Die Zielsetzung des theoretischen Teils dieser Arbeit ergibt sich aus den ersten beiden Forschungsdesiderata des vorigen Abschnittes und liegt darin, eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchzuführen und damit funktionsklassenspezifische Grundvorstellungen zum Sinus zu begründen und zu formulieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in diesem Abschnitt eine Begriffsklärung vorgenommen und dargelegt, worum es sich bei Grundvorstellungen und mathematischen Darstellungen, die als Träger von Grundvorstellungen aufgefasst werden können, aus didaktischer Sicht handelt. Anschließend wird die Entwicklung der didaktisch orientierten Sachanalyse in der Mathematikdidaktik geklärt und damit klargestellt, was unter einer didaktisch orientierten mathematischen Sachanalyse verstanden werden kann. Abschließend wird aufgezeigt, wie die didaktisch orientierte Sachanalyse im Sinne des genetischen Prinzips umgesetzt werden kann.

3.1 Darstellungen mathematischer Objekte

Darstellungswechsel in der Mathematik situationsgerecht einzusetzen bzw. anzuwenden, sind entscheidende Fähigkeiten, die für die Ausbildung funktionalen Denkens notwendig sind (Bruner 1974; Duval 1993; Stölting 2008; Klinger 2018). Die flexible Verwendung unterschiedlicher Darstellungen kann außerdem zum Aufbau inhaltlicher Vorstellungen zu einem mathematischen Begriff beitragen (Prediger & Wessel 2013). Darüber hinaus zählt das Verwenden von mathematischen Darstellungen zu den allgemeinen mathematischen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler gemäß den Bildungsstandards (KMK 2012) am Ende ihr Schulzeit erworben haben sollten.

Im philosophischen Diskurs über die Grundlagendiskussion der Mathematik im frühen 20. Jahrhundert kommen Darstellungen mathematischer Objekte unterschiedliche Bedeutung zu. Diese Bedeutungen lassen sich im Kern auf die Frage zurückführen, ob mathematische Wahrheiten unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Denken existieren. Eine Frage, die der Intuitionismus verneint und ihr die Annahme entgegen stellt, dass Mathematik ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist und nicht darüber hinaus geht (Heyting 1931). In diesem Sinne ist die Menge der Darstellungen eines mathematischen Objekts gleich dem mathematischen Objekt selbst. Eine konträre Sichtweise vertritt Duval (2006), der den mathematischen Objekten im platonischen Sinne eine Existenz außerhalb der menschlichen Wahrnehmung zukommen lässt. Nach Duval birgt das Lernen von Mathematik in sich ein unüberwindbares Dilemma, welches darin begründet ist, dass die mathematischen Objekte, die Gegenstand des Erkenntnisinteresses sind, dem Geiste niemals unmittelbar zugänglich sind, sondern nur mittelbar, über Darstellungen, an uns gelangen. Die Darstellungen des Objektes können jeweils nur Aspekte erkennbar machen. Daher ist es wichtig, das mathematische Objekt nicht mit einer seiner Darstellungen zu verwechseln. In dieser Unterscheidung zwischen mathematischem Objekt und seiner Darstellung liegt laut Duval das entscheidende Problem und die Herausforderung für den Lernenden:

How can they distinguish the represented object from the semiotic representation used if they cannot get access to the mathematical object apart from the semiotic representations? (Duval 2006, S. 107)

Um die unterschiedlichen Darstellungen und das zugehörige mathematische Objekt voneinander zu unterscheiden und dadurch Klarheit darüber zu schaffen, wie mit Darstellungen umgegangen werden soll, führt Duval den Begriff des Registers ein. Register sind Darstellungssysteme in denen es erkennbare Regeln gibt, um Darstellungen zu bilden, Darstellungen umzuformen und Darstellung von einem ins andere Register zu übersetzen (Stölting 2008). Duval nutzt in seiner Arbeit beispielhaft das Register der natürlichen Sprache, der geometrischen Figuren, das formale Register und das Register der Graphen (Duval 2017). Prediger und Wessel (2013) unterscheiden zwischen dem verbalen, dem graphischen, dem symbolisch-algebraischen und dem symbolisch-numerischen Register. Bei den Darstellungen von Funktionen kann das Register der Tabellen hinzugezogen werden (Stölting 2008). Greefrath et al. (2016) Fassen die Darstellungsformen von Funktionen unter den fünf Begriffen Realsituation, Text, Tabelle, Term und Graph zusammen.

Neben den verschiedenen Registern, in denen ein mathematisches Objekt dargestellt werden kann, unterscheidet Duval (2006) zwischen dem Sinn und der Bedeutung einer Darstellung. Der Sinn einer Darstellung leitet sich maßgeblich von dem verwendeten Register ab und liegt darin, bestimmte Aspekte des mathematischen Objektes sichtbar zu machen. Die Bedeutung einer Darstellung bezieht sich auf das zu repräsentierende mathematische Objekt, das hinter dieser Darstellung steht. Funktionen werden beispielsweise oft analytisch durch einen Term dargestellt. Der Sinn dieser Darstellung liegt unter anderem darin, konkrete Werte der Funktion auszurechnen, mit denen wiederum Tabellen erstellt oder der Graph der Funktion skizziert werden können.

Der Begriff der Darstellungen steht im engen Zusammenhang zum Begriff der Vorstellungen. In beiden Fällen handelt es sich um Repräsentationen eines mathematischen Inhaltes. Bender (1991) schreibt zum Begriff der Vorstellungen folgendes:

Mit „Vorstellungen“ bezeichnet man traditionell (innere) anschauliche Repräsentationen eines Objekts, einer Situation, einer Handlung usw., deren sensorische Grundlagen im Langzeitgedächtnis gespeichert sind und die in bewussten Prozessen aktiviert werden. Dabei wird ein solcher Prozess auf einen bestimmten Sinn hin organisiert, den der Vorstellende schon als Ziel mit einbringt. (Bender 1991, S. 52)

Vorstellungen zählen aus deskriptiver Sicht zu den mentalen Repräsentationen, die vom Individuum konstruiert werden und in Hinblick auf ein bestimmtes Ziel aktiviert werden können. Bei Darstellungen handelt es sich vorwiegend um ikonische bzw. symbolische Repräsentationen, die in Form von Bildern oder Formeln vorliegen. Darstellungen können in diesem Sinne Vorstellungen aktivieren und dienen so als Vorstellungsträger. Dieser Zusammenhang spielt eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Grundvorstellungen. Im Folgenden wird auf den Begriff der Grundvorstellungen näher eingegangen.

