1 Einleitung

Als das „Institut für Höhere Studien und wissenschaftliche Forschung – Institute of Advanced Studies and Scientific Research“ (im Folgenden: IHS) 1963 in Wien eröffnet wurde, blickten seine Initiatoren auf zähe sechs Jahre Entstehungsphase zurück. Paul F. Lazarsfeld (1901–1976), der nach einem Besuch seiner Geburtsstadt im Jahr 1958 die Gründung einer Ausbildungseinrichtung für moderne empirische Sozialwissenschaften angeregt hatte, hätte noch weiter zurückblicken können, als er anlässlich des 10-Jahres-Jubiläums des IHS, also 1973, dessen Vorgeschichte zu Papier brachte (Lazarsfeld, 1993).

Das vorliegende Paper schildert nach 1) einer knappen Vergegenwärtigung der politischen Lage und des Entwicklungsstandes der Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren, 2) die Gründung des IHS, um dann 3) auf institutionelle Arrangements einzugehen, die auf die eine oder andere Weise als Vorläufer des IHS betrachtet werden können, wiewohl sie den wenigsten, die in Wien mit dem IHS zu tun hatten, bekannt gewesen sein dürften. Von Vorbildern wird man daher nicht, von Vorläufern aber schon sprechen können.

2 Die Situation der 1950er Jahre

Die 1950er Jahre waren in mehr als einer Hinsicht die Wonnejahre der Sozialwissenschaften.Footnote 1 Die Zahl der Praktikanten dieser wissenschaftlichen Spezialgebiete wuchs nahezu exponentiell an; in vielen Ländern betraten die ersten Kohorten professionell Ausgebildeter die Bühnen der akademischen Welt. Daneben lassen sich auch theoretische und methodische Neuerungen verorten. Das vor allem, wenn man die bekannte Metapher der Verlängerung nutzt und von den „langen 1950ern“ spricht, um die Periode vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der Krise der modernen Universitäten in den 1960er Jahren zu kennzeichnen. In dieser Periode wurden Theorien und Methodologien renoviert oder erstmals formuliert, was gegen Ende der betrachteten Periode einige veranlasst, inne zu halten und Bilanz zu ziehen. Zwei bemerkenswerte derartige Summae Sociologicae sind Bernard Berelson und Gary A. Steiner, Human Behavior: An Inventory of Scientific Findings (1964), das auf 712 Seiten „1045 findings on human behavior by scholars in the fields of anthropology, psychology, sociology and related fields” präsentiert. Als zweite zu nennende Bilanz will ich auf die International Encyclopedia of the Social Sciences unter der Herausgeberschaft von David L. Sills verweisen, die im legendären Jahr 1968 erschien. Die 17 Bände repräsentieren gleichsam den „state-of-the-art“ der davorliegenden Jahre.

Um die These der Blütejahre der Sozialwissenschaften weiter anzureichern kann man natürlich auch die Namen ihrer großen Vertreter bzw. deren große Werke nennen, was mit Hinweis auf Simon Kuznets, Wassily Leontief und Joan Robinson – Robert K. Merton, Talcott Parsons und David Riesman – E.E. Evans-Pritchard, Claude Levi-Strauss und Margaret Mead – Raymond Aron, Harold Lasswell und Hans J. Morgenthau – Hannah Arendt, Karl Popper und Gilbert Ryle – Erik Erikson, Rensis Likert und B.F. Skinner wenigstens verkürzt auf drei Namen für Ökonomie, Soziologie, Anthropologie, Philosophie und Psychologie getan werden soll. Alle Genannten wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren, standen also in den 1950er auf dem oder nahe dem Höhepunkt ihrer Karrieren und ihres intellektuellen Einflusses auf andere.Footnote 2

An erster Stelle der institutionellen Novitäten dieser Jahre würde ich die Aktivitäten der Ford Foundation nennen, die zwar schon vor 1950 gegründet wurde, aber erst in den 1950er Jahren begann, als „big spender“ zu agieren (Nielsen, 1972). Innerhalb der Ford Foundation kam es zur Gründung einer, Einzeldisziplinen übergreifenden Abteilung für Behavioral Sciences, womit die systematisch empirisch verfahrenden Felder der Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, weniger die Ökonomie, gemeint waren und gefördert wurden (Pooley, 2016).Footnote 3

Andere Novitäten sind die strukturierten Curricula, die Entstehung eines eigenen Lehrbuchmarktes und weitere Schritte zur Globalisierung des akademischen Forschens, Debattierens und Publizierens. Erinnert sei hier an „Erfindungen“ wie die UNESCO Abteilung für Sozialwissenschaften (Wisselgren, 2017, Wisselgren, 2021), die International XY Associations, die disziplinspezifischen Weltkongresse und die Etablierung von Länder- bzw. Sprachgrenzen überwindende Gründung von Zeitschriften, wie beispielsweise das von der UNESCO gesponsorte, ab 1949 erscheinende International Social Science Journal, oder das anfangs dreisprachige Archives Européennes de Sociologie, das 1960 begann und zu dessen Gründern Raymond Aron, Tom Bottomore, Michel Crozier und Ralf Dahrendorf gehörten.

Die Mutation der Marshall-Plan-Verwaltung in die OECD und deren rasche Fokussierung auf den Zusammenhang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit dem Bildungsniveau der Arbeitskräfte initiierte eine neue Runde des – diesfalls nichtkriegerischen – Nationenwettbewerbs, der bekanntlich bis in unsere Tage unter Anleitung der OECD stattfindet (Leimgruber & Schmelzer, 2017).

In engem Zusammenhang mit der Welt der Stiftungen stand die Wiederaufnahme bzw. Ausdehnung von Fellowship-Programmen, einerseits der philanthropischen Stiftungen der Superreichen Rockefeller, Carnegie, Rhodes und Ford und anderseits der Beginn der Förderung von ausländischen Studierenden durch Regierungen, wie das Fulbright Programm der USA, die Stipendien des British Council für Großbritannien, Humboldt-Stiftung für die Bundesrepublik usw.

