Zwar bestehen verschiedene praxisnahe und theoretische Überlegungen zu Peacebuilding und der Zivilen Konfliktbearbeitung. Aber es gibt keine explizite Theorie für beide Konzepte und nur wenig umfassende und kritische Diskussionen dazu. Die Verwendung der Begriffe unterscheidet sich erheblich und je nach dem Kontext, in dem sie verwendet und diskutiert werden.

Dieses Kapitel erarbeitet einen konzeptionellen Rahmen, indem es verschiedene theoretische Überlegungen zu Peacebuilding und insbesondere zur Einbeziehung lokaler Akteur*innen diskutiert. Die hier dargestellten theoretischen Konzepte sind im Sinne der Methode als Werkzeugkasten zu verstehen, um anschließend darstellen zu können, wie die theoretische, normative Ebene in der Praxis aussieht. Generell gelten die theoretischen Konzepte als Erwartungshorizont, der den Blick für die eigentliche Forschung schärft.

3.1 Liberaler Frieden – von der Entstehung zur Kritik

Das konzeptionelle, theoretische Argument dieser Arbeit basiert weitestgehend auf der kritischen Betrachtung des liberalen Friedens. Dieser wird zwar überwiegend von den Vereinten Nationen (VN) verfolgt (Paris, 2010), kommt aber trotz großer Kritik auch bei anderen Akteur*innen zur Anwendung. Mit seiner neoliberalen Agenda stellt er eine Art allgemeines Framework für Friedensarbeit dar. Um zu verstehen, warum es immer wieder zu einer Kritik dieses Ansatzes kommt, ist es wichtig, ihn zunächst zu verstehen. Dazu werden in einem ersten Schritt klassische liberale Ansätze diskutiert. In einem zweiten Schritt werden Bezüge zu liberalen Friedensansätzen hergestellt, um dahinterliegende Mechanismen und Ansätze zu verstehen.

3.1.1 Die Ursprünge des liberalen Friedens

Spätestens mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Eindämmung des Kommunismus und damit einhergehend mit dem Wegfall möglicher Alternativen zum westlichen Liberalismus hat das liberale Denkmodell auch in Friedensmissionen Einzug gehalten (Paris, 1997, 62 ff.). Der Ansatz beruht auf der Annahme, dass Frieden in und zwischen Staaten durch DemokratieFootnote 1 (mit liberaler Regierung) und durch ein an der Marktwirtschaft ausgerichtetes Verhalten bewahrt werden kann.

Diesem liberalen Denkmodel, und damit auch dem liberalen Frieden, liegt das sogenannte Theorem des demokratischen Friedens zugrunde. Demnach führen liberale Demokratien gegeneinander keine Kriege, und sie werden grundsätzlich sowohl nach innen als auch nach außen als ein Garant für Sicherheit angesehen. Diese Idee des demokratischen Friedens geht zurück auf Immanuel Kants Werk „Zum ewigen Frieden“ (Kant, 2005). Dabei geht Kant davon aus, dass Staaten mit einer am Republikanismus ausgerichteten Verfassung, welche der eines heutigen repräsentativ-demokratischen Rechtsstaats gleichkommt, friedlich miteinander umgehen.Footnote 2 Dabei begründet Kant die Friedlichkeit von Demokratien unter Abwägung der Kosten und Nutzen von Kriegen. So sieht Kant zwar die Möglichkeit, dass Kriege zum Beispiel im Interesse von politischen Machthaber*innen sind, welche keiner Rechtfertigungspflicht unterliegen, nicht jedoch im Interesse der Staatsbürger*innen. Dies führt Kant darauf zurück, dass die Staatsbürger*innen, sprich die Bevölkerung, hohe Kosten wie zum Beispiel ihr Eigentum oder ihr Leben in einem Krieg riskieren (Kant, 2005, 12 f.). Da in einer Demokratie die Macht beim Volk liegt, lässt sich daraus schlussfolgern, dass aus dem reinen Eigeninteresse der Bürger*innen heraus keine Kriege geführt werden und eine friedliche, kriegsvermeidende Politik geführt wird (Habermas, 1997, S. 120). Kant benennt also das Interesse der Bürger*innen und ihrer repräsentativen, gewählten Vertretung als Friedensursache. Er identifiziert den demokratisch-republikanischen Entscheidungsprozess als den Mechanismus, der dieses Prinzip schließlich in außenpolitische Entscheidungen einfließen lässt (Czempiel, 1996, S. 80). Außerdem sieht Kant die Steigerung des eigenen Wohlstands als wichtige Priorität von Akteur*innen, die sich in Handelsbeziehungen zu anderen Akteur*innen befinden. Nach Kant können jedoch Krieg und Handel nicht gemeinsam bestehen, was ihm zufolge den Wunsch der Bevölkerung erneut bestätigt, Kriege zu verhindern (Kant, 2005, S. 33).

Zusätzlich betont Kant als wichtige Bedingung für Frieden einen Friedensbund, bei Kant Foedus Pacificum (Kant, 2005, 18 f.), welchen er als eine Art permanentes, zwischenstaatliches Vertragssystem der republikanischen Staaten sieht.Footnote 3

„Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustand, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden“ (Kant, 2005, S. 20).

Dieser Friedensbund kann dadurch funktionieren, dass eine Republik andere Staaten dazu anregt, ihr politisches System auf die gleiche Art und Weise zu organisieren. Kant hatte somit schon 1795 den Idealtypus einer internationalen Organisation begründet, welche 1919 als Völkerbund und 1945 in Form der Vereinten Nationen schließlich Realität wurde (Höffe, 1995). Dieser Zusammenschluss kann dabei helfen, die Sicherheit zwischen Staaten allgemein zu erhöhen. Dies ist auf den institutionalisierten Kontakt zwischen den Staaten, verbunden mit einem Gewaltverbot, und die damit einhergehende gegenseitige Existenzgarantie zurückzuführen (Czempiel, 1996, S. 96). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Kants Demokratie-Frieden-Theorem auf drei Pfeilern basiert: Demokratie, wirtschaftlicher Handel und eine internationale Institution, welche (Russett & Oneal, 2001, S. 35) in einem Friedensdreieck zusammenfassen.

Es ist weitgehend akzeptiert, dass Demokratien friedlich zueinanderstehen, weniger in Kriege verwickelt sind (Benoit, 2016; Czempiel, 1996; Rummel, 1997), seltener zwischenstaatliche Konflikte initiieren und sich für friedliche Konfliktlösungen engagieren (Russett & Oneal, 2001, 95 f.). Dennoch ist es fraglich, ob sie auch generell als friedlicher gelten können, oder ob es nicht auch einen demokratischen Krieg geben kann (Brock, 2006, 2018 ff.; Geis et al., 2006). Betrachtet man demokratische Staaten und ihr Verhalten in Kriegen, ist festzustellen, dass die Anzahl von bewaffneten Konflikten zwischen Demokratien seit dem Jahr 1816 statistisch gesehen gegen Null geht (Doyle, 1986, 1153 ff.; Russett, 1993) und es eine Art liberale Friedenszone gibt. Diese Beobachtung führt erneut zu Kant und den Demokratisierungstheorien. Sie basieren auf der Annahme, dass die Herausbildung und Förderung der Demokratie als außenpolitisches, friedensbringendes Mittel genutzt werden kann, wenn Demokratien keine Kriege gegeneinander führen. Diesen theoretischen Annahmen steht der empirische Befund gegenüber, dass Demokratien auch Kriege führen und sogar beginnen, meist gegen nicht demokratische Staaten (Brock, 2006, S. 205; Exo, 2017, S. 92; Geis, 2001, S. 282). Aus den Feststellungen ergeben sich zwei Strömungen in der Debatte um den demokratischen Frieden. So gehen die monadischen Ansätze von einer kompletten Friedfertigkeit von Demokratien aus. Der monadische Ansatz hat jedoch nur wenige Vertreter*innen. Dyadische Ansätze hingegen gehen davon aus, dass der Frieden nur untereinander besteht und nicht automatisch für nicht demokratische Saaten gilt (Russett & Oneal, 2001, S. 46).

Die Frage, woher dieses „paradoxe“ Verhalten von Demokratien, diese AntinomienFootnote 4 kommen, also warum es diesen „Doppelbefund“ (Geis, 2001) gibt, lässt sich durch strukturelle, normative und sozialkonstruktivistische Erklärungsansätze beantworten. Dabei gehen strukturelle Erklärungsansätze davon aus, dass die Entscheidungsfindungsprozesse in demokratischen Staaten eine schnelle Eskalation von Konflikten verzögern und es ebenfalls Vorbehalte der Entscheidungsträger*innen gegenüber einem Krieg gibt, da sie für ihn verantwortlich gemacht werden können (Schwehm, 2010, S. 284). Dieser Erklärungsansatz bezieht auch die Kant’sche Erklärung mit ein, dass eine politische Partizipation der Bürger*innen, welche sich in der Regel gegen einen Krieg entscheiden, eskalationsverzögernd wirken kann (Mesquita et al., 1999). Ein weiterer Erklärungsansatz liefert die schon von Kant eingeführte Abwägung von Kosten und Nutzen eines Krieges (Rauch, 2005, S. 31). Die Wichtigkeit dieses Ansatzes zeigt sich schon darin, dass demokratische Staaten offen in gesellschaftlichen Diskursen über diese Kosten und Nutzen diskutieren (Layne, 1994, S. 9). Normative Erklärungsansätze gehen davon aus, dass für eine Demokratie die eigenen demokratischen Normen von so inhärenter Bedeutung sind, dass diese externalisiert werden und dadurch anderen (demokratischen) Staaten mit Vertrauen und Respekt begegnet wird. Die inneren Handlungen werden nach außen übertragen (Dixon & Paul, 2002; Owen, 1994; Risse-Kappen, 1995, S. 501) und eine wechselseitige Friedfertigkeit (Müller 2002) herrscht vor. Es wird davon ausgegangen, dass die gleichen demokratischen Normen und Vorstellungen vorliegen und somit Konflikte eher mit Nicht-Demokratien vorzufinden sind (Maoz & Russett, 1993, S. 625). Sozialkonstruktivistische Erklärungen gehen davon aus, dass die Friedlichkeit zwischen Demokratien nicht auf die demokratische Qualität eines Staates oder die vorhandenen Normen zurückzuführen ist, sondern darauf, dass sich Demokratien als gleichartig wahrnehmen und es eine Art kollektive Identität gibt (Risse-Kappen, 1995).

Neben diesen Erklärungsansätzen gibt es auch theoretische Debatten, welche den demokratischen Frieden stark kritisieren. Diese stützen sich auf die Annahme, dass historisch betrachtet auch Demokratien Kriege miteinander geführt haben. Sie argumentieren, dass Statistiken zu Krieg und Frieden immer auch Interpretationssache sind und zum Beispiel von Definitionen wie Demokratie und Krieg abhängen (Spiro, 1994, 203 ff.). Weitere Kritikpunkte sind, dass der demokratische Frieden in der Regel nicht in Bezug zu anderen friedlichen Staatsformen betrachtet wird (Gowa, 1994; Mansfield & Snyder, 1995) und dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Demokratie, Krieg und Frieden gibt und dieser sich nicht systematisch erklären lässt (Daase, 2004, S. 54; Small & Singer, 1976).

Diese Forschung nimmt in der Debatte um den demokratischen Frieden eine kritische, sozialkonstruktivistische Haltung ein. Damit einhergehend ist ein Machtgefälle zwischen den Staaten zu beobachten, welches für die weitere Darstellung relevant ist. Nicht demokratische Staaten werden oft als eine Bedrohung für die Demokratie wahrgenommen (Müller, 2008, 42 f.). Diese imaginäre Grenzziehung zwischen den „friedliebenden Demokratien“ und den nicht friedlichen anderen Staatsformen bietet in der Praxis oftmals eine Rechtfertigung für potenzielle Gewaltanwendung (Müller, 2004, S. 39), aber auch für friedenskonsolidierende Einsätze, um die Länder zu befrieden und um eine demokratische Transformation einzuleiten. Somit legitimiert der von meist westlichen Staaten angestrebte demokratische Staatsaufbau in Post-Konfliktgesellschaften unter Einbezug des Begriffs Peacebuilding militärische und humanitäre Interventionen. Diese Eingriffe werden im Folgenden betrachtet.

3.1.2 Die (praktische) Umsetzung des liberalen Friedens

„Democracy promotes cooperation and peaceful conflict resolution internationally through (1) its domestic legitimacy and a accountability, (2) institutional checks and balances, (3) the transparency that emerges from free communication and political competition, (4) the credibility of its international agreements, and (5) its sensitivity to the human and material costs of violent conflict“ (Russett & Oneal, 2001, S. 79).

Diese Annahme des demokratischen Friedens hat einzelne Staaten, aber insbesondere auch die Staatengemeinschaft und die UN (United Nations) dazu veranlasst, Demokratie als friedensfördernde Maßnahme einzusetzen. Der Trend begann mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, dem dadurch aufkommenden Siegeszug der Demokratie und der Entstehung eines neuen Idealtypus (Paris, 2002, S. 638). Spätestens durch Boutros-Ghali’s Agenda for Democratization (Boutros-Ghali, 1996) und die damit einhergehende Übernahme von Verantwortung für Demokratisierung durch die UN, um internationalen Frieden zu bewahren, wurde der Trend nochmals verstärkt und in der Praxis vermehrt umgesetzt. Somit wurden die Peacebuilding-Einsätze der UN ab den 1990er Jahren vermehrt unter dem Paradigma des liberalen Friedens durchgeführt. Sie verfolgten das Ziel, Frieden durch politische und wirtschaftliche Liberalisierung zu erreichen (Paris, 1997, S. 63). Eine Konzeptualisierung dieses Handelns und eine Legitimationsgrundlage wurde durch die Agenda for Peace (United Nations, 1992) geschaffen. Sie umfasst einen breiten Aufgaben- und Anwendungskatalog, legte jedoch den Fokus immer wieder auf Demokratisierungsprozesse: „There is an obvious connection between democratic practices […] and the achievement of true peace and security in any new and stable political order. These elements of good governance need to be promoted at all levels of international and national political communities“ (United Nations, 1992).

