1 Einleitung

Die Gründung von zwei außeruniversitären Forschungseinrichtungen im ersten Jahrzehnt nach 1900 war ein entscheidender Schritt für die Institutionalisierung und Etablierung von Forschungsfeldern in Österreich, die an den Universitäten nicht bzw. nicht in dem durch diese Neugründungen möglich gewordenen Umfang repräsentiert waren: die Biologische Versuchsanstalt (BVA) und das Institut für Radiumforschung (Radiuminstitut). Der Standort beider Einrichtungen war Wien.

Die Gründungen der beiden Institute basieren auf privaten Initiativen und sind somit dem bürgerlichen Mäzenatentum im Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung der ausgehenden Donaumonarchie zuzuordnen (Reiter, 2014). Die Motive, die maßgeblichen Interessen und die Akteure, die hinter den Gründungen dieser Einrichtungen stehen, sind durchaus unterschiedlicher Natur. In beiden Fällen beziehen sich die Initiativen einerseits auf Innovationen im Forschungsdesign und der Methodik verbunden mit einem paradigmatischen Wechsel des epistemischen Ansatzes in der experimentellen Biologie (im Falle der BVA), andererseits (im Falle des Radiuminstituts) auf eine grundlegende Entdeckung eines neuen physikalischen Phänomens im Jahr 1898, der Radioaktivität.

Beide Neugründungen sind primär als Folgen veränderter epistemischer wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen zu bezeichnen, zugleich sind sie auch Ursachen für die weiteren dynamischen (Neu)-Entwicklungen in den je spezifischen Forschungsfeldern der beiden Institute insofern sich die erkenntnisleitenden Ansätze modifizieren oder neu strukturieren (Reiter, 2017).

Die organisatorische Gestaltung der beiden Institute hatte zudem im weiteren Verlauf des Geschehens einen transformierenden Einfluss auf die Wiener Akademie der Wissenschaften, die ab 1910 mit der Eröffnung des Radiuminstituts und 1914 mit der Übernahme der BVA von einer reinen Gelehrtengesellschaft nunmehr zu einer Akademie mit eigenen Forschungsinstituten wurde. Die disziplinenintrinsische Ausgangslage und die weitere Entwicklung der beiden Institute trägt somit je spezifisch zu einer institutionellen Transformation der führenden außeruniversitären Forschungseinrichtung, der Wiener Akademie, maßgeblich bei. Erst nach 1945 wird die Akademie weitere Forschungsinstitute gründen.

Die Motivation und Initiative zur Gründung der beiden Institute verdankt sich primär der Einsicht, dass die Bearbeitung von neuartigen Forschungsfeldern (Radioaktivitätsforschung, experimentelle Biologie) durch ein neues organisatorisches Umfeld, d. h. im Rahmen einer Forschungseinrichtung außerhalb der traditionellen Rahmenbedingungen der Universitäten, produktiver gestaltet werden könne. Beide Institute wurden explizit als Forschungsanstalten konzipiert ohne Lehr- und Unterrichtsbetrieb, also in deutlicher Abgrenzung zu den Universitäten als Lehr- und Forschungsanstalten. In dieser organisatorischen Konzeption liegt gegenüber den Universitäten ein Alleinstellungsmerkmal, das entweder als private Forschungseinrichtung (BVA) oder im organisatorischen Rahmen der Akademie (Radiuminstitut) verwirklicht werden konnte. Diese organisatorische Abgrenzung war jedoch durchlässig, da in beiden Fällen das wissenschaftliche Personal zum Teil auch universitäre Positionen besetzte und die finanzielle Alimentation zum Teil (direkt oder indirekt) auch aus öffentlichen Mitteln erfolgte.

In beiden Fällen waren für die Gründung der Institute Innovationen bzw. Ausdifferenzierungen innerhalb von wissenschaftlichen Disziplinen ausschlaggebende Faktoren: die Hinwendung zu einem experimentellen Forschungsansatz in der Biologie im Fall der BVA; die Entdeckung der Radioaktivität im Falle des Radiuminstituts.

Deutliche Unterschiede weisen jedoch die konkrete Ausgestaltung der Organisationsformen beider Institute auf: Die BVA wurde als rein privates Forschungsinstitut basierend auf den Forschungsinteressen der Gründer eingerichtet, die im universitären Rahmen nicht realisiert werden konnten. Das Radiuminstitut hingegen wurde aufgrund der Vorgeschichte der universitären Radioaktivitätsforschung als Institut der Akademie errichtet, also in einer öffentlichen Institution verankert. Diese Gründung stellte eine doppelte Innovation dar: erstes Akademieinstitut und geeigneten Rahmen für die Erforschung der Radioaktivität. Ein Unterschied zwischen den beiden Instituten besteht im Fehlen einer ökonomisch/kommerziellen Komponente der Verwertung von Forschungsergebnissen im Falle der Gründung der BVA und – im Fall des Radiuminstituts – den direkten und indirekten kommerziellen Interessen der öffentlichen Hand an einer Stärkung der Radioaktivitätsforschung in Österreich als monopolistischer Lieferant der dafür nötigen mineralischen Rohstoffe im nationalen und internationalen Rahmen, die auch die mäzenatische Gründung als Motiv mitbestimmten.

Bei der Darstellung der zeitlichen Entwicklung der beiden Institute wird – soweit dies im Rahmen dieser Arbeit möglich und geboten ist – auf die Entstehungs- und Gründungsgeschichte (im Falle des Radiuminstituts auch dessen Vorgeschichte) und die weitere Entwicklung und den organisatorischen Wandel (im Falle beider Institute) eingegangen, wobei das Jahr 1938 den zeitlichen Endpunkt darstellt, da für beide Institute mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich eine vollständige (BVA) bzw. weitgehende (Radiuminstitut) Zerstörung der bisherigen v. a. personellen Rahmenbedingungen einhergeht. Auf die Forschungsleistungen der beiden Institute wird nur insoweit eingegangen, als dies zur Thematisierung der Wechselwirkungen zwischen deren Organisation und Wissensproduktion geboten ist; für Details wird auf die Literatur verwiesen (Reiter, 1988, 1999, 2001, Fengler, 2014, Müller, 2017).

2 Die Biologische Versuchsanstalt

Im Jahr 1902 erwarben der Biologe Hans Przibram (1874–1944), finanziell unterstützt von seinem Bruder, dem Physiker Karl Przibram (1878–1973), der Pflanzenphysiologe Wilhelm Figdor (1866–1938) und der Botaniker Leopold von Portheim (1869–1947) ein Gebäude im Wiener Prater, das anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 errichtet worden war und zuvor schon unter wechselnden Bedingungen und Eigentümern als Tiergarten mit dem Namen Vivarium der Öffentlichkeit zugänglich war. Der Wert des Gebäudes samt Einrichtungen wird von den Besitzern mit 200.000 Kronen (entspricht heute etwa 1,55 Mio. €) angegeben.Footnote 1 Hans Przibram finanziert den Ankauf des Gebäudes, Portheim, Figdor und Hans Przibram die Einrichtungen. Die Eröffnung der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) erfolgte am 1. Jänner 1903.