3.2 Grundvorstellungen

Zur Klärung der individuellen Begriffsgenese von Lernenden leistet das Grundvorstellungskonzept einen entscheidenden Beitrag. Vom Hofe (1995) schreibt dazu:

In psychologischer Hinsicht erklärt die Annahme von Grundvorstellungen die individuelle Genese mathematischer Begriffe. In didaktischer Hinsicht dient die Beschreibung von Grundvorstellungen als Leitlinie zur Organisation von Mathematikunterricht. (vom Hofe 1995, S. 82)

Grundvorstellungen sind demnach einerseits dazu geeignet, um individuelle Lernprozesse zu erklären, andererseits haben sie eine strukturierende Komponente, die zweckmäßig dazu eingesetzt werden kann den Unterricht zu entwickeln.

Charakterisierung des Grundvorstellungskonzepts: Das Grundvorstellungskonzept lässt sich historisch auf zwei Wurzeln zurückführen: Die sogenannte Rechendidaktik und die studiumsvorbereitende Mathematikdidaktik nach Felix Klein (vgl. vom Hofe & Blum 2016). Dabei unterscheiden sich diese beiden Wurzeln insbesondere durch die von ihnen untersuchten mathematischen Inhalte. Das Grundvorstellungskonzept in der Rechendidaktik des 19. Jahrhunderts ist als solches dafür konzipiert worden, um Zahlen und Rechenoperationen eine inhaltliche Deutung zu geben (vom Hofe & Fast 2015). Die Weiterentwicklung der Rechendidaktik im 20. Jahrhundert führte dazu, dass der Anwendungsbereich von Grundvorstellungen zu einem Großteil in der Grundschule zu verorten war:

Der Anwendungsbereich liegt im Wesentlichen in der Grundschule und in den unteren Klassen der Mittelstufe. Ansätze, wie eine Genese von Grundvorstellungen bei höheren Inhalten aussieht, sind bislang nur wenige zu finden. (vom Hofe 1995, S. 101)

Das Grundvorstellungskonzept erlangte dadurch besonders im elementaren Arithmetikunterricht an Bedeutung. Zu elementaren Konzepten wie der Addition und Subtraktion, sowie zu etwas komplexeren Konzepten wie der Division, Multiplikation oder Bruchrechnung lassen sich anhand von konkreten Handlungserfahrungen wie das Zusammenfügen, Wegnehmen oder Aufteilen von Gegenständen, Grundvorstellungen konstruieren.

Parallel dazu entwickelte sich die studiumsvorbereitende Hochschuldidaktik nach Felix Klein (1924). Klein beabsichtigt in seinen Lehren mithilfe heuristischer Methoden Anschauungen zu mathematisch anspruchsvollen Begriffen, wie beispielsweise dem Integral, der Ableitung und Funktionen, bei den Lernenden aufzubauen. Er betont außerdem in seiner Arbeit die didaktische Relevanz mathematische Inhalte durch anschauliche Beispiele einzuführen und dadurch für den Lernenden greifbar zu machen. Dieser Ansatz wurde vermehrt zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und stellte damit einen Gegenpol zur axiomatisch geprägten schulischen Lehrpraxis der neuen Mathematik in den 1960er und 1970er Jahren dar. Heutzutage gibt es didaktische Arbeiten, die sich auf normativer und deskriptiver Ebene mit Inhalten der Sekundarstufe II beschäftigen. Untersuchungen befassen sich mit Grundvorstellungen zu Variablen (Malle & Wittmann 1993), Funktionen (Stölting 2008), Logarithmen (Weber 2016), zu Grenzwerten, Ableitungen und Integralen (Greefrath et al. 2016), zum Sinus (Frohn & Salle 2017), zu Gleichungen (Hischer 2020) und zur Exponentialfunktion (Katter & Alarcón Relmucao 2021). Diese Arbeiten identifizieren Mittel und Wege um komplexe mathematische Inhalte mit Sinn und Bedeutung zu füllen, indem sie an die Erfahrungen und das Vorwissen der Lernenden anknüpfen.

Vom Hofe (2003) sah in diesem Anknüpfen an bekannte Sachzusammenhänge einen wesentlichen Baustein für die Ausbildung von Grundvorstellungen und charakterisierte das Grundvorstellungskonzept durch drei zentrale Aspekte:

Erfassung der Bedeutung eines neuen mathematischen Begriffs, durch Anknüpfen an bekannte Sach- und Handlungszusammenhänge;

Aufbau entsprechender mentaler Modelle, die den Begriff auf der Vorstellungsebene repräsentieren;

Anwendung des Begriffs auf neue Sachsituationen (d. h. Modellierung). (vom Hofe 2003, S. 7)

Diese Charakterisierung vereinigt normative und deskriptive Aspekte auf die nun genauer eingegangen wird.

Aspekte von Grundvorstellungen: Die Entwicklung des Grundvorstellungskonzepts in Deutschland steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der pädagogischen und psychologischen Forschung in den Anfängen bis hin zur Mitte des 19. Jahrhunderts (vom Hofe & Blum 2016). Lange Zeit blieben Grundvorstellungen eine normative Kategorie, mit deren Hilfe fachlich geeignete Vorstellungen beschrieben wurden, die Lernende entwickeln sollen. Erst in den 80er Jahren, durch die wachsende Bedeutung von deskriptiven Studien in der Mathematikdidaktik, erweiterte sich das Grundvorstellungskonzept und wurde genutzt, um Unterrichtseinheiten zu analysieren oder Fehlermuster und Fehlvorstellungen von Lernenden zu diagnostizieren (vom Hofe 1995). Schließlich wurde durch die steigende Prominenz des Grundvorstellungskonzeptes die Konstruktion von Grundvorstellungen durch passende methodische Entscheidungen immer weiter in den Fokus gerückt. In Anbetracht dieser Entwicklung lassen sich drei Aspekte von Grundvorstellungen identifizieren (vom Hofe & Blum 2016):

  • Normativer Aspekt: Grundvorstellungen sind das Ergebnis einer stoffdidaktischen Analyse und beschreiben das, was sich Lernende unter einem mathematischen Begriff vorstellen sollen. Es handelt sich um fachlich adäquate Vorstellungen, die den mathematischen Kern eines Begriffs erfassen. Sie dienen Lehrenden als normative Leitideen zur Planung und Durchführung von Unterricht.