Um diesen Trend besser einordnen zu können, ist es zunächst wichtig, sich verschiedene Ansätze (in der Literatur auch oft Säulen genannt) von Peacebuilding anzuschauen, welche sich im Idealfall wechselseitig verstärken und gegenseitig fördern sollen. Dies sind erstens sicherheitspolitische Aspekte wie etwa Maßnahmen zur Abrüstung, Demobilisierung oder eine Reform des Sicherheitssektors. Zweitens politische Aspekte wie zum Beispiel die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Änderungen in der Verfassung oder die Förderung von Menschenrechten. Drittens sozio-ökonomische Aspekte, die in der Regel zum Wiederaufbau im Sinne der Infrastruktur, aber auch der Wirtschaft und des Bildungssektors beitragen und viertens psycho-soziale Aspekte, welche beispielsweise Versöhnungsprozesse und die Reintegration von Kindersoldat*innen beinhalten (Barnett et al., 2007; Ferdowsi & Matthies, 2003; Matthies, 2002; Schneckener, 2005; Smith, 2004). Dabei zeigt die Praxis, dass die verschiedenen Säulen oft nicht trennscharf zu betrachten sind und es zu einer Gleichzeitigkeit der Säulen kommen kann (Schneckener, 2005). Auch lässt sich feststellen, dass ein gewisser Konkurrenzkampf der einzelnen Ausprägungen stattfindet, da Ressourcen und Mittel knapp bemessen sind. In allen Säulen handelt es sich dabei um Reformprozesse in den verschiedenen Bereichen, welche auf Grundlage einer bestimmten Strategie verfolgt werden. Hinter dieser Strategie stehen bestimmte Annahmen über den Konflikt, die beteiligten Parteien, den Nutzen und den Anwendungsbereich des Peacebuilding. Diese Annahmen gehen von dem*der jeweiligen eingreifenden beziehungsweise externen, durchführenden Akteur*in aus. Dabei lassen sich die Säulen verschiedenen Strategien zuordnen, welche die unterschiedlichen Prioritäten der Peacebuilding-Einsätze aufzeigen (Schneckener, 2005, 23 ff.). Dies sind 1. die Liberalization-first-Strategie, welche Wahlen und Wirtschaftsreformen in den Vordergrund stellt, 2. die Security-first-Strategie, welche den Fokus auf Reformen des Sicherheitssektors und Reintegration legt, 3. die Institutionalization-first-Strategie mit einem Schwerpunkt auf den Aufbau staatlicher Institutionen und 4. die Civil-society-first-Strategie, bei der die Förderung zum Beispiel von CSOs im Zentrum steht. Da das implizite Ziel der meisten Peacebuilding-Missionen allerdings „die Schaffung marktwirtschaftlich organisierter liberaler Demokratien nach dem Vorbild der OECD-Welt“ (Schneckener, 2005, S. 22) ist, wird deutlich, dass ein Schwerpunkt klar auf der Liberalization-first-Strategie liegt. Dabei ist diese Strategie als „the dominant form of peacemaking and peacebuilding favored by leading states, international organizations and international financial institutions“ (Mac Ginty, 2010, S. 391) zu bezeichnen.

Die in der Praxis oft in den Vordergrund gestellte Liberalization-first-Strategie ist theoretisch im Liberal Peace zu verorten und zeigt sich immer wieder in der praktischen Umsetzung von Friedensarbeit. „Underpinned by specific interpretations of liberal ideas, the liberal peace is the ‘software’ that drives the ‘hardware’ of many international organizations, states and international nongovernmental organizations“ (Mac Ginty, 2010, S. 396). Ein Hauptargument des sogenannten liberalen Friedens ist dabei, dass demokratische Veränderungen des politischen Systems und transnationaler Handel zur Befriedung beitragen können (Paris, 2004, S. 41). Unter dem Postulat des liberalen Friedens lassen sich verschiedene Handlungen und Mechanismen zusammenfassen, welche meist von externen Akteur*innen aus dem Globalen Norden durchgeführt werden, und die langfristig zu einem demokratischen Frieden in Post-Konfliktgesellschaften führen sollen. Der Frieden soll dabei durch vordefinierte Ziele erreicht werden. Dazu zählen in der Regel eine Reform des Sicherheitssektors, die Schaffung einer konstitutionellen Demokratie, die Förderung der Menschenrechte, die Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, eine liberale Entwicklung der Wirtschaft (Etablierung einer freien Marktwirtschaft) und die Förderung einer lebhaften Zivilgesellschaft (Richmond, 2015; Wolff, 2011, S. 228).

Besonders aus dem Blickwinkel des liberalen Friedens bietet das Ende eines Konfliktes somit für das jeweilige betroffene Land die Möglichkeit, sich komplett zu verändern und Reformen auch in der Gesellschaft durchzusetzen. Dabei ist ebendiese Transformation oft das Hauptziel von externen Friedenseinsätzen. Somit werden die beschriebenen Ziele des liberalen Friedens zu den Zielen der einzelnen Peacebuilding-Missionen, welche in der Praxis als Top-down-Prozess umgesetzt werden. Dabei ist der liberale Frieden als Durchsetzungsinstrument in der Praxis nicht als neutraler Prozess, sondern vielmehr als ein hoch politisierter Prozess zu verstehen (Richmond, 2011b, S. 45) und mit der Ausübung von Macht verbunden. Durch diese Ausübung von Macht ist der liberale Frieden als ein Siegesfrieden zu definieren. Zwar hat er durch Reformprozesse auch institutionellen und zivilgesellschaftlichen Frieden zum Ziel, jedoch muss dafür erst die Voraussetzung des Siegesfriedens erfüllt sein (Richmond, 2006b, S. 295). Als Legitimationsgrundlage dienen dabei die Durchsetzung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung und eine globale Stabilisierung, die durch die „Schaffung marktwirtschaftlicher, (neo-)liberaler, demokratischer Staaten“ (Exo, 2017, S. 93) erreicht werden soll.

Diese Legitimationsgrundlagen sind gerade für die Handlungen von externen Akteur*innen im Sinne eines liberalen Friedens wichtig. Wenn die an der Konstruktion des Friedens beteiligten Akteur*innen, wie zum Beispiel Staaten, Institutionen oder CSOs, eine vermeintlich gemeinsame oder ähnliche Vorgehensweise, Werkzeuge und Expertisen nutzen, entsteht aus ihren Handlungen heraus eine erneute Legitimation. Richmond geht davon aus, dass aus dem liberalen Frieden ein Peacebuilding Consensus (Richmond, 2006b, S. 298) hervorgeht, wenn dies gegeben ist und der liberale Frieden für alle in den zentralen Ausprägungen die gleiche Sache darstellt, gemeinsam an ihm gearbeitet wird und er sich dadurch legitimiert. Als Voraussetzung gilt allerdings, dass dies nur möglich ist „where like-minded liberal states coexist in a western-oriented international society“ (Richmond, 2006b, S. 298).

Auf Grundlage dieser Annahmen entwickelt Richmond verschiedene Typen liberaler Friedensbemühungen und stellt diese mithilfe verschiedener Abstufungen vor. Dabei zeigt er, dass alle Abstufungen des liberalen Friedens eine Art omnipräsente dritte Partei einschließen, welche in die Lage versetzt wird oder sich selbst in die Lage versetzt, externe Friedensvorstellungen in Konfliktgesellschaften einzubringen und gegebenenfalls auch umzusetzen. Der liberale Frieden basiert demnach maßgeblich auf Intervention und benötigt eine Ausbalancierung von Zustimmung und Zwang. Die beschriebenen Abstufungen lassen sich idealtypisch in vier Kategorien einordnen (Richmond, 2006b, 300 ff.), wodurch verschiedene Thematiken erfasst werden können und unterschiedliche Akteur*innen involviert sind. Zunächst befasst sich Richmond mit hyper-konservativen Ansätzen. Also Ansätzen von Frieden, in denen die staatlichen oder militärischen Akteur*innen die Kontrolle nicht aus der Hand geben und ihren eigenen Interessen folgend Frieden herstellen möchten. Dabei kann dies auch mithilfe von Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Frieden kann hierbei nur in einem sehr kleinen Gebiet erreicht werden. Daran knüpfen die konservativen Ansätze an, bei denen zwar auch staatliche und militärische Akteur*innen die zentrale Rolle spielen, diese jedoch zusätzlich Diplomatie einsetzen. Mithilfe dieser Maßnahmen kann zum Beispiel ein Waffenstillstand erreicht oder ein Mediationsprozess eingeleitet werden, welcher auf gemeinsamen Normen basiert. Des Weiteren diskutiert Richmond orthodoxe Ansätze, welche als Top-down zu verstehen sind, jedoch mit der Möglichkeit, Bottum-up-Maßnahmen umzusetzen. Dies funktioniert insbesondere im konstitutionellen und institutionellen Bereich. Hierbei wird die Akteur*innenkategorie zum Beispiel durch Akteur*innen aus dem Bereich der CSOs und internationaler Organisationen erweitert. Dies kann zu mehr Nachhaltigkeit und zu einer größeren geografischen Reichweite des Friedens führen. Schließlich werden emanzipatorische Ansätze eingeführt. Diese verstehen sich als eine Mischung aus Bottum-up- und Top-down-Ansätzen und stellen einen universellen Anspruch an ihre geografische Reichweite. Die Akteur*innen gleichen denen aus dem orthodoxen Ansatz, jedoch liegt ein größerer Fokus auf lokalen Organisationen und einer Durchmischung der Akteur*innen in der eigentlichen Arbeit. Hier kann es auf Grundlage sozialer Bewegungen und Kommunikation zu einem zivilen Frieden kommen. Richmond belegt diese verschiedenen Ansätze mit Beispielen, findet jedoch zu der emanzipatorischen Kategorie kein Beispiel (Richmond, 2006b, S. 303). Als Grund ist zu nennen, dass, um einen emanzipatorischen Ansatz durchzuführen, alle internationalen Akteur*innen einen zivilen Frieden mit klarem Fokus auf sozialen Bewegungen, sozialen und lokalen Akteur*innen und auf einen Sozial- und Rechtsstaat ohne größere externe Einflüsse befürworten müssten. Diese Feststellung stellt eine zentrale Kritik an dem Konzept des liberalen Friedens dar, denn liberaler Frieden „often claim[s] to be emancipatory, though there are no empirical examples“ (Richmond, 2006b, S. 305).

Diese Annahmen spiegeln sich in vielen Friedensmissionen auch in der Praxis wider, die hauptsächlich von externen Akteur*innen angeleitet und Top-down durchgeführt werden (Richmond, 2009b, S. 568) und nach einem bestimmten Schema ablaufen. „The liberal peace is operationalized in highly standardized formats. It becomes a peace from IKEA; a flat-pack peace made from standardized component“ (Mac Ginty, 2008, 144 f.). Gerade in der Praxis fokussieren sich die internationalen Akteur*innen und Organisationen besonders auf die Bereiche der Demokratisierung, des Staatsaufbaus und auch auf den Aufbau von Institutionen, freier Marktwirtschaft und die Herstellung von Sicherheit (Richmond, 2009b, S. 560). Oft vernachlässigen sie die sozialen und zivilen Komponenten und damit die Einbeziehung verschiedener Akteur*innen. „It [liberal peace] reflects the ideological and practical interests of leading states in the global north, leading international organizations, and the international financial institutions“ (Mac Ginty, 2011, S. 20). Goodhand und Hulme (1999) bezeichnen liberale Friedenskonsolidierung sogar als eine sehr komplexe und eklektische Herangehensweise im Sinne eines intervenierenden Peacebuilding. Und auch (Rupesinghe, 1995, S. 316) nennt diese Übernahme „conflict management imperialism“, welche zu einer Marginalisierung der lokalen Akteur*innen und langfristig zu nicht nachhaltigen Lösungen führen kann. Gerade durch diese strukturelle Macht in Form von finanziellen Kapazitäten und Ressourcen können die internationalen Akteur*innen ihren zum Teil rein wirtschaftlichen Interessen (Brock, 2006, S. 214) nachgehen und ihre vermeintlich universalen Werte in den Friedenskonsolidierungsprozess einfließen lassen (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 778). Dies sind nur einige der Argumente, welche zu einer immer stärker werdenden Kritik am liberalen Frieden führen.

3.1.3 Kritische Betrachtungen

Diese Art der externen Einmischung und das Konzept des liberalen Peacebuilding werden von vielen Seiten immer wieder kritisiert und hinterfragt. Es wird immer deutlicher, dass es zwischen globalen Ansprüchen und lokalen Bedürfnissen große Unterschiede geben kann. Dabei steht nicht nur die Art der Einmischung in der Kritik, sondern auch deren Ergebnisse und deren Legitimität (Pugh et al., 2008; Richmond, 2010) und das Konzept des liberalen Friedens an sich (Selby, 2013, S. 57; Zaum, 2012). So führt Paris aus: „[liberal peace] have been more difficult and unpredictable than initially expected, in some cases producing destabilising side effects“ (Paris, 2010, S. 337).

Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass im liberalen Frieden davon ausgegangen wird, dass die Menschen in den Post-Konfliktländern die westlichen Werte und Handlungen der externen Akteur*innen als unproblematisch sehen, sie akzeptieren, annehmen und diese übernehmen. Die externen Akteur*innen gehen davon aus, dass sie das Wissen haben, was es braucht, um Frieden zu schaffen und einen Staat nach den Regeln der guten Regierungsführung wiederherzustellen (Curle, 1994; Mac Ginty, 2011, S. 34; Pugh, 2005; Richmond, 2008, S. 108). Daran schließt ein moralischer Diskurs um den liberalen Frieden an. Richmond kritisiert zum Beispiel, dass internationale Akteur*innen und Geldgeber*innen das ihnen Bekannte, also eine liberale Demokratie, oft romantisieren und deswegen versuchen, diese Vorstellungen auf die lokalen Gegebenheiten in Post-Konfliktländern zu übertragen (Richmond, 2011a, S. 74). Somit ist eine Neutralität der externen Akteur*innen nicht gewähreistet. „Rather than being a technical and neutral process, liberal peacebuilding is inherently political and any promotion of rule of law is likely to be politically contested“ (Richmond, 2011a, S. 45). Die Kritik richtet sich dabei nicht nur generell gegen die Einmischung der meist westlichen Staaten, sondern auch dagegen, dass diese Einmischung in der Regel nicht unter Einbeziehung der lokalen Akteur*innen stattfindet (Richmond, 2008) und dass Policy making der meist westlichen Institutionen in der Regel auf einer abstrakten Ebene stattfindet (Richmond, 2011a). „The ‚liberal peace‘, as a rhetorical construct, appeared to be for someone or some purpose, but not that of the local community or its peacebuilding plan“ (Cubitt, 2012, S. 163). Daran schließt sich Mac Gintys Argumentation an, die aufzeigt, dass die oft hegemonialen Ambitionen des Konzepts des liberalen Friedens die bestehenden lokalen alternativen Mechanismen von Frieden und Entwicklung von vornherein ausschließen und gerade dadurch die Wahrnehmung fördern, dass diese Alternativen illegitim und nicht liberal seien (Mac Ginty, 2010, S. 403).

