1 Einleitung

Die Europäische Synchrotronstrahlungsquelle (European Synchrotron Radiation Facility, ESRF) ist eine zwischenstaatliche, kollaborative Großforschungsanlage in Grenoble, Frankreich. Das Herzstück der Einrichtung bildet ein Kreisbeschleuniger, der entlang verschiedener Strahllinien Röntgenstrahlung in Instrumente und experimentelle Aufbauten einspeist. Die ESRF ist eine service facility, deren Hauptaufgabe es ist, multidisziplinären Nutzer:innengruppen, die in einem kompetitiven Verfahren Zugang zur ESRF erhalten, diese Ressource für ihre Experimente zur Verfügung zu stellen. Viele dieser Experimente und Instrumente sind aufgrund ihrer Komplexität oder Größe an kleineren Forschungseinrichtungen oder universitären Zentren nicht vorhanden.

Aus dieser Beschreibung lässt sich zunächst eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Einrichtung und den Nutzer:innengruppen ableiten. Einerseits sind externe Nutzer:innengruppen für ihre Forschung auf die einzigartigen Instrumente der Einrichtung angewiesen und erhalten nur nach dem erfolgreichen Durchlaufen eines kompetitiven Verfahrens Zugang zu ihnen. Andererseits ist die Einrichtung nach ihrem organisatorischen Selbstverständnis als service facility davon abhängig, dass sie thematischen Wandel annehmen und sich an neue Forschungsmethoden und -techniken anpassen kann (Hallonsten, 2016, S. 103; Söderström et al., 2022, S. 424). Denn die Arbeit der Nutzer:innengruppen an den Instrumenten und experimentellen Aufbauten der ESRF ist die Grundlage für die wissenschaftliche Reputation, die Errungenschaften sowie die forschungspolitische Außenwirkung der Einrichtung (Hallonsten, 2013, S. 500; vgl. auch Söderström et al., 2022, S. 420 f.).

Als staatlich finanzierte sowie zwischenstaatlich organisierte Einrichtung ist die ESRF darüber hinaus auch angehalten, den sich wandelnden Anforderungen und Erwartungen der Forschungspolitiken ihrer Mitgliedsstaaten zu entsprechen, deren Vertreter:innen im Rat der ESRF repräsentiert sind (Hallonsten, 2013; vgl. auch Heinze & Münch, 2012, S. 16). Die ESRF befindet sich also konstant in einem doppelten Wettbewerb um Ressourcen und Reputation, sowohl hinsichtlich der Wissenschaftsgemeinschaften als auch der Forschungspolitiken ihrer Mitgliedsstaaten (vgl. hierzu auch Heinze & Arnold, 2008, S. 689).

Hieran anschließend, und mit Blick auf die organisatorische Entwicklung der ESRF in den vergangenen Jahrzehnten, lässt sich anhand dieser gegenseitigen Abhängigkeit und dem doppelten Wettbewerb jedoch auch die Fähigkeit zur organisatorischen Erneuerung beobachten. Indem die ESRF hauptsächlich unterstützend tätig ist und benötigte Ressourcen zur Verfügung stellt, ist sie zunächst thematisch und methodisch nicht gebunden. Lediglich die Komplexität der Instrumente und experimentellen Aufbauten lässt nur bedingt kurzfristige Änderungen des Forschungsaufbaus und wissenschaftlichen Programms zu, da diese zumeist mit einem enormen Aufwand und einem langen Planungshorizont verbunden sind. Mit Rückgriff auf unterschiedliche Definitionsansätze zur intellektuellen (Heinze, 2010, S. 78) und institutionellen Erneuerungsfähigkeit (Heinze & Münch, 2012, S. 16 und S. 20 ff.) wird organisatorische Erneuerungsfähigkeit hier als die Fähigkeit verstanden, thematische, materielle und prozedurale Neuerungen innerhalb der Organisation der ESRF zu verankern, sodass sie auf diese Weise dauerhaft die Außenwirkung, das wissenschaftliche Programm sowie die materiellen Ressourcen der Einrichtung prägen und gestalten.