Die 1950er Jahre waren geprägt von der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges, in dem es nach Bekunden beider Seiten auch darum ging, welches „System“ sich als das überlegene herausstellen werde. Die Geheimrede Nikita Sergejewitsch Chruschtschows am 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, die zeitnah in der westlichen Presse abgedruckt wurde, brachte mit der Entstalinisierung der Sowjetunion und des Weltkommunismus eine Periode der Verunsicherung und „Liberalisierung“ mit sich, die als „Tauwetter“ bekannt wurde. Nach den Protesten und revolutionsgleichen Erhebungen in Polen und Ungarn im Herbst 1956 wurde der Eiserne Vorhang paradoxerweise ein wenig durchlässiger. Die intensivierte Repression im Inneren fand ein Gegenstück in der selektiven Öffnung der Grenzen in beide Richtungen. Westliche Delegationen bereisten die Länder des OstblocksFootnote 4, internationale wissenschaftliche Konferenzen fanden erstmals östlich der Elbe statt und einige der im COMECON zusammengeschlossenen Länder erlaubten Studierenden und jungen Wissenschaftlern, Stipendien im Westen anzunehmen (Duller, 2021a, b). Es wäre allerdings irreführender Präsentismus, wenn man die Balance zwischen West und Ost als Überlegenheit hier, Nachholbedarf dort wahrnehmen würde. Zwei Beispiele mögen das belegen. Im legendären Lehrbuch der Nationalökonomie, Paul Samuelsons Economics, erstmals 1948 (bis zur 12. Auflage 1985 als Soloautor, danach mit William Nordhaus als Koautor), wird der Systemwettbewerb lange Zeit sehr ernst diskutiert, ja ernsthaft erwogen, ob die sowjetische Planwirtschaft nicht doch in der Lage wäre, den Westen nicht nur ein-, sondern sogar zu überholen.Footnote 5 Der zweite Fall kann unter Hinweis auf verzerrende Subjektivität (im Fall Samuelsons) nicht kleingeredet werden. Der erfolgreiche Abschuss von Satelliten: Sputnik 1 im Oktober 1957, gefolgt vom ersten Hund und dann dem ersten Menschen im All – der Straßenköter Leika saß im November 1957 im Sputnik 2, Juri Gagarin im April 1961 in Wostok 1 – lösten im Westen bewunderndes Erstaunen, ja mancherorts Panik aus. Der in der Folge sogenannte „Sputnik-Schock“ war nicht zum Schaden der westlichen Wissenschaften, da deren Finanzierung, vor allem natürlich die raumfahrtrelevanten Teile, massiv vergrößert wurde. Die Gründung der NASA 1958 steht hierfür stellvertretend.

Im Kontext der Systemkonkurrenz sind auch Bemühungen zu sehen, die wissenschaftliche Kommunikation über die Frontlinie hinweg zu intensivieren, vielleicht auch zu verbessern. Auf westlicher Seite kam es, neben der Ausweitung der Area Studies (Duller, 2015; Adalet, 2021), zur Gründung spezialisierter Zeitschriften, die Übersetzungen und Berichte über den Stand der Forschung in der Sowjetunion zum Inhalt hattenFootnote 6, 1959 vereinbarten die Akademien der Wissenschaften der USA und der Sowjetunion gegenseitige Besuche und Forschungsaufenthalte.Footnote 7 Sowjetische und osteuropäische Wissenschaftler wurden in die Leitungsgremien internationaler wissenschaftlicher Vereinigungen aufgenommen und mit einiger Verzögerung kam es zur Abhaltung von internationalen Kongressen im Osten.Footnote 8

Ein paar Bemerkungen über die (wissenschafts-) politische Lage in Österreich sind angebracht. Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 erlangte Österreichs Zweite Republik ihre vollständige Souveränität, aber die beiden Großparteien, die seit 1945 in Koalitionsregierungen zusammenarbeiteten, schienen nicht mehr so recht von der Sinnhaftigkeit und Alternativlosigkeit dieser Form der Kooperation überzeugt zu sein. Die erste Nationalratswahl nach dem Staatsvertrag 1956 und der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten 1957 waren begleitet von wechselseitigem Belauern und dem Verteidigen der abgesteckten Claims – genannt Proporz.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Nationsbildungsprozess, der im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, ohne Widerspruch voranschritt. Dazu dürfte die sichtbar bessere materielle Lage verglichen mit den Nachbarstaaten, die zur anderen Seite der geteilten Welt gehörten, einen Beitrag geleistet haben. Während der Wochen der Revolution in Ungarn wurde das dann auch noch hinsichtlich der politischen Freiheit unterstrichen. Beides, die bessere materielle Lage und die größere Freiheit, dürften die österreichische Bevölkerung motiviert haben, sich gegenüber den Massen der Flüchtlinge aus dem Osten 1956 und dann nochmals 1968 nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in der benachbarten Tschechoslowakei, weitaus großzügiger zu geben, als jemals davor oder danach (und der Bevölkerung wurde das leichter gemacht, weil die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge rasch weiterzog).

