1 Einleitung: Versuchsanstalten als Organisationsform praktischer Wissenschaft

Das Experiment ist grundsätzlich eine zentrale Methode zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. In seiner Ausprägung als Test findet es auch für Fragestellungen außerhalb eines ergebnisoffenen Forschungskontexts Anwendung, um Möglichkeiten zur Erreichung eines erwünschten Resultats zu ermitteln. Der Ort des Experiments ist das Labor, das in der Wissenschaftsgeschichte durch die laboratory studies Aufmerksamkeit erfahren hat. Sind Tests – also Prüfungen, Erprobungen – allerdings der Hauptzweck eines Labors, wird es anders bezeichnet, beispielsweise als Versuchsanstalt.

So bezeichnete Organisationen bzw. Organisationseinheiten haben ihre Wurzeln in der industriellen Revolution, auch wenn die damit verbundenen Wissenszugänge weiter zurückreichen (Vgl. Klein, 2016, S. 179). Eine Versuchsanstalt ist eine Einrichtung, in der unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden Materialien, Produkte und Prozesse geprüft, erprobt, standardisiert und weiterentwickelt werden. Versuchsanstalten entstehen hauptsächlich im Zusammenhang mit produzierenden Tätigkeiten in Industrie (einschließlich Bergbau), Gewerbe und Landwirtschaft. Je nach Aufgabenstellung, Interessenlage und Ressourcen der beteiligten Akteure (Staat, Hochschulen, Unternehmen) können solche Versuchsanstalten im privaten wie auch im staatlichen Umfeld angesiedelt sein. Bekannte Beispiele sind etwa die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt (EMPA 1880), die Physikalisch-technische Reichsanstalt in Deutschland (PTR 1887: Cahan, 1992; Huebener & Lübbig, 2011), die Versuchsanstalten der großen Stahlunternehmen, oder das amerikanische National Bureau of Standards (1901).

Obwohl das Ziel der Versuchstätigkeiten nicht primär die Gewinnung neuer Erkenntnisse durch Prüfung von Hypothesen war, konnten die Ergebnisse der Versuche aber zu neuen Forschungsfragen und Hypothesen sowie folglich zu neuen Erkenntnissen führen. Das galt vor allem für Phänomene, die überhaupt nur im Kontext einer Versuchsanstalt entstehen konnten, weil dort Fragestellungen bearbeitet wurden, die ihren Ursprung außerhalb der Universitäten hatten. Versuchsanstalten kann man so gewissermaßen als „institutionalisierte serendipity“ (Merton & Barber, 2004) betrachten, was nicht zuletzt in der ambivalenten zeitgenössischen Verwendung des Forschungsbegriffs reflektiert wird. Terminologisch ist daher zu beobachten, dass mit zunehmender Häufigkeit von Versuchs- und Forschungsanstalten die Rede ist.

Exemplarisch zeigt sich dieses Prinzip in der Eisen- und Stahlindustrie (Pichler, 2019). Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in Unternehmen die ersten „Probieranstalten“ gegründet (Rasch, 1996, S. 9 f.). Im Mittelpunkt des Interesses standen die Zusammensetzung der eingesetzten Materialien und die Eigenschaften der erzielten Produkte (Rasch, 1996, S. 7–12; Marsch, 2000, S. 26 f.). Die Weiterentwicklung der Versuchsanstalten zu Forschungsabteilungen im Zuge der weiteren Verwissenschaftlichung der Untersuchungsmethoden geschah ab der Wende zum 20. Jahrhundert (Rasch, 1996, S. 17–22; Marsch, 2000, S. 103–117). Ein gutes Beispiel dafür, wie erst Versuchsergebnisse zu wissenschaftlichen Hypothesen führen, ist das sogenannte LD-Verfahren, das die Stahlerzeugung ungleich effizienter machte und sich rasch weltweit durchsetzte. Mit diesem Verfahren wird Roheisen durch die Zufuhr von reinem Sauerstoff anstelle von Luft („Frischen“) zur Oxidation von Kohlenstoff in Stahl umgewandelt.Footnote 1 Die seit den 1930er Jahren angestellten Versuche des Frischens mit reinem Sauerstoff führten 1949 in der Versuchsanstalt der Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke in Linz eher zufällig zum Erfolg. Die erste wissenschaftliche Erklärung des Vorgangs wurde 1951 veröffentlicht, die Debatten dauerten noch jahrelang.Footnote 2 Die Eisen- und Stahlindustrie war eben keine science-based industry, eher entwickelte sich daraus eine industry-based scienceFootnote 3, mit Versuchsanstalten als Organisationselement der Forschung. Dieses Grundprinzip kam aber auch in anderen Wissensgebieten zum Tragen.

So etwas wie die PTR gab es in Österreich nicht. Das hatte mit dem bereits 1815 gegründeten Polytechnischen Institut in Wien zu tun, dem ersten im deutschsprachigen Raum. Daraus ging 1872 die Technische Hochschule (TH) Wien hervor. Das Polytechnische Institut war von Anfang an auf die praktische Anwendung ausgerichtet. Die zu diesem Zweck eingerichteten Werkstätten und Labors entwickelten sich ab den 1870er Jahren zu Versuchsanstalten weiter, als – wie in ganz Europa – der Bedarf der Industrie an modernen Prüfkapazitäten stieg, zuerst im Bereich der Materialprüfung. 1901 wurde der Direktor der EMPA, Ludwig v. Tetmajer, mit dem Auftrag an die TH Wien berufen, die an der Lehrkanzel für Maschinenbau bereits bestehende Technische Versuchsanstalt (TVA) nach dem Vorbild der EMPA zu einem „Zentrallaboratorium“ auszubauen, „welches neben Forschung und Unterricht auch öffentlichen Versuchszwecken dienen sollte.“ (Kirsch, 1915, S. 384). So waren Versuchsanstalten auch eine Einnahmemöglichkeit für die TH, aber vor allem als Quelle neuer Forschungsfragen und damit für die Weiterentwicklung der technischen Wissenschaften wichtig (Mikoletzky, 2010; Mikoletzky, 2016a).Footnote 4