Ausgehend von diesen allgemeinen Beobachtungen widmet sich das folgende Kapitel der Entwicklung strukturbiologischer Forschung an der ESRF in den 1990er und 2000er Jahren als Beispiel organisatorischer Erneuerungsfähigkeit. Strukturbiologie beschäftigt sich als biologische Grundlagenforschung mit der Struktur von Makromolekülen – wie zum Beispiel Proteinen, Viren oder DNA – und lässt sich als Teilbereich der Lebenswissenschaften verstehen. Letzterer Begriff unterliegt jedoch keiner einheitlichen Definition, sondern dient in erster Linie oft als Heuristik zur Beschreibung unterschiedlicher, thematisch verwandter Forschungsfelder und Disziplinen. Konkret lässt sich organisatorische Erneuerungsfähigkeit an der ESRF anhand der Spezialisierung der Gutachter:innenausschüsse, der Implementierung neuer Prozesse zur Verteilung von Strahlzeit im Bereich strukturbiologischer Forschung (block allocation), der Realisierung eines neuen Strahllinienkomplexes (ID23) sowie an strategischen Kooperationen (strukturbiologische Partnerschaft) beobachten.

Dieses Kapitel versteht sich in erster Linie als beschreibender und empirischer Beitrag. Es soll zum tiefergehenden Verständnis des Verhältnisses von Organisationsform und Erkenntnisinteresse an wissenschaftlichen Einrichtungen beitragen und zeigt am Beispiel der ESRF, dass der Wandel von Methoden und Instrumenten hier in einem engen Verhältnis zu dem Aufkommen neuer Forschungsgebiete und thematischer Priorisierungen steht. Der zeitliche Rahmen dieses Beitrags reicht von der Inbetriebnahme der ESRF im Jahr 1994 bis zur Fertigstellung des zweiten Teils des Strahllinienkomplexes ID23 im November 2005. Dieser Strahllinienkomplex ist auf die spezifischen Anforderungen strukturbiologischer Forschung ausgerichtet ist und reicht in seiner wissenschaftlichen und forschungspolitischen Bedeutung über die internen, organisatorischen Grenzen der ESRF klar hinaus. Das Kapitel stellt im Kern eine Entwicklungs- und Wandlungsgeschichte der ESRF in den 1990er und frühen 2000er Jahren dar, ohne jedoch die spezifischen Umstände und Kontexte während der Gründungsphase dieser Einrichtung in den späten 1980er Jahren außer Acht zu lassen.

Die Gliederung des Kapitels ist wie folgt: Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Gründungsgeschichte der ESRF sowie den wichtigsten organisatorischen und prozeduralen Leitlinien der Einrichtung. Der zweite Abschnitt thematisiert die Entwicklung strukturbiologischer Forschung an der ESRF aus unterschiedlichen Perspektiven und erläutert diese anhand von drei empirischen Beispielen organisatorischer Erneuerungsfähigkeit. Das Kapitel schließt mit einer Diskussion, welche die Resultate der Analyse unter Berücksichtigung der Leitfrage des vorliegenden Sammelbandes einordnet.

2 Geschichte und Organisation der ESRF

Die ESRF ist die einzige kollaborative Synchrotronstrahlungsquelle in Europa. Sie fußt auf einem zwischenstaatlichen Abkommen, welches 1988 zwischen elf europäischen LändernFootnote 1 unterzeichnet wurde (ESRF, 1988/1991). Nach dem Ende der Bauphase hat die ESRF 1994 ihren Betrieb aufgenommen und ist seitdem für Nutzer:innengruppen geöffnet. Das wissenschaftliche Prinzip der ESRF beruht auf der Beschleunigung von Elektronen in einem Kreisbeschleuniger und der experimentellen Nutzung der abgestrahlten elektromagnetischen Strahlung (Synchrotronstrahlung) vor allem im Bereich der harten Röntgenstrahlung. Diese ist heute für die Erforschung von Materialien und Materie für eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsfelder relevant; so zum Beispiel für die Material- und Lebenswissenschaften, Physik, Medizin, Archäologie und Kunstgeschichte (vgl. Baudelet, 2014, Abs. 1–8; Hallonsten, 2016, S. 244–245). Strahlzeit an verschiedenen Strahllinien der ESRF wird an Nutzer:innengruppen in sogenannten shifts vergeben.Footnote 2 Die shifts werden den Nutzer:innen auf Grundlage ihrer eingereichten, begutachteten und in einem kompetitiven Prozess ausgewählten Projektvorschläge zugeteilt (ESRF, 2023b). Die Nutzer:innengruppen an der ESRF kommen von Universitäten oder öffentlichen Forschungseinrichtungen weltweit. Sie sind somit immer externe Nutzer:innen. Bis zu einem gewissen Grad wird auch Strahlzeit an industrielle Nutzer vergeben. Alle Nutzer:innengruppen werden während ihrer Strahlzeit immer von internen Wissenschaftler:innen betreut.

