1 Einleitung

Das Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach (MFO) ist seit 2005 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und genießt international höchstes Ansehen. Es wurde im Herbst 1944 durch den Freiburger Mathematiker Wilhelm Süss (1895–1958) im Kontext der Kriegsforschung gegründet als „Reichsinstitut für Mathematik“, dessen Aufgaben sehr umfassend waren, aber völlig im zeitgenössischen institutionellen Rahmen blieben, d. h. im Dienste staatlicher Forschungsaufgaben standen. Das MFO entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Tagungszentrum für Mathematik, das zunehmend auch international ausstrahlte. Im Jahr 2019 (vor der Corona-Pandemie) besuchten es jährlich ca. 3.000 Mathematiker:innen aus aller Welt. Während seine Gründungsgeschichte historisch untersucht wurde (Mehrtens, 1996; Remmert, 1999, 2004b; Epple et. al 2005), liegen zu seiner Geschichte nach 1945 neben wenigen historischen Arbeiten, die einzelne Aspekte berühren (Remenyi, 2011; Remmert, 2012, 2019, 2020) im wesentlichen nur Beiträge vor, die eher der mathematischen Erinnerungskultur entsprungen sind (Süss, 1967; Gericke, 1968, 1984; Behnke, 1973; Artin et al., 1994; Hirzebruch, 2006; Remmert, 2008). Letztere enthalten zwar wertvolle Anregungen für eine Geschichte des MFO, genügen aber wissenschaftshistorischen methodischen Ansprüchen kaum.Footnote 1

Nach Kriegsende war das MFO, das den Betrieb noch kaum aufgenommen hatte, einerseits gezwungen sich des Kontextes der Kriegsforschung zu entledigen und sich inhaltlich neu zu erfinden. Andererseits bestand das Grundproblem einer fehlenden materiellen und institutionellen Absicherung nach 1945.Footnote 2 Der Geldgeber, das Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung (REM), existierte nicht mehr, eine Verbindung zu Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft/Max-Planck-Gesellschaft bestand nicht, sodass das MFO in den späten 1940er und in den 1950er Jahren mehrmals vor der Schließung stand. Personell ist sein Überleben eng mit zwei Personen verbunden, Wilhelm Süss, der als glänzender Fachpolitiker und Wissenschaftsorganisator das MFO von der Gründung bis zu seinem Tode 1958 leitete, und Hellmuth Kneser (1898–1973), der als außergewöhnlich breit gebildeter und international anerkannter Mathematiker dem MFO mathematischen Odem einhauchte.Footnote 3 Institutionell gestaltete sich die Sicherung des MFO außerordentlich schwierig, da es in seiner Natur als Tagungsinstitut (trotz des selbst herangezogenen Vergleichs mit dem Institute for Advanced Study in Princeton) in den 1950er und 1960er Jahren (und weit darüber hinaus) durch die gängigen begrifflichen Raster der bundesdeutschen Forschungsförderung fiel (insbesondere bei DFG und MPG).Footnote 4 Rückblickend lässt es sich als Prototyp einer „sozialen Forschungsinfrastruktur“ verstehen. Allerdings hat dieser Begriff erst 2011 Eingang in das begriffliche Instrumentarium der Forschungsförderung gefunden.Footnote 5 Verstanden werden darunter “in der Regel Begegnungsräume des diskursiven Austauschs von aktuellen und der Entwicklung von neuen Forschungsfragen” (Wissenschaftsrat, 2011, S. 20 f.). Im Bericht der Leibniz Gemeinschaft zu durch sie geförderten Forschungsinfrastrukturen wird das MFO inzwischen ausdrücklich als „soziale Forschungsinfrastruktur“ verstanden – eine Kategorie, in die nur 2 % der Forschungsinfrastrukturen der Leibniz-Gemeinschaft fallen, nämlich drei Institute.Footnote 6

