Zusammenfassung
Kommunalpolitik und -verwaltung wenden sich vermehrt der nachhaltigen Gestaltung des lokalen Ernährungssystems und der lokalen Ernährungswirtschaft zu. In diesem Kapitel geht es darum, die geschichtliche Entwicklung dahinter zu skizzieren und zusammenfassend die Frage zu beantworten, welche Spielräume und Instrumente dafür gegenwärtig zur Verfügung stehen. Abschließend wird der weitere Handlungs- und Forschungsbedarf aufgezeigt.
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1 Rückblick: Ernährung wird zum Thema nachhaltiger Kommunalpolitik
Mitte des 20. Jahrhunderts verlor die Lebensmittelversorgung von Städten und Gemeinden des globalen Nordens politisch an Bedeutung. Dies erfolgte aus der Überzeugung, dass die industrialisierte Land- und Ernährungswirtschaft mit einhergehender Globalisierung eine stabile Lebensmittelversorgung gewährleisten könne. Erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die räumliche Loslösung zwischen Lebensmittelproduktion und -verarbeitung einerseits und Lebensmittelkonsum andererseits deutlich kritischer betrachtet und zunehmend politisch bedeutsam (Morgan 2009; Ermann 2018; Montanari 1995; Viljoen und Wiskerke 2012). Seither ist es zu einer Reihe weiterer nachteiliger Entwicklungen gekommen, u. a. die auf hohem Niveau stagnierende globale Ernährungsunsicherheit, die Zunahme von ernährungsbezogenen Landnutzungskonflikten und die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf Agrar- und Ernährungssysteme (Morgan 2009; Rotz und Fraser 2015). Diese unnachhaltigen Entwicklungen haben mittlerweile dazu geführt, dass Ernährungsthemen in Kommunalpolitik und -verwaltung vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Schon in den 1980er Jahren gründeten sich in Städten und Gemeinden in den USA und Canada „Food Policy Councils“, auf Deutsch „Ernährungsräte“ (Harper et al. 2009). Diese entstanden aus informellen Initiativen und setzten sich für Ernährungsthemen in der Kommunalentwicklung ein (Pothukuchi und Kaufman 1999). Dabei ging es zunächst um soziale Belange, wie den flächendeckenden Zugang der Bevölkerung zu gesunden Nahrungsmitteln. Bald kamen Themen der ökologischen Landwirtschaft und der Ernährungsbildung hinzu. In den späten 1990er Jahren erfolgten die ersten Gründungen von Ernährungsräten in Europa, zunächst in Großbritannien (Sieveking und Schomerus 2020).
In Deutschland wurden bald darauf erste Überlegungen zur „Ernährungswende“ hin zu Nachhaltigkeit, analog zu „Energiewende“ und „Mobilitätswende“, angestellt (Eberle et al. 2006). Die Verantwortung von Kommunalpolitik und -verwaltung für die Nahrungsmittelversorgung beschränkte sich damals auf die Rolle von Städten als Schulträger sowie auf gesundheitliche Aspekte. Dabei wurde bereits für ein „neues Selbstverständnis von gesellschaftlicher Ernährungsverantwortung“ plädiert, welches „durch entsprechende Strukturen institutionell getragen, finanziert und öffentlich kommuniziert werden muss“ (Simshäuser 2005, S. 22). Die Forderungen gingen schon über die Schulverpflegung hinaus und betrafen die Verantwortung für nachhaltige Ernährung und Gesundheit in allen öffentlichen Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung. Jedoch wurde betont, dass Ernährung ein privates Thema sei und staatliche Eingriffe, etwa durch Steuer- oder Verbotsinstrumente, die Gefahr mit sich bringen könnten, zu stark in die individuelle Freiheit einzugreifen (BMEL 2016; Wiese und Rumberg 2021).