Synchrotronstrahlung wurde erstmals in den 1940er Jahren experimentell beobachtet; damals allerdings noch als (unerwünschtes) Beiprodukt von Experimenten der Hochenergiephysik an Kreisbeschleunigern (Hallonsten, 2015). Die aktive Nutzung von Synchrotronstrahlung für Experimente außerhalb der Hochenergiephysik wurde seit den späten 1960er Jahren durch Forschungsgruppen an großen Beschleunigerzentren der Hochenergiephysik in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und Europa vorangetrieben (Hallonsten & Heinze, 2013, 2015). In den 1970er and 1980er Jahren wurde Forschung mit Synchrotronstrahlung zunehmend zu einer Hauptaufgabe an Beschleunigerzentren, die bei ihrer Gründung in den 1950er Jahren ursprünglich der Hochenergiephysik gewidmet waren (Hallonsten, 2016, S. 76–84; Hallonsten & Heinze, 2013). Die Gründe dafür lagen in signifikantem technologischem Fortschritt beim Bau von dedizierten Beschleunigern, aber auch im Wandel der forschungspolitischen Ausrichtung und Priorisierung europäischer und US-amerikanischer Regierungen in den 1970er und 1980er Jahren.

Die Idee zur Gründung der ESRF wurde in den 1970er Jahren vor allem innerhalb europäischer Wissenschaftsgemeinschaften vorangetrieben. 1976 erfolgte die Einrichtung einer thematischen Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft der Europäischen Wissenschaftsstiftung (ESF, European Science Foundation) (Cramer, 2020, S. 79 f.). Ein erster Bericht dieser Arbeitsgruppe im Jahr 1977 hob das wachsende wissenschaftliche Interesse innerhalb Europas an der Nutzung von Synchrotronstrahlung hervor. Zusätzlich stellte der Bericht Forschung mit Synchrotronstrahlung als ein sehr kompetitives und zukunftsträchtiges Forschungsfeld dar, auf dem die USA und Japan bereits große Vorhaben planten und Europa riskierte, den Anschluss zu verlieren (Cramer, 2020, S. 80 f.). Anfang der 1980er Jahre erfolgte ein bedeutender Szenenwechsel: Allen beteiligten Akteur:innen wurde klar, dass die Kompetenzen und Befugnisse der ESF sowie der Arbeitsgruppe nicht ausreichten, um über Finanzierung und Standortwahl für eine kollaborative Synchrotronquelle entscheiden zu können. Hierfür waren vielmehr Entscheidungen auf nationaler Ebene zwischen den zuständigen Ministerien und Regierungen der potenziellen Mitgliedsstaaten nötig (Cramer, 2017, S. 407 f.). 1983/84 gab es intensive trilaterale Verhandlungen zwischen Westdeutschland, Frankreich und Großbritannien. Diese Verhandlungen wurden 1985 auf bilateraler Ebene zwischen Westdeutschland und Frankreich fortgesetzt (Cramer, 2020, S. 84–89; Cramer, 2017, S. 408–410). Die deutsch-französische Zusammenarbeit war für die Gründung der ESRF besonders bedeutend, denn eine bilaterale Vereinbarung gab den Startschuss für die Realisierung der ESRF, bei der beide Länder insgesamt über 70 % der Kosten der Vorbereitungsphase der ESRF übernahmen. Die Gründungsakte der ESRF wurde 1988 von elf Mitgliedsstaaten unterzeichnet: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, (West)Deutschland, Italien, Norwegen, Spanien, Schweden, Schweiz und Großbritannien. 1991 kamen die Niederlande als Vollmitglied dazu. Seit 2014 ist Russland ebenfalls Vollmitglied. Vollmitglieder müssen mindestens 4 % der jährlichen Kosten übernehmen (Cramer, 2020, S. 110 und 198). Die Anteile der Vollmitglieder setzen sich wie folgt zusammen: Frankreich 27,4 %; Deutschland 24 %; Italien 13,2 %; Großbritannien 10,5 %; Russland 6 %; Spanien 4 %, Schweiz 4 %; BENESYNC Konsortium (Belgien und Niederlande) 5,8 %; NORDSYNC Konsortium (Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen) 5 %. Die assoziierten Mitglieder (Österreich, Israel, Polen, Portugal, Indien, Tschechien, Südafrika und Ungarn) tragen zwischen 1,75 % (Österreich) und 0,25 % (Ungarn) der jährlichen Kosten der ESRF (ESRF, 2023a). Die ESRF wird bis heute fast ausschließlich durch die jährlichen Beiträge der Vollmitglieder finanziert. Deutschland und Frankreich zahlen zusammen über die Hälfte (51,4 %) des jährlichen Budgets (Cramer, 2020, S. 108 und 111). Das restliche Budget setzt sich vor allem aus den Beiträgen der assoziierten Mitglieder, dem Verkauf von Strahlzeit an industrielle Nutzer:innen und Förderungen aus Drittmittelprojekten zusammen (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Budget- und Personalentwicklung an der ESRF für die Jahre 1995, 1999 und 2004 (ESRF Highlights 1994, 1999 und 2004)

