsste) bestätigt werden.

Auch die Sprachregion sowie die ökonomische Leistung und Ungleichheit auf Kantonsebene weist keinen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement auf. Einzig die historische konfessionelle Prägung des Kontexts und die damit verbundene Sonderbundmitgliedschaft weisen einen Zusammenhang auf.

In historisch reformiert geprägten Kantonen ist freiwilliges Engagement ausgeprägter vorhanden als in katholisch geprägten Kantonen (OR = 1.41). Denselben Effekt sehen wir bei Kantonen, die zum Sonderbund gehörten (OR = .67): In diesen (katholischen) Kantonen ist freiwilliges Engagement weniger ausgeprägt. Dieser Effekt lässt sich nicht mit der historischen Zugehörigkeit zum Sonderbund erklären, sondern vielmehr mit der Differenz zwischen katholisch und reformiert geprägten Kantonen an sich. Konkret beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit, kontrolliert auf alle Individualfaktoren, sich freiwillig zu engagieren, in Kantonen, die nach Abschluss der Reformation katholisch geprägt waren, 44 %. Sie ist damit tiefer als in historisch reformiert geprägten Kantonen, in denen diese Quote 54 % beträgt. In gemischt-konfessionell geprägten Kantonen beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit, sich freiwillig zu engagieren, 52 %.

Wichtig ist nun einerseits zu sehen, dass dieser Zusammenhang, ausgehend von der historischen Pfadabhängigkeit, auch unter Kontrolle auf sprachregionale Unterschiede robust bleibt (vgl. Modell 1b in Tab. A7.11). Andererseits ist die Feststellung zentral, dass sich auch unter Kontrolle dieser Kontextbedingungen, insbesondere der historisch konfessionellen Prägung, die Zusammenhänge auf Individualebene nicht verändern. So ändern sich auch unter Kontrolle auf die historische Pfadabhängigkeit die Effektstärken, ausgehend von der religiösen Zugehörigkeit auf der Individualebene, nicht. Dieser Kontextfaktor steht für sich und hat keinen Einfluss auf den Effekt von Religionszugehörigkeit auf Individualebene. Es ist die historisch konfessionelle Prägung eines Gebiets als reformiert und nicht die reformierte Zugehörigkeit an sich, die einen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement aufweist.

Es ist also weder eine reformiert geprägte individuelle Beziehung zu Gott, die negativ auf freiwilliges Engagement einwirkt (wie von Coleman 1990, 321 argumentiert), noch eine mit dem protestantischen Individualismus einhergehende Selbstverantwortung, die positiv wirkt (wie Putnam, 2000 aber auch Traunmüller 2012, 59 ff., 209 und andere argumentieren). Entscheidend ist vielmehr ein Strukturmerkmal, das auf historischen Pfadabhängigkeiten gründet. Eine mögliche Erklärung hierfür ist die historische, sehr wohl auch ideologische Abwertung hierarchisch-klerikaler StrukturenFootnote 21 bei gleichzeitiger Aufwertung der Laienarbeit in den lokalen reformierten Kirchgemeinden (Liedhegener 2016a, 131). Die Aufwertung der Laienarbeit könnte dazu geführt haben, dass sich grössere Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen freiwilligen Engagements betätigen konnten und sich davon auch angesprochen fühlten. Dies bildete sich dann in entsprechenden vielfältigeren und weiter reichenden Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement ab, die potenziell bis heute wirken. Ob aber eine solche Kausalität besteht, kann hier nicht abschliessend beantwortet werden. Denn alternativ könnte es auch sein, dass es nicht die antiklerikale reformierte Haltung an sich war, die zur Aufwertung der Laienarbeit, zu vermehrtem freiwilligen Engagement und zu entsprechenden Strukturen führte. Ebenso könnte es an der Tatsache liegen, dass jene Regionen, die mehrheitlich reformiert waren, auch liberaler eingestellt waren, was sich in der Kulturkampfzeit des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Gründung des modernen liberalen Nationalstaats ganz besonders zeigte (Lang und Meier 2016).