Hans Przibram investierte für den Unterhalt der BVA zwischen 1903 und 1910 198.000 Kronen (ca. 1,53 Mio. €), finanzierte Personal (u. a. Paul Kammerer), sowie weitere Mittel in der Höhe von 12.671 Kronen (ca. 98.000 €). Der öffentliche Sektor fördert die BVA zwischen 1903 und 1910 mit insgesamt 51.000 Kronen (ca. 390.000 €), inkl. Personalkosten für einen Adjunkten und vier Hilfskräfte.

Die wissenschaftliche Programmatik der Gründer folgte der in den 1890er Jahren vom deutschen Embryologen und Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux (1850–1924) begründeten Entwicklungsmechanik, die sich von den bislang geltenden Ansätzen einer vergleichenden und beschreibenden biologischen Forschung zunehmend kausalen Fragestellungen zuwandte, vor allem durch systematische Forschungen an lebenden Tieren, worin das wesentliche methodologisch innovative Element der BVA als Institution bestand, denn experimentelle biologische Forschung an lebenden Tieren konnte aus organisatorischen und räumlich-infrastrukturellen Gründen an den Universitäten nicht durchgeführt werden.

Zur Erhellung der Vorgeschichte der Gründung der BVA und insbesondere der Rolle, die Hans Przibram dabei zukam, seien hier einige biographische Anmerkungen eingefügt, um die wissenschaftliche Sozialisation Hans Przibrams zu verdeutlichen (Przibram, 1959). Ganz in den Fußstapfen seines akademischen Lehrers Berthold Hatschek (1854–1941) ging Hans Przibram an die zoologischen bzw. biologischen Stationen in Triest, Neapel und Roscoff (Bretagne), um die Meeresfauna zu studieren. Przibram begann entwicklungsphysiologische Studien an Meerestieren in der Nachfolge von Wilhelm Roux und unternahm ausgedehnte Forschungsreisen, unter anderem zusammen mit Leopold von Portheim und Paul Kammerer (1880–1926) 1903 in den Sudan (Kammerer, 1906), um tropische Versuchstiere und Pflanzen für die BVA zu sammeln, aber auch in die USA, wo die Begegnung mit dem Physiologen Jacques Loeb (1859–1924) bei Przibram einen tiefen Eindruck hinterließ.

Mit der Biologischen Versuchsanstalt schuf sich Hans Przibram ideale Möglichkeiten, um den Ansatz einer experimentellen Biologie konsequent zu verfolgen, die sich zu Ende des 19. Jahrhunderts mit experimentellen Methoden in der Physiologie und v. a. auch mit Experimenten an lebenden Organismen im Umfeld der Gründungen biologischer Forschungsstationen im Aufschwung befand. Im Zentrum seiner Arbeiten und der seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stand die Erforschung morphogenetischer Prinzipien und daher waren auch seine entwicklungsphysiologischen Ansätze weitgehend morphologisch ausgerichtet. Fragen der Regeneration und Transplantationsversuche, vergleichende Untersuchungen zur Ei- und Keimesentwicklung verschiedener Organismustypen, Untersuchungen zum Einfluss der Temperatur auf biologische Vorgänge oder Fragen des Chemismus der tierischen Farbkleider konnten nicht zuletzt dank der personellen und apparativen Ausstattung der Biologischen Versuchsanstalt bearbeitet werden.

Zur Implementierung dieses von Przibram konzipierten Forschungsprogramms bedurfte es einer institutionellen Neugründung, einer innovativen Forschungsinfrastruktur und Forschungsorganisation, um neue Themenfelder mit neuen Methoden bearbeiten zu können, durchaus in Anlehnung an die biologischen Stationen, die in den letzten Dezennien des 19. Jahrhundert in Europa allenthalben entstanden.Footnote 2 Entscheidend trugen dazu die völlig neuartigen räumlichen und apparativen Ausstattungen bei, z. B. die präzise kontrollierbaren Temperaturkammern in einem weiten Bereich von 15 bis 40°C bei regelbarer Luftfeuchtigkeit, um Hitze- und Kälteformen von Tieren studieren zu können oder auch große Süßwasser- und Meerwasseraquarien zum Studium aquatischer Organismen (Wessely, 2013). Neben der modernen technischen Infrastruktur verfügte die BVA über künstliche Naturräume für die biologische Forschung, Laboratorien und Ställe, Freilandterrarien und Glashäuser. 1908 zählte man nicht weniger als 738 Spezies und Subspezies aus allen Tierklassen, die an der Anstalt gehalten bzw. gezüchtet wurden. Der für den Ankauf, die Ausstattung und den Betrieb der BVA nötige enorme finanzielle und technische Aufwand lag im Bereich der finanziellen Möglichkeiten der großbürgerlichen Mäzene, zugleich aber auch jenseits der universitären Infrastrukturen und deren öffentlicher Finanzierung.

Statutarisch war festgeschrieben, dass die BVA ein wissenschaftliches Forschungsinstitut und keine Unterrichtsanstalt ist. Die interne Organisationsform der BVA folgte im Wesentlichen traditionellen akademischen Gepflogenheiten einer durchaus patriarchalischen Struktur: Przibram war Vorstand der Zoologischen Abteilung und übernahm die Leitung der Anstalt, Portheim gemeinsam mit Figdor übernahmen die Leitung der Botanischen Abteilung; dazu kamen weiters eine chemisch-physikalische Abteilung, deren Leitung ab 1907 der Pionier der Kolloidchemie Wolfgang Pauli sen. (1869–1955, Vater des Physikers und Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli jun. (1900–1958)) übernahm, und eine physiologische Abteilung, die sich unter Leitung des Physiologen und Hormonforschers Eugen Steinach (1861–1944) ab 1912 zu einem der damals bedeutendsten Zentren der Hormonforschung entwickelte. Die Errichtung einer pflanzenphysiologischen Abteilung war für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen. Insgesamt wurde mit dieser internen Organisationsstruktur der Rahmen für eine ausgeprägt interdisziplinäre Arbeitsweise, ein Alleinstellungsmerkmal der BVA im Vergleich zum universitären Forschungsbetrieb, vorgegeben. Das Institut und seine spezifische Organisationsform wurde so zu einem weltweit wichtigen und sichtbaren Modell einer Forschungseinrichtung der experimentellen Biologie vermittels einer Synthese von botanischer, zoologischer, chemischer, physiologischer und physikalischer Forschung (Müller, 2017, Logan & Brauckmann, 2015).