Die ESRF wird als zwischenstaatliche Organisation im Rahmen einer französischen societé civile geführt, was im französischen Rechtssystem etwa einer deutschen GmbH entspricht. Organisatorisch wird die ESRF durch einen Rat und eine:n Generaldirektor:in gesteuert. Im Rat sitzen Vertreter:innen der Mitgliedsstaaten, die über wichtige Fragen der Einrichtung entscheiden. Zu diesen gehören, unter anderem, die Aufnahme neuer Mitglieder, die Änderung von Finanzierungsprinzipien (Erforderlichkeit der Einstimmigkeit) und des wissenschaftlichen Profils der Einrichtung sowie die Ernennung bzw. Entlassung der Generaldirektor:innen (Erforderlichkeit einer qualifizierten Mehrheit) (ESRF, 2018, Art. 8). Die in den Rat der ESRF entsandten Vertreter:innen der Mitgliedsstaaten hatten und haben einen maßgeblichen Einfluss auf die thematische Ausrichtung, Finanzierung und forschungspolitische Priorisierung der Einrichtung. Die Generaldirektor:innen werden durch den Rat ernannt und leiten verschiedene thematische Arbeitsgruppen, deren Inhalt und Zusammensetzung sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt haben.

Besonders wichtig für die Arbeit der ESRF sind die Gutachter:innenausschüsse, die die eingereichten Projektvorschläge der Nutzer:innengruppen begutachten. Das Verfahren basiert auf einem standardisierten Begutachtungsprozess, wie er zum Beispiel auch bei der Publikation von internationalen Fachartikeln üblich ist (Hallonsten, 2013, S. 500). Das Verfahren ist sehr kompetitiv und die ESRF hat jedes Jahr eine hohe Überzeichnungsrate vorzuweisen, was bedeutet, dass signifikant mehr Projektvorschläge eingereicht wurden, als am Ende angenommen werden (Hallonsten, 2013, S. 504–509). Die Mitglieder der Gutachter:innenausschüsse werden durch die Leitungsebene ernannt. Die Ernennung erfolgt zunächst auf zwei Jahre, kann aber um ein weiteres Jahr verlängert werden (Hallonsten, 2009, S. 242). Die Aufgabe der Gutachter:innenausschüsse ist es, die eingereichten Projektanträge zu begutachten und zu bewerten. Über die finale Annahme bzw. Ablehnung entscheidet die Leitungsebene der ESRF, also der oder die Generaldirektor:in zusammen mit den wissenschaftlichen Direktor:innen (Hallonsten, 2009, S. 243).