  • Deskriptiver Aspekt: Grundvorstellungen werden von Lernenden konstruiert. Sie beschreiben das, was sich Lernende tatsächlich unter einem mathematischen Begriff vorstellen und unterscheiden sich mitunter von den intendierten normativen Grundvorstellungen. Lehrende können mithilfe deskriptiver Methoden Grund- und Fehlvorstellungen von Lernenden diagnostizieren und Problemlöseprozesse analysieren.

  • Konstruktiver Aspekt: Die tatsächlich ausgebildeten Individualvorstellungen die unter dem deskriptiven Aspekt zusammengefasst werden unterscheiden sich mitunter von den normativ intendierten Grundvorstellungen. Der konstruktive Aspekt beschäftigt sich mit der Frage, worauf diese Divergenzen zurückzuführen sind und wie sie sich beheben lassen. (vgl. vom Hofe 1995, S. 116 f.)

Grundvorstellungen sind Teil eines mentalen Netzwerkes, das sich in einem stetigen Wandel befindet. Um geeignete Grundvorstellungen aufzubauen, muss das Vorwissen der Lernenden in passender Weise mit einbezogen werden. Der konstruktive Aspekt hilft bei der Suche nach geeigneten Methoden zur Konstruktion von tragfähigen Grundvorstellungen und vermittelt zwischen den normativ intendierten und den individuell konstruierten Vorstellungen.

Primäre und sekundäre Grundvorstellungen: Während sich das Grundvorstellungskonzept Ende des 20. Jahrhundert immer größerer Beliebtheit erfreute, stellte sich die Frage, für welche mathematischen Inhalte neben der elementaren Arithmetik es sinnvoll ist, um normative Grundvorstellungen zu identifizieren. So wurden Grundvorstellungen zur Ableitung, zum Integral, zu Funktionen und zu Variablen bestimmt. Dabei zeigte sich bei einigen Inhalten, dass die Verknüpfung mit realen Handlungskontexten nicht immer möglich ist und darüber hinaus nicht den intendierten Vorstellungen entspricht. Einige mathematische Konzepte, wie die Ableitung, das Integral oder die Logarithmusfunktion, werden oft innermathematisch motiviert (Weber 2013; Greefrath et al. 2016; Roos 2020). Während also die Sinnkonstruktion zu hinreichend elementaren Konzepten der Arithmetik anhand konkreter Handlungserfahrungen mit realen Gegenständen vollzogen werden kann, werden bei zunehmend komplexeren mathematischen Konzepten abstrakte Handlungen mit mathematischen und symbolischen Darstellungsmitteln benötigt. Um diesem wesentlichen Unterschied in der Konstruktion von Grundvorstellungen gerecht zu werden, wurde die Unterscheidung von primären und sekundären Grundvorstellungen vorgeschlagen (vom Hofe 1996; Hafner 2012; Weigand 2015; vom Hofe & Blum 2016).

  • Primäre Grundvorstellungen geben mathematischen Begriffen einen Sinn durch das Anknüpfen an gegenständliche Handlungserfahrungen.

  • Sekundäre Grundvorstellungen geben mathematischen Begriffen einen Sinn durch das Anknüpfen an mathematische Operationen mit symbolischen Objekten.

Konstruktion von Grundvorstellungen: Erst durch den Aufbau tragfähiger Grundvorstellungen ist es Lernenden möglich, die Welt mit den Mitteln der Mathematik zu beschreiben (Prediger 2010). Wie stark verankert eine Grundvorstellung ist, hängt maßgeblich vom Umfang und von der Häufigkeit der Aktivierung der zugrundeliegenden Handlungserfahrung bzw. der mathematischen Operation ab (vom Hofe & Fast 2015). Bei primären Grundvorstellungen können Lernende auf eine Vielzahl von Erfahrungen zurückgreifen, die bereits im Vorschulalter gemacht wurden. Die so erworbenen Grundvorstellungen bilden daher ein solides Fundament für mathematisches Arbeiten. Bei sekundären Grundvorstellungen müssen die Lernenden mit den entsprechenden Kontexten und Operationen erst vertraut gemacht werden. Dies kann dazu führen, dass diese Grundvorstellungen anfälliger für Fehlinterpretationen bzw. den Aufbau von Fehlvorstellungen sind. Eine Möglichkeit den Aufbau von Grundvorstellungen zu fördern, liefern Schulz und Wartha (2011) mit ihrem Vier-phasen-modell, bei dem der Prozess vom konkreten zum gedanklichen Handeln unterstützt wird. Prediger (2010) beschreibt den Lernprozess zum Aufbau von Grundvorstellungen durch ein Vier-Stufen-Modell. Auf der ersten Stufe werden mathematische Modelle zu lebensweltlichen Situationen aufgebaut. Auf der zweiten Stufe werden formale Fragen durch inhaltlich-anschauliche Begründungen geklärt. Auf der dritten Stufe wird ein interpretationsfreies Kalkül entwickelt. Auf der vierten Stufe können alle drei Stufen flexibel genutzt werden.