Die TH betrachtete daher Initiativen zur Errichtung einer zentralen staatlichen Versuchsanstalt skeptisch, so auch einen 1907 eingebrachten Gesetzesvorschlag Wilhelm Exners.Footnote 5 Im schließlich 1910 verwirklichten Gesetz („lex Exner“) wurde das „Technische Versuchsamt“ gegenüber dem Vorschlag auf eine reine Aufsichtsbehörde zur Zertifizierung anderer Versuchsanstalten reduziertFootnote 6, was auf den Widerstand der technischen Hochschulen, insbesondere die TH Wien, zurückzuführen war. Versuchsanstalten wurden als integraler Bestandteil einer TH gesehen, „denn es gibt keine technische Wissenschaft, welche nicht im Nährboden der Praxis wurzelt, und die Berührung mit dieser ist gerade durch das Versuchswesen gegeben.“Footnote 7 Nach der erfolgreichen Verhinderung einer zentralen Versuchsanstalt fasste die TH Wien zusammen: „Die Vertreter der technischen Wissenschaften bedürfen in hervorragendem Maße jener Anregung, die in lebendigster Wechselwirkung mit der Praxis gegeben ist. Die wissenschaftliche Lehre müßte, wenn sie auch nicht völlig erstarren würde, in ihrem ganzen Fundamente unsicher werden.“Footnote 8

Bis zur Gründung der Zweiten Republik kam es in Österreich nicht mehr zur Errichtung einer staatlichen Versuchsanstalt. Was außerhalb der technischen Hochschulen blieb, waren vereinzelte, meist privat organisierte Versuchsanstalten, die sich später als „kooperative Forschungsinstitute“ bezeichneten (Pichler & Hofer, 2014). Auch die Tendenz der NS-Zeit, Forschungseinrichtungen zu zentralisieren, schwächte die Möglichkeiten der TH Wien, eigene Versuchsanstalten auf- und auszubauen. (Mikoletzky, 2016b, S. 131 f.)Footnote 9 Nach 1945 wurde das Technische Versuchsamt nicht wiedererrichtet, sondern nur eine Zuständigkeit für das technische Versuchswesen beim Handelsministerium eingeführt.Footnote 10

2 Planungen, Zielsetzungen und Aufgaben für eine neue staatliche Versuchsanstalt

Vor diesem Hintergrund stellte sich nach 1945 die Frage der Institutionalisierung und Organisation des technischen Versuchswesens erneut. Der Wiederaufbau der industriellen Produktion und der öffentlichen Infrastrukturen erforderte auf alle Fälle eine breitere, staatlich getragene Gewährleistung und Weiterentwicklung des technischen state of the art. Die wenigen vorhandenen Ressourcen waren überwiegend an den technischen Hochschulen (und den höheren technischen Schulen) angesiedelt. Diese stießen in ihrer Nachkriegsverfasstheit aber auch an die Grenzen ihrer Aufgabenstellung, Organisation und Kooperationsfähigkeit.

Das Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau (BMHW) beschäftigte sich als erster der betroffenen Akteure mit einer „Zentralisation“ der „Prüfanstalten“ der TH Wien. Dabei wurden die vorhandenen – nicht nur kriegsbedingten – Defizite analysiert und strategische Ansätze entwickelt, um eine große staatliche Versuchsanstalt nach internationalem Vorbild zu schaffen. Neben der Unterstützung für „legislative Massnahmen … regt es Gewerbe, Industrie und Wissenschaft zur Entwicklungstätigkeit an“. Generelle Feststellungen in diese Richtung sollten noch oft getroffen werden. Zu diesem Zweck war die „grosse Zahl meist kleiner Prüfanstalten“ eher hinderlich, das Gegenmittel sollte in Zusammenlegung, Zusammenarbeit, gemeinsamer Nutzung von Geräten „sowie durch Modernisierung ihrer Organisationsform“ gefunden werden, um „damit leistungsfähigere Prüfkörper … zu bilden.“ Als erste Bausteine eines solchen „Prüfkörpers“ kamen die bestehenden Versuchsanstalten der TH Wien in Frage, wobei noch „die Form der Eingliederung und die Art der Zusammenarbeit … und die Frage der Unterbringung“ zu klären war. Insgesamt war die Zusammenfassung bzw. Errichtung von sieben Versuchsanstalten geplant. Es war aber auch „geplant, den Versuchsanstalten der T.H. Wien … staatliche Institute und Prüfanstalten anzugliedern“. Diese Lösung sollte „eine enge Verbindung mit der Industrie gewährleisten“.Footnote 11

Der erste Anwendungsfall dieser Organisationsfrage war die Elektrotechnische Versuchsanstalt (ETVA) der TH Wien. Unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Elektrizitätsversorgung von vordringlicher Bedeutung, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft mit dem 2. Verstaatlichungsgesetz. Daher war nach Ansicht des BMHW „die Gründung der ETVA als staatliche Einrichtung, möglichst als Teil der T.H. Wien, umgehendst in die Wege zu leiten.“ Dazu sollte ein Ressortübereinkommen mit dem Bundesministerium für Unterricht (BMU) geschlossen werden, das für die Hochschulen zuständig war. Dem BMU wurde gleich auch noch mitgeteilt, dass „der Zersplitterung des Prüfwesens … entgegenzuwirken“ sei. Zusätzlich zu seiner Zuständigkeit für das technische Versuchswesen befand sich das BMHW auch deshalb in einer guten Ausgangsposition, weil es über die Arsenalgründe verfügte, die als neuer, zentraler Standort dienen sollten.Footnote 12

Dem Handelsministerium war es somit gelungen, sich die Initiative anzueignen und eine im Wesentlichen wirtschaftspolitische Stoßrichtung vorzugeben. Die Betonung der staatlichen Organisationsform war als Abgrenzung zu den technischen Hochschulen zu verstehen, was der TH Wien nicht verborgen blieb. Die TH befürchtete, dass das Unterrichtsministerium der Frage der Versuchsanstalten – im konkreten Fall der ETVA – nicht genügend Gewicht beimessen würde. Daher wurde besonders die Lehre hervorgehoben, für die sich das BMU zuständig fühlen sollte.Footnote 13

Die TH versuchte nun auch, der vom Handelsministerium vorgezeichneten Zielrichtung bezüglich des Zwecks und des Gegenstands von Versuchsanstalten entgegenzutreten. Dabei kamen Argumente zum Vorschein, wie sie schon in der Diskussion über die „lex Exner“ gebraucht worden waren, und die Forschungsrelevanz von Versuchsanstalten wurde betont. Dazu wurden sogar Vergleiche mit den Kaiser Wilhelm-Instituten gezogen. Deshalb müssten „diese Anstalten an Hochschulen errichtet und von Hochschulkräften betreut werden.“ Diese hätten nämlich „neben der Erledigung von Prüfungsaufträgen die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf physikalisch-technischem Gebiet zu betreiben und damit nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der österreichischen Industrie neue Impulse zu verleihen.“ Immerhin wurde auch die Funktion von Versuchsanstalten für die industrielle Entwicklung gewürdigt, um gegenüber dem BMHW Offenheit zu signalisieren.Footnote 14 Die Interessenlage der TH Wien in Bezug auf die Absichten des Handelsministeriums war aber nicht einheitlich. Eine Strategie konnte auch darin bestehen, die Initiative des Handelsministeriums zu vereinnahmen, anstatt sie zu bekämpfen. Die Fakultät für Maschinenbau argumentierte daher im selben Jahr (1947) anlässlich der Planung einer Versuchs- und Forschungsanstalt für Wärme-, Kälte- und Strömungstechnik (WKS): „Der eigentliche Zweck der vorgeschlagenen Anstalt liegt aber darin, ein Bindeglied zwischen Industrie und Forschung, bzw. Hochschule zu schaffen“. Davon profitiere nicht nur die Wissenschaft, sondern es „könnte jeder Firma ein erheblich grösseres Erfahrungsmaterial als sie sich selbst beschaffen könnte, zugänglich gemacht werden.“Footnote 15 Damit wurde eingeräumt, dass sich die wesentliche Zielgruppe der Versuchsanstalten – entsprechend der Logik des Versuchswesens – außerhalb des Wissenschaftssystems befand, aber die TH als dafür geeignete Organisation positioniert.