Bei ihrer Inbetriebnahme Mitte der 1990er Jahre war die ESRF wissenschaftlich und technologisch eine Innovation, da ihre technische Kapazität der von bestehenden Synchrotronstrahlungsquellen überlegen war (Winick, 1998, Abbildungen 1 und 2 auf S. 174). Zusammen wurden die ESRF, die US-amerikanische Advanced Photon Source (APS), die 1996 ihren Betrieb aufnahm, sowie die 1997 eröffnete japanische Synchrotronstrahlungsquelle SPRING-8, in Fachkreisen als Big Three bezeichnet; ein Schlagwort, welches auf die außergewöhnlichen technischen Leistungen dieser drei Einrichtungen zu der damaligen Zeit verwies (Hallonsten & Heinze, 2015, S. 843–845; Hallonsten, 2013, S. 501–505). Mit der Inbetriebnahme von zwei großen Linearbeschleunigern – der US-amerikanischen Linac Coherent Light Source (LCLS) und dem europäischen X-Ray Free Electron Laser (XFEL) – sowie der Erneuerung nationaler Synchrotronstrahlungsquellen in Europa in den 2000er und 2010er Jahren, sieht sich die ESRF innerhalb und außerhalb Europas in einem wachsenden Wettbewerb um Nutzer:innen, Reputation und – in letzter Konsequenz – langfristige Finanzierung durch die Mitgliedsstaaten (vgl. Pellegrini, 2016; ESRF, 2007, S. 7–8).

3 Der Aufstieg der Strukturbiologie an der ESRF

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen die Lebenswissenschaften eine wachsende politische Sichtbarkeit und einen immer größeren Stellenwert innerhalb nationaler und europäischer Förderprogramme einzunehmen (vgl. Strasser, 2002; Fangerau, 2012). Förderlich für diese Entwicklung war sicherlich auch der sich wandelnde forschungspolitische Kontext der 1980er und 1990er Jahre. Eine wachsende Zahl an politischen Akteur:innen, die an der Wissensproduktion großer, öffentlich finanzierter Forschungsanlagen interessiert waren, hob verstärkt die Rolle von Wissenschaft und Technologie für ökonomisches Wachstum, Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen hervor. Hiermit eng verknüpft war die Annahme, dass Forschung innerhalb der Lebenswissenschaften essenziell zu industrieller Anwendbarkeit, ökonomischer Wertschöpfung und der Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme (z. B. Gesundheit oder Nahrungsmittelsicherheit) beitragen konnte (Vermeulen, 2016, S. 207 f.). Bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen und die Institutionalisierung neuer Forschungsbereiche sicherten lebenswissenschaftlicher Forschung einen langfristigen, zentralen Platz in der Wissenschaftslandschaft und Forschungspolitik des späten 20. Jahrhunderts. Zu den wichtigsten Entwicklungen zählten zum Beispiel die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der menschlichen DNA in den 1950ern sowie die Gründung der Europäischen Organisation für Molekularbiologie (EMBO) und des Europäischen Labor für Molekularbiologie (EMBL) in den 1960er und 1970er Jahren (vgl. hier Krige, 2002; Strasser, 2002). 1971 erfolgte die Errichtung der Protein Data Bank (PDB), in der öffentlich zugänglich wichtige Kenndaten (Bindungsverhältnisse, Atomtypen, etc.) zu Strukturen von erforschten Proteinen hinterlegt werden (Berman, 2008). In den 1990er Jahren wurde das internationale Humangenomprojekt zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms durchgeführt (vgl. Kevles & Hood 1992). Diese Dynamiken innerhalb der lebenswissenschaftlichen Forschung und im Kontext der Strukturbiologie führten auch an der ESRF im Verlauf der 1990er und 2000er Jahre graduell zu einer neuen wissenschaftlichen Schwerpunktsetzung und thematischen Priorisierung. Synchrotronstrahlung begann in den 1980er Jahren eine wichtige Rolle für die Strukturbiologie zu spielen. Die ersten Einträge in der PDB, die auf die Nutzung von Synchrotronstrahlungsquellen zurückzuführen sind, stammen aus den 1980er Jahren (Grabowski et al., 2021, S. 31). Grundlegend für diese Entwicklung war die zunehmende Nutzbarmachung komplexer, ursprünglich fachfremder Instrumente für biologische und lebenswissenschaftliche Forschung zu dieser Zeit. Vermeulen (2016, S. 203 ff.) beschreibt am Beispiel der Kernspinresonanz, die ihren Ursprung in der physikalischen und chemischen Forschung der 1930er Jahre hatte, wie sich biologische Forschung im Verlauf des 20. Jahrhunderts diese Technik zu Nutzen machte und fortan Experimente in einem zunehmenden Maße an größeren Instrumenten organisierte.