Die Konstruktion tragfähiger Grundvorstellungen ist kein „passiver statisch-abbildhafter, sondern ein aktiver dynamisch-operativer Prozess“ (vom Hofe 1995, S. 103) und sollte durch das Anknüpfen an bekannte Sachkontexte durch den Lehrenden bewusst unterstützt werden. In anderen Worten:

Grundvorstellungen zu einem Begriff entwickeln sich etwa, wenn sich Lernende mit Phänomenen befassen, durch die Aspekte des Begriffs erfahrbar werden. (Greefrath et al. 2016, S. 17)

Passende Phänomene zu einem mathematischen Begriff zu finden, die diesen zugänglich machen, wird umso schwieriger, je komplexer der mathematische Begriff ist. Das hat zur Folge, dass Grundvorstellungen im Primarbereich wesentlich elaborierter und besser durchdrungen sind als in der höheren Mathematik. Grundvorstellungen zu komplexen mathematischen Begriffen, wie beispielsweise der Ableitung, bauen auf beträchtlichen Vorkenntnissen auf und verzweigen sich sowohl nach unten als auch nach oben in mehrere Richtungen. Von besonderem Interesse sind in dieser Arbeit die allgemeinen Grundvorstellungen zu Funktionen, die im Folgenden näher erläutert werden.

Allgemeine Grundvorstellungen zu Funktionen: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Rahmen der Meraner Reform die Ausbildung des funktionalen Denkens zu einer der Hauptaufgaben des höheren Mathematikunterrichts erklärt (Klinger 2018). Seitdem wurde die Funktionenlehre aus verschiedenen didaktischen Perspektiven betrachtet und analysiert. Dabei spielte die Frage nach den Charakteristika funktionalen Denkens stets eine wichtige Rolle. Stoye (1983) entwickelt aus den unterschiedlichen Darstellungen einer Funktion als mengentheoretisches Konstrukt, Tabelle, Funktionsterm oder Graphen normative Vorstellungen, die als Vorgänger der charakteristischen Grundvorstellungen einer Funktion angesehen werden können. Er spricht von der kausalen Vorstellung, der kinematischen Vorstellung und der algorithmischen Vorstellung. Vollrath (1989) gibt diesen Überlegungen in seinem Artikel „funktionales Denken“ ein neues Gewand, indem er drei charakteristische Grundvorstellungen zu Funktionen vorstellt, die bis zum heutigen Tage in der Mathematikdidaktik Verwendung finden (Greefrath et al. 2016).

  • Die Zuordnungsvorstellung: Funktionen werden genutzt, um eine Zuordnung zwischen Werten und Größen herzustellen. Im Schulkontext findet sich diese Vorstellung in der Formulierung: Eine Funktion ordnet jedem x-Wert genau einen y-Wert zu. Diese Vorstellung des Funktionsbegriffes wird besonders deutlich, wenn Funktionen in Tabellen dargestellt werden, kann aber auch in anderen Darstellungen wiedergefunden werden. Situationen, in denen diese Vorstellung eine Rolle spielt, sind beispielsweise Datenerhebungen, wie Messungen in einem Experiment oder schlicht das Ausrechnen eines bestimmten Funktionswertes mithilfe des Funktionsterms.

  • Die Kovariationsvorstellung: Eine Funktion gibt an wie sich ein Wert in Abhängigkeit eines anderen Wertes verändert. Bei der Kovariationsvorstellung steht das Änderungsverhalten einer Funktion im Vordergrund. Das Änderungsverhalten exponentieller Funktionen lässt sich dadurch beschreiben, dass die Funktionswerte bei konstantem Zuwachs stets mit demselben Faktor multipliziert werden. Die Fläche eines Quadrates hingegen vervierfacht sich bei Verdopplung der Seitenlänge und periodische Funktionen reproduzieren in gleichen Abständen immer dasselbe Muster. Auch die Kovariationsvorstellung lässt sich auf verschiedenen Darstellungsebenen verdeutlichen.

  • Die Objektvorstellung: Eine Funktion wird als Objekt wahrgenommen, mit dem operiert werden kann und das globale Eigenschaften wie Symmetrien, Steigungsverhalten oder Periodizität aufweist. Lernende, welche die Funktion als Objekt verstehen, können den Funktionsgraphen im Koordinatensystem verschieben, strecken und stauchen oder sind auf formaler Ebene dazu in der Lage eine Funktion mit anderen Funktionen zu verknüpfen.

Diese Grundvorstellungen können auf alle Funktionsklassen angewendet werden. Für jede Funktionsklasse lassen sich allerdings charakteristische Sachzusammenhänge herausarbeiten, die für die Lernenden sinngebend sein können und damit als Ausganspunkt für die Formulierung normativer Grundvorstellungen dienen können.

Sinnkonstruktion: Was genau von einer Person als sinnvoll eingestuft wird, ist individuell und hängt von diversen persönlichen Merkmalen ab (Vorhölter & Vollstedt 2012). Sinn kann in vielen verschiedenen Bereichen konstruiert werden. Sinn kann sich durch einen persönlichen Nutzen ergeben, den ein Konzept im Alltag erbringt, wie beispielsweise die Division beim Aufteilen von Süßigkeiten unter Freunden. Sinn kann aber auch rein innermathematisch ohne Alltagsbezug gegeben werden, zum Beispiel durch den Gebrauch von Matrizen statt Gleichungssystemen. Auf der anderen Seite kann Sinn in nutzlosen, aber ästhetischen Objekten gefunden werden, wie bei Symmetrien in Mandalas. Was für eine Person Sinn ergibt, kann für eine andere sinnlos sein. Was ist also gemeint mit Sinngebung und wie wird diese vollzogen?

Die wichtigsten Faktoren bei der Sinnkonstruktion zu einem mathematischen Begriff sind die persönlichen Vorerfahrungen: „Schülerinnen und Schüler konstruieren ihren subjektiven und individuellen Sinn in Abhängigkeit von ihren Erfahrungen, Zielen und Wünschen“ (Vorhölter & Vollstedt 2012, S. 152). Dabei spielen sowohl persönliche Merkmale wie Fleiß, Motivation, Interesse oder mathematischer Denkstil, als auch persönliche Hintergrundmerkmale, etwa der sozioökonomische Status oder der kulturelle Hintergrund, eine zentrale Rolle (Vorhölter & Vollstedt 2012). Anhand empirischer Interviewstudien entwickeln Vorhölter und Vollstedt ein zweidimensionales Modell der Typologie von Sinnkonstruktionen. Dazu wurden die Kategorien Intensität der Individuumsbezogenheit sowie Intensität der Mathematikbezogenheit gewählt, welche jeweils drei Niveaus (hoch, mittel, gering) annehmen können. Durch einen anschließenden Vergleich der Sinnkonstruktionen wurden sieben verschiedene Sinnkonstruktionstypen ermittelt:

  • Erfüllung gesellschaftlich geprägter Anforderungen,

  • Aktive Auseinandersetzung mit Mathematik,

  • Effiziente und unterstützende Gestaltung von Unterrichtsprozessen,

  • Kognitive Selbstentwicklung,

  • Anwendungsrelevanz,

  • Wohlbefinden durch eigene Leistung,

  • Emotional-affektiv geprägte Entfaltung.