Die Ausrichtung der BVA als privates Institut wurde komplementiert durch den öffentlichen Zugang zu den wissenschaftlichen Einrichtungen der Anstalt; gegen ein Entgelt von jährlich 1000 Kronen (7700 €) stellte die Anstalt externen Forschern einen Arbeitsplatz zur Verfügung und das k.k. Ministerium für Cultus und Unterricht gewährte eine jährliche Subvention von 7000 Kronen (54.000 €) unter der Bedingung, vier Arbeitsplätze vergeben zu können, die nicht den Bestimmungen über die Taxen unterlagen, wodurch auch der philosophischen Fakultät der Universität Wien ein gewisser Einfluss auf den Betrieb der BVA eingeräumt wurde, was zur Vernetzung der privaten Einrichtung mit den einschlägigen universitären Instituten und Lehrkanzeln und ihrer institutionellen Stabilität und Anerkennung erheblich beitrug.

Zudem stellte sich die Leitung der BVA unter die Patronanz eines Kuratoriums von vier Professoren der Universität Wien, denen je ein Arbeitsplatz zu ihrer freien Verfügung gewährt wurde. Diese verzahnte organisatorische Konstruktion von privater und universitärer Forschung kann mit Fug und Recht als forschungsorganisatorische Innovation zum beiderseitigen Nutzen betrachtet werden. Weiters trug die Form der BVA basierend auf Interdisziplinarität und Internationalität mit offenem Zugang für inländische und ausländische Forscherinnen und Forscher zu einem organisatorischen und methodisch geleiteten Ganzen entscheidend bei.

Als ein nächster organisatorischer Schritt, der die dauerhafte Sicherstellung des Instituts gewährleisten sollte und die Fruchtbarkeit einer außeruniversitären Forschungseinrichtung hervorhob, die vom universitären Lehrbetrieb befreit war – hier wurde auf das 1910 eröffnete Radiuminstitut und die 1911 erfolgte Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verwiesen – folgten ab 1911 zähe Verhandlungen mit der Akademie der Wissenschaften, die zum 1. Jänner 1914 zur Übernahme der BVA als nunmehr zweites Institut der Akademie führten. Die Schenkung des Instituts an die Akademie samt Gebäude und Einrichtungen durch ihre Gründer ergänzten Portheim und Przibram mit einem Kapital von je 100.000 Kronen (607.000 €) in Wertpapieren und Karl Przibram erlegte eine weitere Summe von 100.000 Kronen als „Reservekapital“ für allfälligen bauliche Erweiterungen, nicht zuletzt als Sicherstellungen, um die Akademie von finanziellen Bürden der großzügigen Schenkung zu entlasten. Mit der Übernahme der BVA durch die Akademie der Wissenschaften änderte sich das organisatorische Regime insofern, als nunmehr die Akademie-internen Regelungen zur Geltung kamen, wie z. B. ein Kuratorium als Aufsichtsorgan der Anstalt.

Nur gerafft kann auf die v. a. organisatorische und finanzielle Entwicklung der BVA nach 1918 eingegangen werden. Schwere finanzielle Probleme nach 1918/19 ergaben sich u. a. dadurch, dass die Böhmisch-mährische Hypothekenanstalt die Zinszahlungen von Przibrams dortigen Anlagen suspendierte. Mitte 1919 drohte der BVA die Einstellung aller Arbeiten und der Verkauf des Gebäudes, der allerdings 1920 endgültig abgewendet werden konnte. Eine Förderung der New Yorker Emergency Society for German and Austrian Science and Art unter der Präsidentschaft des Ethnologen und Anthropologen Franz Boas (1858–1942), zusätzliche Subventionen seitens des Unterrichtsressorts, der Gemeinde Wien, des Bankenverbands und des Finanzspekulanten und Industriellen Camillo Castiglioni (1879–1957), weitere Zuwendungen seitens Margarete (1882–1958) und Jerome Stonborough-Wittgenstein (1873–1938) und des Hauses Rothschild erlaubten in den folgenden Jahren die Weiterführung der Forschungsarbeiten.

Nicht unerwähnt sollen – in aller Kürze – die endokrinologischen Forschungen von Eugen Steinach bleiben, die – für unseren Zusammenhang interessant – ab 1923 zu einer intensiven Kooperation mit dem Pharmaunternehmen Schering-Kahlbaum führten und die zur Finanzierung seiner Laboreinrichtungen an der BVA wesentlich beitrug. Als Pionier und Wegbereiter der Hormonforschung (u. a. Entwicklung des ersten Hormonpräparats Progynon 1928 durch Schering, Publikation der Rolle der Östrogene 1936) war Steinach die weltweit bekannteste Forscherpersönlichkeit der Anstalt, nicht zuletzt auch durch die von ihm propagierte Vasektomie zur Verjüngung von Männern, die sich allerdings schon in den 1920er Jahren als Illusion erwies. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 fanden Steinach und seine Frau Exil in der Schweiz, wohin er wirtschaftliche Verbindungen aufgrund seiner kommerziellen Aktivitäten zur hormonellen Behandlung von Kühen hatte.

Um die Mitte der 1920er Jahre erschütterte die BVA ein bis heute nicht vollständig aufgeklärter Fälschungsskandal um ein von Paul Kammerer Jahre zuvor präpariertes Exemplar der Geburtshelferkröte, das den Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften dokumentieren sollte. Die Glaubwürdigkeit der Anstalt und ihre Reputation erlitten nachhaltigen Schaden, trotzdem sich Hans Przibram gegen die international geführte polemische Diskussion wehrte und für Kammerer intervenierte, denn er war von der Echtheit des Kammer‘schen Präparates überzeugt. Es war ein hoch aufgeheizter, ideologischer Streit zwischen Darwinisten und Lamarckisten verschiedenster Schattierungen, der sich an Kammerers Befunden seiner Züchtungsexperimente entzündete und in ihm ein wehrloses Opfer fand, da das inkriminierte Präparat in einem inzwischen deplorablen Zustand war. Am Höhepunkt der gegen Kammerer geführten Kampagne des Jahres 1926 verübte Kammerer Selbstmord (Taschwer, 2016). Jüngere epigenetische Erkenntnisse geben zur Vermutung Anlass, die seinerzeitigen Züchtungsergebnisse Kammerers zu vererbbaren Eigenschaften positiv zu bewerten. Wenn die Frage nach der Korrelation von Erkenntnisinteresse und Organisationsform wissenschaftlicher Arbeit gestellt wird, dann sind Kammerers Züchtungsexperimente aussagekräftige Belege für einen engen, kausal deutbaren Zusammenhang: veränderte Umweltbedingungen, die technisch-experimentell erst an der BVA machbar waren, erlaubten neue Erkenntnisse.