Die neue Idee der Investition in Bildung, um materiellen Wohlstand zu vergrößern, fand in den kulturkonservativen Kreisen, die die Hochschulen als ihr exklusives Habitat erachteten, erst langsam Zustimmung, aber es stimmt nicht, dass erst die sozialdemokratische Alleinregierung unter Bruno Kreisky die Modernisierung Österreichs einleitete.Footnote 9 Die Kleinheit des Hochschul- und des außeruniversitären Grundlagenforschungsbereichs erleichterte es den politisch Zuständigen, die Kontrolle über die Personalrekrutierung zu behalten und Reformen an Kommissionen auszulagern und damit zu verzögern.Footnote 10

Die Lage der empirischen Sozialwissenschaften in Österreich in den langen 1950er Jahren kann man nicht anders qualifizieren als rückständig, falls überhaupt vorhanden. Während in der Nationalökonomie vom Ansehen der Wiener Schule nichts mehr übriggeblieben war – die wenigen international „konkurrenzfähigen“ Fachvertreter arbeiteten außerhalb der akademischen Welt – konnten die Psychologen zwar auch nicht das Niveau der Ersten Republik halten, bearbeiteten aber zumindest Fragen mit Methoden, die international „anschlussfähig“ waren. Politikwissenschaft, Soziologie, Kulturanthropologie und Ethnologie fristeten an den Universitäten, oftmals verborgen hinter anderen Fachbezeichnungen, ein kaum wahrnehmbares Dasein. Die historischen Wissenschaften und die Philosophie waren an den Universitäten sichtbarer und zahlreicher vorhanden, ihre Reputation ließ allerdings gleichfalls zu wünschen übrig (Fleck, 1996).

Die Errichtung einer Ausbildungsstätte für moderne empirische Sozialwissenschaften wäre also höchst hilfreich gewesen, um für die nächste Generation Vorsorge zu treffen.

3 Gründung des IHS

Zur Gründung des IHS: Fleck (2000, 2017, 2018). Vgl. auch den Beitrag von Huber und König in diesem Band.

In der im vorigen Abschnitt in Erinnerung gerufenen Lage unternahm Paul F. Lazarsfeld (im Folgenden: PFL) im Auftrag der Ford Foundation Erkundungsreisen nach Osteuropa. Sie brachte ihn nach seiner eigenen Erinnerung im Herbst 1957 erstmals nach Polen,Footnote 11 später mehrfach wiederum dorthin, aber auch nach Jugoslawien. In beiden Fällen hielt eine kleine Delegation Ausschau nach Kandidaten für Forschungsstipendien, die die Ford Foundation zu finanzieren bereit war (Kilias, 2021). Im Regelfall führten diese Studienreisen in die USA, gelegentlich auch in andere westliche Staaten. Die zufriedenstellenden Erfahrungen bewogen PFL, der Ford Foundation vorzuschlagen, eine ähnliche Erkundungsmission auch in seine Geburtsstadt Wien zu unternehmen.

Nach einem zehntägigen Aufenthalt in Wien im Jänner 1958 (seinem ersten Besuch seit 1937) schrieb PFL einen 30-seitigen „Report on Austria“, worin er seine Eindrücke zusammenfasste und eine Deutung der Entwicklung Österreichs bot.Footnote 12 Sein Fazit über das Wien der 1950er Jahre war eindeutig: „No brains, no initiative, no collaboration“ schrieb er an Shepard Stone, den Direktor der Internationalen Abteilung der Ford Foundation.Footnote 13

Dennoch bemühte sich PFL um eine Ausbildungseinrichtung für die modernen Sozialwissenschaften in Wien. Die involvierten österreichischen Politiker beider damaligen Großparteien erwiesen sich als fachlich unbedarft und gegenüber Neuerungen zurückhaltend – dem damals zuständigen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel blieb es überlassen, seine Haltung gegenüber den Avancen der Ford Foundation mit dem unnachahmlichen Ausdruck „negatives Wohlwollen“ gleichsam auf den Begriff gebracht zu haben.Footnote 14

Nach der Eröffnung des IHS 1963 blieb die Ford Foundation noch bis 1970 wichtiger Geldgeber. Der Betrieb des IHS kam nur sehr holprig in Gang, was mehr als eine Ursache hatte. Die Direktoren erwiesen sich als korrupt, inkompetent und am Gängelband der politischen Parteien zappelnd, die Scholaren wurden anfangs ausschließlich im Wege politischer Patronage ausgewählt und es dauerte einige Zeit bis die zu Assistenten aufgestiegenen früheren Scholaren und die wenigen von außen rekrutierten anderen eine „corporate identity“ entwickeln konnten (Strasser, 2015). Die Alleinregierung der ÖVP 1966 bis 1970 wirkte sich auf das Innenleben des IHS weniger aus als die ab 1970 allein regierende SPÖ, die das IHS systematisch zu benutzen wusste, sowohl als forschende Alternative zu den Universitäten als auch zur Unterbringung von Gefolgs- und Rekrutierung von Fachleuten.

4 Vorläufer, die keine Vorbilder wurden

Die Initiative zur Gründung dessen, was dann 1963 als IHS eröffnet werden sollte, ging einzig und allein auf Lazarsfeld zurück; die anderen „Gründer“ brachten keine eigenen Ideen ein, sondern modifizierten die von PFL vorgebrachten. Daher soll nun untersucht werden, wie Lazarsfeld zu den Ideen kam, die im Vorschlag, in Wien eine Ausbildungseinrichtung für moderne Sozialwissenschaften zu errichten, gipfelten.

Bekanntlich begann PFL seine Karriere als sozialdemokratischer Aktivist, der in den Jugendorganisationen der SDAP aktiv war. Dort betätigte er sich vor allem als Erzieher Jüngerer. Seine erste umfassendere Veröffentlichung reflektierte diese Aktivitäten: „Gemeinschaftserziehung durch Erziehergemeinschaften. Bericht über einen Beitrag der Jugendbewegung zur Sozialpädagogik.“Footnote 15 Das Interesse an der Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten an Jüngere wurde zu einem charakteristischen Merkmal aller späteren Tätigkeiten von PFL, wandte sich aber ab 1930 stärker der Ausbildung des wissenschaftlichen, denn des politischen Nachwuchses zu. Als Mathematiker unterrichtete er ab etwa 1927 informell Studierende des Psychologischen Instituts der Universität Wien. In der kurzen Zeit, in der die von ihm 1931 gegründete außeruniversitäre Wirtschaftspsychologische ForschungsstelleFootnote 16 unter seiner Leitung stand – nämlich gerade einmal zwei Jahre bis zu seinem Weggang nach New York im September 1933 –, etablierte er Schulungen für „Rechercheure“, wie die Feldmitarbeiter genannt wurden.