Diese Studie zeigt die Wichtigkeit affektiver und affirmativer Impulse beim Lernen mathematischer Inhalte. Vom Hofe schrieb dazu:

Das heißt nichts anderes, als dass der neu geschaffene Begriff eine individuelle Prägung hat, die mit Erfahrungen und Gefühlen zusammenhängt, die beim Lernen dieses Begriffs aktual waren. (vom Hofe 1995, S. 107)

Neben den stark aufs Individuum bezogenen Sinnkonstruktionstypen, wie die emotional-affektiv geprägte Entfaltung, gibt es auch Faktoren, auf die Lehrende einen direkteren Einfluss haben. Von besonderem Interesse sind in der vorliegende Studie die effiziente und unterstützende Gestaltung von Unterrichtsprozessen, welche auf Grundlage normativ geprägter idealtypischer Lernwege entwickelt werden können und die Anwendungsrelevanz des zu unterrichtenden Themas, welche durch die in der Sachanalyse herausgearbeiteten Anwendungskontexte in Abschnitt 4.4 begründet ist.

Grundkenntnisse und Grundverständnis: Zu jeder Grundvorstellung, die von einem Lernenden zu einem mathematischen Begriff konstruiert wird, kommt eine Reihe von Grundkenntnissen, die im Umgang mit dieser Vorstellung entwickelt werden sollten. Diese Grundkenntnisse umfassen technische Fertigkeiten wie die Arbeit mit formalen Werkzeugen der Mathematik, inhaltliche Deutungen symbolischer Elemente und die Herleitung von Zusammenhängen zu anderen Konzepten der Mathematik. Das Netz, bestehend aus verschiedenen Grundvorstellungen und deren Grundkenntnissen, wird auch als Grundverständnis eines mathematischen Begriffs bezeichnet (vom Hofe 2003). Weigand (2015) spricht in ähnlicher Weise vom Verständnis des Begriffsnetzes:

Ein Begriffsnetz kann zum einen die Beziehung zwischen verschiedenen Spezialformen des Begriffs aufzeigen […], zum anderen aber auch den Bezug eines Begriffs zu anderen Begriffen veranschaulichen. (Weigand 2015, S. 266)

Grundvorstellungen und fachliche Charakterisierungen: Zur Klärung des Zusammenspiels von Aspekten der formalen und der semantischen Ebene, beschäftigen sich Greefrath, Oldenburg, Siller, Weigand und Ulm (2016) mit fachlichen Aspekten und Grundvorstellungen eines mathematischen Begriffs (vgl. außerdem Roos 2020). Sie definieren fachliche Aspekte und Grundvorstellungen wie folgt:

Ein Aspekt eines mathematischen Begriffs ist ein Teilbereich des Begriffs, mit dem dieser fachlich charakterisiert werden kann.

Eine Grundvorstellung zu einem mathematischen Begriff ist eine inhaltliche Deutung des Begriffs, die diesem Sinn gibt. (Greefrath et al. 2016)

Diese Unterscheidung dient Greefrath et al. als Basis für eine didaktisch orientierte Sachanalyse des Ableitung- und Integralbegriffes, sowie als Diskussionsgrundlage für den Zusammenhang zwischen fachlichen Charakterisierungen und individuellen Vorstellungen eines mathematischen Begriffes. Was mit einer didaktisch orientierten Sachanalyse gemeint ist und wie sich Grundvorstellungen aus dieser ergeben können, wird im nächsten Abschnitt besprochen.

3.3 Die didaktisch orientierte Sachanalyse

Die Bedeutung einer didaktisch orientierten Sachanalyse lässt sich gut erkennen, wenn sie von einer reinen Sachanalyse abgegrenzt wird. Die reine Sachanalyse beschäftigt sich mit der logischen Struktur eines mathematischen Inhaltes und durchdringt den Inhalt auf fachlicher Ebene. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der didaktisch orientierten Sachanalyse in erster Linie um ein Hilfsmittel, das einen Überblick über die unterschiedlichen Facetten eines mathematischen Inhaltes liefert. Dazu gehören nicht nur fachliche, sondern auch didaktische Aspekte. Zu den didaktischen Aspekten gehört beispielsweise die individuelle Konstruktion von Bedeutung zu einem mathematischen Begriff, klassische Phänomene, die Konkretisierung mathematischer Inhalte im Schulunterricht oder typische Fehlermuster im Zusammenhang mit bestimmten mathematischen Inhalten. Der Ablauf einer solchen Analyse hängt stark vom untersuchten Inhalt und von den verfolgten Zielen ab. Dennoch lassen sich einige übergeordnete inhaltsunabhängige Prinzipien formulieren, die der didaktisch orientierten Sachanalyse einen Rahmen geben:

Die didaktische Analyse nach Klafki: Klafki (1958) unterscheidet zwischen dem Bildungsinhalt und dem ihm innewohnenden Bildungsgehalt. Ein Bildungsinhalt lässt sich vordergründig dadurch identifizieren, dass er in Lehrplänen auftaucht. Die Auswahl der Bildungsinhalte eines Lehrplans sollte allerdings bestimmte Kriterien erfüllen. Diese Kriterien fasst Klafki folgendermaßen zusammen:

Immer soll ein Bildungsinhalt Grundprobleme, Grundverhältnisse, Grundmöglichkeiten, allgemeine Prinzipien, Gesetze, Werte, Methoden sichtbar machen. Jene Momente nun, die solche Erschließung des Allgemeinen im Besonderen oder am Besonderen bewirken, meint der Begriff des Bildungsgehaltes. (Klafki 1958, S. 14)

Bevor sich Lehrende mit der Umsetzung der im Lehrplan gesammelten Inhalte beschäftigen, geht also immer eine didaktische Vorentscheidung voraus, bei der aus der Fülle an Inhalten eines Fachbereiches geeignete Bildungsinhalte ausgesucht und in den Lehrplan aufgenommen werden. Die Aufgabe des Lehrenden besteht nach Klafki in einem ersten Schritt darin, in den Bildungsinhalt einzudringen und die bildenden Momente eines Inhaltes herauszuarbeiten. Eine reine Sachanalyse wird diesem Eindringen in den Bildungsinhalt nicht gerecht, da es mitunter passieren kann, dass in ihr die spezifische pädagogische Aufgabe aus dem Blick verloren geht und der Lehrende eine „vorpädagogische-fachwissenschaftliche Analyse“ durchführt. Anschließend muss durch eine didaktische Analyse der Bildungsgehalt bestimmt werden.

Die didaktische Analyse soll ermitteln, worin der allgemeine Bildungsgehalt des jeweils besonderen Bildungsinhaltes liegt. Dabei erweist sich der Bildungsgehalt fast immer als ein „Geflecht von Beziehungen“, als „eine Zusammenhangsbestimmtheit, ein Relationskomplex, der selbst wiederum in größeren … Zusammenhang gestellt ist…“. (Klafki 1958, S. 14)

Die allgemeine Frage nach dem Bildungsgehalt strukturiert Klafki in fünf didaktische Grundfragen, die meist erst in der Praxis im Hinblick auf die jeweilige Schulklasse beantwortet werden können. Die Fragen sind nicht hierarchisch geordnet, müssen also nicht in einer bestimmten Reihenfolge beantwortet werden, sondern ergänzen sich und stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander.

  1. 1.

    Welchen größeren bzw. welchen allgemeinen Sinn- oder Sachzusammenhang vertritt und erschließt dieser Inhalt? Welches Urphänomen oder Grundprinzip, welches Gesetz, Kriterium, Problem, welche Methode, Technik oder Haltung lässt sich in der Auseinandersetzung mit ihm „exemplarisch“ erfassen?

  2. 2.

    Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt im Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er – vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen – darin haben?

  3. 3.

    Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder?

  4. 4.

    Welches ist die Struktur des (durch die Fragen 1 und 2 und 3 in die spezifische pädagogische Sicht gerückten) Inhaltes?

  5. 5.

    Welches sind die besonderen Fälle, Phänomene, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, frag-würdig, zugänglich, begreiflich, „anschaulich“ werden kann. (Klafki 1958, 15–20)

Diese Fragen lassen sich mithilfe der folgenden Stichwörter zusammenfassen: Sinnzusammenhang, aktuelle Bedeutung für die Lernenden, zukünftige Bedeutung für die Lernenden, Struktur des Inhaltes und typische Phänomene.

Die didaktisch orientierte Sachanalyse nach Kirsch: In den 70er und 80er Jahren wurden didaktisch orientierte Sachanalysen genutzt, um Inhalte zu strukturieren und für den Unterricht zugänglich zu machen (Vollrath 1987). Im „zugänglich machen“ eines mathematischen Inhaltes sieht Kirsch (1977) die Hauptaufgabe der didaktisch orientierten Sachanalyse und charakterisiert diese durch vier zentrale Aktivitäten:

  • Konzentration auf den Kern eines mathematischen Inhaltes

  • Miteinbeziehen von inhaltsnahen Phänomenen

  • Rückgriff auf das Vorwissen der Lernenden

  • Wechsel der mathematischen Darstellungen

Mit der Konzentration auf den Kern eines mathematischen Inhaltes meint Kirsch nicht die vollständige Axiomatisierung eines mathematischen Begriffs. Vielmehr geht es ihm um die geeignete Wahl einer mathematischen Definition, die dem Verständnis zuträglich ist, und nicht dem Vereinfachen der deduktiven Struktur nutzen soll, denn „strukturelle Vereinfachung kann den Zugang auch erschweren“ (Kirsch 1977, S. 152). Das Miteinbeziehen von inhaltsnahen Phänomenen ist insofern wichtig, da es aus lerntheoretischer Perspektive die Motivation der Lernenden fördert und dadurch ein besserer Lerneffekt erzielt wird. Dabei soll auch vor komplizierten Anwendungen nicht zurückgeschreckt werden, da „nach aller Erfahrung eine gewisse Kompliziertheit Schüler und Lehrer nicht so abschreckt wie übermäßige Abstraktheit.“ (Kirsch 1977, S. 153). Der Rückgriff auf das Vorwissen der Lernenden macht neue Lerninhalte für den Mathematikunterricht überhaupt erst zugänglich. Dieser Aspekt steht im Kontrast zur axiomatischen Einführung bestimmter Begriffe, wie sie in Mathematikvorlesungen gepflegt wird, die nicht zuletzt häufig mit der Aufforderung beginnen, alles zu vergessen, was man bisher über die Mathematik gelernt hat. Abschließend weist Kirsch auf die Wichtigkeit des Darstellungswechsels hin und kritisiert die rein formale mathematische Darstellung mancher Inhalte, bei denen die Schwierigkeit in der Formulierung und Symbolisierung steckt und nicht etwa in der Sache selbst.

Die didaktisch orientierte mathematische Sachanalyse nach Salle und Clüver: Salle und Clüver (2021) nutzen die didaktisch orientierte Sachanalyse um Grundvorstellungen als normative Leitlinie zu einem mathematischen Inhalt herzuleiten. Sie entwickeln ein sachanalytisches Vorgehen, bestehend aus fünf Schritten, das als flexibel zu durchlaufender Kreislauf verstanden wird. Dabei werden „Kernelemente der mathematischen Definitionen mit den Phänomenen in Beziehung gebracht“ (Salle & Clüver 2021, S. 11). Die einzelnen Schritte dieses Kreislaufs lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. 1.