Mit Blick auf Kontexteffekte ist zusammenfassend festzustellen, dass die historisch konfessionelle Prägung in einem Zusammenhang mit der Verbreitung von freiwilligem Engagement in der Gegenwart steht. Keine Effekte gehen vom kontextuellen Diversitäts- oder Säkularisierungsgrad und von der Sprachregion aus.

4 Fazit zu Religion, Religiosität und freiwilligem Engagement

Als Zwischenfazit lassen sich basierend auf den gefundenen Effekten drei Punkte festhalten, welche die erste Forschungsfrage «Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement?» beantworten (vgl. Abb. 7.7).

Abbildung 7.7
figure 7

(Anmerkungen: Grafische Darstellung der Determinanten für freiwilliges Engagement basierend auf Tab. A9.1. Dargestellt sind nur vorhandene Effekte. Dünne Linien: Hintergrundeffekte; mittel-dicke Linien: kleine Effekte; dicke Linien: mittlere und grosse Effekte. Linke Seite: Kontrollvariablen, rechte Seite: Variablen Religion und Religiosität. Abbildung: Eigene Darstellung)

Determinanten für freiwilliges Engagement im Überblick.

(1) Öffentliche religiöse Praxis hängt positiv mit freiwilligem Engagement zusammen

Religiosität hängt positiv mit freiwilligem Engagement zusammen, wobei dieser Effekt allein auf die religiöse öffentliche Praxis, das heisst auf den Besuch von Gottesdiensten, Gemeinschaftsgebeten oder anderen religiösen Feiern zurückzuführen ist. Personen, die monatlich oder häufiger öffentliche Rituale besuchen, sind auch deutlich häufiger freiwillig engagiert. Religionen bieten also Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement selbst, aber insbesondere wohl auch für die gesellschaftliche Koordination solcher Engagements. Ein darüberhinausgehender, sozialisierender Effekt der religiösen Zugehörigkeit, Überzeugung, Ausrichtung oder Erfahrung ist nicht belegbar.

(2) Historisch konfessionelle Prägung als Pfadabhängigkeit

Auf Kontextebene lässt sich ein Zusammenhang zwischen der historisch konfessionellen Prägung und freiwilligem Engagement belegen. Eine historisch konfessionelle reformierte Prägung des Kontexts hängt im Vergleich zu einer historisch konfessionellen katholischen Prägung positiv mit freiwilligem Engagement zusammen.

(3) Die Ausübung von freiwilligem Engagement ist voraussetzungsreich und selektiv

Die Ausübung von freiwilligem Engagement ist voraussetzungsreich und selektiv. Dabei spielen die Persönlichkeit, die zur Verfügung stehenden Ressourcen und insbesondere die persönliche Biografie eine Rolle.

So hängt eine extravertierte und offene Persönlichkeit positiv mit freiwilligem Engagement zusammen. Der Bildungsgrad als eine persönliche Ressource korreliert sodann ebenfalls positiv mit Engagement. Eher freiwillig engagieren sich ebenso Personen, die nur Teilzeit angestellt, in Ausbildung oder pensioniert sind und mehr zeitliche Ressourcen zur Verfügung haben, im Gegensatz zu Personen, die Vollzeit angestellt und entsprechend absorbiert sind. Negativ mit freiwilligem Engagement hängt eine materielle Deprivation zusammen, wenn ungenügende finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Biografisch hängt die Nutzung von Vereinsangeboten und entsprechende Aktivität in der Kindheit verhältnismässig stark positiv und eine direkte Migrationserfahrung (erste Migrationsgeneration) negativ mit freiwilligem Engagement zusammen.

Nachdem die erste Forschungsfrage beantwortet ist, wenden wir uns der zweiten und dritten Forschungsfrage im folgenden Kapitel 8 zu.