In den USA verwandte PFL die Zeit seines zweijährigen Stipendiums der Rockefeller Foundation nicht nur dazu, sich im Sinne der Geldgeber selber fortzubilden, sondern zu einem wesentlichen Teil, um seine Kenntnisse anderen zur Verfügung zu stellen, also zu unterrichten oder vielleicht besser formuliert: als Konsulent zu wirken (Fleck, 2015, 333–373).

Der Statusunterschied zwischen ihm und den von ihm Belehrten wurde im Laufe der Jahre kleiner: Waren die Buben und Mädchen, die an Ferienkolonien teilnahmen, vielleicht nur wenige Jahre jünger, so doch politisch weitaus weniger informiert und gebildet als die Mitglieder der „Erziehergemeinschaft“; die Studierenden des Psychologischen Instituts und die Rechercheure der Forschungsstelle anerkannten die fachliche Überlegenheit des nur wenige Jahre Älteren, doch in den USA gab PFL sein Wissen und seine Fähigkeiten auch an Personen weiter, die ihm hinsichtlich ihrer beruflichen Positionen, deren Sicherheit und gelegentlich auch altersmäßig überlegen waren. Mit der Gründung seines ersten amerikanischen Instituts, dem Research Center an der neu gegründeten University of Newark änderte sich das wiederum. Die dortigen Studierenden kamen ziemlich unvorbereitet dazu, mit und für PFL zu arbeiten und als er dann auch noch von der lokalen Arbeitsmarktverwaltung Mitarbeiter zugeteilt erhielt, die im Gegenzug für sozialstaatliche finanziell Unterstützung eine Art Praktikum absolvierten, ohne irgendeine Vorbildung mitzubringen, sah PFL das als bewältigbare Herausforderung.

In einem Memorandum an die Universitätsleitung erläuterte PFL seine Vorstellungen von der Rolle des Forschungszentrums:

„to give research training to students;

to develop new methods of research;

to publish finished studies;

to help the City of Newark to a better understanding of its social and economic problems;

to act as a consulting service to social and business agencies in the city;

to give students the opportunity for gainful employment;

to accumulate funds for the perpetuation and enlargement of the Center’s activities;

to make the University, as a whole, better known locally and nationally.“ (Lazarsfeld, 1969, S. 290)

Die Reihenfolge der genannten Funktionen ist bezeichnend, stellt PFL doch an erste Stelle eine Aufgabe, die ihn als Erzieher und Unternehmer eines neuen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts deutlich mehr interessierte als den Adressaten und dessen Aufsichtsorgane, zu denen Vertreter der Stadt Newark zählten.Footnote 17

Lazarsfelds markantestes Produkt der Anfänge als Leiter eines Forschungsinstituts in den USAFootnote 18 ist eine Studie, die allerdings erst sieben Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung zumindest teilweise veröffentlicht wurde (siehe die zweite Funktion des Centers). Es war eine Fragebogenstudie unter Jugendlichen des Essex County (dessen zentraler Ort Newark ist), die von der National Youth Administration, einer der im New Deal geschaffenen Institutionen, finanziert worden war.Footnote 19

Das Research Center in Newark mutierte innerhalb kurzer Zeit in das Princeton Radio Research Project, dessen Leitung PFL de facto 1937 übernahm.Footnote 20 In diesem von der Rockefeller Foundation großzügig finanziertem Forschungsvorhaben war er erstmals in der Lage, in großem Umfang Mitarbeiter zu bezahlen, bemerkte allerdings rasch, dass das Angebot an Personal seinem Anspruchsniveau nicht genügen konnte, er also wieder auszubilden genötigt war.

Die Jahre des Radio Projects sind die Wendejahre in der Karriere PFLs. Bis zum Ende dieses amorphen Exempels von ihm sogenannter „administrativer Forschung“ (Lazarsfeld, 1941) entstanden die Produkte fast immer nahezu vollständig unter seiner Leitung und elaborierten seine Ideen. Was er andere erledigen ließ folgte seinen Vorgaben und die Debatten darüber, was denn die gesammelten Recherchen über die Welt da draußen sagten, wurden von ihm und seinem „Gefühl für die Daten“ bestimmt (Hounshell, 2017). Man könnte behaupten, PFL habe eine „low trust“-Strategie der Personalführung praktiziert, müsste dann aber hinzufügen, dass die Mitarbeiter das vermutlich gar nicht bemerkten, weil sie seine Autorität ob seiner größeren (ihm zugeschriebenen) Fähigkeiten nicht anzweifelten. Im Radio Project erfuhr PFL erstmals Widerstand (formal) Untergebener. Die Renitenz des gleichaltrigen Theodor W. Adorno konnte er noch unter Hinweis auf dessen künstlerisches Genie normalisieren, gewöhnlichere Mitarbeiter, die gleichsam gewerkschaftliche Einwendungen vorbrachten und die Arbeitsbedingungen kritisierten, bereiteten PFL hingegen mehr Ungemach. Den Konflikten versuchte er aus dem Weg zu gehen, indem er die widerständigen Mitarbeiter auszahlte und ihre Arbeiten selber erledigte.Footnote 21 Die Konflikte mit dem ursprünglichen Leiter des Radio-Projekts, Hadley Cantril, eskalierten bis zum Bruch der Freundschaft.Footnote 22

Es ist nicht unfair zu behaupten, dass die Jahre zwischen dem Ende des Rockefeller Fellowships 1935 und der Berufung an die Columbia University 1941 mehr durch die „administrativen“ Innovationen und weniger durch bahnbrechende Veröffentlichungen gekennzeichnet waren.