Die ersten Ernährungsräte gründeten sich dann in Köln und Berlin im Jahr 2016 (Galda 2017; Sieveking und Schomerus 2020; Thurn 2020). Es folgten weitere Gründungen, teilweise auch unter Beteiligung der Kommunalpolitik und -verwaltung (Sieveking und Schomerus 2020). Heute (2023) existieren in Deutschland 31 Ernährungsräte und 32 sind in Vorbereitung (Netzwerk der Ernährungsräte 2023). Die ersten Städte und Gemeinden begannen in den 2010er Jahren ihr Engagement im Ernährungsbereich, z. B. durch die Unterzeichnung des „Milan Urban Food Policy Pacts“ (Milan Urban Food Policy Pact 2023), die Mitgliedschaft im Netzwerk der „Bio-Städte“ (Fülles et al. 2017) und die Zertifizierung als „Fairtrade-Städte“ (Fairtrade Deutschland e. V. 2022; Gmeiner et al. 2021). Heute beteiligen sich immer mehr Städte und Gemeinden aktiv an Ernährungsräten durch Mitarbeit von städtischem Personal, Kofinanzierung von Geschäftsstellen oder Projekten, z. B. die partizipative Erarbeitung von „Ernährungsstrategien“ (Heuser und Bommert 2019; Heuser et al. 2015; Moragues et al. 2013). Auch die Forschung arbeitet nun vermehrt zu der Frage, wie sich Ernährungssysteme in Deutschland auf lokaler Ebene transformieren lassen, z. B. in den Projekten nascent (Antoni-Komar et al. 2019), TransfErn (Schrode et al. 2019), STERN (Hanke et al. 2022), KERNiG (Schanz et al. 2020) und WERTvoll (Projekt WERTvoll 2023).
Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen stellt sich die Frage, über welche Handlungsspielräume und Instrumente die Kommunalpolitik und -verwaltung heute in Deutschland verfügen, um lokale Ernährungssysteme nachhaltig zu gestalten.
2 Die Rolle von Kommunalpolitik und -verwaltung bei der nachhaltigen Gestaltung des lokalen Ernährungssystems – Befunde aus verschiedenen Perspektiven
Um zusammenfassend abzustecken, wie Kommunalpolitik und -verwaltung zur nachhaltigen Gestaltung des lokalen Ernährungssystems beitragen können, verbinden wir politisch-rechtliche (Schanz und Sipple 2024), systemische (Sipple und Schanz 2021), steuernde (Sipple et al. 2024b), integrative (Wiek et al. 2024) und unternehmerische (Sipple et al. 2024a) Perspektiven.
Kommunalverwaltungen in Deutschland dürfen und sind möglicherweise sogar verpflichtet, im Zuge ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe zur kommunalen Daseinsvorsorge ernährungsrelevante Themen zu adressieren (Schanz und Sipple 2024). Besonders aus dem Versagen der gängigen Marktmechanismen hinsichtlich verlässlicher Versorgung (u. a. Lieferkettenengpässe durch Krisen, Katastrophen und/oder strukturellen Wandel), gerechter Verteilung (u. a. Zugang zu gesunden Lebensmitteln in strukturschwachen Regionen), und klimaschonender Produktion und Verarbeitung (u. a. Externalisierungen) leitet sich eine solche Forderung ab.
Um dieser Forderung nachzukommen, bedarf es der Bestimmung von Interventionspunkten, welche durch die Modellierung des lokalen Ernährungssystems erfolgen kann (Sipple und Schanz 2024). Zwei Interventionspunkte versprechen große Wirksamkeit für die nachhaltige Gestaltung des lokalen Ernährungssystems durch die Kommune: kommunale Bildungspolitik und kommunale Wirtschaftspolitik. Über die Ansteuerung dieser Hebelpunkte können Wirkmechanismen auf zentrale Aspekte des lokalen Ernährungssystems (z. B. Ernährungswahrnehmung, Ernährungswissen, Ernährungsgewohnheiten) ausgelöst werden.
Sind solche Interventionspunkte identifiziert, bedarf es der gezielten Anwendung geeigneter kommunaler Instrumente, u. a. zur nachhaltigen Gestaltung der lokalen Ernährungswirtschaft (Sipple et al. 2024b). Solche Instrumente wurden bisher in der Literatur zwar behandelt, aber nicht umfassend und anwendungsorientiert aufbereitet. Ein kürzlich veröffentlichter Leitfaden schließt diese Lücke und stellt 15 regulatorische, ökonomische, kooperative und informative Instrumente für Kommunen in Deutschland systematisch und praxisnah dar (Sipple und Wiek 2023).
Während viele Städte und Gemeinden erste Erfahrungen mit der Anwendung einzelner Instrumente gesammelt haben, gibt es auch Städte, wie die Großstadt Leipzig und die Mittelstadt Leutkirch im Allgäu, welche bereits integrative Ansätze verfolgen (Wiek et al. 2024). Solche Ansätze zeichnen sich durch umfassende und verbindliche Ziele, ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung, sowie eine breite Anwendung von Instrumenten aus.
Aus dem Spektrum verfügbarer Instrumente sticht der Betrieb kommunaler Unternehmen der Ernährungswirtschaft als wirksames Instrument zur Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge im Ernährungsbereich heraus (Sipple et al. 2024a). Solche Betriebe können auch zur Verstetigung und zur langfristigen institutionellen Etablierung nachhaltiger Ernährungspolitik in Kommunalpolitik und -verwaltung beitragen.