Die ETVA wurde im Juli 1947 durch die Konstituierung eines Kuratoriums unter dem Vorsitz des Handelsministeriums gegründet. Nach diesem ersten Schritt versuchte das BMHW die Führung zu behalten und legte das 1948 in einem „Memorandum über die Errichtung von zentralen technischen Versuchsanstalten auf dem Arsenalgelände“ dar: Die Zersplitterung des Versuchswesens sei „für die Lösung bedeutender technischer Prüf- und Forschungsaufgaben meist ungeeignet“. Forschung und Entwicklung würden dadurch gehemmt, und es bedürfe einer größeren staatlichen Anstrengung.Footnote 16 Technische Versuchsanstalten als Voraussetzung des wirtschaftlichen Fortschritts wurden immer mehr zum Narrativ des Handelsministeriums, das damit das Unterrichtsministerium noch mehr in die Defensive brachte. Hochschulen und Industrie müssten über geeignete Versuchs- und Forschungsanstalten verfügen, um „mit der Entwicklung der neuzeitlichen Erfordernisse Schritt zu halten“. Das BMHW habe daher 1946 die Idee einer Zentralisierung „in grosszügiger Weise aufgegriffen“. Als Ergebnis sollte im Arsenal eine „Stadt der Technik“ entstehen.Footnote 17

Als 1950 auch das WKS-Kuratorium konstituiert wurde, hatte sich die Lesart des Handelsministeriums durchzusetzen begonnen, auch weil in diesem Bereich die TH kooperationsbereiter war. Die WKS-Versuchsanstalt diene der „Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie“, um „die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft praktisch zu verwerten“, weswegen auch bei den Vorbildern im Ausland „hauptsächlich die technische Forschung zum Zwecke der industriellen Verwirklichung betrieben [wird].“ Dabei habe angesichts der notwendigen Investitionen letztlich immer der Staat die finanzielle und organisatorische Führung übernommen.Footnote 18

Diese staatliche Führung manifestierte sich im Ministerratsbeschluss vom 7. November 1951 zur Gründung der BVFA Arsenal unter der Zuständigkeit des BMHW, womit formal nun ein gemeinsames Dach über ETVA und WKS gespannt wurde (Pittner, 1990, S. 44; Zaruba & Frühauf, 1974, S. 695). Das erneuerte Befürchtungen der TH Wien, dass ihr die Nutzungsmöglichkeiten der Versuchsanstalt nicht ausreichend zur Verfügung stehen würden. Dazu wurden die Eigenheiten der technischen Forschung durch einen plakativen Vergleich mit der klinischen Forschung argumentiert: „Die ETVA sollte daher sozusagen zur ‚Klinik‘ des Elektrotechnikers werden, welche die Verbindung zwischen Hochschule und Praxis herzustellen hätte“.Footnote 19

An der schrittweisen Konsolidierung der neuen Versuchsanstalt konnte das nichts ändern. Mitte der 1950er Jahre begann in Ansätzen ein budgetärer Wachstumspfad. An diesem Punkt hielt das BMHW nochmals programmatisch die Aufgaben fest: „die Materialprüfung, Erprobung und Untersuchung, darüberhinaus auch die Entwicklung neuer und verbesserter Produkte und wirtschaftlicherer Herstellungsverfahren (techn. Entwicklung), sowie die Erforschung neuer, industriell verwertbarer Erkenntnisse.“ Das stelle „einen unentbehrlichen und anerkannten Wirtschaftsfaktor dar“. Die Behauptung, dass in Versuchsanstalten auch wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden könnten, war also nicht nur aus der Hochschulperspektive ableitbar.Footnote 20

Der Zweck der BVFA Arsenal war hauptsächlich die Gewährleistung und Weiterentwicklung der technikwissenschaftlichen Grundlagen bestimmter Wirtschaftssektoren, die in der Nachkriegszeit bedeutend waren. Trotz „Forschung“ im Namen war diese nicht der primäre Gegenstand der Tätigkeit, sondern ein Nebeneffekt, der aber auch für die TH Wien essenziell war.

3 Organisation und Finanzierung: zwischen Staat und Hochschule

Da es sich bei der BVFA als zentraler, staatlicher Versuchsanstalt um eine für Österreich neuartige Einrichtung handelte, musste eine Organisationsform erst gefunden werden, die den Zielsetzungen entsprach sowie die notwendige Ressourcenausstattung und Finanzierung ermöglichte. Es war nicht nur die rechtliche Zuständigkeit, sondern auch die Verfügung über Geld und Ressourcen, die dem BMHW die führende Rolle zufallen ließ. Das BMHW war aber auf das Wissen, Personal und auch auf Geräte der TH sowie weitere Geldquellen angewiesen. Der prinzipielle organisationsrechtliche Zugang war die Errichtung einer unselbständigen staatlichen Anstalt. Der erste Schritt zur Gründung der ETVA war die Bestellung eines Kuratoriums, dem Vertreter der betroffenen Akteure angehörten, und eines Leiters, der gleichzeitig TH-Professor war.Footnote 21 Das Kuratorium sollte dem BMHW die Durchsetzung seiner Interessen ermöglichen.