Betrachtet man diese Argumentation aus einer postkolonialen Sicht, wird schnell deutlich, dass die Nicht-Einbeziehung der lokalen Akteur*innen erst durch die vorherrschende asymmetrische Machtbeziehung zwischen internationalen und lokalen Akteure*innen möglich wird und dass mit einer „colonial rationality“ (Jabri, 2016, S. 155) vorgegangen wird. Der Postkolonialismus bezeichnet ein breites Spektrum an theoretischen Zugängen. Sie werden von Diskurstheorien, Dekonstruktion, emanzipatorischen und zum Teil ideologiekritischen Diskursen beeinflusst und haben eine kritische Auseinandersetzung mit historischen, aber auch gegenwärtigen Machtverhältnissen zum Ausgangspunkt. Dabei hat die postkoloniale Theorie vier zentrale Anliegen. Dies sind 1. der Prozess des Othering, der Selbst- und Fremdzuschreibung in binären Oppositionen (Amos & Parmar 1984; Said 1978). 2. Machtkonstellationen und Hierarchien, welche mithilfe kultureller Repräsentation und politischer Kontrolle bewahrt bleiben (Bhabha 1994; Spivak 2008). 3. Die (historische) Analyse von Kolonialisierung und der fortwährenden Kolonialisierung (Hooks, 1994). 4. Die Wandlung von kolonialen Machtkonzepten mit ohnmächtigen Subjekten zu handlungsfähigen Objekten (Bhabha 1994; Spivak 2008). Der so wichtige postkoloniale Blick auf den liberalen Frieden wird in der theoretischen Diskussion oft vernachlässigt, ist jedoch von Bedeutung, wenn man seine Kritik auf die Praxis übertragen möchte. Diese Machtbeziehungen sind eine Entwicklung, welche insbesondere durch die Kolonialzeit geprägt wurde und die sich bis heute fortsetzt. Schon damals wurden „traditionelle Formen der Konfliktbearbeitung verdrängt, ohne flächendeckend durch moderne Formen ersetzt zu werden“ (Brock, 2006, S. 213). Heute finden Machtunterschiede ihre Fortsetzung in unterschiedlichen Hierarchien und Machtpositionen innerhalb der internationalen Gemeinschaft, zwischen lokalen und externen Akteur*innen. Bei der Diskussion der unterschiedlichen Machtpositionen ist Spivaks postkolonialer Ansatz zu nennen, in dem sie der Frage nachgeht, „wie das Subjekt der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses repräsentiert wird“ (Spivak, 2008, S. 19). Dazu analysiert sie die Situation von marginalisierten PersonengruppenFootnote 5 und arbeitet heraus, dass diese Personengruppen durch die westliche, intellektuelle Wissensproduktion am Sprechen gehindert werden. Dies ist laut Spivak darauf zurückzuführen, dass zum Beispiel lokale Akteur*innen angesichts des übermächtigen Herrschaftssystems sprachlos sind und zur Sprache nicht ermächtigt werden, also ihre Versuche, ihre Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, ungehört und unverstanden bleiben. Dieses Grundproblem ist nach Spivak kaum aufzulösen (Spivak, 2008, S. 103), eine Annäherung kann jedoch gelingen, wenn das dahinterliegende System der Privilegien durch eine kritische Reflexion der eigenen Positionen, der eigenen Glaubenssätze und Vorurteile geöffnet wird.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Konzept des liberalen Friedens den „Empfangenden“ durch die intervenierenden, meist westlichen Akteur*innen auferlegt wird und nicht als „Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung oder Aushandlung“ (Exo, 2017, S. 91) gesehen werden kann. Auf Grundlage dieses bestehenden Machtgefälles wird oft eine Trennung zwischen demokratischen und nicht demokratischen Staaten vorgenommen. Im Zuge dieser Trennung werden demokratische Staaten in der Regel positiv und andere Staatsformen meist negativ konnotiert. Diese Trennung lässt sich zurückführen auf die Konstruktion von einem guten „Wir“ und einem schlechten „Anderen“ (Müller, 2008, S. 42). Diese Trennung, in der es zu einer Schaffung von kolonialen Subjekten als „das Andere“ kommt, ist nach Spivak als epistemische Gewalt (Spivak, 2008, S. 42) zu definieren, also einer Art von Gewalt, die tief im allgemeinen Wissen verankert ist. Diese tiefen Verankerungen sind unter anderem mit der Theorie des Orientalismus, begründet von Edward Said, zu erklären. In Saids Theorie werden die Menschen im Orient als ein Gegenbild zu den Menschen in Europa dargestellt und somit als „Anderes“ konstruiert. Durch diese explizite Darstellung des „Anderen“ und des „Andersseins“ wird zum einen das europäische Selbstbild positiv besetzt und zum anderen wird mit dem Begriff des Orients eine heterogene Gruppe homogenisiert (Said, 1978, 3 ff., 45). Dies geschieht auf Grundlage eines eurozentristischen, westlichen Weltbildes und eines vermeintlichen Überlegenheitsgefühls. Gerade durch die Schaffung dieser Trennung und die Grenzziehung zwischen Orient und Okzident, welche über Jahrhunderte aufgebaut wurde, wird der Effekt des „zum Anderen machen“ noch verstärkt. Said argumentiert, dass europäisches Denken davon geprägt ist, Definitionen über Gegensätze abzuleiten (Said, 1978, S. 227). Durch dieses vermeintliche Herrschaftswissen sehen sich nach Said westliche Personen in der Lage, Situationen und Menschen des Orients zu definieren. Damit wird den Menschen vor Ort ihr Selbstbestimmungsrecht genommen. Dieser Prozess der Schaffung eines „Anderen“ ist als Othering zu bezeichnen (Said, 1978, S. 21). Das Konzept des Othering beschreibt also einen Prozess, in dem sich Akteur*innen von anderen abgrenzen, indem sie andere Akteur*innen als andersartig und fremd definieren. Dabei liegt der definitorische Schwerpunkt klar auf der Betonung von Unterschieden und es findet eine Distanzierung von „den Anderen“ statt. Diese Konstruktion des „Anderen“, die Konstruktion einer Trennung entlang der Linie demokratischer Staaten und nicht demokratischer Staaten, bildet eine der Grundlagen im Diskurs um den liberalen Frieden.

Wichtig ist zu betonen, dass sich die Kritik am Konzept des liberalen Friedens nicht gegen Demokratisierung an sich richtet, sondern sich vielmehr auf die Umsetzung des Konzeptes in der Praxis bezieht. Wie schon Kant in seinem Werk (Kant, 2005, 12 ff.) festgestellt hat, ist eines der wichtigsten Elemente auf dem Weg zum Frieden die demokratische Selbstbestimmung durch die Bevölkerung. Tritt jedoch der Fall ein, dass diese Selbstbestimmung durch einen externen Demokratisierungsprozess übergangen wird, entsteht ein Selbstwiderspruch und demokratische Entwicklungen werden erschwert (Wolff, 2011, 240 f.). Ein Staat, der durch eine aufgezwungene Demokratisierung zwar per se erstmal demokratisch ist, wird folglich nicht automatisch friedlicher sein. Dies ist dadurch zu begründen, dass die Friedfertigkeit von Staaten nicht von deren Regierungsform abhängig ist, sondern von den Normen, Werten und der Beschaffenheit der Gesellschaft. Außerdem muss beachtet werden, dass für den Aufbau und den Erhalt von Frieden noch weitere Elemente eine wichtige Rolle spielen. Dies können zum Beispiel Beziehungen zu anderen Ländern, die außenpolitische Wirkung, die Mitgliedschaft in internationalen oder regionalen Organisationen und nicht zuletzt die Sozialisation der Bevölkerung sein. Folglich müssen sich Maßnahmen der Friedenskonsolidierung nicht von der Idee lösen, Demokratisierung zu fördern, sondern von der Vorstellung, wie dies geschieht. Es ist essenziell, dass in den Maßnahmen nicht die Bevölkerung vor Ort nach westlichen Maßstäben transformiert werden soll, sondern vielmehr sollten vor allem Bottom-up-Maßnahmen, die bei der Zivilgesellschaft ansetzen und die Bevölkerung und deren Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellen, in den Vordergrund gerückt werden (Exo, 2017, S. 94; Tadjbakhsh, 2011). Dabei ist es grundlegend, die Gegebenheiten vor Ort und die Bevölkerung auf verschiedenen Ebenen aktiv in den Prozess einzubeziehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eines der Hauptprobleme am liberalen Frieden ist, dass es sich um ein zweidimensionales Modell handelt, in dem es die mächtigen internationalen Akteur*innen und die geschwächten lokalen Akteur*innen gibt. In der Friedens- und Konfliktarbeit ist ein Paradox entstanden, denn externe Akteur*innen sehen sich selbst und werden von anderen in der Lage gesehen, Techniken zu kennen, welche Friedensprozesse auf einem lokalen Level nutzen können (Fuest, 2014, S. 44). Es lässt sich feststellen, dass dieser Ansatz zu kurz greift. Es bedarf eines weitreichenderen und umfassenderen Ansatzes, welcher eine größere Anzahl an Akteur*innen, Aktivitäten, Gesellschaftsschichten und die Beziehungen zwischen diesen einbezieht (Mac Ginty, 2011; Paffenholz, 2015; Philpott, 2010; Richmond, 2009b). Legt man die Annahme zugrunde, dass Konflikte innerhalb von Gesellschaften stattfinden und ausgetragen werden, erscheint es nur logisch, dass die Lösungsansätze auch innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Strukturen zu suchen sind und friedenskonsolidierende Maßnahmen dort verankert sein müssen (Reich, 2006, S. 5). Durch diese Annahme kommt es zu einer verstärkten Hinwendung zu der Civil-society-first-Strategie (Schneckener, 2005, 23 ff.). So wird auch in der Forschung zu lokalen Akteur*innen in der zivilen Konfliktbearbeitung davon ausgegangen, dass die in der Friedens- und Konfliktforschung meist vorherrschenden Ansätze, die auf dem Konzept des liberalen Friedens basieren, nicht zwingend die richtigen sind, um einen Konflikt unter Einbeziehung von lokalen Partner*innen zu lösen. Durch diese Forderungen und die immer wieder geübte Kritik am Konzept des liberalen Friedens fand auf theoretischer Ebene schließlich eine Erweiterung des Konzeptes statt. Als geeignetere Theorien bieten sich demnach die Konzepte des hybriden Friedens, das des sich daraus entwickelnden Local Turns und das der Frictions an, welche im Folgenden dargestellt und diskutiert werden.

3.2 Das Konzept des hybriden Friedens

Als Konsequenz der beschriebenen Kritik am liberalen Frieden und verschiedener lokaler Widerstandsformen gegen dessen praktische Ausführung hat sich ein reflektierter Ansatz im Peacebuilding herausgebildet. Das Plädoyer für eine Ausweitung von „critical policies for a post-liberal peace“ (Richmond, 2009b, S. 578) mit emanzipatorischen Elementen lässt sich im Konzept des hybriden Friedens finden. Dieser theoretische Ansatz möchte insbesondere die Handlungsmöglichkeiten der lokalen Akteur*innen hervorheben und die daraus resultierenden Vorteile für den gesamten Prozess der Friedenskonsolidierung darstellen. Dabei kann das Konzept einen Beitrag dazu leisten, zu untersuchen, wie internationale Friedenseinsätze mit lokalen Akteur*innen, Strukturen und Normen interagieren. Das wichtigste Ziel des hybriden Friedens ist es, im Sinne eines postkolonialen Diskurses, gemeinsame Lösungsansätze zu erarbeiten und nicht allein westliche oder lokale Praktiken und Handlungen in den Vordergrund zu stellen (Richmond, 2015). Deswegen ist in Friedensprozessen der Standpunkt „one size doesn’t fit all“ (Mac Ginty, 2016a, S. 1) nicht länger zu vertreten.

3.2.1 Hybridität – eine Begriffsdefinition

Der Terminus der Hybridität wurde zunächst in den Kulturwissenschaften verwendet und später von Bhabha (1994), Hall (1994) und Spivak (2008) auf postkoloniale Studien übertragen. Dabei prägte besonders Homi Bhabha die Diskussion um Hybridität, welche heute für das Konzept des Peacebuilding wichtig ist. Er schlägt ein subversives Konzept von Hybridität vor und beleuchtet, wie das Konzept die kolonialen Diskurse untergräbt und verändert. Bhabha bezieht den postkolonialen Diskurs auf das Politische und entwickelt daraus das Model eines „dritten Raumes“. Dieser kann immer dann entstehen, wenn Personen mit unterschiedlichem Wissen oder aus verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammentreffen und über Bedeutungen und Differenzen in Aushandlung treten. Somit wird eine postkoloniale Identität nicht über Homogenisierung geschaffen, welche lokale Werte und Traditionen aufrechterhält, sondern durch eben diesen „dritten Raum“. Dieser dritte Raum, „which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixing; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew“ (Bhabha, 1994, S. 37), wird dabei zum Zwischenraum, zu einem symbolischen Ort der Hybridität. Bhabha versteht unter Hybridität die Zurückweisung eines essentialistischen oder nomothetischen Diskurses des Politischen und lässt sich durch Heterogenität und Durchlässigkeit definieren (Bhabha, 1994, S. 217). So geht Bhabha davon aus, dass es zu einer generellen Veränderung von allen Beteiligten und einer Verschiebung der kolonialen Gefälle kommt, wenn ein*e Akteur*in zum Beispiel Wissen, Normen oder Gegenstände von anderen Akteur*innen annimmt.

Um das Konzept des hybriden Friedens zu verstehen, ist es zunächst wichtig zu definieren, was unter Hybridität verstanden wird. Im theoretischen Diskurs darf Hybridität nicht so verstanden werden, dass es zwei Einheiten von Gruppierungen oder Akteur*innen gibt, die zu einer dritten hybriden Einheit verschmelzen, sondern dass sie weiter in einer je in sich hybriden Form bestehen. Denn es ist davon auszugehen, dass die zwei Einheiten von der anderen Seite beeinflusst wurden und sich zum Teil schon verändert, sich „hybridisiert“ haben, bevor ein Zusammentreffen stattgefunden hat. Dies geschieht meist in schleichenden alltäglichen Aushandlungsprozessen (Mac Ginty, 2011, S. 72), welche nie abgeschlossen sind, sondern sich in ständiger Veränderung befinden (Mac Ginty, 2011, 8 f.). Hybridität wird zu einem konstanten, multi-sphärischen Prozess (Mac Ginty, 2011, S. 73).

3.2.2 Hybridität und Peacebuilding – theoretische Überlegungen

Auch wenn Bhabhas Fokus im postkolonialen Bereich liegt, lässt sich sein Konzept auf internationale Friedenseinsätze übertragen. Der Begriff an sich ist heute weit verbreitet und wird zum Beispiel für hybride Friedenstribunale (Dougherty, 2004; Katzenstein, 2003), hybrides Peacekeeping (Othieno & Samasuwo, 2007) und vor allem für das Konzept des Hybrid Peace (Mac Ginty, 2010, 2011; Richmond, 2009b, 2015) verwendet. Dabei wird Hybridität verstanden als eine Komposition von unterschiedlichen Denkweisen, Handlungen, Praktiken und als Resultat der Interaktionen von verschiedenen lokalen sowie externen Akteur*innen und deren Vorstellungen. Nach (Mac Ginty, 2011, S. 65) kommt es in einer Post-Konflikt-Situation zu ebendieser Hybridität, in der lokale und externe Ansätze verbunden werden und koexistieren. Hybridität entsteht in Friedensprozessen durch eine Kreuzung verschiedener Akteur*innenebenen und verschiedener Standpunkte. Björkdahl und Höglund fassen zusammen: „Hybrid spaces denote situations in which the meeting between international and local norms, actors and practices create new arrangements, which display hybrid features where for instance liberal and illiberal norms co-exist“ (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 290).