Eine, wenn auch völlig anders strukturierte Einbuße an wissenschaftlicher Reputation wird uns im Folgenden bei der Befassung mit dem Radiuminstitut begegnen, dort allerdings ohne alle ideologischen und weltanschaulichen Implikationen. Physik war damals im Vergleich zur Biologie noch kein ideological-philosophical battlefield.

Um zusätzliche Geldquellen zu erschließen, wurden 1932, dem Jahr der Emeritierung Eugen Steinachs, die alten Aquarien aus der Zeit des Vivariums zu Schauaquarien adaptiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, indem man aus der Not eine volksbildnerische Tugend machte, durchaus im Rückgriff auf ältere liberale Ansätze der Kulturpolitik zusammen mit den rezenten sozialdemokratischen Bestrebungen der Volksbildung, die an der BVA exemplarisch von Paul Kammerer vertreten wurde. Zudem sollte das Forschungsportfolio für interessierte Mediziner und Biologen gegen Entgelt um den Forschungsansatz der Untersuchung der biologischen bzw. physiologischen Wirkungen der Radioaktivität als neues Arbeitsgebiet erweitert werden. Hier steht zu vermuten, dass diese Erweiterung des Forschungsansatzes sich der Anregung Karls Przibrams, des Vizedirektors des Radiuminstituts, verdankt. Zu einer Realisierung kam es allerdings nicht.

Das Jahr 1938 brachte schließlich das Ende der BVA und die Vertreibung der Gründer und vieler ihrer Schülerinnen und Schüler, sechs wurden Opfer der Shoah. Das endgültige Aus für Gebäude und Einrichtungen brachte das Vorrücken der Roten Armee zur Befreiung Wiens, als mutmaßlich von Einheiten der SS mit Granaten die BVA im April 1945 in Brand geschossen wurde. Auch eine achtzigjährige Schildkröte wurde ein Opfer der Flammen (Reiter, 1999).

Von 1903 bis 1938 arbeiteten an der BVA mehr als 250 Forscherinnen und Forscher (davon rund ein Viertel Frauen) aus Österreich und vielen anderen Ländern, die weitgehend aus Drittmitteln bezahlt wurden oder – ähnlich wie am Radiuminstitut – unbesoldet arbeiteten. Trotz der zeitweilig prekären finanziellen Situation der BVA waren die wissenschaftlichen Leistungen der Anstalt bezogen auf die Publikationstätigkeit beachtlich: In den Jahren 1914 bis 1939 „erschienen in den Publikationsorganen der Akademie 284 zum Teil buchlange Mitteilungen aus den BVA-Laboren“ (Taschwer, 2013, S. 107). Im Jahr 1937/38 hatte die Anstalt 34 Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter, von denen 18, d.s. 53 %, in einer „Liste der Arbeitenden“ als „Nicht-Arier“ ausgewiesen wurden (Taschwer, 2013, S. 111). Nach dem März 1938 verlor die BVA alle ihre Abteilungsleiter und zwei Drittel des Personals.

3 Das Institut für Radiumforschung

Der Eröffnung des Radiuminstituts 1910 geht eine lange Vorgeschichte voraus, die unmittelbar mit den Vorbedingungen der Entwicklungen, die zur Entdeckung der Elemente Polonium und Radium ein Jahrzehnt zuvor führten, zusammenhängen und in der auf institutioneller Ebene die Akademie der Wissenschaften zusammen mit öffentlichen österreichischen Stellen entscheidende Rollen einnahmen.

Die Entdeckung der ersten radioaktiven Elemente Polonium und Radium des Jahres 1898 durch das Ehepaar Marie (1867–1934) und Pierre Curie (1859–1906) wurde durch die großzügige Bereitstellung von großen Mengen von Uran-Pechblendenrückständen aus dem Bergbau in dem im böhmischen Teil des Erzgebirges gelegenen St. Joachimsthal, dem damals weltweiten Monopolbetrieb für den Abbau von Uranerz, überhaupt erst ermöglicht. Bei den Kontakten mit Pierre Curie und den französischen Stellen waren auf österreichischer Seite offizielle Stellen (Ministerien) und die Akademie der Wissenschaften sowie die Universität Wien federführend befasst. Somit waren bald nach dem Zeitpunkt der Entdeckung des Radiums ein eng strukturiertes Netzwerk mit Paris und auch verschiedenen Instituten in Deutschland als internationale Partner und ein lokaler Verbund von Interessensträgern in Österreich die treibenden Kräfte der Radioaktivitätsforschung, zu welchen sich bald – noch vor Gründung des Radiuminstituts – enge Kontakte zu britischen Forschern, allen voran Ernest Rutherford (1871–1937) in Manchester, gesellen sollten, die ihrerseits wiederum Kontakte zu amerikanischen Forschern knüpften. Dies wäre nicht weiter auffällig im Hinblick auf die damals bereits enge Netzwerkbildung in der naturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere der Physik, käme nicht aufseiten Österreichs ein wesentliches Element hinzu: das schon angesprochene weltweite Monopol des Uranbergbaus von St. Joachimsthal als Rohstoffbasis der beginnenden Radioaktivitätsforschung und damit einhergehende bergwirtschaftliche Interessen in Österreich.

Die aktive und maßgebliche Rolle der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in der frühen Phase der Radioaktivitätsforschung mündete 1901 in die Gründung der „Kommission für die Untersuchung der radioaktiven Substanzen“, die unter Franz S. Exners jr. (1849–1926) Vorsitz stand und der unter anderem Viktor von Lang (1838–1921) und Adolf Lieben (1836–1914), später dann Stefan Meyer (1872–1949) und Egon von Schweidler (1873–1948) angehörten. Auf Anregung der Kommission wurden in den Jahren 1904 bis 1907 in der Gasglühlichtfabrik des Chemikers und Industriellen Carl Johann Auer v. Welsbach (1858–1929) in Atzgersdorf bei Wien insgesamt 4 g Radiumchlorid aus 10.000 kg radiumhältigen Verarbeitungsrückständen des St. Joachimsthaler Uran-Bergwerks gegen Vergütung der Selbstkosten gewonnen, die vorerst im Exnerschen Institut in der Wiener Türkenstraße aufbewahrt wurden. Dieser für die damaligen Verhältnisse in seiner Menge einmalige „Radiumschatz“ wurde von der Akademie der Wissenschaften 1910 dem Institut für Radiumforschung übergeben. Die Verbindung von einer bergbauwirtschaftlichen Monopolstellung (St. Joachimsthaler Uran-Bergbau), industrieller Expertise und technisch-wissenschaftliche Kapazität (Gasglühlichtfabrik Atzgersdorf), Forschungsorganisation (Akademie der Wissenschaften) und universitärer Forschung ergaben zusammen bereits vor der Gründung des Radiuminstituts eine ausgeprägte Schwerpunktsetzung auf dem neuen Gebiet der Radioaktivitätsforschung. Maßgeblich beteiligt sind dabei Stefan Meyer und Egon von Schweidler, beide Assistenten an Exners Physikalisch-Chemischem Institut, dem späteren II. Physikalischen Institut der Universität Wien.