Gegenstand dieses Beitrags ist die Entstehungs- und Gründungsgeschichte des MFO mit einer Perspektive auf die weitere Entwicklung des MFO bis Anfang der 1960er Jahre als der Fortbestand des Instituts langfristig gesichert werden konnte. Dabei steht der Wandel der institutionellen Identität des MFO von seiner Gründung als „Reichsinstitut für Mathematik“ 1944 hin zur neuen Rolle als soziale Forschungsinfrastruktur Beginn der 1960er Jahre im Mittelpunkt.Footnote 7 Dieser Wandel der institutionellen Identität des MFO lässt sich an den neuen Organisationsformen des Forschungsbetriebs am MFO ablesen, d. h. insbesondere an der Entwicklung und Bedeutung des wissenschaftlichen Programms des MFO (v. a. Tagungen) und der verwendeten Forschungsinstrumente (Bibliothek, Publikationsprogramm) sowie der damit einhergehenden Strategien, um die Existenz der MFO zu sichern bzw. seine Relevanz im (forschungs-)politischen Feld zu inszenieren. Die neuen Formen des Forschungsbetriebs gingen Hand in Hand mit einer komplexen Finanzierungsproblematik: einerseits bedingt durch die wegfallende Finanzierung durch das REM bei Kriegsende, andererseits dadurch befördert, dass das MFO als non-standard Institution keinen kanonischen Platz in der gängigen Praxis der Forschungsförderung hatte. Im Fokus des Beitrags stehen die Strategien, die bis Mitte der 1960er Jahre entwickelt wurden, um die materielle Existenz des MFO zu sichern (frz. Militärregierung, Landesministerien, Bundesministerien, DFG und MPG, Thyssen und Volkswagen Stiftung). Im Jahr 1963 war die institutionelle Sicherung des MFO schließlich weitgehend abgeschlossen bzw. vorgezeichnet.

2 Gründungsphase des MFO

Das MFO wude 1944 im Kontext der Kriegsforschung als „Reichsinstitut für Mathematik“ gegründet.Footnote 8 Die Schaffung eines zentralen Instituts für Mathematik in Deutschland, das in erster Linie der Kriegsforschung dienen sollte, wurde spätestens seit Herbst 1941 diskutiert. Die Gründung des heutigen MFO als Reichsinstitut für Mathematik ging auf die Initiative des Freiburger Mathematikers Wilhelm Süss zurück, der als Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) mit Unterstützung des Reichsforschungsrates (RFR), als zentraler staatlicher Institution der Forschungsförderung, und des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) ein solches Institut als ureigenste Zuständigkeit der DMV betrachtete. Im Sommer 1942 gab es noch zwei andere Optionen für die Gründung eines Reichsinstituts für Mathematik, denn einerseits initiierte der Freiburger Mathematiker Gustav Doetsch (1892–1977) als Mitarbeiter der Forschungsführung im Reichsluftfahrtministerium (RLM) ein von der Luftwaffe kontrolliertes Instituts für höhere mathematische Methoden an der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (LFA) in Braunschweig, dessen Aufbau ab Juli 1942 durch den Mathematiker Wolfgang Gröbner (1899–1980) unter alleiniger Trägerschaft des RLM begann und das später den Namen Arbeitsgruppe für Industriemathematik erhielt. Dieses mit großen Ambitionen aus der Taufe gehobene Unternehmen konnte nur in recht bescheidenem Maßstab tätig werden und die Tätigkeit der Arbeitsgruppe für Industriemathematik endete 1944 mit der Zerstörung der LFA. Andererseits bestand in Darmstadt bereits das von Alwin Walther (1898–1967) geleitete Institut für praktische Mathematik, das bereits in wachsendem Ausmaß von verschiedenen Seiten für Aufgaben der Kriegsforschung herangezogen wurde (insbesondere durch die HVA in Peenemünde).Footnote 9