Diese Idee ist auch zentral für die Entwicklung der Strukturbiologie an der ESRF in den 1990er Jahren. An der ESRF gab Synchrotronstrahlung im harten Röntgenspektrum Nutzer:innengruppen die einzigartige Möglichkeit, die atomare Struktur von Makromolekülen zu untersuchen (Grabowski et al., 2021; European Science Foundation, 1998, S. 20 f.). Durch diese technische Überlegenheit war die ESRF in verschiedenen Wissenschaftsgemeinschaften besonders gefragt, denn andere nationale Synchrotronstrahlungsquellen in Europa arbeiteten zu dieser Zeit nur im weniger hochauflösenden weichen Röntgenspektrum oder im Bereich ultravioletter Strahlung, die keine Auflösung im atomaren Bereich erlaubte. Erst in den späten 1990er Jahren und frühen 2000er Jahren begannen Synchrotronstrahlungsquellen zu den zentralen Werkzeugen für Proteinstrukturanalysen zu werden – was auch an verbesserten, automatisierten Methoden zur effizienten und zeitsparenden Messung von Proben lag sowie der signifikanten Erweiterung bestehender Forschungskapazitäten (Wasserman et al., 2015). Die Hälfte der im Jahr 1999 in der PDB hinterlegten Proteinstrukturen lässt sich auf Forschungsarbeit an Synchrotronstrahlungsquellen zurückführen. Im Jahr 2003 waren Synchrotronstrahlungsquellen sogar an der Auflösung von 75 % aller hinterlegten Proteinstrukturen beteiligt (Jiang & Sweet, 2004).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Aufstieg und die politische Sichtbarkeit der Strukturbiologie im späten 20. Jahrhundert einerseits in ein breites politisches Narrativ eingebettet waren, welches die Nützlichkeit dieser Forschung für Wohlstand und die Lösung gesellschaftlicher Probleme anpries. Andererseits begann die Strukturbiologie sich Großgeräte stärker zu Nutze zu machen, welche ihr die einzigartige Möglichkeit gab, die atomaren Strukturen von Makromolekülen zu studieren. Am Beispiel der ESRF lassen sich die Auswirkungen dieser Dynamiken konkret an drei Änderungen beobachten, die als Ausdruck organisatorischer Erneuerungsfähigkeit verstanden werden können. Anfang der 2000er Jahre wurde erstens ein neuer Gutachter:innenausschuss an der ESRF eingesetzt, welcher der gestiegenen Anzahl an eingereichten Projektvorschlägen im Bereich der Strukturbiologie Rechnung tragen sollte. Zweitens wurde ein neuer Prozess zur Verteilung von Strahlzeit im Bereich der Strukturbiologie festgelegt, die sogenannte block allocation. Drittens wurden an der ESRF in den frühen 2000er Jahren eine Reihe interner (Strahllinienkomplex ID23) und externer (Gebäude- und Laborkomplex) Infrastrukturen etabliert, die eng mit der formellen Gründung der strukturbiologischen Partnerschaft im Jahr 2002 verknüpft waren und in ihrer Langfristigkeit einen fundamentalen Einfluss auf die Wissensproduktion und Gesamtorganisation der Einrichtung hatten.

3.1 Gutachter:innenausschüsse und Block Allocation

Bereits bei ihrer Gründung Ende der 1980er Jahre war die ESRF bestrebt, Synchrotronstrahlung als experimentelle Ressource einer großen Bandbreite an wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern zur Verfügung zu stellen. In den ersten Jahren nach Inbetriebnahme der ESRF konnte vor allem eine Zunahme eingereichter Projektvorschläge im Bereich kondensierter Materie und Festkörperphysik beobachtet werden. Als organisatorische Konsequenz wurde 1996 der Gutachter:innenausschuss hard condensed matter in zwei Untergruppen unterteilt: electronic and magnetic properties sowie structures (ESRF Highlights 1996; siehe Tab. 2). Die durch die externen Nutzer:innengruppen besonders stark nachgefragten Themenkategorien erhielten in dem hier aufgeführten Beispiel eigene Gutachter:innenausschüsse, sodass diese Neuerung nicht nur thematisch sichtbar, sondern auch organisatorisch verankert wurde. Diese Unterteilung im Bereich kondensierter Materie und Festkörperphysik war ein erster Ausdruck thematischer Spezialisierung sowie organisatorischer Erneuerung innerhalb der ESRF, wie er in den folgenden Jahren am Beispiel der Strukturbiologie ganz besonders sichtbar werden sollte.