Die Hoffnungen, andere Ministerien (außer dem BMU) und Unternehmen zur Mitfinanzierung zu bewegen, sollten sehr bald enttäuscht werden. Das Bundesministerium für Energiewirtschaft und Elektrifizierung (BMEE) schien keine budgetäre Beteiligung zu wollen und konnte weder die Energieversorgungsunternehmen noch die Elektroindustrie zu Finanzierungszusagen motivieren.Footnote 22

Allerdings wurden diese und andere (z. B. die Stadt Wien) Akteure in das Kuratorium der ETVA eingebunden. Den Vorsitz führte das BMHW. Das Kuratorium war das eigentliche Organisationselement und wesentliche Governanceinstrument der Versuchsanstalten. In Ermangelung sonstiger spezifischer Rechtsgrundlagen schuf es einen formalen Rahmen. Zur Ausarbeitung einer Geschäftsordnung und von “Satzungen“ wurde ein Ausschuss gebildet.Footnote 23 Auch bei der WKS-Versuchsanstalt sollte die Einrichtung eines Kuratoriums der erste Organisationsschritt sein: „Um der Fachindustrie, den Behörden, sowie den meistinteressierten Kreisen der Wirtschaft den gebührenden Einfluß auf die Gestaltung und Führung der Anstalt zu sichern, soll ihre oberste Leitung nach bewährtem Muster einem Kuratorium übertragen werden“, dem auch der Rektor und die Fachvorstände der relevanten Institute angehören sollten.Footnote 24

Der zunächst limitierende Faktor waren aber nicht Organisationsfragen, sondern die Finanzierung, was unter den Bedingungen der Nachkriegszeit nicht verwundert, aber auch an den fragmentierten Strukturen lag. Das Finanzministerium (BMF) verweigerte mehrfach die Aufnahme in den Bundesvoranschlag und verlangte zuerst einen „Gesamtkostenplan“. Dieser Plan wurde schließlich auch erstellt. Die für die Jahre 1948–1952 geplanten Gesamtkosten beliefen sich auf 26,50 Mio. Schilling für den Bau und 100,08 Mio. Schilling für die Geräteausstattung. Enthalten waren sechs Versuchsanstalten, allgemeine Infrastruktur und eine Lehrwerkstätte. Mehr als die Hälfte davon sollte auf die – schließlich realisierten – ETVA und WKS entfallen.Footnote 25 Diese Summen waren freilich unrealistisch. Bis 1948 waren dem BMHW 3,264 Mio. Schilling zugewiesen worden. Außerdem bemühte man sich um eine Finanzierung aus dem European Recovery Program (ERP, „Marshallplan“) und Mitteln der United Nations Relief and Rehabilitation Administration.Footnote 26

Die Finanzierungsfragen wirkten jedoch unmittelbar auf die Organisationsfragen zurück. Das BMF verlangte nämlich eine Klärung der Zuständigkeiten zwischen BMHW und BMU. Es befürwortete eine Abtrennung der ETVA vom BMU, brachte zu deren Finanzierung aber einen Fonds ins Spiel, der auch aus Mitteln der Industrie gespeist werden sollte. Dies erwies sich erneut als wenig aussichtsreich: Nach einer Umfrage der Bundeswirtschaftskammer war die Bereitschaft zur Nutzung der ETVA äußerst gering. Von neun befragten Unternehmen wollte sich kein einziges festlegen. Es handle sich „tatsächlich um eine im Interesse der Forschung und Entwicklung zu errichtende Anlage“, die „nicht ohneweiteres nach rein kaufmännischen Gesichtspunkten“ betrieben werden könne. Ähnliches galt weiterhin für die Elektrizitätsversorgungsunternehmen.Footnote 27

Das erhöhte den Druck, eine kodifizierbare Organisationslösung zu finden, die eine ordnungsgemäße Bundesfinanzierung erlaubte. Diesbezüglich tat sich die WKS-Versuchsanstalt leichter, weil hier die TH nur beim Personal, nicht aber der Infrastruktur betroffen war. Diese war neu zu errichten und die Zuständigkeit des BMHW dafür von vornherein klar. Dennoch blieb der Ausgleich zwischen den Interessen der TH und jenen des BMHW eine zentrale organisatorische Herausforderung. Das WKS-Kuratorium arbeitete zu diesem Zweck an sogenannten Statuten. Die rechtliche Bindungswirkung dieser Statuten war jedoch unklar, da die Versuchsanstalten keine Rechtspersönlichkeit besaßen. Der vom BMHW vorgeschlagene Entwurf hielt fest, dass die WKS „eine staatliche Institution“ sei. Gleichwohl sollten Unternehmen auf „Basis der freiwilligen Mitgliedschaft“ Mitgliedsbeiträge leisten. Zwei der vorgesehenen Organisationselemente existierten bereits, nämlich Kuratorium und Geschäftsführung. Die Geschäftsführung wurde (auf Vorschlag des Kuratoriums) vom BMU ernannt, weil es sich dabei um einen Professor der TH Wien handelte.Footnote 28

Auf dieser Basis teilte das BMU mit, dass es „der Errichtung der ‚Versuchsanstalt für Wärme-, Kälte- und Strömungstechnik‘ als einer dem Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau in personeller und materieller Hinsicht unterstellten Versuchsanstalt zustimmt.“ Es bedürfe aber einer „engen Zusammenarbeit mit den technischen Hochschulen“.Footnote 29 Das BMHW schien also mit seiner Strategie Erfolg zu haben und verdeutlichte gegenüber der TH Wien, „dass die entstehenden Versuchsanstalten auf dem Arsenalgelände zentrale staatliche Versuchsanstalten sein werden und keine Hochschulinstitute darstellen werden.“ Daher „[müssten] die Fragen der Kompetenz und Unterstellung vorerst geklärt werden“. Nun aber drohten neuerliche Schwierigkeiten vonseiten des BMF: „Die Errichtung der Versuchsanstalt für Wärme-, Kälte und Strömungstechnik wäre daher nur der Anfang, der die kostspielige Fortsetzung von Gründungen weiterer Versuchsanstalten zur Folge haben würde. Nach ho. [hierortigem] Dafürhalten müßte es Sache der interessierten Industrie sein, für die Kosten solcher Versuchsanstalten aufzukommen.“ Alle geplanten Versuchsanstalten sollten daher „als selbständige Fonds“ konstituiert werden, „um diese neue Quelle erheblicher Kosten aus dem Staatshaushalt herauszuhalten“.Footnote 30

Die Mitfinanzierung durch Unternehmen war aber unrealistisch und eine Mitgliedschaft auf der Basis von „Statuten“, die an Vereinsstatuten erinnerten, rechtlich nicht möglich. Die Versuchsanstalt war nur eine Dienststelle eines Ministeriums und durch einen Erlass zu organisieren. WKS-Leiter Ledinegg machte den Vorschlag, „einen Verein zur Förderung der Versuchsanstalt zu gründen“, in dem dann Industrieunternehmen Mitglied sein könnten.Footnote 31 Die einzige kurzfristig realistische Einnahmequelle war allerdings das mit der WKS verbundene Fernheizwerk.