Süss hatte bei der Gründung des Reichsinstituts für Mathematik nicht allein eine eher dienstleistende Institution zum Zwecke der Kriegsforschung im Auge, sondern ihm lag an einer Einrichtung, die über das (siegreiche) Ende des Krieges hinaus ein breites Spektrum mathematischer Grundlagen- und Anwendungsforschung betreiben sollte. Seine Bemühungen zeitigten erst Mitte 1944 Früchte und der offizielle Antrag auf Errichtung eines Reichsinstituts für Mathematik wurde schließlich Anfang August 1944 von dem Physiker Walther Gerlach in seiner Eigenschaft als Fachspartenleiter Physik im RFR gestellt, da die Mathematik dort keine eigene Stimme hatte.Footnote 10 Die im Antrag skizzierten Aufgabenbereiche waren in der zeitgenössischen Diskussion nicht neu und insgesamt ging es in erster Linie um eine zentrale Organisation und Bündelung von Ressourcen, für die Süss als Vorsitzender der DMV durchaus die geeignete Person zu sein schien. Die umfassenden Pläne, die neben einem Personaltableau von insgesamt ca. 30 Personen, den Erwerb einer Bibliothek, die Anschaffung von Rechenmaschinen und die Erstausstattung des Instituts vorsahen, konnten gegen Ende des Krieges nicht mehr realisiert werden, aber ab September 1944 begann das Reichsinstitut für Mathematik in Oberwolfach unter der Leitung von Süss zu entstehen.

Die Gründung des MFO wurde durch zwei Prozesse ermöglicht: 1) Die durch den Nationalsozialismus begünstigte (partielle) Zentralisierung fachpolitischen Einflusses der Mathematik im Rahmen der DMV, insbes. in den Händen ihres Vorsitzenden Süss (1938–1945/47), die es ermöglichte, die Interessen „der Mathematik“ in Deutschland gezielt zu fördern.Footnote 11 2) Der Kontext der Rüstungs- und Kriegsforschung, in dem mathematischen Methoden und ausgebildeten Mathematiker:innen eine wichtige Bedeutung zukam.Footnote 12 Hinzu kam 3), dass zentrale mathematische Institute bereits in Italien gegründet worden waren, insbes. das Istituto Nazionale per le Applicazioni del Calcolo (INAC) in Rom, das gezielt militärische und staatliche Forschungsaufträge bearbeitete, aber auch 1939 das Istituto Nazionale di Alta Matematica (INDAM) in Rom, das sich auf die reine Mathematik konzentrierte und zu dessen feierlicher Eröffnung Mussolini persönlich erschien.Footnote 13Das Forschungsprofil des MFO verändert sich in den 1940er und frühen 1950er Jahren rasant, denn mit Ende des Krieges stand das kaum gegründete Institut vor der Herausforderung sich neu zu erfinden und zwar des Kriegsforschungskontextes entkleidet und so gut wie ohne Ressourcen.Footnote 14 Das „Gesetz zur Regelung und Überwachung der wissenschaftlichen Forschung“ des Alliierten Kontrollrats vom 29. April 1946 unterwarf Forschung in Deutschland einer strengen Kontrolle, wenn sie „rein oder wesentlich militärischer Natur“ war.Footnote 15 Dem MFO stand diese Option daher, wenn überhaupt, nur in beschränktem Umfang offen (in Form von entsprechender Forschung im Auftrag der französischen Militärregierung). Bis zur Mitte der 1950er Jahre entwickelt sich das MFO zu einem reinen Tagungsinstitut, ohne eigenen Forschungsstab, in dem zunehmend fast alle mathematischen Subdisziplinen ihren Platz fanden.Footnote 16 Die institutionelle Identität als Tagungsinstitut bzw. als internationale „soziale Forschungsinfrastruktur“ bildet sich bis Mitte der 1960er Jahre vollständig heraus.

Ende der 1950er Jahre spiegelte sich diese Entwicklung bereits in den jährlichen Zahlen der Tagungsteilnehmer:innen wider (Tab. 1):Footnote 17

Tab. 1 Zahl der Tagungsteilnehmer:innen. Eigene Darstellung

Aufschluss über die damalige Institutsarbeit gibt das Protokoll einer Strategiebesprechung am MFO vom 29. Oktober 1959. Dort heißt es, dass die Institutsarbeit hauptsächlich aus Tagungen „mit bis zu 40 Teilnehmern über ein spezielles Gebiet der Mathematik“ sowie aus „vorbereitenden Arbeitsgemeinschaften von etwa 12 Teilnehmern“ bestehe.Footnote 18