PFLs Avancement an die Columbia University, wo er seine erste fixe Stelle erhielt (nachdem er sich ein Jahrzehnt früher als Wiener Gymnasiallehrer karenzieren hatte lassen), erlaubte es ihm, sein Office of Radio Research an die prominentere Universität anzudocken. Diese Anbindung, anfangs in größerer, dann immer noch merklicher räumlicher Distanz zum Campus, wurde lange Zeit nicht formal geregelt. Seine Einbindung in die akademische Lehre offerierte PFL aber nun einen stetigen Nachschub an potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Die später in Bureau of Applied Social Research (BASR, meist kurz: Bureau) umbenannte Forschungseinheit bot Graduate Students eine universitätsnahe Einkommensquelle, da die heute gängigen Teaching Assistants und Research Assistants erst noch etabliert werden sollten. Weil die amerikanischen Universitäten damals ein Verkäufermarkt akademischen Kapitals waren, trat die Gefahr einer Verstopfung der personellen Zuflüsse nicht ein, im Gegenteil: viele der Graduate Students erhielten Jobangebote von anderswo noch ehe sie formal ihr Soziologiestudium abgeschlossen hatten (Barton, 1979, Sheridan, 1979, Barton, 2001).

Nicht zuletzt wegen der schwankenden Basis, auf der das Bureau errichtet worden war und betrieben wurde, war die Bezahlung stets relativ bescheiden und Beschäftigungssicherheit fehlte. Mehr als Einjahresverträge hatte am Bureau niemand.

Umso bemerkenswerter ist die große Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Beschäftigung dort suchten. Viele der später führenden Exponenten der Soziologie hatten ihre professionellen Anfänge im Bureau. Recht bald wurde das zu einem selbstverstärkenden Effekt, es sprach sich herum, dass man sich an der Columbia University und im Bureau Fertigkeiten aneignen konnte, die anderswo kaum oder gar nicht gelehrt wurden. Dieser Umstand bewog Nicht-Studenten ihre Bildungskarenz dort zu verbringen.Footnote 23

Ein nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor des Bureau-Modells ist schließlich darin zu sehen, dass sich die beiden Direktoren – Lazarsfeld war es gelungen Robert K. Merton zur Mitarbeit zu überreden – regelmäßig darüber berieten, welche ihrer Studierenden welche Fähigkeiten hätten, die sie für welche Tätigkeiten prädestinierten. Mentoring wurde zu einer Zeit betrieben, als dieser Begriff noch nicht einmal erfunden war.

Für PFL schälte sich in den 1940er Jahren die Einsicht heraus, dass seine weitgehend nicht geplant zustande gekommene organisatorische Innovation nachhaltiger etabliert werden sollte. Insbesondere war er der Meinung, dass die im Bureau praktizierte professionelle Ausbildung in dem, was nach seiner Wortschöpfung empirische Sozialforschung genannt zu werden üblich wurde, innerhalb bisheriger Universitätsstrukturen nicht zu realisieren sei (Kracauer, 2012).

Die universitären Studien böten den Studierenden zu viel an Wahlmöglichkeiten, den Lehrenden (damals) keine Chance, Einnahmen aus kommerzieller Forschung für andere Zwecke zu verwenden und wegen der fehlenden Befehlsgewalt über die Mitarbeiter zu wenig Sicherheit, übernommene Drittmittelprojekte auch zu Ende zu bringen. Im Bureau etablierte sich eine horizontale Gliederung nach Forschungsthemen und innerhalb jeder Forschungsgruppe eine eindeutige Hierarchie mit Aufstiegsmöglichkeiten für Eleven.Footnote 24

So gliederte sich das Bureau 1950 in fünf „divisions“, die jeweils von einem „director“ geleitet wurden: Mass communication and political behavior: PFL; Population: Kingsley Davis; Urban community: Robert K. Merton; Special Projects: Charles Glock; Training and research department: ohne formalen Leiter. Innerhalb jeder „division“ gab es Projektleiter für jedes (Drittmittel-) Vorhaben, das von Projektmitarbeitern – in der Regel Graduate Students – durchgeführt wurde. Das Bureau selbst wurde von Davis als „acting director“ geleitet, dem fünf „associate directors“ zur Seite standen: PFL, Merton, Glock, sowie ein weiterer Mann, der Fundraising machen sollte. Beaufsichtigt wurde das Bureau von einem Governing Board aus vier anderen Professoren der Columbia University (Sheridan, 1979, S. 26–7).

In dieser Zeit bemühte sich PFL, die Leitung der Columbia University davon zu überzeugen, eine Ausbildungseinrichtung zu schaffen, die ganz seinen Wünschen entsprochen hätte. Im Zentrum stand die Anbindung des BASR an die Universität in Form einer eigenen Graduate School und die Verpflichtung der Studierenden (der Soziologie) als Teil ihrer Ausbildung dort mitzuarbeiten (die konkrete Ausgestaltung der Beziehung zwischen dieser neuen Einrichtung und dem Department of Sociology blieb offen). Für den Mehraufwand, den die Betreuung der Auszubildenden für die Mitarbeiter des Forschungsinstituts bedeutete, sollte die Universität einen fixen Zuschuss zahlen. Aus verschiedenen Gründen scheiterte das Vorhaben: Kollegen am Department befürchteten einen zu großen Machtzuwachs des nicht von allen in gleichem Maße akzeptierten Methodologen, andere formulierten didaktische Einwände und die Universitätsleitung fürchtete hypertrophes institutionelles Wachstum. PFL gab den Plan aber nicht ganz auf, sondern wandte sich an Stiftungen, um einen Prototyp ausarbeiten zu können. Die Rockefeller Foundation gewährte eine großzügige Förderung, um ein Curriculum für eine Ausbildungseinrichtung in empirischer Sozialforschung auszuarbeitenFootnote 25 und auch die Ford Foundation schien gewillt, die Gründung einer solchen Institution fördern zu wollen.