Das Handelsministerium versuchte nun auch die ETVA auf Linie zu bringen, damit diese mehr „Rücksicht auf die Erfordernisse der Wirtschaft“ nehme: „Die ETVA wird eine Anstalt, die nicht den Charakter eines Hochschulinstitutes tragen soll.“ In diesem Fall war die TH Wien weniger kooperativ, weil dort einige Elemente der ETVA schon vorher bestanden hatten. Die TH versuchte daher, das Unterrichtsministerium zu instrumentalisieren und betonte, das Kuratorium unter Vorsitz des BMHW habe nur beratende Funktion. Dennoch zeigte das BMU wenig eigene Ambition zur organisatorischen Gestaltung.Footnote 32

Während 1950 erstmals als Gegenstand „Bundesversuchsanstalt Arsenal“ in einem Aktenvorgang des BMHW auftauchteFootnote 33, wurde das BMF teils unfreiwillig zu einem Treiber der organisatorischen Konsolidierung. Das Finanzministerium forderte nämlich, „das Gesamtprojekt der zentralen technischen Versuchsanstalten auf dem Arsenal dem Ministerrat zur Entscheidung vorzulegen“Footnote 34, was dann im November 1951 geschah. Es verlangte weiterhin die Planung eines Gesamtprojekts, aber noch für das Jahr 1950 wurden „unvorgreiflich“ der Überprüfung dieses Planes 1,65 Mio. Schilling bereitgestellt. Da diese Mittel nur dem BMHW und nicht dem BMU zur Verfügung gestellt wurden, konnte die TH Wien von diesen Geldern nicht direkt profitieren und wurde daher weiter an den Rand gedrängt.Footnote 35 Ab 1952 wurde die BVFA beim BMHW in den Bundesvoranschlag aufgenommen.

Das alles spielte jedenfalls den vom BMHW von Anfang an verfolgten Zentralisierungsbestrebungen in die Hände. Dem BMU rechnete man vor, bereits 6 Mio. für den Bau und 2,34 Mio. Schilling für Maschinen und Geräte ausgegeben zu haben. Immer mehr zeige sich, dass „es sich bei den zentralen Versuchsanstalten auf dem Arsenalgelände um betriebsähnliche Einrichtungen des Bundes handelt, deren Aufgaben wesentlich über den Rahmen von Hochschulinstituten hinausgewachsen sind.“ Das BMU „wird daher eingeladen, der Überleitung der ETVA in die ‚BVA‘ Arsenal zuzustimmen.“ Die Benützung für Lehrzwecke wurde zugesichert. Die TH versuchte sich noch dagegen zu stemmen, der Senat betonte, „dass ein bedingungsloser Verzicht der Technischen Hochschule auf die ETVA nicht in Frage kommt.“Footnote 36

Das Unterrichtsministerium unterließ es aber, sich in der Frage der Versuchsanstalten stark zu positionieren, es hatte vermutlich nach dem Krieg andere Prioritäten. Das BMU richtete der TH Wien aus, dass es beabsichtige, dem Antrag des BMHW „auf Eingliederung der Elektrotechnischen Versuchsanstalt (ETVA) in die dem Handelsministerium unterstellte Bundesversuchsanstalt Arsenal zuzustimmen.“ Einer „der Hauptgründe … liegt darin, dass diese Anstalt fast ausschließlich als ‚Versuchsanstalt‘ den Interessen der Wirtschaft dient“, und das BMF daher dem BMU keine Mittel dafür zur Verfügung stelle.Footnote 37

Nach dem Beschluss der Bundesregierung, der 1951 die BVFA Arsenal formal verankerte, sollte die Eingliederung der ETVA rasch abgeschlossen werden. Für die Zusammenarbeit mit der TH galt die WKS als Vorbild, und die Bedingungen des BMU (gegenseitige Verfügbarkeit der Apparaturen für Lehre und Forschung, bestehende Eigentumsrechte der TH bleiben unberührt) wurden akzeptiert.Footnote 38 Gleichzeitig wurde die rechtliche Basis der Organisationsstrukturen weiterentwickelt. Entsprechend der Rechtsstellung der Versuchsanstalten wurden aus den Statutenentwürfen Geschäftsordnungen. Als Muster für die Regelung der Verbindung zur TH diente die „Verordnung über die Organisation und den Betrieb der eidgenössischen Materialprüfungs- und Versuchsanstalt für Industrie, Bauwesen und Gewerbe“ vom 16.2.1937, deren Direktoren der ETH oder der Handelshochschule St. Gallen angehörten. Das Verhältnis der Professoren zur BVFA sollte dementsprechend vertraglich geregelt werden.Footnote 39

Insbesondere der Leiter der ETVA, Otto Zwierina, opponierte weiterhin gegen die organisatorische Eingliederung in die BVFA. Es dürfe keine Trennung zwischen TH und ETVA geben, und der zuständige Beamte im BMHW, Franz Grill, plane „die Besetzung vollständig neuer, noch dazu überflüssiger Beamtenstellen in der Verwaltung.“ Überdies ergebe auch die Zusammenführung von ETVA und WKS keinen Sinn.Footnote 40 Das Handelsministerium verlangte daraufhin die Abberufung Zwierinas, da eine „gedeihliche Zusammenarbeit“ mit ihm unmöglich sei. Das BMHW betonte nochmals seine Bereitschaft, die BVFA „für die wissenschaftliche Forschung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zur Verfügung zu stellen.“Footnote 41 Das BMU leistete dieser Forderung Folge und berief Zwierina ab.Footnote 42

Die Übertragung der ETVA in die Zuständigkeit des Handelsministeriums als Teil der BVFA Arsenal stieß bei der Zielgruppe (die sich finanziell weiterhin zurückhielt) des BMHW auf breite Zustimmung. Die Bundeswirtschaftskammer habe das „mit Genugtuung zur Kenntnis genommen“ Die ETVA „soll vor allem jenen Betrieben dienlich sein, die solche Einrichtungen nicht besitzen.“ Laut der Firma ELIN war die „bisherige Ausgestaltung der ETVA für die Industrie völlig unbrauchbar“.Footnote 43

Im Sinn dieser Ausrichtung wurde die ETVA organisatorisch weiter angepasst. Das Kuratorium wurde aufgelöst, an seine Stelle sollte ein „Hauptausschuss“ treten, um „einen möglichst innigen Kontakt zwischen der Wirtschaft und der Versuchsanstalt herzustellen.“ Eine Vertretung der TH war nicht vorgesehen.Footnote 44 Ende 1955 war die Übergabe des (aus BMHW-Mitteln bezahlten) ETVA-Inventars der TH an die BVFA endlich abgeschlossen.Footnote 45

Dem BMHW war es letztlich gelungen, einen organisatorischen Rahmen zu etablieren und dessen Verrechtlichung einzuleiten. Durch die Kuratorien als Gremien zur Einbindung von Ziel- und Interessengruppen wurde ein für Forschungsorganisationen typisches Governanceelement realisiert. Die Rechtsform der Wahl war die Errichtung der Versuchsanstalten als nachgeordnete Dienststelle eines Ministeriums (Zaruba & Frühauf, 1974, S. 695), die als betriebsähnliche Einrichtung bezeichnet wurde. Das machte eine eindeutige ministerielle Zuständigkeit notwendig, wie sie anfänglich bei der ETVA nicht gegeben war. Differenziertere Möglichkeiten, wie etwa die Errichtung einer eigenen Körperschaft, standen (noch) nicht zur Debatte, auch den Hochschulen wurde erst mit dem Hochschulorganisationsgesetz 1955 eine minimale Teilrechtsfähigkeit eingeräumt.