3 Organisation und Finanzierung des MFO

Die Finanzierung des MFO erfolgte zunächst durch den RFR bzw. das REM in Berlin. Mit dem Ende der Zentralstaatlichkeit in Deutschland hatte das Institut keine zentrale Finanzierungsquelle mehr, die die Umsetzung der ursprünglichen, ehrgeizigen Pläne erlaubt hätte. Vielmehr war das MFO auf Zuschüsse der französischen Militärregierung, des Landes Baden (ab 1952 Baden-Württemberg) sowie ab 1954 des Bundes angewiesen, die aber bis Ende der 1950er Jahre nie auf Dauer gestellt wurden. In dieser Zeit stand das MFO zweimal vor der Schließung. Erst ab Mitte der 1960er Jahre erhielt das MFO einen stabilen Etat von Bund und Land.

In den 1950er Jahren scheiterten Versuche, durch die DFG gefördert oder in die MPG aufgenommen zu werden. Bis Mitte der 1950er Jahre variierte der jährliche Zuschuss des Landes. Hinzu kamen punktuell Fördermittel der frz. Militärregierung und vereinzelte Spenden. Zwischen 1954 und 1960 wuchsen die jährlichen Mittel von 26.000 DM im Jahr 1954 (14.000 Land, 12.000 Bund) auf knapp 60.000 DM im Jahr 1960 (40.000 Land, 18.000 Bund). In den Jahren 1961–1964 erhielt das MFO Zuschüsse von insgesamt 285.000 DM von der 1959 gegründeten Thyssen Stiftung.Footnote 19 Die baulichen Maßnahmen, die den systematischen Tagungsbetrieb ermöglichten (Gästehaus, Vortragsgebäude mit Bibliothek) hat die 1961 gegründete Volkswagen Stiftung von 1963–1968 mit gut 3,7 Mio. DM gefördert unter der Voraussetzung, dass Land und Bund den laufenden Betrieb finanzieren. Auf diese Weise ist das MFO Mitte der 1960er Jahre zu einer regelmäßigen Finanzierung durch Land und Bund gekommen.

Bis zum Tod des Gründungsdirektors Wilhelm Süss im Jahr 1958 war er alleinverantwortlich für die Organisation des Institutsbetriebs (mit Berichtspflicht gegenüber den verschiedenen Geldgebern). Beraten wurde er durch seinen Stellvertreter und Freund Hellmuth Kneser, zur Betreuung von Gästen vor Ort, meist nur im Sommer, stand ein Assistent (i. d. R. ein:e durch die DFG finanzierte Doktorand:in der Mathematik) zur Verfügung (Tab. 2).

Tab. 2 Finanzierung des MFOFootnote

Die Zahlen sind derzeit nicht vollständig zu ermitteln. Sie beruhen auf folgenden Archivmaterialien: Staatsarchiv Freiburg C25/3, Nr. 243; Archives de l’occupation française en Allemagne et en Autriche (1945–1955), Paris: 1BAD1262; Bundesarchiv Koblenz, B 136/911; Hauptstaatsarchiv Stuttgart Stuttgart EA 13–201 Bue 333–1 und 333–2; Universitätsarchiv Freiburg E6/51; Archiv der Volkswagen Stiftung, Ordner MFO Planung 1.12–1.13, hier 1.13; Mitteilung der Thyssen Stiftung, die kein Archiv betreibt.