5 Ford Foundation und die Förderung der Behavioral Sciences

Im Herbst 1948 sahen sich die Verantwortlichen der Ford Motor Company wegen einer Änderung der Besteuerung von Stiftungen veranlasst, die bis dahin eher dahin dümpelnde Ford Foundation auf neue Beine zu stellen. Eine Planungsgruppe wurde eingesetzt, die im November einen Bericht über die künftige Ausrichtung der Stiftung vorlegte. Neben erwartbaren Schwerpunkten, wie der Förderung des Radios als Bildungswerkzeug in unterentwickelten Ländern, überraschte der Report, da als fünfter Programmschwerpunkt die Behavioral Sciences vorgeschlagen wurden (Ford Foundation, 1950). In der Folge wurden dafür Konsulenten engagiert, unter ihnen der deutsche Emigrant Hans Speier, der in der Folge Bernard Berelson als Mitarbeiter der Stiftung für diesen Programmteil rekrutierte (Berelson, 1972). Berelson war in den 1940er Jahren Mitarbeiter von PFL gewesen (Lazarsfeld & Berelson, 1948).

Die neue Abteilung kämpfte damit herauszufinden, wofür sie denn eigentlich zuständig sein wolle, und ihre Protagonisten hatten das Entscheidungsgremium der Stiftung und die sehr unterschiedlichen Meinungen seiner Mitglieder ins Kalkül einzubeziehen. Thematisch war das Feld sehr allgemein und doch vage mit „Individual Behavior and Human Relations“ benannt worden, doch die beigezogenen Konsulenten konnten sich nicht einig werden, in welche Richtung die neue Abteilung gehen sollte (Bessner, 2018, S. 180–90). Folge war, dass „Division Five“ Geld hatte, das sie großzügig unter den Interessenten zu verteilen begann.Footnote 26

In mehreren Sitzungen einer ins Leben gerufenen Expertengruppe wurde der von PFL entrierte Plan der Errichtung eines Ausbildungszentrums konkretisiert. In dieser Gruppe saß zwar Merton, nicht aber PFL (den andere wohl durch Berelson hinreichend vertreten sahen). Die meisten stimmten der Grundidee zu, dass die Ausbildung in modernen Sozialwissenschaften nötig sei und ein sinnvolles Aktivitätsfeld für die neue Abteilung sein könnte, der Plan PFLs wurde dann aber doch deutlich verändert.

Gemeinsam mit seinem Freund, Kollegen und Mitdirektor des BASR, Robert K. Merton, hatte PFL für die Columbia University ein vielseitiges Memorandum zur Gründung der „Professional School for Training in Social Research“ verfaßt, das nun wiederverwendet wurde. Der Titel des Memorandums spricht von „professional school“ und zitiert damit einen Ausdruck, der in der Sprache der US-amerikanischen Bildungspolitik eindeutige Konnotationen weckte: Als „professional school“ werden jene Ausbildungseinrichtungen bezeichnet, die Studierende nach Abschluss ihrer Undergraduate-Ausbildung besuchen können, um einen spezifischen Beruf zu erlernen, beispielsweise Mediziner an der Medical School, Juristen an der Law School, usw. PFL und Merton zielten also darauf, eine erste Graduate School für die Ausbildung zum empirischen Sozialforscher etablieren zu wollen.

In der später veröffentlichten Version umfasst das Memorandum 30 Druckseiten.Footnote 27 Als Gründen, warum die vorgeschlagene Gründung nötig sei, führen die beiden Autoren an:

  1. a.

    At no university can the student find a comprehensive exposition of all these new techniques.

  2. b.

    Even where some of them are taught, they have not been well integrated with the older and better established procedures of, say, the historian or linguist.

  3. c.

    Little scrutiny has been made by the other social sciences as to where this “sociological” research might or might not be useful to them.

  4. d.

    There is nowhere established a continuing study of the relation between empirical procedures and the theoretical analysis of the workings of society as a whole, which certainly is the basic purpose of all the social sciences.

  5. e.

    No provisions are made at any university for the continuous developing of devices of social bookkeeping, testing their usefulness and eliminating the wasteful ones (Lazarsfeld & Merton, 1972, S. 363).

Im Februar 1952 beschloss das Leitungsgremium der Ford Foundation, dass „first priority would be a central institute for training behavioral scientists funded at not less than $650,000 per year [etwa 7,2 Mio 2022]” (Thackray, 2018).

Zur Debatte stand eine temporäre Einrichtung, die in der Nähe einer Universität angesiedelt, aber von dieser Universität organisatorisch unabhängig agieren sollte. Seine Belegschaft sollte aus etwa fünf Mitgliedern bestehen, die für fünf Jahre von ihren Heimuniversitäten karenziert sein und den permanenten Kern des Instituts bilden sollten. Semesterweise sollten weitere rund sechs Sozialforscher vor Ort sein, eventuell auch mehrere Semester dort verbleiben und wenn nötig begleitet werden von “their best assistants”. Die Forschungsthemen lägen im alleinigen Verfügungsmacht dieser Kernmannschaft, die sich allerdings um die Ausarbeitung eines Curriculums gemeinsam kümmern sollte. 30 bis 35 der besten Postdocs sollten die Auszubildenden sein, die zwei oder drei Jahre finanziert werden würden.