Das Konzept von Hybridität in Friedensprozessen kommt auf verschiedenen Ebenen zu tragen. Auf der Mikroebene beschreibt es den Umgang von Individuen miteinander in dem neuen Gefüge des Nachkriegssystems. Auf der Mesoebene umfasst es die Interaktionen zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und dem Staat. Auf der Makroebene bedeutet es die Interaktion zwischen dem Nachkriegsstaat und der internationalen Gemeinschaft (Mac Ginty, 2011, S. 74). Eine andere Aufteilung der Ebenen nimmt Gearoid Millar (Millar, 2014a, 504 ff.) vor. Er geht davon aus, dass Hybridität auf vier Ebenen stattfindet. Dabei ist die institutionelle Ebene in der Regel von internationaler Seite strukturiert und versucht, lokale und internationale Herangehensweisen und Prozesse zu verbinden. Die praktische Ebene der Hybridität entsteht durch tägliche und natürliche Interaktionen und kann sowohl durch lokale als auch durch internationale Akteur*innen beeinflusst werden. Die rituelle Hybridität, welche aus postkolonialer Sicht am kritischsten zu betrachten ist, geht davon aus, dass Symbole und traditionelle Handlungen vermischt werden können, um neue Friedensmaßnahmen zu schaffen. Zuletzt geht die konzeptuelle Ebene davon aus, dass auf individueller Ebene ohne weitere Einflüsse eine ständige unbewusste Vermischung von Annahmen und Ideen über die Welt stattfindet. Auf allen Ebenen werden von den unterschiedlichen Akteur*innen dabei verschiedene Standpunkte eingenommen. So stehen beispielsweise für die internationalen Akteur*innen mögliche Zwangsmaßnahmen und Anreizmechanismen des liberalen Friedens den Möglichkeiten lokaler Akteur*innen zum Widerstand gegen diese Maßnahmen gegenüber (Mac Ginty, 2016b, S. 90). Durch diese unterschiedlichen Positionen kommt es im hybriden Frieden zu einer Dynamik, welche ausdrücklich Austausch, Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis von lokalen und internationalen Akteur*innen fördert und Machtasymmetrien hinterfragt. Wichtig ist dabei, dass der hybride Frieden Normen und Werte, welche von einem westlichen, liberalen Denkmodell des Peacebuilding abweichen, einbezieht und mit denen der internationalen Akteur*innen kombiniert (Yamashita, 2014, S. 1). Durch diese dynamischen Prozesse und internen Spannungsfelder ist hybrider Frieden in ständiger Bewegung, Veränderung unterworfen und schwankt zwischen „cooperation and contestation“ (Mac Ginty, 2010, S. 403). Im Zuge dieser Dynamiken und Aushandlungsprozesse kann es immer wieder zu Divergenzen und unterschiedlichen Ansichten kommen (Mac Ginty, 2016b, S. 56), doch gerade diese können im Prozess der Friedenskonsolidierung auch zielführend sein. Darin liegt die eigentliche Innovationsstärke des theoretischen Konzepts. Erst durch diese dynamischen Interaktionen zwischen lokalen und internationalen (externen) Akteur*innen, welche jedes Mal anders aussehen, können neue und passgenauere Ansätze in der Friedensarbeit entwickelt werden. In diesen Interaktionen wird das theoretische Zusammenspiel von Macht und Widerstand im hybriden Frieden deutlich und lässt sich auf Foucaults Überlegungen dazu zurückführen. „Where there is power, there is resistance, and yet, or rather consequently, this resistance is never in a position of exteriority in relation to power“ (Foucault, 1981, S. 95).

Hybrider Frieden kann zusammenfassend also als das Ergebnis einer Auseinandersetzung und eines Aushandlungsprozesses (welcher auch Widerstände aushalten kann) zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen mit dem vorherrschenden Konzept des liberalen Friedens und den daraus resultierenden alternativen Möglichkeiten für neue Friedenskonzepte definiert werden. Der hybride Frieden als theoretisches Konzept schließt dabei den ökonomischen, rechtlichen und institutionellen (Wieder-)Aufbau des Landes nicht aus. Er dient vielmehr als Hilfestellung für die Akteur*innen, die Perspektive zu wechseln und hebt hervor, dass Austausch und Zusammenarbeit zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen auf allen Ebenen der Friedenkonsolidierung konstitutiv sind. Dabei verlaufen die angesprochenen Dynamiken und Perspektivwechsel in jedem Einzelfall anders und entlang unterschiedlicher Aushandlungslinien. Somit ist es möglich, dass je nach Situation vor Ort immer unterschiedliche Lösungen gefunden werden. Daraus ergeben sich zwei große Vorteile des hybriden Peacebuilding: seine Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Abschließend ist hybrider Frieden als ein emanzipatorisches Konzept zu verstehen, welches auf theoretischer Ebene das Konzept der liberalen Friedenskonsolidierung weiterentwickelt und dabei lokalen Akteur*innen und deren Praktiken und Werten mehr Raum gibt.

3.2.3 Hybridität und Peacebuidling – praxisnahe Überlegungen

Die theoretischen Überlegungen münden in der Praxis in der Unterstützung und Förderung lokaler Akteur*innen zu einer aktiveren Teilhabe im Friedensprozess, welcher durch internationale Akteur*innen begleitet und mitgestaltet wird. Es soll zur Übernahme an Verantwortung durch lokale Akteur*innen kommen. Die Kooperation von lokalen und internationalen Akteur*innen soll gestärkt werden und gleichzeitig der Respekt gegenüber lokalen Maßnahmen und Werten durch internationale Akteur*innen gefördert werden (Richmond, 2015). Das Konzept des hybriden Friedens ist der Versuch, das asymmetrische Verhältnis des liberalen Friedens und dessen überwiegend internationalen Top-down-Ansatzes einem lokalen Bottom-up-Ansatz anzugleichen. Wie solch eine Vermischung von externen und internen Ansätzen funktionieren kann, erläutert Mac Ginty:

„The hybrid peace is the result of the interplay of the following factors: the ability of liberal peace agents, networks, and structures to enforce compliance with their will; the incentivizing powers of liberal peace agents, networks, and structures; the ability of local actors to resist, ignore, or adapt liberal peace interventions; and the ability to local actors, networks, and structures to present and maintain alternative forms of peacemaking“ (Mac Ginty, 2011, S. 69).

Der wichtigste Ansatz in der Theorie des hybriden Friedens ist die Einbeziehung des Lokalen, welche auf unterschiedliche Art und Weise und in unterschiedlichem Maße stattfindet. Für eben diese Hybridität, für eine Vermischung von lokalen und externen Ansätzen, lassen sich in der Praxis einige Beispiele finden.Footnote 6 Der Terminus findet Anwendung bei internationalen Tribunalen (Dougherty, 2004), bei Peacekeeping-Missionen (St. Pierre, 2007) und wurde in politische Systemen übernommen (Clements et al., 2017). Als konkrete Beispiele lassen sich der Nahe-Biti-Mediationsprozess in Osttimor oder das traditionellen ruandischen Rechtssystems der Gacaca (Friedensgerichte) nennen, welche sich aus lokal verorteten Praktiken der Konfliktbearbeitung zusammensetzten und gleichzeitig durch Akteur*innen der internationalen Gemeinschaft Unterstützung fanden (Mac Ginty, 2010, 404 ff.). Auch lassen sich Beispiele finden, in denen lokale Akteur*innen dazu beigetragen haben, eine internationale Peacebuilding-Agenda zu verändern, wie im Fall von Bougainville (Boege, 2015, S. 116). Ein weiteres Beispiel führt (Kent, 2015) an, wenn sie auf hybride Formen von Transitional Justice eingeht, bei denen Elemente westlicher Rechtsprechung mit lokalen Praktiken der Rechtsprechung kombiniert werden. Diese hybriden Tribunale wurden als Antwort auf die kritischen Reaktionen am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda initiiert, um bei der Rechtsprechung sowohl die VN als auch die betroffenen Staaten einzubeziehen (Katzenstein, 2003, 435 f.). Als Beispiele für solche Tribunale sind Kambodscha, Osttimor oder Sierra Leone zu nennen. Die beschriebene Kombination von lokalen mit internationalen Ansätzen wird besonders in der Wissenschaft kritisch diskutiert. Einerseits wird davon ausgegangen, dass die Rechtsprechung als effektiv gilt, um das lokale Rechtssystem wiederaufzubauen, dass sie bedeutsamer für die Opfer vor Ort ist (Katzenstein, 2003, S. 246) und zugleich die Legitimität vor Ort erhöht (Dickinson, 2003). Andererseits wird kritisch argumentiert, dass hybride Tribunale sogar Konflikte erneut anschüren können. Die hybriden Top-down-Ansätze wie zum Beispiel in Sierra Leone könnten sogar fehlschlagen, da sie nicht positiv von der Bevölkerung bewertet werden (Millar, 2014a) oder durch einen vorhandenen Bias von lokalen Autoritäten verfälscht werden können (Human Rights Watch, 2000).

Generell ist jedoch davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung dieses hybriden Ansatzes Friedenskonsolidierung nachhaltiger gestaltet werden kann. Durch die stückweise Übergabe der Verantwortung von externen an lokale Akteur*innen, die Vermischung von Handlungen und Ansätzen und die Möglichkeit, eigene Projekte der Friedenskonsolidierung zu initiieren, sind die lokalen Akteur*innen stärker für die Entwicklungen vor Ort verantwortlich. Dadurch, dass es eine Einbeziehung in politische Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen gibt und lokale Akteur*innen von Beginn an Verantwortung übernehmen und nicht erst zum Ende des Konsolidierungsprozesses, wenn die externen Akteur*innen das Feld verlassen und die Aufgaben an die lokalen Akteur*innen übertragen, ist davon auszugehen, dass die durchgeführten Maßnahmen nachhaltigere Wirkung zeigen (Wilén & Chapaux, 2011, S. 534). So wird auch das politische und wirtschaftliche System, welches in der Regel verändert wiederaufgebaut wird, als legitimer angesehen und der Wandel akzeptiert. (Schrader, 2016, S. 6) Gleichzeitig kommt es zu einer höheren Legitimität der durchgeführten Maßnahmen. Durch die Potenziale des hybriden Friedens kommt es zu einer stärkeren Anerkennung lokaler Akteur*innen und Partizipation vor Ort. Durch eine partnerschaftlichere Zusammenarbeit und die Zunahme an langfristigen lokalen Projekten im kulturspezifischen Kontext kommt es nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch auf internationaler Ebene zu einem Legitimationsanstieg. Da der Schwerpunkt des hybriden Friedens auf „consensus decision-making, a restoration of the human/resource balance, and compensation or gift exchange“ (Mac Ginty, 2008, S. 149) liegt und lokales Wissen und lokale Handlungen genutzt werden, hat der hybride Frieden das Potenzial „to achieve a grass-roots legitimacy“ (Mac Ginty, 2008, S. 155). Lokale Akteur*innen haben in der Regel vor Ort ein höheres Ansehen als externe Akteur*innen. Sie können die Gegebenheiten aufgrund der eigenen Kultur und der erlebten Geschichte und auch die Nachkriegssituation an sich besser nachempfinden (Wilén & Chapaux, 2011, S. 548). Generell ist davon auszugehen, dass die Einbeziehung lokaler, zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in die Friedenskonsolidierung sowohl auf direkte als auch auf indirekte Weise die Legitimation der Konsolidierung erhöht und einen Gegenpol zu externen, oft sehr militärischen oder politisierten Ansätzen darstellt (Zanker, 2018, S. 207). Besonders hohe Legitimität erreichen Friedensprozesse durch offene Austausch- und Interaktionsformate, in denen auch die ortsansässige Bevölkerung ihre Probleme, Anliegen und Wünsche anbringen kann und sich dadurch (internationales) Gehör verschaffen kann (Zanker, 2018, 207 f.). Beispielhaft dafür sind die Open Forums (Zanker, 2018) in Kenia und Liberia zu nennen. Durch die Öffnung des Diskurses und die vielfältigen Sichtweisen wird der gesamte Prozess der Friedenskonsolidierung nachvollziehbarer und transparenter für alle Beteiligten. Da es zu einer Zunahme an Legitimität kommt, kann der hybride Frieden mit einigen Kritikpunkten am liberalen Frieden aufräumen und eine Reflexion der Legitimation von Friedensprozessen anregen.

3.2.4 Kritische Betrachtungen

Generell gilt das Konzept des hybriden Friedens als „under-theorized and variably applied by scholars“ (Millar, 2014a, S. 501). Die Kritiker*innen äußern Bedenken hinsichtlich der Nützlichkeit des Konzepts für Theorie, Politik und Praxis der Friedensarbeit. Am problematischsten ist, dass einige Wissenschaftler*innen Hybridität deskriptiv verwenden, um die Vermischung von internationalen und lokalen Institutionen, Praktiken und Konzepten zu beschreiben und andere Hybridität präskriptiv verwenden und dadurch davon ausgehen, dass internationale Akteur*innen Hybridität planen und vorhersagen können (Millar, 2014a, S. 501).

Der Mehrwert des Konzepts liegt darin, dass die Grenzen zwischen scheinbar festgelegten Kategorien wie zum Beispiel staatlich/nicht staatlich, formal/informell, traditionell/modern oder lokal/global sich beginnen aufzulösen (Dinnen & Kent, 2015, S. 2) und Räume für Reflexion, Kooperationen, Aushandlungs- und Lernprozesse geschaffen werden. Trotz dieser vielversprechenden Ansätze des hybriden Friedens bleibt das Problem, dass bestimmte Maßnahmen, Normen und Einsätze von externen Akteur*innen hineingetragen werden. Noch immer wird entlang der Maxime gehandelt, dass die lokalen Akteur*innen die Ansätze der externen Akteur*innen übernehmen und lokal ausführen sollen.Footnote 7 Dabei bleibt meist unbeachtet, wie mit dadurch entstehenden Konflikten umgegangen werden kann (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 294). Auch die Frage, wer Frieden definiert, wessen Frieden es ist, der implementiert werden soll und wie dieser durch Projektarbeit erreicht wird, bleibt offen (Mac Ginty, 2011, 60 ff.). Richmonds Ansicht nach gibt es „the need for a pluralist reflection on who peace is for, and what it means“ (Richmond, 2009b, S. 558). Diese Reflexion muss im hybriden Frieden als dynamischer Prozess immer mitgedacht werden. Dann kann ein hybrider Ansatz dazu beitragen, die lokale Zivilgesellschaft zu stärken und Möglichkeiten bieten, den Austausch zwischen den externen Akteur*innen mit einer komplexen lokalen Begebenheit zu stärken und Verantwortlichkeiten neu zu verteilen. Durch den hybriden Frieden wird es somit möglich, Situationen nicht aus der Perspektive eines*einer Außenstehenden, sondern aus einer lokalen Perspektive zu betrachten. Kulturelle Begebenheiten und gesellschaftlich gewachsene Strukturen und Prozesse können in Friedensprozessen eine entscheidende Rolle spielen. Sie können in besonderem Maße einen Beitrag zu nachhaltig erfolgreichen und legitimen friedenskonsolidierenden Maßnahmen leisten.