Eine Besonderheit des MFO unter der Leitung von Süss war, dass das Institut als früheres Reichsinstitut im Grunde seit dem Ende der Zentralstaatlichkeit in Deutschland keine Rechtsform mehr hatte, wie der Landesrechnungshof Ende 1957 in einem Schreiben an das Kultusministerium bemängelte, verbunden mit dem Vorschlag, es könne eventuell in die Universität Freiburg eingegliedert werden.Footnote 21 In einer Stellungnahme an das Kultusministerium hat Süss betont, dass er „außerordentlich dankbar [wäre], wenn es [das Ministerium] Wege fände, die Existenz des Forschungsinstituts durch Schaffung gesicherter Rechtsgrundlagen für die Zukunft zu gewährleisten“.Footnote 22 In der Diskussion mit Mathematiker-Kollegen zeichnete sich ab, dass das Bundesministerium des Inneren in Bonn möglicherweise für eine langfristige Förderung gewonnen werden könnte. Das Ministerium hat daraufhin von Süss genauere Informationen zu Entstehung, Status, Träger und die „arbeitsmässige Auslastung“ des MFO erbeten.Footnote 23 Süss erkrankte allerdings 1958 schwer und verstarb im Mai 1958, was zwar einerseits ein Schock für die Freunde des MFO war, aber andererseits den Druck auf das MFO so erhöhte, dass die Rechtsform geändert wurde. Die 1959 gegründete Gesellschaft für Mathematische Forschung wurde im gleichen Jahr Trägerin des MFO.Footnote 24 Zugleich wurde ein wissenschaftlicher Beirat gegründet, der den Tagungsbetrieb zunehmend kontrollierte.

Seit 2005 ist das MFO Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft mit der Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH (Handelsregistereintragung HRB 680.630, Amtsgericht Freiburg i.Br.). Heute (2024) gibt es drei Gremien, die das MFO gemeinsam mit dem Direktor (Hochschullehrer in Deutschland, bestellt für 5 Jahre, maximal zwei Amtszeiten; eine Direktorin gab es bislang nicht) steuern:Footnote 25

  1. 1.

    die wissenschaftliche Kommission als Organ der Gesellschaft für Mathematische Forschung als Trägerin des MFO. Sie entscheidet mit dem Direktor über das wissenschaftliche Programm (Tagungsprogramm).

  2. 2.

    Verwaltungsrat als Organ des MFO: verantwortlich für die langfristige Entwicklung des MFO (inhaltlich wie finanziell)

  3. 3.

    wissenschaftlicher Beirat als Organ des MFO evaluiert die wissenschaftliche Arbeit und berät das MFO und den Verwaltungsrat.

Die Statuten des MFO und der Gesellschaft für Mathematische Forschung kodifizieren folgende Ziele des MFO:Footnote 26

  1. 1.

    Förderung der mathematischen Forschung,

  2. 2.

    Stärkung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit,

  3. 3.

    Stärkung der Fortbildung in der Mathematik und ihren Grenzgebieten,

  4. 4.

    Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

4 Besonderheiten des MFO im Vergleich zu anderen Forschungsinstituten

Die Struktur des MFO als Tagungszentrum bzw. als „soziale Forschungsinfrastruktur“ bringt es einerseits mit sich, dass es keinen eigenen Forschungsstab beschäftigt und kein eigenes Forschungsprogramm verfolgt. Andererseits ist seit den 1960er Jahren ein „Hotelbetrieb“ aufgebaut worden, da die Tagungsteilnehmer:innen im Institut untergebracht und verpflegt werden. Durch die besondere institutionelle Identität des MFO als internationale „soziale Forschungsinfrastruktur“ liegt es außerhalb der üblichen Finanzierungsraster, denn, wie bereits erwähnt, fallen nur 2 % der Forschungsinfrastrukturen der Leibniz Gemeinschaft, nämlich 3 Institute in die Kategorie „soziale Forschungsinfrastruktur“, was historisch ein großes Problem darstellte und auch heute gelegentlich die Frage aufwirft, ob es sich überhaupt um ein „Forschungsinstitut“ handelt. Das MFO ist einerseits institutionell vergleichsweise wenig vernetzt; Verbindungen zu Universitäten bestehen durch den Direktor sowie durch die beratenden Gremien. Andererseits ist es als internationales Tagungszentrum international stark auf einer individuellen Basis vernetzt.