Mit tatkräftiger Unterstützung durch Meyer stellte die Wiener Akademie der Wissenschaften zu Beginn des Jahres 1908 Ernest Rutherford ohne jegliche weiteren Bedingungen und völlig zu seiner eigenen freien und uneingeschränkten Verfügung 400 mg Radium als Chlorid (RaCl2) zur Verfügung. (Eine Vereinbarung aus 1907 zwischen Sir William Ramsey (1852–1916), London, und Ernest Rutherford, Manchester, eine Leihgabe der Wiener Akademie von 300 mg Radiumbromid (RaBr2) einvernehmlich zu nutzen, scheiterte an den sehr ehrgeizigen Forschungsprogramme der beiden wissenschaftlichen Konkurrenten.) Diese großzügige Leihgabe der Akademie ermöglichte nun Rutherford die ungehinderte Entwicklung seines eigenen Forschungsprogramms. 1911 konnte er sein Modell des Atomaufbaus – ein positiv geladener Kern umgeben von negativ geladenen Elektronen – präsentieren, dessen Formulierung auf Experimenten beruhte, zu deren Gelingen die von Wien gelieferten radioaktiven Präparate entscheidend beigetragen hatten. Diese großzügige Unterstützung der Arbeiten Rutherfords durch seine Wiener Kollegen sollte sich in späterer Zeit als sehr nützlich erweisen.

Dass die Initiative zur Gründung einer ausschließlich der Radioaktivitätsforschung gewidmeten Institution nicht aus der scientific community selbst kam, sondern einer externen privaten und mäzenatischen Initiative bedurfte, hat Gründe, die außerhalb der unmittelbaren Forschung liegen und der Sphäre von wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Faktoren zuzuordnen sind.

Im Jahre 1908 hatte der Wiener Rechtsanwalt und Industrielle Karl Kupelwieser (1841–1925) der Akademie der Wissenschaften einen Betrag von 500.000 Kronen (ca. 3,35 Mio. €) zur Errichtung und apparativen Ausstattung eines Gebäudes für die physikalische Erforschung des Radiums gewidmet. Kupelwieser hatte als Jurist und Industrieller die wirtschaftliche Bedeutung des neuen Elements erkannt und fühlte die Verpflichtung, die nötigen finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen für die Erforschung des Radiums zur Sicherstellung der Rolle Österreichs auf diesem neuen Gebiet zur Verfügung zu stellen. Schließlich hatte Österreich die Monopolstellung beim Abbau von Pechblende im Bergbau von St. Joachimsthal, dem Ausgangsmaterial für die Produktion von Radium, eine Tatsache, die Kupelwieser als Industriemanager nicht unbekannt blieb und deren ökonomische Bedeutung für ihn klar erkennbar war (Wettstein, 1928). Ergänzend sei hier angeführt, dass Karl Kupelwieser in seinem Bruder Franz Kupelwieser (1830–1903), Montanist (Eisenhüttenkunde) und erster Rektor der Bergakademie Leoben (heute Montanuniversität Leoben), einen intimen Gesprächspartner in Fragen des Bergbaus hatte – ein Element der Verzahnung von akademischer und wirtschaftlicher Welt und in gleicher Weise ein Element der Radioaktivitätsforschung. In den folgenden beiden Jahren bis zur Eröffnung des Instituts für Radiumforschung am 28. Oktober 1910 war Meyer mit den Planungsarbeiten für die Errichtung und die Ausstattung dieses neuen Instituts beschäftigt (Reiter, 2001).

Kupelwieser, der bereits 1906 die Biologische Station Lunz am See ins Leben gerufen hatte, führt in seinem an die Akademie gerichteten Memorandum aus 1908 sehr expliziert die Motive seines mäzenatischen Handelns aus:

„Die Besorgnis, daß meine Heimath ‚Österreich‘ etwa verabsäumen könnte, sich eines der größten ihm von der Natur überlassenen Schätze, nämlich des Minerales URAN-PECHBLENDE wissenschaftlich zu bemächtigen, beschäftigt mich schon seit dem Bekanntwerden der räthselhaften Emanationen ihres Produktes ‚Des Radiums‘.

Ich wollte, soweit meine Kräfte reichen, zu verhindern trachten, daß mein Vaterland die Schande treffe, daß es eine ihm gewissermaßen als Privilegium von der Natur zugewiesene wissenschaftliche Aufgabe sich habe von Anderen entreißen lassen.

Es blieb mir hierzu in unserem etwas schwerfälligen Reiche unter den wirklich schon drängenden Umständen kein anderer Weg, als selbst in die Tasche zu greifen, und wenigstens den Pfad zu ebnen versuchen.“Footnote 3

Kupelwieser musste seinen Vorschlag mit einigem Nachdruck gegenüber den öffentlichen Stellen vertreten und drohte u. a. mit einer Abwanderung nach Deutschland, wo ähnliche Initiativen im Vorfeld der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft auf größere Bereitschaft stießen, bis es zum Beschluss zur Errichtung des Instituts in Wien kam. Der Baubeginn erfolgte schließlich 1909. Für Bau und allgemeine Einrichtungen samt Mobiliar wurden ca. 250.000 Kronen, für die apparative Ausstattung ca. 250.000 Kronen eingesetzt. Das Institut war mit diesen finanziellen Mitteln auf dem neuesten technischen Stand (elektrische Einrichtungen, chemische Laboreinrichtungen) großzügig ausgestattet. Das Institut erhielt seitens der österreichischen Regierung einen jährlichen Beitrag von 2500 Kronen (ca. 16.000 €) sowie die Finanzierung von vier Personalstellen.

Im Jahr der Eröffnung des Instituts wurde anlässlich des 2. Internationalen Kongresses für Radiologie und Elektronik in Brüssel die „Internationale Radium-Standard-Kommission“ ins Leben gerufen, mit Rutherford als Präsidenten und Meyer als Sekretär, ein weiteres kräftiges Zeichen der Anerkennung des internationalen Stellenwerts Wiens bei der Erforschung der Radioaktivität und ihren Anwendungen.