In den Debatten unter den beteiligten Sozialwissenschaftlern, zu denen die Crème de la Crème der US-Wissenschaft dieser Zeit zählteFootnote 28, profilierten sich vor allem Herbert Simon und Edward Shils als Gegner des von PFL favorisierten Meister-Lehrlings-Modells. Nach Ansicht Simons sollte das Geld der Stiftung „not for such boondoggles as a training center” ausgegeben werden. „The idea […] had emerged from the fertile mind of Paul Lazarsfeld […], who conceived of it as a place where young postdocs would come to sit at the feet of the masters and learn good methodology”.Footnote 29 Simon und ShilsFootnote 30 präferierten was man das Genie-Modell nennen könnte: Es genüge, vielversprechende Talente zu identifizieren und ihren Lebensunterhalt zu sichern, dann würden diese ihre eigenen Ziele verfolgen und neues Wissen produzieren. Genies wüssten am besten, was sie zu tun hätten. Dem widersprach PFL viele Jahre später in einem Interview mit Nico Stehr:

„Except for young Einsteins (which I understand are quite rare and where you best wait on what they want to do), I am sorry to say that the Lord has given few people a calling, and they probably in the long run develop better if for four or five years they have been told what to do and have been apprentices, rather than to follow this mystique that every twenty-year-old (I don’t want to offend anyone) graduate student has in his soul an assignment to which he must devote himself, and the fiction that it is terrible to be told what to do (Lazarsfeld, 1982, S. 154).”

1954 öffnete das Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences – nicht wie ursprünglich ins Auge gefasst an der Ostküste, sondern in Palo Alto, als Nachbar der dortigen Stanford University – die Tore seiner eilig neu errichteten bungalowartigen Gebäude (Walsh, 1970).

Vom Lazarsfeld-Proposal war nicht viel übriggeblieben: Statt der mehrjährigen Verpflichtung einer vertikal geschichteten Gruppe, die gemäß dem Meister-Lehrling-Modell miteinander arbeitet, wurden die Mitglieder der ersten Klasse zwar noch nach drei (Alters-)Statusgruppen ausgewählt, waren am Center aber formal gleichgestellt und konnten individuell ein akademisches Jahr in exquisiter Einsamkeit forschen. Der Auswahlprozess der Fellows beruhte auf Vorschlägen all jener Sozialwissenschaftler, die in der Planungsphase des Centers konsultiert worden waren. Später durften ehemalige Fellows und die Mitglieder eines achtköpfigen Advisory Boards Kandidaten nominieren. PFL war einer der 36 Fellows des ersten Jahres und versuchte anfangs noch, seine kollaborative Idee zu propagieren. Die anderen Fellows, darunter Franz Alexander, Ludwig Bertalanffy, Kenneth Boulding, Harold Lasswell, Charles Lindblom, R. Duncan Luce, Anatol Rapoport, und als einzige Frau Else Frenkel-BrunswikFootnote 31, zeigten allerdings wenig Bereitschaft zu kooperativer Forschung.

Abgesehen von den Einwänden der prinzipiellen Kritiker eines Ausbildungszentrums spielten wohl drei Faktoren eine Rolle, um aus dem Lazarsfeld-Modell das Palo Alto-Modell werden zu lassen: Die Breite der Sozialwissenschaften bzw. der Behavioral Sciences wollte PFL über die Methodologie zu einer Einheit machen, wobei in dem programmatischen Text nicht nur die quantitativen Methoden, sondern auch qualitative und komparative explizit genannt wurden. Das überzeugte aber die Vertreter der Business Schools, die Rechtsanwälte und Universitätsadministratoren, die im Board of Trustees der Ford Foundation saßen, ebenso wenig wie die meisten anderen Sozialwissenschaftler, die an den Expertengremien teilnahmen – und letztlich scheint nicht einmal Robert Merton von der Machbarkeit oder Sinnhaftigkeit des ursprünglichen Plans überzeugt geblieben zu sein.

Das Behavioral Science Programm der Ford Foundation wurde nach wenigen Jahren geschlossen; Berelson schaffte es, dem Palo Alto-Center über das Ende der Abteilung hinaus Gelder zu sichern, was half, diese Einrichtung zu einer dauernden werden zu lassen. Das Center for Advanced Studies in Behavioral Sciences, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist, offeriert einige Einsichten für die Frage geplanter Innovationen.Footnote 32 Die Initiative zu seiner Gründung beruhte auf einer sehr vagen Idee einiger einflussreichen Sozialwissenschaftler, die bei den Entscheidungsträgern einer Stiftung, die Großes vorhatte, allein schon deswegen auf wenig Widerstand stieß, weil die investierten Summe Geldes in den Augen Letzterer so klein war, dass man das Risiko eingehen konnte, etwas Neues zu wagen.Footnote 33 Für die Gründungsperiode von fünf Jahren spendierte die Ford Foundation mit 3,5 Mio. US$ (entspricht etwa 40 Mio. US$ im Jahr 2022) deutlich mehr als ursprünglich budgetiert; verglichen mit den 60 bis 100 Mio. Jahresbudget der Stiftung war es dennoch ein überschaubares Risikoinvestment. Die starke Involvierung einer sehr großen Zahl von potenziellen Veto-Stimmen bereitete ironischerweise ein günstiges Umfeld, da in den Erkundungsprozess Involvierte zögerten, später zur Fundamentalopposition zu wechseln. Schließlich erfüllte das Center nach seiner Gründung eine Funktion, die es in den ursprünglichen Plänen gar nicht haben sollte: Eine beachtliche Gruppe von Wissenschaftlern, die schon zur akademischen Elite gehörten oder sich auf dem Weg dorthin befanden, konnten ein Jahr in Ruhe unter angenehmen Bedingungen verbringen – „The leisure of the theory class“ nannte das Daniel Bell, einer der Nutznießer dieser Einrichtung (Bell, 2000, S. 448).Footnote 34 Während das ältere Institute for Advanced Study in Princeton neben den jährlichen Besuchern auch permanente Mitglieder hat, wurde das Palo Alto-Modell zum Vorbild für eine große Zahl gleichartiger Einrichtungen in anderen Ländern.