Dieser Ansatz kann jedoch nur funktionieren, wenn ein Umfeld geschaffen wird, in dem lokale Akteur*innen und Gemeinschaften als gleichberechtigte Partner*innen angesehen werden, sie mit Respekt behandelt werden und alle Prozesse transparent ablaufen (Erasmus, 2001, S. 250). Denn nicht alle lokalen Akteur*innen haben von Grund auf die Möglichkeit, überhaupt einen solchen hybriden Prozess zu gestalten, da zu große Asymmetrien vorliegen (Peterson, 2012, S. 17). Die Erfahrungen in lokalen Projekten haben gezeigt, dass die Umsetzung eines solchen Ansatzes nicht erfolgreich ist, wenn er von den externen Akteur*innen konzeptualisiert und lokal implementiert wird. Vielmehr müssen die lokalen Akteur*innen schon in die Entwicklung und die Entscheidungsfindung des Projektes einbezogen werden (Reich, 2006, S. 6). Ist dies gegeben, lassen sich die im Friedensprozess vorherrschenden Machtverhältnisse weitaus genauer analysieren, denn Hybridität „enables a broadening of the conventional focus on state to the full spectrum of actors, institutions and practices […] involved in peacebuilding“ (Bose et al., 2015, S. 1). Durch die Möglichkeit der Verschiebung von Machtstrukturen entsteht ein großes innovatives Potenzial (Boege et al., 2008, S. 16), welches eine flexiblere Handhabung von komplexen Situationen ermöglicht. Dies ist von besonderer Relevanz, da es in der Friedenskonsolidierung keine Patentlösungen gibt, sondern jedes Projekt, jeder Friedenseinsatz und jede Region eine eigene maßgeschneiderte Lösung benötigt.

Auch bleibt trotz der Einbeziehung von lokalen Akteur*innen das Problem bestehen, dass bestimmte Maßnahmen, Normen und Einsätze von außen, vom Westen hineingetragen werden. Somit gilt, dass „a liberal peace-induced intervention triggered the condition of hybridisation“ (Öjendal & Ou, 2013, S. 367). In der Praxis bestehen Machtasymmetrien zugunsten der internationalen Organisationen und Geldgeber*innen, welche sich oft im Agenda-Setting widerspiegeln, die abhängige Rolle der lokalen Akteur*innen betonten (Nadarajah & Rampton, 2015) und das Toolbox-Denken der internationalen Organisationen fortsetzen (Kreikemeyer, 2018, S. 307). Generell ist das Risiko gegeben, dass in der Praxis durch eine oft sehr ergebnis- und projektorientierte Sichtweise Schwerpunkte gesetzt werden, die nicht im Sinne von lokalen Akteur*innen und nachhaltiger Friedensarbeit stehen. Es bleibt offen, wie Macht verteilt wird und wie die Aushandlungsprozesse wirklich gleichberechtigt stattfinden können (Peterson, 2012, 17 ff.). Obwohl der hybride Frieden aus einer Kritik an dem Konzept des liberalen Friedens entstanden ist, stützt er sich zu großen Teilen weiterhin auf die klassischen liberalen Ansätze. So besteht die Gefahr, dass hybride Aushandlungsprozesse bereits existierende lokale Strukturen in ihren eigenen Prozessen stören. „The question of whether hybrid structures provide real agency for the majority of local people in their everyday lives remains, at best, unclear“ (Paffenholz, 2015, S. 863). Externe Akteur*innen bleiben somit ein Stück weit in dem kritisierten Top-down-Ansatz gefangen und das Lokale wird nicht näher bestimmt (Kreikemeyer, 2018, S. 306). Deswegen ist der hybride Frieden nicht als eine Alternative zu liberalen Friedensansätzen zu sehen, sondern als dessen Erweiterung. Der hybride Frieden ist zusammenfassend immer noch ein eher Top-down ausgerichteter Ansatz, welcher jedoch versucht, lokale Komponenten zu berücksichtigen. Die Forderungen nach einer Stärkung dieser lokalen Komponente werden in der Praxis und in der Wissenschaft jedoch immer größer und werden im folgenden Kapitel beschrieben.

3.3 Der Local Turn

Die Neuerungen, die das Konzept des hybriden Friedens mit sich bringt, gehen einigen Kritiker*innen des liberalen Friedens noch nicht weit genug, da sich das Konzept wie beschrieben noch immer in liberalen Ansätzen verortet. Deswegen ist es wichtig, die Kritik an hybriden Ansätzen nochmals unter der konzeptionellen Brille des Local Turn zu betrachten. Er begann in den 1990er Jahren mit der Arbeit von John Paul (Lederach, 1997) und wurde in den vergangenen Jahren vor allem von (Mac Ginty & Richmond, 2013) erneut aufgenommen und weitergedacht. Der Local Turn richtet den Fokus weg von internationalen Akteur*innen hin zu lokalen Akteur*innen als entscheidende Friedensfaktoren (Paffenholz, 2015, S. 868).

3.3.1 Die Konzepte von Local Ownership und Capacitybuilding

Für den theoretischen Ansatz des Local Turn bilden die Konzepte von Local Ownership und Capacitybuilding eine wichtige Grundlage. Der Begriff Local Ownership wird als der Grad der Einbeziehung von lokalen Akteur*innen im Aktivitätengefüge verstanden (Donais, 2012, S. 1). Dabei möchte das Konzept von Local Ownership sicherstellen, dass lokale Interessen den Mittelpunkt der Friedensprozesse bilden, da sie lokalen Gegebenheiten näherstehen und Prozesse nachhaltig und langfristig weitergeführt werden können. Grundsätzlich ist es wichtig, dass von Beginn an lokale Akteur*innen in die Zieldefinitionen der Prozesse, der Aktivitäten und Maßnahmen eingebunden sind und eigenverantwortlich handeln, es also zu Ownership kommt. Zwar ist der Inhalt des Konzeptes weitgehend definiert, doch gibt es in der Praxis keine einheitliche Definition des Begriffs. Capacitybuilding hingegen wird als ein konzeptioneller Begriff verstanden und findet dann Anwendung, wenn durch Maßnahmen die Kapazitäten von lokalen Akteur*innen aufgebaut werden (Schneckener, 2005, S. 21). Im Diskurs um Friedensprozesse tritt Capacitybuilding seit den 1990er Jahren immer wieder in den Vordergrund und hat sich regelrecht zu einem Buzzword (Eade, 2007, S. 632) entwickelt. Der Begriff Capacitybuilding kann auf sämtliche politischen Disziplinen bezogen werden (Schneckener, 2005, S. 21). Dies führt dazu, dass es bislang keine einheitliche Definition gibt.

Wenn in der Praxis in Post-Konflikt-Gesellschaften Friedensprozesse initiiert werden und diese im Sinne des Local Ownership durch lokale Akteur*innen übernommen werden sollen, benötigen die lokalen Akteur*innen oft gewisse Voraussetzungen und Kapazitäten (Wilén, 2009, S. 341). Grundsätzlich ist die Wichtigkeit von Local Ownership für erfolgreiche Maßnahmen des Capacitybuilding in Friedensprozessen zwar anerkannt und beide Konzepte werden oft miteinander in Verbindung gebracht (Wilén, 2009, S. 341). Doch bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass Capacitybuilding-Maßnahmen zwangsläufig die lokale Mitbestimmung in den einzelnen Maßnahmen fördern. Ob sich durch diesen Umstand auch Schwierigkeiten in der Praxis herausbilden, ist abhängig von den lokalen Gegebenheiten sowie der individuellen Konzeptualisierung, der beteiligten Akteur*innen und der Durchführung der jeweiligen Maßnahme. Trotz dieser Kritikpunkte ist es wichtig, die beiden Begriffe im Diskurs um Friedensprozesse immer zusammenzudenken.

Dabei ist anzumerken, das Local Ownership keinen Rückzug der internationalen Akteur*innen und eine komplette Autonomie der lokalen Akteur*innen fordert, sondern vielmehr eine Übertragung von Verantwortung (Donais, 2012, S. 7) und dadurch auch eine Verschiebung von Macht. Denn Local Ownership bedeutet auch „the degree of control that domestic actors wield over domestic political processes“ (Donais, 2012, S. 1). Also eben nicht nur, dass lokale Akteur*innen angehört werden, Informationen gesammelt werden und sie partizipieren, sondern dass eine Machtumverteilung stattfindet. Lokale Akteur*innen treffen die Entscheidungen über die Projektziele, den Projektverlauf, Strategien und Ergebnisse und entscheiden, wer den Nutzen des Projektes trägt. Doch dieser Gedanke findet in der Praxis nicht immer so Anwendung: „There is much talk of ownership, but often this is not much more than lip service; in effect, locals are supposed to ‘own’ what outsiders tell them to – ‘local ownership clearly means ‘their’ ownership of ‘our’ ideas“ (Boege et al., 2009, S. 611). Sollen diese angesprochenen strukturellen Probleme aufgelöst oder zumindest abgeschwächt werden, ist es wichtig, dass Konzepte wie Local Ownership und Capacitybuilding ernst genommen werden und auf allen Stufen des Friedensprozesses umgesetzt werden, begonnen bei der Planung hin zur Durchführung und Evaluation. Dabei kann es hilfreich sein, nicht so sehr die Konzepte an sich in den Mittelpunkt von Maßnahmen zu stellen, sondern vielmehr an der Beziehung zwischen lokalen und externen Akteur*innen zu arbeiten, unabhängig von den speziellen Projektzielen (Reich, 2006, S. 7). „It is within this relationship that power is or is not shared, and that the equality of the partners may or may not be realized“ (Reich, 2006, S. 4). Dazu ist es wichtig, dass internationale Organisationen und Geldgeber*innen von der Idee einer Output-orientierten und kurzfristigen Planung abrücken. Sie müssen sich den beiden Konzepten in ihrer Tiefe annehmen (Jansen, 2008, S. 39), die eigene Position und die aus dieser Rolle entstehenden Machtasymmetrien kritisch hinterfragen, im Arbeitsalltag berücksichtigen und die lokalen Stimmen tatsächlich ernst nehmen.

3.3.2 Der erste Local Turn

Der Local Turn geht auf einer theoretischen Ebene von einer Umsetzung der Konzepte des Local Ownership und von Capacitybuilding aus und baut weiter darauf auf. Dadurch kommt es zu einer erneuten Verschiebung der kritisierten Machtverhältnisse, einer Verschiebung hin zu noch mehr Ownership, Capacity und nachhaltigen Friedensprozessen. In der theoretischen Diskussion wird zwischen zwei Local Turns unterschieden. Diese Diskussion wird durch die Einführung des bestehenden Konzepts von Friction als drittem Local Turn erweitert.

Die verschiedenen Akteur*innenebenen und Bearbeitungsmöglichkeiten von Konflikten prägen den in der Wissenschaft sogenannten ersten Local Turn. Dieser basiert unter anderem auf Friedens- und Konflikttheorien von Azar (1990)Footnote 8, Curle (1994), Fisher und Kelman (2003), Freire (1990)Footnote 9 und Galtung (1969). Zunächst ist er als starke Kritik an liberalen Ansätzen und auch als Reaktion auf die Fehler der Peacebuilding-Missionen der 1990er Jahre zu sehen. Es wird davon ausgegangen, dass geplante und umgesetzte Friedenseinsätze in der Praxis nicht gut funktionieren können, da auf lokale Bedürfnisse und schon lokal vorhandene Strukturen oder Ideen nicht eingegangen wird. Vielmehr wird dafür appelliert, dass ein nachhaltiger Frieden nur von innen entstehen kann und deswegen lokale Akteur*innen eine maßgebliche Rolle spielen. Dabei wird davon ausgegangen, dass lokaler Frieden mehr als Sicherheit und die Abwesenheit von Krieg benötigt. Es braucht viel mehr einen positiven Frieden (Galtung, 1969), dieser ist jedoch in der Regel nicht durch Reformen von Externen zu erreichen. Diese sind stattdessen zum Beispiel durch Mediation, nicht offizielle Diplomatie, Friedensprozesse durch die Bevölkerung (Curle, 1994), durch Beziehungsarbeit und problemorientierte Workshops (Fisher & Kelman, 2003, S. 333) oder Versöhnungsarbeit (Paffenholz, 2015, S. 859) zu erreichen. Somit wird Peacebuilding als ein langwieriger Transformationsprozess verstanden. Der erste Local Turn geht also davon aus, dass externe Akteur*innen benötigt werden, um Frieden lokal zu initiieren und die externen Akteur*innen die Ziele definieren und anleitend handeln.

Auf diesen Annahmen aufbauend basiert der erste Local Turn auf der Konflikttransformationstheorie von Lederach, der Problematisierung von Top-down-Ansätzen und seiner Akteur*innenpyramide. Er kann als ein holistischer und facettenreicher Ansatz gesehen werden, um einen Konflikt in seinen verschiedenen Phasen zu bearbeiten. Dabei geht Lederach davon aus, dass friedensfördernde Maßnahmen immer in den entsprechenden lokalen Kontext eingebunden sein müssen. Er geht von einem fortlaufenden Prozess aus, welcher Beziehungen, Verhalten, Einstellungen und Strukturen von negativ zu positiv verändert. Um diesen Prozess zu ermöglichen, ist eine Schwerpunktlegung auf die Wiederherstellung und den Wiederaufbau von Beziehungen zu legen. Daher geht Lederach davon aus, dass es nachhaltiger ist, wenn Friedensabkommen von den Personen, Initiativen und Organisationen geschlossen werden, die ein nachhaltiges Interesse an einer konstruktiven Konflikttransformation und einem Ende des Konflikts haben. Dafür bedarf es einer großen sozialen Partizipation (Lederach, 1997, S. 94) auf verschiedenen Akteur*innenebenen. Gerade durch die Einbeziehung der Bevölkerung vor Ort werden Abhängigkeiten reduziert und der Konflikt schon auf der Grassroot-Ebene angegangen. Deshalb sollte sie so früh wie möglich geschehen und als andauerndes Faktum in dem Prozess beibehalten werden (Erasmus, 2001, S. 249). Auch schreibt Lederach nicht nur der Grassroot-Ebene eine entscheidende Rolle in friedensfördernden Prozessen zu. Sondern auch den in seiner Akteur*innenpyramide in der Mitte stehenden Akteur*innen wie zum Beispiel lokalen CSOs oder zivilgesellschaftlichen Organisationen (Lederach, 1997, S. 60). Er appelliert an externe Akteur*innen, die Zusammenarbeit mit diesen zu stärken (Lederach, 1997, S. 52). Damit dies funktionieren kann, ist der Dialog zwischen den lokalen und externen Akteur*innen wichtig. Gleichzeitig müssen Strukturen geschaffen werden, welche es der lokalen Gesellschaft ermöglichen, sich in Planung, Management, Implementation, Supervision, Monitoring und Evaluation einzubringen. Ebenfalls sollten bestehende Ressourcen in der Gesellschaft ausgebaut werden und Community Ownership gefördert werden (Erasmus, 2001, 249 f.). Diese Punkte können nur erfüllt werden, wenn ein Umfeld geschaffen wird, in dem lokale Akteur*innen als gleichberechtigte Partner*innen angesehen werden, sie mit Respekt behandelt werden und alle Prozesse transparent ablaufen. Doch diese Punkte werden in dem ersten Local Turn nur stückweise erfüllt und ansatzweise diskutiert.