Die Infrastruktur des Instituts ist durch den besonderen Charakter als Tagungszentrum geprägt und die „soziale Forschungsinfrastruktur“ besteht aus einem Ensemble von Bibliothek, einem Vortragsgebäude (mit Vortragssaal, Seminarräumen und Büros), das durch seine Architektur zur Kommunikation geradezu einlädt, und das Gästehaus (Hotelbetrieb). Dass sich auf diese Weise Tagungen zu einem erfolgreichen Arbeitsinstrument entwickeln konnten, lässt sich sehr gut in einer Einschätzung des stellvertretenden Direktors Hellmuth Kneser im Jahr 1960 nachvollziehen: „Infolge des beweglichen Charakters der mathematischen Arbeit ist es in der Mathematik in besonderem Masse möglich, dass bei solchen Begegnungen [Tagungen] nicht nur Ergebnisse und Methoden gegenseitig mitgeteilt werden, sondern dass dabei echte Forschung geschieht.“Footnote 27

Die Ergebnisse des Tagungs- und Vortragsbetriebs werden seit 1944 bis heute in Vortragsbüchern (abstract books, handgeschriebene abstracts) gesichert. Seit den 1960er Jahren sind zusammenfassende Berichte über jede Tagung üblich, die seit 2004 in den Oberwolfach Reports gedruckt werden. Die älteren Vortragsbücher wurden 2008–2012 durch ein DFG-Projekt erschlossen und sind digital zugänglich (Oberwolfach Digital Archive).

5 Schlussbemerkung

Es ist schwer einzuschätzen, inwiefern die Organisationsform des MFO die Wissensproduktion in Teilen der Mathematik geprägt hat. Dazu bedarf es einer genauen inhaltlichen Untersuchung des Tagungsbetriebs, die z.Zt. noch nicht vorliegt (Remenyi et al., erscheint voraussichtlich 2024). Es zeichnet sich allerdings ab, dass die besondere Form der auf spezifische Themen ausgerichteten, zunehmend europäischen und später internationalen Tagungen ab den 1950er Jahren tatsächlich eine wichtige Rolle in der disziplinären Entwicklung der Mathematik an den Universitäten in der BRD spielte. Insbesondere für die Subdisziplinen Geschichte der Mathematik, Gruppentheorie, komplexe Analysis und mathematische Statistik waren die z. T. jährlich am MFO stattfindenden Tagungen für die Entwicklung und internationale Vernetzung von großer Bedeutung. Insgesamt aber kam dem MFO in den 1950er und 1960er Jahren weniger eine Rolle dabei zu, spezifische neue Forschungsfelder zu erschließen, als vielmehr organisatorisch auf einen Strukturwandel in der Mathematik zu reagieren, den Hellmuth Kneser Anfang 1960 so beschrieb:

„Die kritische Lage in der heutigen mathematischen Forschung hat ihren Grund vornehmlich in dem Tempo der Fortschritte. Bei einem „Strukturwandel“, wie er sich in der Mathematik vollzogen hat, können an den Zentren der aktuellen Forschung neue Theorien und Ergebnisse so schnell entstehen und weitergebildet werden, dass der Forscher, der erst durch den Druck davon erfährt, oft gar nicht in diese Arbeit eingreifen kann. Es ist also ein Problem der Kommunikation: Häufige Begegnungen zwischen den verschiedenen Arbeitsgruppen sind nötig, um eine gesunde Entwicklung zu fördern.“Footnote 28

Es bestand also, glaubt man Kneser, der allerdings in diesen Worten dezidiert für die Expansion des MFO argumentierte, großer Bedarf an der Bereitstellung einer Infrastruktur für mathematische Grundlagenforschung und Kommunikation, den das MFO langfristig auszufüllen begann. Das MFO kann mindestens im Kontext der Mathematik als institutionelle Innovation gelten, denn ein international tätiges Tagungszentrum mit der Funktion als soziale Forschungsinfrastruktur gab es vorher nicht. Dabei wurden die regelmäßigen Workshops und Tagungen ohne eigenen Forschungsstab innovative Kernmerkmale des MFO, auch wenn gewisse institutionelle Anleihen erkennbar sind an das IAS in Princeton (das als offizieller Referenzpunkt in den 1950er Jahren diente), oder an die Aktivitäten des Institut Henri Poincaré in Paris oder Francesco Severis Istituto Nazionale di Alta Matematica in Rom.