4 Die Positionierung der BVFA zwischen Kooperation und Konkurrenz

Die Errichtung der BVFA Arsenal war für Österreich eine institutionelle Innovation. Die dort verfolgten Ziele und Aufgaben waren wissenschaftlich aber kaum neuartig. Daher war die Positionierung gegenüber den bereits vorhandenen Akteuren wie der TH Wien, auf deren Wissen und Personal man vorerst noch angewiesen war, entscheidend für die weitere Gestaltung des eigenen organisatorischen Profils und Alleinstellungsmerkmals.

Die neue Versuchsanstalt und die TH Wien waren aufeinander angewiesen und gleichzeitig Konkurrenten. Vom Handelsministerium war „beabsichtigt, die einzelnen Versuchsanstalten, soweit als möglich aufzusuchen und bei diesem Anlass Erhebungen über ihren Zustand, ihre Führung und Ausrüstung, die Möglichkeit einer gegenseitigen Unterstützung und Heranziehung als ausübendes Organ des BMHW … zu pflegen.“Footnote 46

Potenzielle Kooperationspartner oder Konkurrenten waren auch in der Zielgruppe der Unternehmen zu finden. Dabei zeigte sich ein durchwachsenes Bild, indem vor allem einige größere (verstaatlichte) Betriebe – mit ERP-Mitteln – eigene Testmöglichkeiten geschaffen hatten und daher mäßig interessiert waren. Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) beispielsweise gaben an, sie seien „auch in Zukunft in der Lage, alle Hochspannungsprüfungen in den bahneigenen Anlagen durchzuführen“.Footnote 47 Die ELIN AG, die unter anderem Transformatoren und Schaltgeräte herstellte, bekundete zwar Interesse, „teilt allerdings ferner mit, dass in ihren Werken in Weiz gleichfalls Prüffelder errichtet wurden und zwar eine Hochspannungsanlage bis 750 kV bei 50 Hz und eine Stossanlage mit 1,5 MV.“Footnote 48 Stattdessen sollte im Bereich der Elektrotechnik nun die Prüfung von Niederspannungsgeräten in den Mittelpunkt rücken.Footnote 49

Die Positionierung der BVFA blieb insgesamt gegenüber der Industrie für viele Jahre schwierig, solange „die befassten Hochschulinstitute nicht in der Lage sind, eine der Wirtschaft dienende Versuchsanstalt zu errichten und zu betreiben“.Footnote 50 Das Erreichen relevanter Größenordnungen spielte dabei eine große Rolle, wie im WKS-Bereich deutlich wird: „Zwei Umstände sind es vor allem, die eine immer innigere Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung und industrieller Verwirklichung notwendig machen: Die Erzeugung in grossen Serien und die dadurch bedingte Konzentration grosser Energiemengen. … Das Kraft- und Heizwerk kann auch zur Durchführung verschiedener Grossversuche Verwendung finden.“Footnote 51

Dass sich die Organisationsdebatten mit der TH Wien über Jahre hingezogen hatten, erschwerte die Entwicklung eines eigenständigen Profils der BVFA. Das führte dazu, dass sich nun Dritte zu deren wünschenswerter Positionierung äußerten: „Der Verband der Elektrizitätswerke ist der Meinung, daß die ETVA sich vorwiegend um jene Aufgabengebiete annehmen sollte, die in Österreich derzeit noch in keinem anderen, der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Institut bearbeitet werden.“Footnote 52 Das Handelsministerium beteuerte: „Keinesfalls sollen aber Institute an Hochschulen und anderen Lehranstalten sowie private Versuchsanstalten und Laboratorien dadurch ersetzt oder gar ausgeschaltet werden.“Footnote 53

Vereinzelt begann die Positionierung der BVFA Früchte zu tragen: So wollte die Interessensgemeinschaft der privaten Kohlenbergbaue ein eigenes Labor einrichten, „würde es jedoch … begrüßen, wenn es ermöglicht werden könnte, die Untersuchungen im Rahmen Ihrer bereits bestehenden Versuchsanstalt durchzuführen.“Footnote 54

Letztlich profitierte diese Positionierung davon, dass die bis weit in die 1950er Jahre hinein dauernde, von Knappheit geprägte Mangelwirtschaft potenzielle Konkurrenten und Kooperationspartner ebenso einschränkten. Noch in den 1960er Jahren wird über „den katastrophalen Mangel an Raum, Arbeitsplätzen und modernem Inventar“ an der TH geklagt (Zwierina, 1965, S. 423). Damit war noch genug Raum für die Etablierung einer Organisation wie der BVFA Arsenal vorhanden. Ihr Alleinstellungsmerkmal war die außeruniversitäre Organisationsform als staatliche Auftragsforschungseinrichtung, ohne Lehrtätigkeit, ausgestattet mit entsprechenden apparativen und räumlichen Möglichkeiten. Die (anfängliche) Rolle der TH-Professoren als Leiter der Teilanstalten gewährleistete in den Organisationsstrukturen die Verbindung zur akademischen Forschung.

5 Kompetenzaufbau, Ressourcen und Leistungen

In der Gründungsphase der BVFA Arsenal lassen sich für die konkreten Forschungstätigkeiten, -methoden, entsprechende Geräte und das Personal nur wenige Befunde erheben. Bis Anfang der 1950er Jahre fanden überhaupt kaum Versuche statt. Im Fall der ETVA lag das auch am Streit mit der TH Wien um die Übergabe der aus Mitteln des Handelsministeriums angeschafften Geräte, während die WKS von der Fertigstellung des Fernheizkraftwerks (1950) abhängig war.

Das Handelsministerium hatte zwar bauliche Möglichkeiten und Mittel zur Beschaffung von Geräten zu bieten, aber so gut wie kein facheinschlägiges, wissenschaftliches Personal. Das war nicht nur der Trumpf der TH Wien, sondern prägte naturgemäß die beabsichtigte Arbeitsweise. Diese wurde in der TH-Hierarchie von den Professoren bestimmt, die ihre eingeübten akademischen Verhaltensweisen auch in der BVFA umzusetzen versuchten.Footnote 55 Allerdings war es im Kontext der TH üblich, Personen aus der Industrie als Professoren zu berufen, was das hohe Interesse an Anwendungsfragen als Erkenntnisquelle mit erklärt und Verständnis für die Bedürfnisse der Unternehmen zuließ (Vgl. Pichler, 2019, S. 80 f.).