Zwar gelten der erste Local Turn und insbesondere Lederachs Ansatz als die ersten Theorien, welche sich aktiv für mehr Einbezug von lokalen Akteur*innen im Peacebuilding aussprechen und gleichzeitig auch von vielen internationalen Peacebuilding-Maßnahmen in Teilen übernommen wurden (Paffenholz, 2013, S. 19). Zu kritisieren ist dennoch, dass theoretisch kaum eine Reflexion darüber stattfindet, wer die lokalen Akteur*innen sind oder was unter dem Konzept „lokal“ zu verstehen ist (Paffenholz, 2010a, 53 ff.). So eröffnet die Akteur*innenkategorie meist mehr Fragen, als sie löst.

Des Weiteren ist es in der Praxis in vielen Konzepten oft nicht vorgesehen, dass die Zivilbevölkerung aktiv wird und eigene Vorstellungen zum Asdruck bringt oder umsetzt. Stattdessen wird sie auf oft paternalistische Weise von den externen Akteur*innen nach deren Ideen und Vorstellungen belehrt (Exo, 2017, S. 365) und Handlungen nach deren Vorstellungen umgesetzt. Durch diese Praxis werden lokale Akteur*innen noch immer als Empfänger*innen von westlichem Wissen gesehen, was sie dann zwar selbstständig, jedoch nach externer Vorgabe umsetzen. Denn die Rolle der externen Akteur*innen wird zunächst darin gesehen, die lokalen Akteur*innen in ihren Handlungen zu unterstützen (Paffenholz, 2015, S. 858). Somit sind die lokalen Akteur*innen noch immer von liberalen Denkmustern des Peacebuilding abhängig und sollen lernen, diesen Denkmustern zu folgen (Mac Ginty, 2010). Durch diese ungleiche Beziehung kommt es schnell zu einer Patron-Klienten-Beziehung, welche ein partnerschaftliches Arbeiten schwierig macht. Genau an diesem Punkt ist der erste Local Turn zu kritisieren. Denn hier steht der*die internationale Akteur*in noch immer in einer übergeordneten Rolle, da er*sie zum Beispiel die Trainings und Infrastruktur für die Umsetzung der lokalen Ideen bereitstellt und erst durch seine Denkanstöße die lokalen Kapazitäten zutage kommen und gefördert werden (Paffenholz, 2015, S. 860). Es findet in der theoretischen Diskussion keine Reflexion über Macht(-ungleichgewicht) (Fetherston, 2000, 206 f.; Scheye, 2008, 59 f.) und unterschiedliche lokale und kulturelle Kontexte (Bendaña, 1996, S. 75) statt. Außerdem wird wenig über die Prozesshaftigkeit von Peacebuilding reflektiert (Miall, 2004, S. 7). Um diese Beziehung aufzulösen ist es wichtig, sie zu reflektieren und offenzulegen. „Existing power imbalance should not be covered up by merely upholding an image of equal partnership. Rather, the awareness of imbalance allows for the implementation of space for its transformation“ (Reich, 2006, S. 22).

3.3.3 Der zweite Local Turn

An diese Kritik knüpft der in der Literatur sogenannte zweite Local Turn an. Er entstand als kritische Reaktion auf gescheiterte und situationsverschlechternde, liberale Peacebuilding-Maßnahmen in Afghanistan und dem Irak (Chandler, 2010) und sieht den liberalen Frieden als endgültig gescheitert an (Belloni, 2012). Auf theoretischer Ebene ist die Diskussion in post-strukturalistischen und postkolonialen Theorien verankert und bezieht sich auf Autor*innen, die kritische Friedensforschung betreiben. Sie finden ihre theoretischen Grundlagen zum Beispiel bei (Foucault, 1980) Theorie um Macht und Wissen, welche er als zwei eng miteinander verflochtene Konzepte betrachtet. Auch bei Bhabhas Fragen der transformatorischen Veränderungen abseits von Prinzipien wie Klasse oder Nation (Bhabha, 1994, 42 ff.) und bei (Scott, 1985), der sich mit lokalen Formen des Widerstandes beschäftigt. Seit den vergangenen fünfzehn Jahren wird die Diskussion maßgeblich von Roger (Mac Ginty & Richmond, 2013) geführt und vorangetrieben.

Die im Zentrum stehende Kritik am liberalen Frieden lässt sich dabei in die von moderaten Kritiker*innen und in Fundamentalkritik unterteilen. Zu den moderaten Kritiker*innen zählt vor allem Roland Paris. Dieser argumentiert zurückgehend auf (Huntington, 1968), dass negative Effekte von (liberalem) Peacebuilding durch den Prozess der Liberalisierung an sich und nicht durch das Ziel der Marktdemokratie hervorgerufen und verursacht werden (Paris, 1997, 2010). Vielmehr kritisiert Paris die Vorgehensweisen in der Praxis, welche er als „shock therapy“ (Paris, 2010, S. 361) bezeichnet, da Peacebuilding-Maßnahmen oft zu schnell und nicht gut koordiniert stattfinden. So schlägt Paris zusammen mit anderen moderaten Kritiker*innen vor, dass Peacebuilding-Maßnahmen über einen längeren Zeitraum stattfinden sollten. Danach müssen von Beginn an nationale Strukturen gestärkt werden, um langfristig souveräne, lokale Regierungen herauszubilden und erst in einem zweiten Schritt wirtschaftliche und politische Liberalisierung zu fördern (Paris, 2010). Demgegenüber stehen fundamentale Kritiker*innen, welche den liberalen Frieden an sich kritisieren, als neokolonial einstufen und diesen dekonstruieren. Diese Kritik wurde bereits in Abschnitt 3.1.3 dargestellt. Zusammenfassend sieht sie liberales Peacebuilding als Teil eines größeren Machtapparates (Fetherston, 2000, S. 200), der eine neoliberale Agenda verfolgt, Frieden mit Staatsaufbau gleichsetzt, Institutionen in den Mittelpunkt rückt (Richmond, 2011a) und das Lokale, wenn es überhaupt betrachtet wird, romantisiert (Pugh, 2013, S. 14).

Aufbauend auf dieser Kritik geht der zweite Local Turn davon aus, dass das Lokale der Startpunkt für jede friedenskonsolidierende Maßnahme sein sollte (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 772). Sein Ziel ist die Analyse von Machtstrukturen, Akteur*innen und lokalen Formen des Widerstandes, um einen post-liberalen Frieden zu schaffen, welcher das Lokale ernst nimmt (Chandler, 2015). Der Local Turn argumentiert für die Inklusion der lokalen Akteur*innen in die Prozesse, um bisher gemachte Fehler wie zum Beispiel das Aufoktroyieren von Normen zu verhindern. Dabei ist der Local Turn als „an important opportunity in the conceptualisation and making of peace“ (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 780) zu sehen, welcher gelingen kann, wenn Peacebuilding emanzipierend wirkt und lokale Gegebenheiten berücksichtigt und einbezogen werden. Der Fokus liegt hierbei klar auf den lokalen Personen und den lokalen Friedensprozessen und rückt den „alltäglichen Frieden“, den Everyday-Peace, in den Vordergrund. „By focusing on everyday peace, or the coping mechanisms deployed by so-called ordinary people, we can confront the dominant narrative that associates peacebuilding expertise with outsiders and essentialism ‘locals’ as insular and passive“ (Mac Ginty, 2014, S. 551). Er gibt Einblicke in lokale Strategien des Widerstandes und der Solidarität und betrachtet die immer stärker hybrid werdenden lokalen-internationalen Gefüge (Acharya, 2004). Das Alltägliche wird zum Ort des Handelns und zum Medium, durch das beispielsweise die Verantwortungsübernahme nicht durch den Staat oder die Institutionen, sondern eben durch das tägliche Leben ermöglicht wird (Agamben, 1998; Sylvester, 2006). Friedensprozesse werden damit auf die Mikroebene gerückt. Jedoch ist es in der Praxis nicht immer einfach zu verstehen, was Everyday für die jeweiligen Personen und den jeweiligen Kontext meint und wie dieses umgesetzt und ausgelebt wird (Richmond, 2009a, S. 332).

Damit richtet sich der Local Turn gegen liberale Friedensprozesse, welche theoretisch, praktisch und normativ lange die Diskussion bestimmten. Stattdessen rückt der Local Turn das Lokale in den Vordergrund und verabschiedet sich von liberalen Normen. Im Local Turn ist das Lokale als Ansammlung oder auch Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen zu verstehen, welche lokal vor Ort in dem Konflikt und in der Post-Konfliktgesellschaft verankert und aktiv sind und sich unabhängig und konträr von internationaler Unterstützung für Friedensprozesse einsetzten und dabei vor Ort Legitimität erfahren. „Many indigenous and traditional practices rest on the moral authority of respected community figures such as village elders or other sources of counsel“ (Mac Ginty, 2011, S. 54). Dieser lokal verankerte Friedensprozess kann von politischen Dynamiken, formellen Friedensabkommen und weiteren Akteur*innen beeinflusst werden, bleibt jedoch lokal verankert und folgt dabei nicht zwangsläufig nationalen oder internationalen Vorgaben (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 769).

3.3.4 Praxisnahe Überlegungen zum Local Turn

Mac Ginty und Richmond erklären diese Entwicklung praxisnah auf verschiedenen Ebenen. „It should not be forgotten that the Local Turn is grounded in real-world events“ (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 766). Zum einen heben sie die Bedeutung von unzureichenden beziehungsweise nicht erfolgreichen Peacebuilding-Missionen hervor (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 774). Zum anderen betonen sie, dass die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung im Kontext der Friedensbemühungen durch Akteur*innen aus dem Globalen Süden immer mehr zunehmen (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 775).

Die Friedenseinsätze der 1990er Jahre haben zu einer größer angelegten Debatte um die Einbeziehung von Local Ownership in der Entwicklung und Implementierung von Reformmaßnahmen in Post-Konfliktkontexten geführt (Jansen, 2008, S. 39). Die Wende kam unter anderem auch daher, dass nach Ende des Kalten Krieges die allgemeine Wende von Peacekeeping zu Peacebuilding stattfand, eine größere Kooperation zwischen den verschiedenen Akteur*innen gefördert wurde und eine eher liberale Friedensagenda angelegt wurde (Roberts, 2011, 9 ff.). Diese Neuausrichtung geschah unter anderem aufgrund der Anerkennung der Tatsache, dass Friedensprozesse nachhaltiger sind, wenn sie lokal verankert, unterstützt und getragen sind (Wandel aus Prinzip). So kam der Begriff des Local Ownership schnell in Policy-Dokumente, fand Einzug in internationale Organisationen und wurde Voraussetzung zur Durchführung von Projekten. Dies zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass wichtige Organisationen die konzeptionelle oder praktische Arbeit zum Thema Friedenssicherung durchführen. So haben etwa die Vereinten Nationen, die Europäische Union oder die Weltbank das Konzept von Local Ownership in ihre jeweiligen Agenden zur Sicherung und Wiederherstellung von Frieden eingebettet und dem Konzept eine bedeutsame Rolle zugeschrieben (Leonardsson & Rudd, 2018, S. 14). Außerdem erfolgten als Reaktion auf diese Entwicklungen auch konkrete Veränderungen von UN-Strategien. So zum Beispiel die Gründung des Permanent Forum on Indigenous Peoples im Jahr 2000, die Verabschiedung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates, welche Frauen*Footnote 10 gleichberechtigt in Friedensverhandlungen einbezieht oder die seit 2018 bestehenden Pathways for Peace (The Word Bank, 2018), welche Friedensprozesse inklusiver gestalten. Dies sind nur einige Beispiele für die Verschiebung hin zu mehr Buttom-up-Prozessen.

Somit gibt es auf politischer Ebene zwar Anerkennung dafür, dass das Prinzip des Local Ownership wichtig ist, jedoch gibt es große Herausforderungen in der Implementierung (Randazzo, 2017, S. 202), da jede*r Akteur*in mit anderen Schwerpunkten und Definitionen arbeitet. Jede*r Akteur*in hat dabei die Freiheit, das Konzept von Local Ownership nach seinem eigenen Verständnis, eigenen Positionen, Interessen und Schwerpunktsetzungen auszugestalten. Insgesamt wurde wenig dazu gearbeitet, wie diese Kooperationen genau aussehen sollen, wie lokale Einbeziehung nachhaltig gestaltet werden kann und wie Autorität nach einem Konflikt übertragen werden kann (Jansen, 2008, S. 39). Trotzdem nimmt Local Ownership in dem Diskurs einen hohen Stellenwert ein. „‘Local ownership’ is the current phrase on the lips of all agencies for development cooperation, purporting to reflect a reorientation of approach that more highly values the need for home-grown solutions to conflict problems and for partnerships to be locally driven“ (Reich, 2006, S. 3). Allerdings zeigt sich immer wieder, dass durch die fehlende Konzeptualisierung auch Verunsicherungen für die Personen, die in den Prozessen arbeiten, entstehen. So bestätigen beispielsweise Mitarbeiter*innen der UN in Interviews, dass die Unsicherheit gegenüber dem Konzept von Capacitybuilding und der Einbeziehung lokaler Akteur*innen ihre Friedensarbeit hemme. So fasste ein Senior-UN-Officer diese Auffassung zusammen: „Capacity Building, what does that mean […]? It is completely undefined […] it is very frustrating not to have clear guidelines […]. There is no standard approach so it is impossible“ (Wilén, 2009, S. 342).

Dennoch ist davon auszugehen, dass bei einer guten Ausgestaltung der Einbeziehung lokaler Akteur*innen und vor allem in Form von lokal initiierten Projekten ein angemesseneres kontextspezifisches Handeln in Friedensprozessen sichergestellt werden kann. Lokale Ansätze in der Friedensarbeit dürfen dabei nicht als marginal betrachtet werden, sondern müssen in ihrer vollen Komplexität, ihrer Mischung aus Ritualen, lokalem Wissen und Methoden anerkannt werden. Die so lokal imitierten Prozesse dürfen dabei nicht nur formaler Gestalt sein, sondern können auch informell gestaltet werden (Richmond, 2010, S. 690). Ein großer Vorteil ist, dass die lokalen Akteur*innen vor Ort verankert sind und Wissen über lokale Lebensgewohnheiten, Werte und Konflikte mitbringen, Themen, die sich die externen, internationalen Akteur*innen in dem Maße vor Beginn eines Friedensprozesses nicht tiefgreifend aneignen können (Osaghe, 2000, 201 f.).

Dabei liegt die Aufgabe der internationalen Akteur*innen „in allowing space and time for local positions to develop and in facilitating consensus-building by furthering representativeness and transparency“ (Jansen, 2008, S. 51). Eine Balance zwischen Unterstützung, Abhängigkeit und Machbarkeit muss gefunden werden, welche in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen ist. Dabei ist ein reflexiver Prozess besonders wichtig.

„At the heart of the local turn are notions of particularism and local variation that confront universalist ideas and practices, as well as the ‘natural’ historical progressiveness that places the North/West at the top of the current international epistemic hierarchy, simultaneously absolved from blame for colonialism and inequality“ (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 772).