Hier ist nicht der Ort, um die wissenschaftlichen Arbeiten des Instituts zu würdigen (Fengler, 2014). Nur soviel: Die ersten beiden Jahrzehnte der Erforschung der Radioaktivität durch Wissenschaftler in Wien waren außerordentlich erfolgreich. Meyer und Schweidler trugen in vielen Arbeiten neue Erkenntnis zu den radioaktiven Zerfallsreihen bei, Viktor Franz Hess (1883–1964) gelang 1912 die Entdeckung der kosmischen Strahlung (Nobelpreis für Physik 1936), die Entwicklung der Radio-Indikator-Methode durch Georg von Hevesy (1885–1966) und Fritz Paneth (1887–1958) am Radiuminstitut ab 1913 wurde mit dem Nobelpreis für Chemie 1943 an Hevesy gewürdigt und die ultragenauen Atomgewichtsbestimmungen und die Herstellung und Eichung von Radium-Standards durch den Radiochemiker Otto Hönigschmid (1878–1945) und Stefan Meyer festigten den internationalen Rang des Instituts. Auch Erwin Schrödinger (1887–1961) arbeitete kurze Zeit am Radiuminstitut.

Doch der Zerfall der Donaumonarchie und die folgenden Jahre der wirtschaftlichen Stagnation gefolgt von Inflation und Währungsverlust trafen das Institut in seiner wirtschaftlichen Substanz. Meyer berichtete 1921 seinem Freund Rutherford, die Jahresdotation des Instituts sei auf weniger als £ 1 (als Äquivalent) zusammengeschmolzen. Meyers Hilferuf traf bei Rutherford auf offene Ohren, er erinnerte sich der seinerzeitigen generösen Hilfe seitens der Akademie auf Initiative Meyers und organisiert 1921 den Ankauf durch die Royal Society von 20 mg Radium von der seinerzeit leihweise überlassenen Probe um den Betrag von £ 540, gefolgt 1928 von einem weiteren Ankauf von 250 mg Radium um £ 3.000 in 6 Jahresraten. Mit diesen Devisen konnte das Radiuminstitut zumindest den weiteren Betrieb gewährleisten.

Die weiteren Entwicklungen der Forschungen am Radiuminstitut ab Mitte der 1930er Jahre sind als ambivalent zu qualifizieren. Die methodischen Entwicklungen der photographischen Methode zum Nachweis von Strahlung durch Marietta Blau (1894–1970) gipfeln kurz bevor sie Österreich 1938 verlassen musste in der Entdeckung des Zerplatzens von Atomkernen nach dem Beschuss durch hochenergetische Teilchen der kosmischen Strahlung und die Arbeiten von Karl Przibram und seiner Schüler führten zu grundlegenden neuen Erkenntnissen von Lumineszenzerscheinungen in kristallinen Festkörpern (Arbeiten zur Radiothermolumineszenz, Entdeckung der Radiophotolumineszenz 1921). Auch diese Forschungen fanden 1938 ihr jähes Ende als Przibram seine Professur verlor und das Institut verlassen musste.

Ab 1922 bildet sich am Radiuminstitut um den schwedischen Ozeanographen Hans Pettersson (1888–1966) eine Gruppe, die Untersuchungen zur Kernzertrümmerung, also künstlichen Kernumwandlungen, begann, allerdings bei ihrem allzu ambitionierten Vorgehen in eine heftige Kontroverse mit einer am gleichen Problem arbeitenden Gruppe um Rutherford geriet, da die experimentellen Ergebnisse der beiden Gruppen stark divergierten und sich schließlich die experimentellen Resultate der Wiener Gruppe aufgrund gravierender methodischer Mängel bei der Auswertung der Messungen als nicht haltbar erwiesen. Trotz der diplomatischen Versuche Meyers in enger Abstimmung mit Rutherford, die Kontroverse zu kalmieren, war der bislang gute Ruf des Radiuminstituts nachhaltig beschädigt.

Die Experimente zur Kernzertrümmerung wurden finanziell seitens US-amerikanischer Stiftungen, v. a. durch das International Education Board (IEB), eine Sondereinrichtung der Rockefeller Foundation, in den Jahren 1925 bis 1928 mit jährlich $ 2000 (das sind inflationsbereinigt ca. $ 34.000 im Jahr 2023) unterstützt. Bis 1929 erhielt das Radiuminstitut vom IEB insgesamt $ 13 500 (das sind inflationsbereinigt ca. $ 240.000 im Jahr 2023). Weiters gelang es Pettersson in Schweden bis 1925 insgesamt 26.900 schwedische Kronen (entsprechend $ 7000) einzuwerben. Weitere Unterstützung erhielt das Institut durch die Unterorganisation Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe (ÖDW) der deutschen Notgemeinschaft in der Jahren 1930 bis 1933 in der Höhe von 12.000 Reichsmark. Das Institut entwickelte sich zu einem Anziehungspunkt für Forscherinnen und Forscher aus dem In- und Ausland; in den Jahren zwischen 1919 und 1931 waren insgesamt 94 Personen am Radiuminstitut tätig, zahlenmäßig vergleichbar dem Pariser Institute du Radium Marie Curies.

Ab dem Beginn der 1930er Jahre büßte die klassische phänomenologische Radioaktivitätsforschung zunehmen an Bedeutung ein und damit verlor auch das Radiuminstituts ein wesentliches Standbein seiner lokalen und internationalen Aktivitäten, nämlich die Herstellung von natürlichen Strahlungsquellen (Radium- und Poloniumquellen) für den eigenen Gebrauch sowie für den Verleih oder Verkauf an ausländische Institute oder industrielle Abnehmer. Der Bedeutungsverlust von natürlichen Strahlungsquellen in experimenteller, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht wurde ab der Mitte der 1930er Jahre weiter verstärkt durch die Entwicklung und den Bau verschiedenartiger Beschleunigeranlagen zur Erzeugung von Teilchenströmen für Untersuchungen von Kernreaktionen im internationalen Maßstab. Österreich und das Radiuminstitut konnten hier finanziell nicht mithalten. Damit gerieten Österreich und das Radiuminstitut aus dem einstigen Zentrum an die Peripherie der Forschung und technischen Entwicklung der sich nun weltweit etablierenden Kernphysik.

In der Folge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich vom März 1938 wurden Stefan Meyer und sein Stellvertreter als Direktor des Radiuminstituts Karl Przibram aus rassistischen Gründen entlassen; insgesamt verlor das Institut durch Vertreibung und Emigration ca. ein Viertel seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, worüber ich an anderen Stellen ausführlich berichtet habe (Reiter, 1988, Reiter, 2017). Es war dies die mit 50 % aller von 1910 bis 1938 verfassten Publikationen des Radiuminstituts bei weitem produktivste Kohorte der am Radiuminstitut tätigen Forscherinnen und Forscher.