Ein Blick auf die beiden Leiter der Arsenal-Vorläufer soll das veranschaulichen. Otto ZwierinaFootnote 56 (1900–1981) war 1946–1971 Professor für Elektrotechnik. Zuvor war er in verschiedenen Unternehmen der Elektroindustrie und an der Staatsgewerbeschule Mödling tätig gewesen. Unter den Professoren der TH schien er eher marginalisiert, sodass die ETVA eine Profilierungsmöglichkeit bot. Das führte offenbar auch zu TH-internen Konflikten, dabei ging es um die von Zwierina forcierte Hochspannungsthematik.Footnote 57 Zwierina klammerte sich persönlich an die ETVA und verlangte vom BMHW: „Die Leitung der ETVA bleibt mir weiterhin“.Footnote 58 Das sollte bekanntlich anders kommen.

Maximilian LedineggFootnote 59 (1905–1985), war 1941–1976 zunächst Lehrbeauftragter, ab 1944 Dozent, dann Professor für Strömungstechnik und schon 1947 als WKS-Leiter vorgeschlagen worden. Ledinegg hatte zuvor bei den Witkowitzer Eisenwerken sowie der Lokomotivfabrik Floridsdorf gearbeitet und war als nachmaliger Autor eines Standardwerks zu Dampfkesseln völlig unumstritten.Footnote 60 Ledinegg versuchte, die neuen Möglichkeiten für seine Studenten zu nutzen: „Vor allem könnten auch Dissertanten ein grosses Arbeitsfeld finden.“Footnote 61

Das unmittelbare Problem war eher fehlendes Stammpersonal. Bei der ETVA sah das Unterrichtsministerium aber die Zuständigkeit beim Handelsministerium.Footnote 62 Diese war im Fall der WKS ohnehin unumstritten, weil deren Errichtung fast vollständig von den BMHW-Mitteln abhängig war. Für das Fernheizwerk als Wärmequelle für kalorische Prüfungen waren ein Betriebsleiter, eine Bürokraft und zwei Heizer erforderlich, für die Prüftätigkeit selbst zwei Ingenieure.Footnote 63 1952 erfolgte die Aufnahme eines Spektralchemikers.Footnote 64

Dem BMU war in Bezug auf die Personalfragen wichtig, dass das gesamte ständige Personal der ETVA (wissenschaftlich und administrativ) dem BMHW unterstand. Dem BMU sollten nur jene zugeordnet bleiben, die ohnehin TH-Angehörige waren und die Versuchsanstalt zeitweilig nutzten.Footnote 65

Bis weit in die 1950er Jahre blieb die Personalsituation angespannt. 1955 weisen Tätigkeitsberichte der ETVA 11 Personen als ständiges Personal aus, davon ein Akademiker, und 6 Personen als nichtständiges Personal, als Angehörige der TH ausschließlich Akademiker, die als Versuchsleiter fungierten.Footnote 66 Eine wissenschaftliche Arbeitsweise war damit jedenfalls gewährleistet.

Die durchgeführten Leistungen und daraus möglicherweise ableitbaren Erkenntnisse bedurften – neben Personal – einer entsprechenden Geräteausstattung. Für die ETVA stand im Zusammenhang mit der Elektrizitätsversorgung zunächst die Hochspannungstechnik im Vordergrund. Dabei bereitete schon die Beschaffung der Ausgangsmaterialien Schwierigkeiten, wie z. B. für Isolatoren und Messinstrumente.Footnote 67 Dazu kam: „Die würgende Raumnot gestattet weder den richtigen Einsatz der Apparate noch die notwendige Erweiterung und Ausgestaltung dieses Institutes.“Footnote 68

Wie schon erwähnt, war die zentrale WKS-Infrastruktur das Fernheizwerk. Die damit durch entsprechende Messungen und Versuche zu bearbeitenden Fragestellungen betrafen thermo-, hydro- und aerodynamische Energieumwandlung (Kraft-Wärme-Kopplung). Aus diesem Bereich der BVFA ging deren für lange Zeit markantestes inhaltliches Alleinstellungsmerkmal hervor, nämlich die Fahrzeugversuchsanlage. Dabei handelt es sich im Kern um einen Klima-Windkanal für Schienenfahrzeuge, der in Zusammenarbeit mit dem Office de Recherches et d’ Essais des Internationalen Eisenbahnverbandes (Union Internationale des Chemins de fer – UIC) errichtet wurde. Aus der Kernaufgabe der Zertifizierung entstanden auch Entwicklungs- und Forschungstätigkeiten (Diemling, 1990, S. 70–80). Diese Anlage wurde 1961 in Betrieb genommen und bestand im Arsenal bis 2002. In diesem Jahr wurde ein Neubau im 21. Wiener Gemeindebezirk fertiggestellt. Dieser bildet heute ein eigenständiges Unternehmen, das auf einem PPP-ModellFootnote 69 beruht und als „Rail Tec Arsenal“ immer noch die institutionellen und geografischen Ursprünge im Namen trägt. Bis heute ist diese Infrastruktur in ihrer Form weltweit einzigartig.

Weitaus bescheidener waren die Leistungen der BVFA in der Gründungsphase. Im Bereich der Elektrotechnik sind Mitte der 1950er Jahre alle möglichen Prüfungen von Kleinmaschinen und Bauteilen dokumentiert. Ausgeführt wurden beispielsweise: Prüfung einer Waschmaschine „Magic-Standard“, eines Staubsaugers „Vampirette“, Entwicklungsversuche an einem Kompressorkühlschrank, zahlreiche Prüfungen verschiedener Schalter und dergleichen. Es war zwar weiterhin von Großprojekten im Hochspannungsbereich die Rede, allerdings musste man hier auf Werbemaßnahmen zur Akquisition setzen.Footnote 70