Betrachtet man das theoretische Konzept des Local Turn, ist es also wichtig, sich die involvierten Akteur*innen und deren Beziehungen zueinander anzuschauen. Auch wenn auf theoretischer Ebene der zweite Local Turn mehr als Widerstandsform betrachtet wird, so findet in der Praxis doch immer wieder eine Zusammenarbeit der Akteur*innen wie im ersten Local Turn statt. Im Mittelpunkt steht somit meist die Zusammenarbeit von internationalen und lokalen Akteur*innen. Dabei sollte eine partnerschaftliche Arbeit im Fokus stehen, welche die lokalen Praktiken ernst nimmt und lokales Wissen in den Vordergrund stellt. Da Kompetenzen im Bereich der lokalen Friedensarbeit durch lokale Akteur*innen anerkannt werden (Mac Ginty, 2010, S. 408), kommt es zu einer Hinwendung zu einer stärkeren Betonung der lokalen Interessen und zu einem Rückzug der hegemonialen Stellung der internationalen Akteur*innen. An dieser Verschiebung ist besonders wichtig, dass lokale Akteur*innen ernst genommen werden, was oft auf Grundlage einer gegenseitigen Kooperation, gegenseitigen Vertrauens und eines guten Informationsflusses geschieht (Herman & Martin-Ortega, 2011). Um diese vertrauensvolle Arbeit durchzuführen, ist es ebenfalls wichtig, für externe und lokale Akteur*innen die passenden Partner*innen zu identifizieren. Um dies in der Praxis funktional zu machen, bedarf es eines empathischen Umgangs miteinander (Roberts, 2011, S. 90), einer Akzeptanz der Limitation der Handlungsfähigkeit von externen Akteur*innen und einer zunehmenden lokalen Verantwortung. Bei der Partner*innenauswahl können folgende Kriterien wichtig sein: Effizienz, der Grad der Legitimation der Partner*innen, das internationale Ansehen, die lokale Unterstützung der Partner*innen, das Kapital und die Kapazitäten der Partner*innen (Jansen, 2008, 43 f.). Im Zuge dessen ist es wichtig, dass zwischen den externen und den lokalen Partner*innen eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit geschlossen wird, in der die Rollen, Zuständigkeiten, Ziele und Verantwortungen festgelegt werden. Einen sehr großen Vorteil bietet der Ansatz des zweiten Local Turn somit auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Friedensmaßnahmen.

Nachhaltig Ownership zu schaffen und lokale Strukturen zu fördern, benötigt Zeit. Denn die Maßnahmen vor Ort verlaufen nicht linear und können deshalb vorab nur schwer in einen fixen zeitlichen Rahmen gebettet werden. Daraus ergibt sich eine zeitliche Ambivalenz: „Reform processes are long-term endeavors that marry short-term crisis management tasks with the long-term development of institutions, capacity and culture“ (Jansen, 2008, S. 39). Im 2015 erschienenen VN-Bericht Challenge of sustaining peace werden diese vorgesehenen, oft engen Zeitrahmen für gegenwärtige Friedensmissionen der VN kritisiert und die damit einhergehende Erwartungshaltung als „completely unrealistic“ (United Nations, 2015a, S. 18) eingestuft. Die oft zeitlich zu knapp gefassten Projekte führen zu einer sehr Output-orientierten Ergebnishaltung durch die involvierten Geldgeber*innen und internationalen Organisationen. Sie begrenzen zeitintensivere, deliberative Methoden, die tatsächlich zu einer Etablierung von Zusammenarbeit führen können und die die Interessenslage aller Akteur*innen berücksichtigen. Durch diese engen Zeitfenster und Limitationen in den zur Verfügung stehenden Ressourcen, zum Beispiel im finanziellen Bereich, wird deutlich, dass friedenskonsolidierende Maßnahmen trotz Ansprüchen wie Local Ownserhip und Capacitybuidling immer noch zu großen Teilen abhängig von dem einseitigen Ressourcentransfer von Nord nach Süd (Girgis, 2007, S. 354) sind. Dies bedeutet zwangsläufig, dass die Arbeit am Friedensprozess nach einer gewissen Zeit an die Bevölkerung vor Ort übertragen wird. In vielen Fällen stellt sich dies schwierig dar. Denn es kann gerade bei langer externer Unterstützung einerseits zu einer Abhängigkeit des Staates von externer Hilfe kommen. Andererseits kann bei zu kurzer externer Unterstützung kein stabiler Aufbau an Friedensmaßnahmen stattfinden (Wilén & Chapaux, 2011, 543 ff.). Auch spielt dabei eine große Rolle, an welche Akteur*innen die Prozesse übergeben werden. „Including the right people into the decisionmaking process can constitute a significant contribution to building peace“ (Paffenholz, 2001b, S. 537). Grundsätzlich besteht ein hohes Restrisiko für einen Rückfall in eine Krisensituation und für einen Kollaps des bisher Aufgebauten. Um dem entgegenzuwirken, muss darauf geachtet werden, dass die Verteilung der Macht und der Aufgaben nicht nur virtuell, pro forma oder oberflächlich geschieht (Mac Ginty, 2011, S. 59). Die Übergabe von Verantwortung an lokale Partner*innen von Beginn an und durch einen Bottum-up-Prozess ermöglicht hingegen einen leichteren Ausstieg der internationalen Akteur*innen aus dem Friedensprozess. Darum ist es wichtig, lokale Partner*innen von Anfang an als gleichberechtigt zu betrachten und ihre Legitimation vor Ort zum Vorteil zu nutzen und weiter zu stärken (Jansen, 2008, S. 44). Lokale Akteur*innen sollen nicht länger als eine Art Juniorpartner*innen verstanden werden. So stellt Czempiel zu Recht fest, dass diese präventiven und emanzipatorischen Ansätze kostengünstiger und schlussendlich dem Ziel des positiven Friedens näher sind als Methoden, die als conservative oder gar hyper-conservative einzustufen sind (Czempiel, 2000, S. 160). Dies geht mit der Hypothese einher, dass ein nachhaltiger Frieden wahrscheinlicher ist, wenn die Zivilbevölkerung aktiv in den Friedensprozess eingebunden ist. „Only a peace that emanates from the everyday […] will legitimate and sustain postconflict peacebuilding internally“ (Roberts, 2011, S. 90).

3.3.5 Kritische Betrachtungen

Dennoch kann es auch im Local Turn zu unterschiedlichen Machtverteilungen kommen. Denn nach der derzeitigen theoretischen Konzeption kann das Lokale nur in Bezug zu Kategorien wie „national“ oder „international“ bestehen (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 770). Dies liegt auch daran, dass die Konstruktion und schwache Konzeptualisierung der beiden Akteur*innenkategorien „lokal“ und „international“ als binäre Oppositionen im Local Turn nur unzureichend stattfinden und das Lokale kaum definiert (Bräuchler, 2017) beziehungsweise zum Objekt gemacht wird (Randazzo, 2017, S. 202).

„The Local Turn is hampered by a binary and essentialist understanding of the local and the international, which are presented as the only relevant locations of power or resistance. This leads to an ignorance of local elites, provides a romanticised interpretation of hybrid peace governance structures, overstates local resistance and presents an ambivalent relationship to practice“ (Paffenholz, 2015, S. 857).

Diese Konstruktion geht auch davon aus, dass sich beide Kategorien eventuell nicht miteinander vereinbaren lassen oder aber zumindest immer konträr sind. Einen möglichen Lösungsansatz bieten die Delokalisierung der beiden Begriffe (Kappler, 2015) und die Einführung der Begriffe Insider und Outsider (CDA, 2004, S. 22). Diese können der starren Konstruktion und Reproduktion von Machtungleichgewichten entgegenwirken. Der Begriff Outsider steht dabei für Akteur*innen, welche Finanzmittel, Expertise oder internationale Verbindungen bereitstellen, während der Begriff Insider für Akteur*innen steht, welche direkt von dem Konflikt betroffen sind und in der Konfliktregion leben. Outsider entscheiden sich dafür, in die Konflikttransformation eingebunden zu werden, wohingegen Insider notgedrungen involviert sind. Die Begriffe Insider und Outsider sind offener für unterschiedliche Perspektiven (Anderson & Olson, 2003, 37 ff.) und eine durchlässigere Definition der Akteur*innenkategorie.

Durch diese Einführung von neuen Begrifflichkeiten kann einem der größten Kritikpunkte am Local Turn entgegengewirkt werden. Dennoch müssen die zunehmende internationale Akzeptanz und Förderung von lokal verankerten Friedensprozessen auch kritisch betrachtet werden. Es ist wichtig, dass die lokalen Akteur*innen reflexiv betrachtet werden, sowohl von innen als auch von außen. Dabei sollte immer der mögliche ambivalente Charakter lokaler Ansätze reflektiert werden, denn nicht alle lokal verankerten Projekte sind automatisch „gut“ und „nachhaltig“. Auch in lokalen Ansätzen der Friedensarbeit kann es zu Machtungleichgewicht, Diskriminierung oder unfairen Verteilungen zwischen den lokalen Akteur*innen kommen. Eine Wahrnehmung des Lokalen als nur „gut“ und als Allheilmittel für Friedensprozesse ist eine fälschliche Romantisierung des Lokalen an sich (Mac Ginty & Richmond, 2013, S. 770). Ebenso ist auch in lokalen Friedensprozessen eine Auflösung von Machtstrukturen und Hierarchien nicht komplett möglich, diese bestehen auf lokaler Ebene weiter. So üben oft Personen aus dem Top-level mehr Macht aus und vertreten ihre eigenen Interessen und Vorstellungen und nicht die der gesamten Bevölkerung. „Any universal peace system is therefore open to being hijacked by hegemonic actors“ (Richmond, 2006a, S. 390).

Dennoch bleiben gerade in der Praxis die Kategorien lokal und international als zwei sich gegenüberstehende Akteur*innenkategorien bestehen und selbst die Auflösung in Insider und Outsider beschreibt zwei Akteur*innenkategorien und eine Intervention von außen (Randazzo, 2017, S. 205). Zu kritisieren ist dabei nicht nur die Auflösung in zwei Kategorien, sondern vielmehr, dass nicht beachtet wird, wie Prozesse und Interaktionen zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen stattfinden und wie diese einer gemeinsamen Transformation unterliegen. Wie bereits in Abschnitt 3.2 dargestellt, kommt es in Friedensprozessen zu Aushandlungsräumen zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen. Die so beschriebene Hybridität in Friedensprozessen wird in der Regel verwendet, um die Vermischung von lokalen und globalen Strukturen und Praktiken und die Beziehung zwischen den Akteur*innen (formal und informell) darzustellen. Dabei geht das Konzept von Hybridität mehr auf das Ergebnis als auf den Prozess und die Interaktionen an sich ein (Björkdahl et al., 2016b, S. 8). Hybridität an sich ist nicht unfähig, diese Rolle zu übernehmen. Jedoch wurde es in der Praxis als Konzept als etwas abgetan, was noch geplant und in die Agenda und Policies aufgenommen werden muss. Dahingegen ist das Konzept der Frictions resistenter, da es den gesamten, komplexen Prozess umfasst (Millar, 2016b, S. 42). Frictions sind als Weiterentwicklung von Hybridität zu sehen und können somit noch stärker auf die Komplexität und Unvorhersehbarkeit eingehen. Besonders die Unvorhersehbarkeit stellt die Forscher*innen vor eine große Herausforderung, da sie „new arrangements that display hybrid features, where for instance, liberal and illiberal norms co-exist“ (Björkdahl et al., 2016b, S. 8) hervorrufen kann.

3.4 Hybridität und der Local Turn neu gedacht – das Konzept von Frictions

In den letzten Jahren haben sich internationale Akteur*innen verstärkt für hybride Friedensprozesse und die Abgabe von Ownership ausgesprochen. Doch sind diese Schlagworte oft zu neuen Toolboxen geworden, welche in Interventionen geplant und administrativ verwaltet werden (Björkdahl et al., 2016b, S. 2). Auch wird hier in der Praxis und in den theoretischen Überlegungen der Fakt ausgelassen, wie dabei die Interaktionen zwischen lokalen und internationalen Akteur*innen ablaufen. Obwohl das Konzept der Hybridität auf dem Ergebnis der Interaktion basiert, geht es nicht auf den hybriden Prozess und die Interaktionen selbst ein (Björkdahl et al., 2016b, S. 8). Aus diesem Grund ist es wichtig, das Konzept von Frictions zu betrachten, um die Interaktionen in die theoretische Diskussion einzubeziehen. Durch die Komplexität von Post-Konfliktsituationen, welche oft durch verschiedene parallel laufende friedenskonsolidierende Prozesse gekennzeichnet sind, wird es notwendig, analytische Konzepte anzuwenden, welche sowohl die Komplexität als auch die Unvorhersehbarkeit einbeziehen können (Millar et al., 2013, S. 142). Das Friction-Konzept wird in der Friedens- und Konfliktforschung erst seit einigen Jahren vertieft diskutiert und versteht besonders die Interaktion und gegenseitige Einflussname als Ressource. „It is in the interaction between the actors involved in post-conflict intervention that friction occurs“ (Björkdahl et al., 2016b, S. 2).

Bezogen auf einen anderen Kontext ging Carl von Clausewitz davon aus, dass Friction in Bezug auf Konflikte ein zu überkommendes Hindernis darstellt und dazu führen kann, dass Pläne nicht durchgeführt werden können (Clausewitz, 1832, 44 f.). Somit wird Friction als etwas verstanden, was geschieht, wenn es einen Widerspruch zwischen dem Geplanten und der Umsetzung gibt. Friction kann demnach als eine Kraft betrachtet werden, die ein Vorankommen verringert und verlangsamt, da sie unabhängig von der Richtung, in die ein Prozess verläuft, in die Gegenrichtung steuert. Die heutige post-liberale Friedens- und Konfliktforschung orientiert sich dagegen an dem von der Ethnografin Anna Lowenhaupt (Tsing, 2005) eingeführten Begriff Friction, der eine positivere Konnotation hat. Demnach wird Friction nicht als Verlangsamung eines Prozesses, sondern als produktive Kraft verstanden, und es wird die aufkommende und unerwartete Natur unbeabsichtigter und ungeplanter Konsequenzen betont. Der Begriff ist dabei aus Interaktionen und der Prozesshaftigkeit heraus als „the unexpected and unstable aspects of global interaction“ (Tsing, 2005, S. xi) definiert. Dadurch wird Friction als eine Möglichkeit verstanden, wie liberale Ansätze von globalen Akteur*innen in der Praxis in Post-Konfliktgesellschaften aufgeladen und verändert werden. Die in den Veränderungen entstehenden Reibungen bringen dabei zum Ausdruck, wie die globalen Akteur*innen, ihre Ideen und ihre Praktiken sich mit der lokalen Realität auseinandersetzten. Somit wird Friction als ein Prozess der Reibung verstanden, welcher durch (konflikthafte) Begegnungen entsteht. Dabei muss das Ergebnis dieser Reibung nicht zwangsläufig negativ sein. Tsing vergleicht diesen Prozess mit dem Anzünden eines Feuers: „Rubbing two sticks together produces heat and light; one stick alone is just a stick“ (Tsing, 2005, S. 5).