Das Jahr 1938 war nicht nur ein tiefer Einschnitt in das akademische Leben Österreichs insgesamt. Das Jahr war auch gekennzeichnet durch die vollständige Zerstörung der wissenschaftlichen Produktivität der zwei hier diskutierten international bedeutenden Forschungseinrichtungen, der Biologischen Versuchsanstalt und des Instituts für Radiumforschung, durch Entlassungen, rassistisch und politisch motivierte Vertreibungen von Forscherinnen und Forschern und in einzelnen Fällen auch deren Ermordung durch die nationalsozialistischen Machthaber und ihrer Schergen.

4 Synoptische Anmerkungen

Nach dieser kurzen, v. a. auf den je spezifischen historischen Kontext der Gründung und der weiteren Entwicklung der beiden Institute bezogenen Darstellung, soll nun auf das Verhältnis von Organisation und der Art von Wissensproduktion der beiden Institute näher eingegangen werden, insbesondere, ob die je spezifische Organisation der Institute Folge oder Ursache veränderter wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen war.

Wie steht es mit den Wechselwirkungen zwischen den Organisationsformen der beiden hier untersuchten Institute und dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess? Flapsig formuliert, erinnert das Verhältnis organisatorischer Veränderungen der Forschung zu den Folgen oder den Ursachen veränderter Erkenntnisinteressen an das sprichwörtliche Verhältnis von Henne und Ei, stellt man in Rechnung, dass hier dieses Verhältnis einer v. a. zeitlich nichtlinearen Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung unterliegt, die zu keinem Zeitpunkt vorhersehbar ist. Vorsichtig formuliert kann die Form der Organisation bzw. Institutionalisierung der Forschung einerseits als Folge, andererseits als Ursache sich ändernder Erkenntnisinteressen betrachtet werden, insofern infrastrukturelle Gegebenheiten (eigene Gebäude, experimentelle Einrichtungen, etc.) innovative Fragestellungen überhaupt erst ermöglichen.

Die je spezifische Organisationsform einer Forschungseinrichtung (auch in ihrer zeitlich dynamischen Entwicklung) und die Art und Weise der disziplinär spezifischen und interdisziplinären (v. a. im Falle der BVA) Wissensproduktion stellen ein dynamisch gekoppeltes System dar, dessen Wechselwirkungen allenfalls in der Gründungsphase einer Forschungseinrichtung wirksam und benennbar sind, im weiteren Verlauf der Entwicklung jedoch wegen der Rückkoppelungen zwischen Organisationsform und Wissensproduktion kaum mehr hinreichend analytisch beschrieben werden können, da jedes Institut für sich genommen zugleich in ein übergreifendes System disziplinärer Wissensproduktion eingebettet ist und die Institute den fachspezifischen epistemisch und methodologisch formierten Pfaden folgten.

Die Rede von Ursache und Wirkung (als Verhältnis von epistemischen und institutionellen Gegebenheiten) legt nahe, dass konkrete Elemente der institutionellen und epistemischen Welten isolierbar wären und dann auf ihre Wirkung auf oder ihre Beeinflussung durch andere Elemente hin analysiert werden können. In der Realität interagieren jedoch institutionelle und epistemische Ebene viel enger, iterativer und verschränkter. Beginnt man an der BVA (bzw. schon im Vorfeld ihrer Gründung) die Idee experimenteller biologischer Forschung zu erwägen, baut man in der Folge erste Experimentiereinrichtungen bzw. „Apparate“ generell und modifiziert diese in der Folge, weil epistemische Einsichten eine Adaption der „Apparate“ nahelegen. Simpel gesprochen ermöglicht die Gründung der BVA experimentelle biologische Forschung, aber ebenso wahr ist, dass mehr oder weniger gut begründete experimentelle Erwartungen institutionelle Adaptionen zur Folge hatten. Je nach Kalibrierung auf der Zeitdimension treten Ursache-Wirkungs-Konstellation makrosozial erst zutage oder gehen in mikrosozialer Betrachtung im Rauschen der Wechselwirkung unter. Die jüngere Wissenschaftsforschung demonstriert das in ihren Laborstudien-Designs lehrbuchartig (Knorr-Cetina, 1981): Geht man ins mikroskopische Detail, verschwimmt alles zu einem großen Brei fast schon willkürlicher „Konstruktionen“, wählte man die Vogel- und Epochenperspektive (weit genug vom zu erklärenden Objekt entfernt und längere Zeiträume betrachtend) werden kausal interpretierbare Zusammenhänge überhaupt erst denk- und sichtbar.

Im Falle der BVA ist der wissenschaftliche Erkenntnisprozess durch die Organisationsform des Instituts als private und zunächst auch privat finanzierte Forschungseinrichtung dadurch geprägt, dass die experimentelle Biologie zum Zeitpunkt der Gründung der BVA nur in einem neuen organisatorischen Rahmen außerhalb der Universität Wien, die organisational als ungeeignet befunden wurde, umfänglich und explizit interdisziplinär (Biologie, Botanik, Chemie, Physiologie) und ausgestattet mit entsprechender instrumenteller Infrastruktur betrieben werden konnte. Das ist zugleich das Alleinstellungsmerkmal der BVA auf der internationalen Bühne. Bei der Etablierung der BVA erscheint es plausibel, dass die veränderte epistemische Ausrichtung der Biologie als experimentelle Biologie sowohl Folge als auch Ursache der Neugründung war, da nur durch diese das Spektrum der Forschungen erweitert werden konnte (Folge), die zugleich, v. a. durch die wesentlich erweiterten experimentellen infrastrukturellen Möglichkeiten (z. B. Klimakammern, Aquarien, Terrarien, Werkstätten, die unter den damals gegebenen universitären räumlichen und finanziellen Bedingungen in Wien nicht realisierbar waren), Ursache für neue Fragestellungen war, also die Formulierung neuer Erkenntnisinteressen dadurch überhaupt erst ermöglicht wurde.

Im Falle des Radiuminstituts trifft diese Neugründung auf ein weitgehend konsolidiertes epistemisches Feld, also die wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen sich zwar im Einzelnen lokal unterschiedlich entwickeln, zugleich aber in ein nicht-lokales, internationales Netzwerk eingebunden sind. Die Neugründung des Instituts verzahnt gewissermaßen die Folge und Ursache veränderter wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und verstärkt so rekursiv die wissenschaftliche Dynamik des Forschungsgebiets vor Ort und darüber hinaus. Hinzu kommt die Konzentration und Bündelung von Personal und Ressourcen auf einem neuen Gebiet der Grundlagenforschung, wobei hier insbesondere den am Institut vorhandenen starken radioaktiven Quellen und deren Austausch mit anderen Forschergruppen instrumentelle Bedeutung zukommt und so zu einer Netzwerkbildung beitragen, die den internationalen Stellenwert des Instituts ausmachen. Betrachtet man die Erkenntnisinteressen des Mäzens Kupelwieser an der Erforschung der Radioaktivität, so sind diese nicht im engeren Sinne wissenschaftlicher Natur, vielmehr solche des nationalen Ansehens, der Bedeutung der Forschung für die ökonomische Entwicklung, insgesamt des Rufs und der Geltung des Landes nach Innen und nach Außen, also – mit einem englischen Begriff – des standing.