    Bestimmung von Richtlinien für den Herleitungsprozess

  2. 2.

    Sachanalyse des mathematischen Begriffs und seiner Phänomene sowie Einbezug empirischer Ergebnisse

  3. 3.

    Formulierung konkreter Grundvorstellungen

  4. 4.

    Präzisierung des Bezugsrahmens

  5. 5.

    Feststellung und Bewertung der didaktischen Relevanz (Salle & Clüver 2021, S. 12)

Im ersten Schritt werden die Richtlinien bestimmt. Diese Richtlinien umfassen den Gültigkeitsbereich und den Bezugsrahmen der mathematischen Begriffe, zu denen Grundvorstellungen formuliert werden sollen. Der Gültigkeitsbereich eines Begriffs gibt dessen mathematische Reichweite an (Salle & Clüver 2021). Beispielsweise ist die Deutung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck nur für Winkel im Intervall \((0^\circ ,90^\circ )\) gültig. Der Bezugsrahmen gibt an, welche Vorkenntnisse notwendig sind, um eine Grundvorstellung aufzubauen. Eine grundlegende Deutung des Sinus am Einheitskreis setzt beispielsweise die Kenntnis des kartesischen Koordinatensystems voraus.

Die im zweiten Schritt durchzuführende Sachanalyse eines mathematischen Begriffs umfasst drei Teile. Der erste Teil bezieht sich auf die Identifikation und Analyse geeigneter Definitionen, womit die innere mathematische Struktur des Begriffs geklärt wird. Im zweiten Teil werden relevante Sachzusammenhänge gesammelt, die aus Anwendungszusammenhängen oder der historischen Entwicklung eines Begriffs entspringen. Zuletzt werden empirische Ergebnisse berücksichtigt, die Hinweise auf die Bedeutung bestimmter Sachzusammenhänge für Lernende geben. Nachdem diese drei Teile ausführlich beleuchtet wurden, werden schließlich die ausgewählten Definitionen und Phänomene miteinander verglichen und Klassen gebildet.

Ausgehend von diesen Klassen werden im dritten Schritt neue Grundvorstellungen formuliert. Im vierten Schritt wird der Bezugsrahmen einer formulierten Grundvorstellung evaluiert, in Verbindung zu anderen Grundvorstellungen gesetzt und gegebenenfalls angepasst. Im fünften Schritt wird die didaktische Relevanz der identifizierten Grundvorstellungen bewertet. Dazu wird beispielsweise überprüft, ob sich die Grundvorstellungen auch tatsächlich bei Lernenden nachweisen lassen oder ob sie hilfreich sind, um Denkprozesse zu rekonstruieren.

Die didaktische Phänomenologie nach Freudenthal: Ein zentraler Punkt in allen drei vorgestellten Verfahren liegt darin, typische Phänomene, die den mathematischen Begriff greifbar machen, miteinzubeziehen. Mit Phänomenen sind im Allgemeinen mathematische oder reale Zusammenhänge gemeint. Die Integration von Phänomenen in den Lernprozess spielt auch bei Freudenthal (1983) eine wichtige Rolle. In seiner didaktischen Phänomenologie geht es darum, ausgehend von den Phänomenen, eine Ordnung zu schaffen, welche durch die mathematischen Begriffe strukturiert wird.

What a didactical phenomenology can do is to prepare the converse approach: starting from those phenomena that beg to be organised and from that starting point teaching the learner to manipulate these means of organising. (Freudenthal 1983, S. 32)

Vollrath (1987) weist daraufhin, dass eine didaktische Sachanalyse in die didaktische Phänomenologie nach Freudenthal eingebettet werden kann und ihr dadurch ein Fundament verschafft wird.

Innerhalb einer didaktischen Phänomenologie erhält die didaktische Sachanalyse die Aufgabe, die mathematische Tragfähigkeit bestimmter Vorstellungen zu überprüfen und Zusammenhänge und logische Abhängigkeiten deutlich hervortreten zu lassen. (Vollrath 1987, S. 251)

Um den Kern eines mathematischen Begriffs zu bestimmen, ist es also denkbar in einem ersten Schritt möglichst viele Anwendungskontexte zu bestimmen, in denen dieser mathematische Begriff eine Rolle spielt. In einem zweiten Schritt werden diese Anwendungskontexte geordnet und miteinander verglichen. Können Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Kontexten festgestellt werden, wird im dritten Schritt aus diesen Kontexten eine Klasse gebildet und anschließend überprüft, wie der mathematische Kern dieser Klasse beschrieben werden kann. Dieses Vorgehen kann zum Auffinden von Grundvorstellungen genutzt werden. Greefrath et al. schreiben dazu:

Die didaktische Phänomenologie kann als Leitlinie für die Entwicklung von Grundvorstellungen zu Begriffen dienen. Dabei geht es Freudenthal nicht um das Lehren eines in irgendeiner Weise abstrakt vorhandenen Begriffs, der durch unterschiedliche Darstellungen veranschaulicht oder mit Phänomenen erklärt wird, sondern er möchte ausgehend von Phänomenen Vorstellungen über Begriffe aufbauen. Phänomene sind die Ausgangspunkte für das Lehren und das Lernen. (Greefrath et al. 2016, S. 43)

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die didaktisch orientierte Sachanalyse stets darauf bedacht ist Sachzusammenhänge aufzufinden, die als Grundlage dienen können, um geeignete Vorstellung aufzubauen. In dieser Hinsicht erinnert die didaktisch orientierte Sachanalyse an Vorgehensweisen genetischer Lehrmethoden, bei denen die Erfahrungen und das Vorwissen der Lernenden besonders berücksichtigt werden. Daher wird im nächsten Abschnitt das genetische Prinzip vorgestellt und auf dieser Grundlage ein möglicher Ablauf für eine didaktisch orientierte Sachanalyse entwickelt.