6 Von einer Brauerei in Newark in die Wiener Stumpergasse

In Newark war das Forschungszentrum in einer ehemaligen Brauerei untergebracht, was Adorno zu weitreichenden Assoziationen veranlasste.Footnote 35 Das BASR war die längste Zeit seiner Existenz an der Upper West Side Manhattans in einem heruntergekommenen Gebäude, das davor die Medical School benutzte, untergebracht. Die Bungalows des Centers in Palo Alto wurde auf einem Grundstück in der Nähe der Stanford University neu errichtet, was PFL wohl als Verschwendung von Mitteln erschien, die besser der Forschung zugutekommen hätten sollen. Das neue gegründete IHS wurde in einer ehemaligen Volksschule im 6. Wiener Bezirk untergebracht und entsprach damit den Ansprüchen, die PFL für ausreichend hielt.

Anfänglich sollten am IHS, ähnlich wie das PFL in seinem Plan einer „Professional School for Training in Social Research“ dargelegt hatte, Gastprofessoren für mehrere Jahre engagiert werden; die Scholaren sollten nicht nur aus Österreich kommen, sondern auch aus den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs rekrutiert werden.

Faktisch wurde das IHS in den ersten Jahren, als es von allen noch „Ford-Institut“ gerufen wurde, zu einer Ausbildungseinrichtung für Nationalökonomie, insbesondere Modellierung und Spieltheorie, sowie empirische Soziologie und moderne Politikwissenschaft, die weitgehend auf politische Theorie/Philosophie verzichten wollte.Footnote 36

Einige wenige Gastprofessoren verbrachten längere Zeit am Institut oder kehrten öfter dorthin zurück; die Ausbildungsfunktion übernahmen Absolventen, die als Assistenten rekrutiert wurden. Der Umstand, dass bis zum Ende des IHS als Ausbildungseinrichtung die Scholaren ein Diplom erhielten, das in keinem Gesetz und keiner staatlichen Verordnung geregelt war, illustriert die periphere Rolle des IHS in der österreichischen akademischen Welt. Dazu passt gut, dass das IHS bis heute von einem Verein betrieben wird und keinerlei langfristige Absicherung besitzt.

PFL folgte in seinen anfänglichen Vorschlägen mehr oder weniger seiner weniger als zehn Jahre davor letztlich gescheiterten Idee vom Ausbildungszentrum; er nahm aber recht rasch einen gleichsam agnostischen Standpunkt ein und fand sich mit dem ab und in ihm zurecht, was seine österreichischen Landsleute aus seiner Idee machten. Bis zu seinem Lebensende gehörte er unter unterschiedlichen Titeln zum Beraterkreis des IHS, sein Versuch, seine Vorstellung von empirischer Sozialforschung den österreichischen Scholaren zu vermitteln, war deutlich weniger erfolgreich als im Bureau in New York und glich damit eher seinen Erfahrungen mit dem Center for Advanced Studies in Palo Alto.

Versucht man aus den hier geschilderten Gründungen, an denen PFL beteiligt war, Lehren zu ziehen, muss man wohl als allererstes darauf aufmerksam machen, dass jede seiner Gründungen schon nach kurzer Zeit anders aussah als er und andere das im frühen Planungsstadium konzipiert hatten. Verallgemeinert man diesen Befund vorsichtig, wäre der Schluss naheliegend, dass jede Art von Planung wissenschaftlicher Wissensproduktion unmöglich ist. An die Seite des sozusagen intrinsischen Grundes der Unvorhersehbarkeit künftigen Wissens treten die äußerlichen Korollare, die Robert K. Merton in seiner Studie über Serendipity im Detail diskutiert hat und die man dahingehend zusammenfassen kann, dass es durchaus möglich ist, Entdeckungen und zufällige Entdeckungen institutionell zu fördern, man aber keine Garantie habe, dass diese auch auftreten werden (Merton & Barber, 2004, insb. S. 230–298). Zweitens kann man darauf beharren, dass am Ende ja in jedem Fall irgendetwas gegründet worden war – und schulterzuckend müsste man fortfahren: das Resultat sah halt anders aus als die anfängliche Vorstellung. Das könnte man nun dahingehend vorsichtig verallgemeinern, dass institutionelle Innovationen im Feld der Wissenschaften durch einen hohen Grad an Kontingenz gekennzeichnet sind. Akteure, die in einer solchen Umwelt dennoch aktiv sein wollen, sehen sich also genötigt, weitgehend opportunistisch vorzugehen, Gelegenheiten jeweils beim Schopf zu packen und nach neuen Gelegenheiten Ausschau zu halten. In gewisser Weise entspricht das jener Politikform, die Albert O. Hirschman als Possibilismus (Hirschman, 2015; Lepenies, 2023) bezeichnet hat und sie von den semantisch anrüchigen Konnotationen des Begriffs Opportunismus befreite. Daran anschließend kann man dann drittens noch die Folgerung anschließen, dass eine möglichst reichhaltige Umwelt, sozusagen das sozio-institutionelle Pendant zum Genpool, Possibilismus aussichtsreicher und erfolgreicher macht.

Lazarsfeld war als Institutionsgründer erfolgreich, weil er stets opportunistisch/possibilistisch vorging und sich mit dem, was angesichts gegebener Randbedingungen zustande zu bringen war, letztlich abfand, um in den schließlich realisierten Konstellationen wiederum Neues auszuprobieren. Ob diese Strategie (wissenschaftspolitisch) verallgemeinerbar ist, muss künftiger Forschung vorbehalten bleiben (mit solchen Formulierungen beendete PFL üblicherweise seine Abschlussberichte an Geldgeber).