Zur Kooperation des Radiuminstituts mit außerwissenschaftlichen Akteuren: Bis 1918 wurden auf cisleithanischem Gebiet der Donaumonarchie im Bereich der Balneologie umfangreiche Erhebungen der Radioaktivität von Quellwässern (Stefan Meyer, Heinrich Mache (1867–1954)) für außerwissenschaftliche Akteure, wie Gemeinden und Kuranstalten, durchgeführt. Für diese Erhebungen war es unumgänglich, methodische und instrumentelle Innovationen zu leisten, ein Beispiel einer Wechselwirkung zwischen einer Fragestellung im Zuge angewandter Forschung und methodisch-instrumentellen Entwicklungen. Ein weiteres Beispiel einer Dienstleistung für öffentliche Stellen war die Vermessung (Eichung) vom zum Verkauf durch staatliche Einrichtungen bestimmte radioaktive Quellen, wodurch deren Marktpreis normiert werden konnte. Diese Dienstleistung war in der langjährigen Erfahrung des Radiuminstituts im Umgang und der Vermessung radioaktiver Stoffe begründet und konnte daher nur dort vorgenommen werden.

Das Radiuminstitut ist aufgrund der Fokussierung seiner Forschung auf radioaktive Phänomene als lokaler Wissensmonopolist zu betrachten. Wie schon angesprochen, ist die große Menge radioaktiver Quellen, über die das Institut verfügte, Grundlage für seine Stellung als übergreifende Plattform bei der Zurverfügungstellung dieser Stoffe für andere Forschergruppen. Weiters trug zur internationalen Sichtbarkeit (Reputation) des Instituts wesentlich auch die Produktion, Vermessung und internationale Verteilung von Radiumstandards (Etalons) im Wege der Internationalen Radium-Standard-Kommission bei; hier agierte das Wiener Institut auf gleicher Höhe mit Marie Curies Institut du Radium in Paris.

Doch wie stand es um die Karriereprofile der Forscherinnen und Forscher und deren Mobilität? Die aus öffentlich Mitteln besoldeten Mitarbeiter beider Institute, insbesondere die Funktionsträger, waren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als Professoren (ordentliche, außerordentliche Professoren) in Dienstverhältnissen der Universität Wien. Hinzuweisen ist hier, dass das Gros der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unbesoldet war und die Mobilität auf universitäre Positionen aufgrund des an der Universität Wien ausgeprägten Antisemitismus verunmöglicht wurde. (Ein krasses, wenngleich keineswegs singuläres Beispiel: Als Marietta Blau, Mitarbeiterin am Radiuminstitut, bei Prof. Gustav Jäger (1865–1938), Ordinarius für Physik an der Universität Wien, ihre Möglichkeiten einer Habilitation sondierte, machte dieser ihr klar: „Frau und Jüdin, das ist zu viel.“).Footnote 4

Beiden Anstalten, dem Radiuminstitut und der BVA, war eines gemeinsam: der hohe Anteil weiblicher Mitarbeiter von rund einem Drittel, Prozentsätze, die an universitären Forschungseinrichtungen in den Naturwissenschaften auch nur annähernd in den 1980er Jahren erreicht werden sollten.Footnote 5 Diese erstaunliche Tatsache mag sich einerseits einer liberalen, frauenfreundlichen Personalpolitik und Governance der leitenden Funktionäre der beiden Anstalten verdanken, andererseits war wohl auch deren außeruniversitäre Situierung ein wesentliches Element einer höheren Flexibilität in der Personalpolitik; im institutionellen Rahmen der Universitäten der damaligen Zeit war ein hoher Anteil weiblicher Mitarbeiter schlicht jenseits des Tolerierbaren einer strukturkonservativen (und zudem antisemitischen) Professorenschaft.

Wie steht es um die öffentliche Sichtbarkeit der beiden Institute? Dem Radiuminstitut kam ein öffentliches Interesse an der dortigen Forschung qua Neuigkeitswert der Radiumforschung zu, blieb also auf eine disziplinäre Perspektive beschränkt. Ganz anders bei der BVA, deren Forschungen und v. a. auch die Interventionen ihrer Proponenten (v. a. Przibram und Kammerer) in der öffentlichen Diskussion im Spannungsfeld von Darwinismus, Lamarckismus, allgemein der Evolutionstheorie, und der Eugenik und Hormonforschung zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit Anlass gaben. Auch hier mag die außeruniversitäre Position der BVA dazu beigetragen haben, diese Diskussion in den öffentlichen Raum zu tragen.

5 Résumé

Kehren wir abschließend nochmals zur zentralen Fragestellung der Tagung zurück, zum Verhältnis von Organisationsform einer wissenschaftlichen Einrichtung und dem Erkenntnisinteresse, also der Einschätzung, ob die Organisationsform die Wissensproduktion geprägt hat oder umgekehrt, und der Wirkungen auf die wissenschaftliche Produktivität. Am Beispiel der beiden hier untersuchten Institute, der Biologischen Versuchsanstalt und des Instituts für Radiumforschung, lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Organisationsform (als außeruniversitäre Forschungseinrichtungen) und dem Erkenntnisinteresse allenfalls für die Gründungsphase der Institute festmachen und auch dies nur eingeschränkt, da beide Institute in ihren je eigenen historischen und epistemischen Kontexten entstehen, die das Erkenntnisinteresse zumindest ebenso stark formieren wie die Form der Organisation. Dieser Zusammenhang ist – auch schon in der Gründungsphase – insofern rekursiv, als er einer zeitlich dynamischen Entwicklung, insbesondere der epistemischen Randbedingungen des Erkenntnisinteresses obliegt. Im zeitlichen Verlauf der weiteren Entwicklung der Institute dominieren politische, allgemeine gesellschaftliche, makro-ökonomische und lokale finanzielle – interne wie auch externe – Faktoren das wissenschaftliche Geschehen weitgehend unabhängig von der je spezifischen Organisationsform der Institute.

Thomas Heinze und Rupert Pichler danke ich für ihre kritische Lektüre und konstruktiven Hinweise und Vorschläge der ersten Version dieser Arbeit. Mein besonderer Dank geht an Christian Fleck für intensive Diskussionen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge, die für die Endfassung unerlässlich waren.