3.4 Das genetische Prinzip

Das genetische Prinzip bezeichnet in der Mathematikdidaktik eine Unterrichtsmethode zum Lehren mathematischer Inhalte. Der Begriff „genetisch“ lässt sich vom griechischen Wort γένεσ\(\iota \varsigma\) (Genesis) ableiten, welches Herkunft/Ursprung bedeutet. Zu einem der wichtigsten Vertreter des genetischen Lernens gehört Martin Wagenschein, der lange Zeit als Mathematik- und Physiklehrer, aber auch in der Lehrerausbildung an Studienseminaren und Hochschulen tätig war und als solcher wichtige Beiträge zur Didaktik der Mathematik und Physik geleistet hat. Wagenschein kennzeichnet seine genetische Lehrmethode mit den drei Worten genetisch-sokratisch-exemplarisch (Wagenschein 1966). Dieser Methode folgend, sollen mathematische Inhalte im Unterricht exemplarisch durch reale Phänomene eingeführt werden. Die mathematische Theorie wird als Endprodukt eines Verstehensprozesses gesehen, der sich primär mit erfahrbaren Gegebenheiten beschäftigt. Statt, wie es in der Fachmathematik üblich ist, ein Theoriekonstrukt erst axiomatisch einzuführen und dann anhand von Beispielen zu erläutern, geht es bei der genetischen Methode darum, die Theorie aus alltäglichen Problemen und Phänomenen zu entwickeln. Der Lernende nimmt bei einer genetisch orientierten Unterrichtsreihe die Rolle eines Entdeckers ein, der selbstständig Antworten auf die von ihm aufgeworfenen Fragen finden soll. Der Lehrende hingegen fungiert als Begleitperson, die ähnlich wie in einem sokratischen Dialog die Gedanken des Lernenden auf wesentliche Aspekte eines Problems lenkt, und ist nicht nur der Vermittler statischen Wissens. Wagenschein schreibt dazu:

Ein genetischer Lehrgang nun wird etwa dieselben Tatsachen und Theorien – nicht „bringen“, sondern – entdecken lassen. Er meint die eigentliche, die lebende, nicht die ihre Funde sichernde und zur Nutzung übersichtlich verwaltende Wissenschaft. Er verlässt sich darauf, „dass uns die Betrachtung der Natur zum Denken auffordert“. (Wagenschein 1966, S. 334)

Vom Hofe beschreibt das genetische Prinzip weiter wie folgt:

Das genetische Prinzip stellt der Ansicht, Lerninhalte seien im Unterricht als Fertigprodukt vom Lehrer zu vermitteln, die Überzeugung gegenüber, dass sich Wissen und Fähigkeiten nur über eigenständige Lernprozesse in aktiver Auseinandersetzung mit den Lerninhalten entwickeln können. (vom Hofe 1998, S. 260)

In diesem Sinne eignet sich das genetische Prinzip, um den Lernenden die erste wintersche Grunderfahrung zu ermöglichen und „Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen“ (Winter 1996, S. 35). Möller (2001) unterscheidet weiter drei Aspekte der genetischen Methode: den individual genetischen, den historisch genetischen und den logisch genetischen Aspekt:

Der individual genetische Aspekt berücksichtigt den individuellen Wissensaufbau durch eigenständige Denkprozesse. Hier stehen die kognitive Entwicklung der Lernenden und die Genese des Wissens im Individuum im Vordergrund. Bei einer Unterrichtsplanung mit einem Fokus auf den individual genetischen Aspekt ist die Berücksichtigung des Vorwissens und Entwicklungsstandes der Lernenden von hoher Wichtigkeit. Bei der individuellen Genese kann außerdem zwischen der normativ intendierten Genese, die sich in den idealtypischen Lernwegen der Schulcurricula widerspiegelt und der individuell konstruierten Genese, die sich bei jedem Individuum unterschiedlich vollzieht, unterschieden werden.

Der historisch genetische Aspekt beschäftigt sich mit der geschichtlichen Entwicklung der Mathematik als Wissenschaft. In der Praxis kann es leicht passieren, dass bei einem historisch genetischen Unterrichtsentwurf die individual genetische Konstruktion von Wissen durch den Fokus auf die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft überschattet wird. Genetisch unterrichten bedeutet also nicht zwangsläufig die Geschichte zu unterrichten, dennoch kann der geschichtliche Werdegang eines mathematischen Begriffs einen genetischen Zugang begünstigen.

Der logisch genetische Aspekt eines mathematischen Inhaltes bezieht sich auf die Darstellung des Lehrgebiets innerhalb der Fachdisziplin Mathematik. Diese Art der genetischen Methode zeigt sich in mathematischen Fachvorlesungen, in denen ein Begriff deduktiv aus den vorher bewiesenen Sätzen und Axiomen hergeleitet wird. Diese Darstellung hat oft nur geringfügig mit der historischen Entwicklung zu tun. Auch die individual genetische Entwicklung wird häufig außer Acht gelassen. Es geht hier primär darum, ein konsistentes formales System aufzubauen, in das der Begriff fachlich korrekt eingebettet werden kann.

Diese drei Aspekte des genetischen Prinzips eignen sich als Grundlage, um eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchzuführen und damit Grundvorstellungen zu einem mathematischen Begriff zu identifizieren (vgl. Abbildung 3.1). Im Falle des Sinus werden die Phänomene die den Sinusbegriff erfahrbar machen, in den folgenden Abschnitten zusammengetragen. Dies geschieht strukturiert in den Darstellungen der historischen, logischen und individuellen Genese. In einem nächsten Schritt werden die so gefundenen Sachzusammenhänge den Darstellungen der Sinusfunktion zugeordnet. Anschließend werden ausgehend von dieser Ordnung Klassen gebildet, durch die Aspekte des mathematischen Begriffs erfahrbar werden. Schließlich werden konkrete Grundvorstellungen formuliert

Abbildung 3.1
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Ablauf der didaktisch orientierten Sachanalyse

Der erste Schritt der didaktisch orientierten Sachanalyse umfasst die Abschnitte 4.1, 4.2, 4.3 und 4.4. Schritt zwei wird in Abschnitt 4.5 bearbeitet. Schritt drei und vier finden gemeinsam in Abschnitt 4.6 statt. Zu jeder gebildeten Klasse wird anschließend eine konkrete Grundvorstellung formuliert.