6 Zusammenfassung, Ausblick und Schlussfolgerungen

Mitte der 1950er Jahre hatte sich die BVFA Arsenal in der öffentlichen Forschungslandschaft etabliert. 1954 wurde sie erstmals im „Amtskalender“ ausgewiesen. Zu diesem Zeitpunkt gerieten die politischen Diskussionen über die Einrichtung einer öffentlichen Organisation zur Forschungsförderung von einer Sackgasse in die nächsteFootnote 71, was die Bereitschaft, stattdessen unter anderem die BVFA zu finanzieren, erhöhte. Wie sehr man damit den Nerv der technischen Hochschulen getroffen hatte, zeigt eine Denkschrift der Professoren der Technischen Hochschulen Wien und Graz sowie der Montanistischen Hochschule Leoben vom Jänner 1954: „Die neuere Entwicklung des technischen Versuchs- und Forschungswesens gibt Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft der österreichischen Wissenschaft und Forschung und der Hochschulen technischer Richtung überhaupt“, vor allem die „Errichtung und Ausgestaltung neuer Forschungsinstitute“. Es wurde „auf die Gefahren der bereits begonnenen Verlagerung des Schwerpunktes der technischen Forschung von den Hochschulen auf problematische Neugründungen hingewiesen, die eine verhängnisvolle Trennung von Forschung und Lehre zur Folge haben muss.“Footnote 72 Damit hatte sich die Argumentationslinie der technischen Hochschulen gegenüber 1908/1910 kaum verändert. Ihre heftige Gegenwehr zeigte, wie sehr das Prinzip Versuchsanstalt ein Mittel des Erkenntnisgewinns in den technischen Wissenschaften war.Footnote 73

Die BVFA Arsenal war zwar nicht dazu gedacht, neue Forschungsfelder zu erschließen. Sie wurde in Bereichen tätig, die in den technischen Wissenschaften etabliert waren. Als Organisation allerdings war sie im österreichischen Kontext als erste zentrale, staatliche, außeruniversitäre Versuchsanstalt eine Innovation. Das war zugleich ihr Alleinstellungsmerkmal, das sich aus einem langwierigen Abgrenzungsprozess zur TH Wien entwickelte. Dennoch konnte die TH über das Methodenwissen ihres Personals die Arbeitsweise mitbestimmen.

Die Leitfragen des Tagungsbandes können auf Basis der hier hauptsächlich untersuchten Gründungsphase nur ansatzweise beantwortet werden. Ein Blick auf die weitere Entwicklung der BVFA Arsenal kann jedoch zeigen, was aus diesen Anfängen entstand und eine Einschätzung ermöglichen. Nach den Anfangsjahren setzte sich die Konsolidierung der Organisation fort. Damit erfolgte auch eine Emanzipation von der TH Wien, zu der es spätestens Mitte der 1960er Jahre keine formelle Verbindung in organisatorischer oder auch personeller Hinsicht mehr gab. Die BVFA gliederte sich nun in Abteilungen für Elektrotechnik, Maschinenbautechnik (aus der WKS hervorgegangen, einschließlich der Fahrzeugversuchsanlage) und ein „Grundlageninstitut“.Footnote 74

Einen sehr aussagekräftigen Indikator für die weitere Entwicklung stellen Finanzierung und Personal dar. Hier zeigt sich ein langanhaltender, stetig steigender Trend (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Bundesfinanzgesetz, verschiedene JahrgängeFootnote

Für die Reihe „BVFA Arsenal – öffentliche Finanzierung“ wurden bis 1959 die veranschlagten Mittel herangezogen, ab 1960 die laut Bundesrechnungsabschluss tatsächlich ausgegebenen Mittel. Es handelt sich um den Budgettitel 2063 bis 1966 und den Budgettitel 6402 ab 1967. Für die Reihe „Personal“ wurden die Zahlen der Beamten und Vertragsbediensteten gemäß Dienstpostenplan/Dienstpostenverzeichnis in den Bundesfinanzgesetzen herangezogen.

)

Finanzierung und Personal, 1952–1975.

Die Bundesversuchs- und Forschungsanstalt Arsenal bestand bis Ende 2011. Nachdem sie 1983 zur Einführung der Teilrechtsfähigkeit erstmals eine gesetzliche Grundlage erhalten hatte (Arsenalgesetz), 1993 in Bundesforschungs- und Prüfzentrum umbenannt und 1997 als GmbH aus der Bundesverwaltung ausgegliedert worden war, wurde sie 2012 mit dem Austrian Institute of Technology (AIT, früher Forschungszentrum Seibersdorf) verschmolzen.Footnote 76 Der Standort im Arsenal wurde 2018 aufgegeben.

Entstanden nun wissenschaftliche Erkenntnisse auf Basis der Arbeiten der BVFA? Um konkrete, belegbare Fälle zu finden, bedarf es weiterer Forschungen. Einen Hinweis liefert das Arsenalgesetz 1983: Hier wird als erste Aufgabe die „Gewinnung von Erkenntnissen nach wissenschaftlichen und technischen Methoden“ festgelegt, und zwar „als Grundlage“ für die anderen Aufgaben, wie die „Durchführung von Versuchen, Untersuchungen, Erprobungen und Materialprüfungen“, aber auch „von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben“ (§ 3 Abs. 1).

Die BFVA Arsenal war keine genuine Forschungseinrichtung, aber sie arbeitete mit wissenschaftlichen Methoden. Ob die Errichtung einer eigenen Organisation notwendig war, um ihren Zweck zu erfüllen, muss im zeitlichen Zusammenhang beurteilt werden. In der Nachkriegszeit zeigte sich, dass die Aufbringung der erforderlichen Ressourcen im Rahmen der TH Wien nicht möglich und deren Strukturen nicht geeignet waren. Grundsätzlich konnten Versuchsanstalten aber in verschiedenen institutionellen Kontexten und Organisationsformen ihre Funktion erfüllen. Im universitären Kontext kam es früher oder später zu Zielkonflikten zwischen den Aufgaben einer Hochschule und denen einer Versuchsanstalt, die auch wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgte. So wurde letztendlich auch die TVA 2008 aus der Technischen Universität Wien ausgegliedert (Burtscher & Mares 2016, S. 66). Die Form der Ergebnisse, die die Arbeit der BVFA liefern sollte, korrespondierte mit dem Hauptzweck einer Versuchsanstalt und entsprach trotz gewisser Schnittmengen nicht den üblichen akademischen Anreizen: Messungen, Gutachten und Zertifikate, Publikationen höchstens als Nebenprodukt. Die Organisationsform der BVFA Arsenal entsprach daher ihrer Aufgabe und Tätigkeit als staatlicher Versuchsanstalt.

7 Abkürzungen

BMEE:

Bundesministerium für Energiewirtschaft und Elektrifizierung

BMF:

Bundesministerium für Finanzen

BMHW:

Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau

BMU:

Bundesministerium für Unterricht

BVFA:

Bundesversuchs- und Forschungsanstalt

EMPA:

Eidgenössische Materialprüfungsanstalt

ERP:

European Recovery Program

ETVA:

Elektrotechnische Versuchsanstalt

ÖBB:

Österreichische Bundesbahnen

PPP:

Public Private Partnership

PTR:

Physikalisch-technische Reichsanstalt

TH:

Technische Hochschule

TVA:

Technische Versuchsanstalt

WKS:

Wärme-, Kälte- und Strömungstechnik (– Versuchsanstalt)