Generell ist Friction als ein analytisches Tool und als konzeptuelle Linse (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 294) zu sehen, welches eine Interpretation der Ergebnisse der Interaktion in komplexen Post-Konfliktgesellschaften zulässt. Daher kommen auch viele Annahmen für das Konzept direkt aus empirischen Untersuchungen.Footnote 11 Durch eine Beachtung dieses analytischen Konzepts ist es möglich, die komplexen Dynamiken in der Friedensarbeit besser zu verstehen. „It puts the focus on how peacebuilding processes can produce both contestation and cooperation and, in this sense, serves either to preserve or challenge the status quo“ (Björkdahl et al., 2016a, S. 204). Insgesamt wird der Fokus weniger auf das Ergebnis der friedenskonsolidierenden Maßnahmen als vielmehr auf den Prozess an sich gelegt. Welches Ergebnis am Ende des Prozesses steht, ist offen und für die Betrachtung an sich nicht von Relevanz. Es geht vielmehr um die ungeplanten, neuen Ergebnisse, welche in der Prozesshaftigkeit entstehen. Da dies ungeplant und in einem kreativen Prozess geschieht, kann von einem „akward engagement“ (Tsing, 2005, S. xi) gesprochen werden. Hier lassen sich sechs verschiedene Möglichkeiten der Prozesshaftigkeit festhalten: Konformität (erzwungene Befolgung oder Unterwerfung unter globale/externe Diskurse und Praktiken zwischen Akteur*innen), Annahme (Übernahme von globalen/externen Normen und Praktiken auf lokaler Ebene), Anpassung (Anpassung und Kontextualisierung von globalen/externen Normen und Praktiken an lokale Besonderheiten), Kooptierung (Strategische Übernahme des Globalen/Externen ins Lokale als Mittel zur Abwendung von Druck), Widerstand (Dominanz lokaler Merkmale, begrenzte Übernahme globaler/externer Normen und Praktiken) und Ablehnung (Ausschluss von globalen/externen Normen und Praktiken aus dem Lokalen) (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 297). Diese Möglichkeiten kreieren jeweils neue Realitäten, indem sie Machtbeziehungen hinterfragen und transformieren. Außerdem wird deutlich, dass keine Vorhersagen über den Ausgang einer Peacebuilding-Maßnahme gemacht werden können, da diese von unvorhersehbaren Interaktionen abhängig sind. Dabei darf Friction nicht als ein weiteres Element auf der Peacebuilding-Agenda verstanden werden oder als eine Verkomplizierung des Prozesses, sondern muss als individueller Prozess betrachtet werden, welcher durch regelmäßiges Feedback aufgefangen und gemeinsam bearbeitet werden kann (Björkdahl et al., 2016a, 211 f.). Dies ist besonders wichtig, da ein Konzept, welches in einem Kontext funktioniert, in einem anderen Kontext nicht funktionieren muss und sogar schädlich sein kann. Dies geschieht nach Tsing in sogenannten Travelling Packages, vermeintlich universellen Konzepten, welche von internationalen Akteur*innen an verschiedenen Orten eingesetzt und vor Ort lokal übersetzt werden. „[They] travel when they are translated in such a way as to form a significant intervention in a local scene“ (Tsing, 2005, S. 237).

Dabei gilt Friction als eine Beschreibung für Phänomene der kreativen „Reibung“ zwischen dem Geplanten und der tatsächlichen Realität (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 290). Sie darf nicht verstanden werden als ein Widerspruch oder eine Konfrontation zwischen verschiedenen Ideen und Akteur*innen im Peacekeeping, sondern vielmehr als „uneven, unexpeced and uncertain process in which global and local confluence to mediate and negotiate difference and affinity“ (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 294). Somit reagiert das Konzept auf die Dysfunktionalität des liberalen Friedens in der Praxis, auf paternalistische Vorwürfe, eine unzureichende Betrachtung der lokalen Agency und geht auf die im liberalen Ansatz oft ausgelassene Betrachtung von globalen und lokalen Ungleichheiten ein. Das Konzept erlaubt es auf theoretischer und analytischer Ebene, die meist zu wenig theoretisierten Machtbeziehungen zu analysieren und kritisieren, welche die Interaktionen in Peacebuilding-Diskursen und der Praxis prägen. Indem alle Interaktionen, Beziehungen und Artikulationen zwischen den verschiedenen Akteur*innen mit den unterschiedlichen Ideen und Pratiken in ihrer Unvollkommenheit sichtbar gemacht werden und genauer betrachtet wird, wie die friedenskonsolidierenden Prozesse ablaufen und wo es Überschneidungen und Reibungspunkte gibt, wird deutlich gemacht, dass gerade diese Reibungspunkte (Frictions) als Katalysator für Veränderungen dienen können, unvorhergesehene Wirkungen entfalten und als ein produktiver Moment und dadurch nicht negativ zu betrachten sind (Björkdahl et al., 2016b, S. 9). Vielmehr wird dadurch im Vergleich zu anderen theoretischen Ansätzen die Realität der Interaktionen im Peacebuilding besser abgebildet. Dies ist auch möglich, da die in der Praxis oft unüberschaubare Vielzahl von durchgeführten Maßnahmen mit ihrer Prozesshaftigkeit durch das von (Millar, 2013, S. 200) eingeführte Konzept der Compound Friction erfasst werden kann. Dadurch wird es möglich aufzuzeigen, wie die Ziele und Prozeduren verschiedener, gleichzeitig stattfindender Prozesse miteinander verwoben sind. Die Prozesshaftigkeit der Interaktionen bildet die Komplexität, Unsicherheit und Unbestimmtheit der friedenskonsolidierenden Maßnahmen mit möglichen Reibungspunkten ab und bewertet diese positiv. Um diese zu erfassen, kann zum Beispiel das Konzept der Resilienz hilfreich sein: „Resilience approaches seek to work through understanding the concrete context in which social practices and everyday ‘tactics’ produce problematic consequences“ (Chandler, 2015, S. 31). Somit geht das Friction-Konzept weiter als das der Hybridität, welches „is most tangible at the peak of the intervention and is a catalyst for triggering the ensuing hybridisation, which is a process still at work“ (Öjendal & Ou, 2013, S. 367).

Überträgt man das Konzept auf die Praxis, wird deutlich, dass das Lokale nicht als homogene Gruppe betrachtet und behandelt werden kann und dass lokale Akteur*innen in ihrer Komplexität wahrgenommen werden müssen (Björkdahl et al., 2016a, S. 210). Durch den Begriff wird es möglich, die heterogene und oft ungleiche Begegnung zwischen Akteur*innen des sogenannten globalen und des sogenannten lokalen Levels zu beschreiben und die Dynamiken, welche sich in den Peacebuilding-Prozessen abspielen, genauer zu betrachten. Es wird die komplexe Geben-und-Nehmen-Beziehung der Akteur*innen untersucht, welche sowohl die lokalen Gegebenheiten als auch die globalen Gegebenheiten verändert. Hier wird versucht, die unvorhersehbare und ungewisse Natur der Interaktion zwischen internationalen und lokalen Akteur*innen zu analysieren. Es ist also wichtig, den Fokus mehr auf die Art der Beziehung zu legen, welche zwischen externen und lokalen Akteur*innen stattfindet, und sich die Interaktionen genau anzuschauen (Sending, 2011, S. 56). Das Globale und das Lokale existieren dabei nicht als zwei getrennte Sphären, sondern es wird davon ausgegangen, dass Akteur*innen auf allen Ebenen, also (inter-)national, regional und lokal verschiedene Kapazitäten besitzen und in Friedensprozessen auf unterschiedliche Weise eingebunden werden können. Somit werden lokale Akteur*innen nicht mehr als hilflose Opfer verstanden, sondern als Akteur*innen, die eine aktive Rolle in dem Prozess einnehmen (Schia & Karlsrud, 2013, S. 234). Es wird deutlich, dass Peacebuilding aus einer Vielzahl von lokalen und globalen Prozessen besteht, welche parallel stattfinden. „Peacebuilding is not found in a given space […] but at the intersection where the universal and the particular interact“ (Björkdahl et al., 2016a, S. 209). Somit wird deutlich, dass das Lokale und das Globale nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. Sie interagieren vielmehr in einem geteilten Raum und es müssen alle involvierten Akteur*innen mit ihren Kapazitäten wahrgenommen werden. Generell beeinflussen sich alle Akteur*innen gegenseitig und lassen etwas Neues im Prozess entstehen (Buckley-Zistel, 2016, 24 f.). „Frictional interaction between the global actors, discourses and practices and the local counterparts at peacebuilding sites produce new realities comprising global and local elements“ (Björkdahl & Höglund, 2013, S. 292). Somit kann es zu einer globalen Konstruktion des Lokalen, aber auch zu einer lokalen Konstruktion des Globalen kommen (Massey, 2007, S. 12). In der Folge stehen das Globale und das Lokale in ständiger Konfrontation zueinander, beeinflussen sich gegenseitig und die oft vorherrschende Dichotomie zwischen Global und Lokal (Björkdahl & Höglund, 2013) wird verändert. Durch diese Interaktionen in diesem Prozess können vermeintlich universell gültige internationale Normen und Praktiken in Aushandlungsprozessen lokal verankert und neu interpretiert werden. Diese Aushandlungsprozesse sind nicht als leere Räume zu verstehenund die lokalen Akteur*innen nicht als „unwillige“ Objekte der Peacebuilding-Agenda (Björkdahl et al., 2016b, S. 9), sondern als entscheidende Kraft in dem Prozess. Denn sie haben Zugang zu beispielsweise Patronage-Networks, traditionellen Autoritäten, anderen Wirtschaftszweigen und verfügen über Hintergrundinformationen, welche vor, während und nach dem Konflikt existieren. Dabei ist das Lokale nicht als Produkt oder Opfer des Globalen zu sehen, sondern als aktiver Part in dem Austauschprozess, welcher das Globale formt (Buckley-Zistel, 2016, S. 26). Dies führt zu einer Zunahme an Agency und transformativer Kapazität. Somit werden Veränderungen der Machtgefälle zugelassen und Möglichkeiten des Empowerment eröffnet. Friction „is less open to appropriation by the agents of global power in the drive to influence post-conflict societies“ (Millar, 2016b, S. 33). Der Ansatz führt weg von dem oft zu einfachem Bild des Lokalen (Opfer und Produkt des Globalen) und hin zu einer Beeinflussung der globalen Ebene durch das Lokale (Buckley-Zistel, 2016, S. 26). Dabei schließt das Friction-Konzept ebenfalls an die Debatte der Local Agency an und kritisiert damit die Romantisierung des Lokalen und den liberalen Frieden.

Abschließend lässt sich feststellen, dass Debatten über Reibungen bisher oft als unintendierte Nebenwirkung aufkommen. Somit muss sich das theoretische Friction-Konzept noch weiter aufstellen, um nicht zu einer unintendierten Nebenwirkung zu werden. Zusammenfassend ist Friction also als ein unsicherer Prozess zu verstehen, in dem globale und lokale Akteur*innen miteinander in Diskurs treten, gemeinsam interagieren und aushandeln. Neu an dem Konzept ist, dass der Fokus auf die Komplexität der Interaktionen gelegt wird. „It is this multiplicity that gives friction its unpredictable and contingent nature“ (Björkdahl et al., 2016b, S. 7). Das Ziel von Friction ist es also aufzuzeigen, dass der Prozess wichtig ist. Durch die im Prozess entstehenden Reibungen kann gezeigt werden, dass lokale Akteur*innen eingebunden sind und dass diese den Friedensprozess vorantreiben.

3.5 Offene Fragen

Die kritische Diskussion hat gezeigt, dass es eine massive Kritik am liberalen Friedensansatz gibt. Das Konzept des liberalen Friedens gilt als nicht zu retten, wenn er in seinen gegenwärtigen Strukturen bleibt und die lokalen Perspektiven einbezogen werden sollen. Deshalb muss der Begriff der Friedensförderung neu definiert werden und sollte „encompass an interactive process between different actors […] objectives are negotiated for the purpose of building peace. It is based on relations between different actors, and shaped by their interactions“ (Bernhard, 2013, S. 10). Mit den in diesem Kapitel dargestellten theoretischen Ansätzen soll eine Übertragung des politischen Raums in die Eigenverantwortung lokaler Akteur*innen stattfinden. Einhergehend damit entstehen Chancen für alternative Formen der Selbstorganisation lokaler Akteur*innen, welches zu einer höheren Legitimität führt (Darby, 2009, S. 709). Doch auch das Konzept des Local Turn, welches kritisch und kultursensibel sein möchte, hat Schwächen. Auch der Local Turn ist von paternalistischen Sichtweisen und fehlender Kenntnis lokaler Strukturen und Prozesse gekennzeichnet. Dies führt zum einen zu einer Romantisierung der lokalen Akteur*innen, setzt zum anderen aber auch die Reproduktion globaler Ungleichheitsverhältnisse fort. Eine radikale Einstellung sämtlicher Zusammenarbeit von externen Akteur*innen mit Akteur*innen im globalen Süden ist in einer globalisierten Welt jedoch mehr als fragwürdig, wenn nicht sogar unmöglich. Klar ist, dass sich die bestehenden Strukturen nicht kurzfristig ändern lassen. Dennoch ist die Friedensforschung auf dem Weg, liberale Ansätze hinter sich zu lassen und durch eine fortlaufende, kritische Reflexion der bestehenden Machtverhältnisse ihre eigene Kritik aufzubrechen. Um diese Veränderungen weiterhin zu ermöglichen, ist es auch wichtig, akademisches Wissen und Erfahrungen aus der Praxis, welche im Globalen Süden produziert werden, stärker in den Fokus zu rücken. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich mehr aus wissenschaftlicher Perspektive als aus der Praxis, denn der beschriebene Diskurs wird vor allem von westlichen Wissenschaftler*innen geführt, denen es auch aufgrund von Strukturen nicht immer möglich ist, aus westlichen Forschungsperspektiven ausbrechen (Exo, 2017, S. 390).

Noch immer versuchen die neuen Ansätze wie Hybridität, Local Turn und das Friction-Konzept auf Kritiker*innen zu reagieren und das Lokale ernster zu nehmen. Aber wie die Diskussion gezeigt hat, gibt es auch zu diesen Ansätzen einige Kritikpunkte. Generell bleiben einige wichtige Fragen insbesondere im Hinblick auf die (partnerschaftliche) Zusammenarbeit von verschiedenen Akteur*innen unbeantwortet. Offen bleibt, wer Frieden „bringt“ beziehungsweise wer an dem Frieden mitarbeitet. Wer sind die richtigen Personen? Werden externe Personen oder Fachkräfte benötigt oder können dies die Menschen in den jeweiligen Ländern auch ohne Hilfe? Werden Inhalte und Konzepte aufgezwungen oder lokale Konzepte verwendet? Auch besteht die Frage, ob Abhängigkeiten zum Beispiel durch externe Gelder entstehen und wie mit diesen Abhängigkeiten umgegangen wird. Dabei spielt auch die Frage von Macht eine wichtige Rolle. Wer sind die mächtigen Akteur*innen, wer hat Deutungshoheit? Welche Rolle spielt Macht in der Zusammenarbeit? Die offenen Fragen zeigen deutlich, dass es eine theoretische Lücke gibt und die theoretischen Antworten zur Friedensförderung zwar normativ, aber nicht erklärend sind. Diese theoretischen Erklärungsdefizite können nur auf der empirischen Ebene beantwortet werden. Anhand der in der vorliegenden Forschung dargestellten empirischen Beispiele wird somit die empirische Blackbox für lokale Theorien der Friedensförderung bearbeitet.