3 Handlungs- und Forschungsbedarf
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es Kommunalpolitik und -verwaltung zusteht, Ernährung als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge zu adressieren, und ein Spielraum für die kommunale Gestaltung des lokalen Ernährungssystems besteht. Dieser ergibt sich daraus, dass Kommunen: 1) über die zentralen Hebelpunkte der Bildungspolitik und der Wirtschaftspolitik nachhaltige Wirkungen auf das lokale Ernährungssystem erzielen können; 2) ein Spektrum an kommunalen Instrumenten zur Gestaltung der lokalen nachhaltigen Ernährungswirtschaft zur Anwendung bereitsteht; 3) integrative Ansätze der Instrumentenanwendung vielversprechend sind; und 4) kommunale Lebensmittelunternehmen ein potentes Instrument der nachhaltigen Gestaltung des lokalen Ernährungssystems darstellen.
Während sich Kommunen in ganz Deutschland vermehrt diesen Aufgaben zu stellen beginnen, kämpfen viele von ihnen dabei mit einer Reihe von Herausforderungen. Neben der bestehenden Fülle an anderen kommunalen Aufgaben (Energie, Mobilität, Migration, etc.) fehlt es vielen Kommunen an klaren politischen Zielstellungen, kompetentem Fachpersonal, welches die Instrumente effizient anwenden und integrieren kann, sowie an finanziellen Mitteln zur Ausstattung und Koordination von Programmen. Kommunen können diese Herausforderungen bewältigen, indem sie die Gestaltung der lokalen Ernährungssysteme ‚professionalisieren‘. Dies geschieht durch politische Führungsverantwortung, gezielte Rekrutierung, integrative Ansätze, umsichtige Programminvestitionen (auch für Infrastrukturen), Wirksamkeitsevaluationen, sowie kooperative Partnerschaften, welche Räume für Innovation und Verantwortungsübernahme durch Wirtschaft und Zivilgesellschaft eröffnet.
Die Wissenschaft kann die Kommunen in diesen Bestrebungen unterstützen, indem sie sich des bestehenden Forschungsbedarfs annimmt. Zuallererst muss es darum gehen, zuverlässige Datenlagen zu schaffen. Während lokale Ernährungssysteme und die lokale Ernährungswirtschaft allgegenwärtig sind, bleiben systematische Erfassungen zentraler Aspekte durch regelmäßige und verlässliche Erhebungen, z. B. der statistischen Ämter, eher die Ausnahme als die Regel. Von Basisdaten zu Lebensmittelunternehmen und Lieferketten bis hin zur Erhebung relevanter Nachhaltigkeitsindikatoren müssen neue Strukturen zur flächendeckenden kommunalen Datenerhebung geschaffen werden. Nur so lassen sich praxisrelevante Forschungen durchführen und evidenzbasierte Kommunalpolitik zur nachhaltigen Gestaltung von lokalen Ernährungssystemen etablieren.
Zudem bedarf es neben deskriptiv-analytischer Forschung deutlich weiterreichender Studien, welche die nachhaltige Zukunft kommunaler Ernährungssysteme durch partizipativ erarbeitete Visionen und Handlungspläne aktiv mitgestalten (McGreevy et al. 2022). Hier bedarf es vermehrter Anstrengungen zur Vermittlung und Anwendung von transdisziplinären und lösungsorientierten Forschungsmethoden der Nachhaltigkeitswissenschaften (Lang et al. 2012; Wiek und Lang 2016; Lang und Wiek 2022). Transformative und experimentelle Studien können in enger Zusammenarbeit mit Kommunalpolitik und -verwaltung gezielte Interventionen erarbeiten und (probeweise) durchführen, z. B. zu spezifischen Instrumenten wie den kommunalen Unternehmen. Begleitende Evaluationen solcher praxisnahen Interventionen, welche evidenzbasiert sind, tragen ihrerseits zur Evidenzgenerierung bei (Duflo und Takavarasha 2010; Luederitz et al. 2017). Damit wird die notwendige Wissensbasis für Transfers und Skalierungen geschaffen, welche Nachhaltigkeitstransformationen weit über die Gemeindegrenzen und auch über die Belange der Ernährung hinaus unterstützen.
Literatur
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Sipple, D., Wiek, A., Schanz, H. (2024). Perspektiven der nachhaltigen Gestaltung des lokalen Ernährungssystems durch Kommunalpolitik und -verwaltung. In: Sipple, D., Wiek, A., Schanz, H. (eds) Nachhaltige Gestaltung von lokalen Ernährungssystemen durch Kommunalpolitik und -verwaltung. Stadtforschung aktuell. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42720-7_6
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