Tab. 2 Übersicht der Gutachter:innenausschüsse an der ESRF, 1995–2005 (ESRF Highlights 1994/1995–2005)

Ende der 1990er Jahre erlebte die ESRF einen signifikanten Anstieg eingereichter Projektvorschläge im Bereich der Lebenswissenschaften (siehe Tab. 3) und ganz besonders für strukturbiologische Projekte, welche die Technik der Röntgenkristallographie nutzten (ESRF Highlights, 2000, S. 120). Die Anwendung dieser Technik für die Strukturanalyse von Makromolekülen – wie zum Beispiel Proteinen – bildete sich Ende der 1960er Jahre aus dem Zusammenschluss von biologischer und chemischer Forschung und Kristallographietechniken heraus, die diese ursprünglich auf Themen der Metallurgie angewendet hatten (Giegé, 2013). Bis in die 1970er bezweifelten Wissenschaftler:innen, dass biologische Proben den intensiven Röntgenstrahlen an Synchrotronstrahlungsquellen standhalten könnten. Die Zweifel wurden Mitte der 1970er Jahre durch erste Versuche am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) widerlegt (Miao et al., 2004, S. 165–166). Diese Studien waren vielversprechend für die Anwendung von Synchrotronstrahlung für strukturbiologische Forschung. Aber es dauerte noch bis in die 1980er und 1990er bis strukturbiologische Forschung mit Synchrotronstrahlung zu einem vielbeachteten Forschungsfeld an Synchrotronstrahlungsquellen wurde. Wie bereits weiter oben angedeutet, hing diese Entwicklung eng mit dem Aufkommen von dezidierten Synchrotronstrahlungsquellen für Experimente außerhalb der Hochenergiephysik sowie der Existenz spezialisierter Instrumente für strukturbiologische Forschung an diesen Forschungseinrichtungen zusammen (Dauter et al., 2010; Duke & Johnson, 2010; Miao et al., 2004, S. 165–166).

Tab. 3 Übersicht über die beantragten und bewilligten shifts im Bereich Lebenswissenschaften, 1995–2001. (ESRF Highlights 1995/1996–2001)

Der Anstieg eingereichter Projektanträge stellte eine signifikante Mehrbelastung für die organisatorischen Strukturen der ESRF dar: In ihrer Ausgestaltung und Durchführung unterschieden sich die im Bereich der Strukturbiologie eingereichten Vorschläge stark von Bewerbungen in anderen Bereichen (zum Beispiel in der Medizin oder den Materialwissenschaften). Die Nutzer:innen im Bereich der Röntgenkristallographie beabsichtigten gewöhnlich viele Proben in kurzer Zeit zu messen. Dies führte oft dazu, dass je Probe ein einzelner (neuer) Antrag gestellt wurde, welcher oftmals weniger als einen shift, also weniger als acht Stunden umfasste (Hallonsten, 2009, S. 227 f.; ESRF Highlights, 1999, S. 9). Die große Zahl sowie die damit einhergehende thematische und methodische Fragmentierung eingereichter Projektvorschläge war durch die bestehenden Gutachter:innenausschüsse und die standardisierten Vergabeprinzipien für Strahlzeit nicht mehr zu bewältigen (ESRF Highlights, 1999, S. 9). Außerdem waren Anträge an großen europäischen Einrichtungen wie der ESRF oft mit einer hohen Wartezeit verbunden, was nicht selten dazu führte, dass Proben nach der Genehmigung des Antrags nicht mehr verfügbar waren, da Proteinkristalle instabil sind und nicht lange gelagert werden können (ESF, 1998, S. 53).

Als Konsequenz führte die ESRF in der zweiten Hälfte des Jahres 1998 die sogenannte block allocation ein (ESRF Highlights, 1999, S. 9). Dieses neue Vergabeverfahren erlaubte den Nutzer:innen im Bereich der Strukturbiologie und ganz besonders im Bereich der Röntgenkristallographie Anträge zu bündeln. Sofern die eingereichten Anträge im Begutachtungsprozess erfolgreich waren, konnten sie mit dem Verfahren der block allocation einen größeren Block an shifts bewilligt bekommen, der dann unter den einzelnen Nutzer:innen innerhalb des Antrags flexibel genutzt werden konnte. Das Verfahren der block allocation wurde bereits in einem 1998 von der Europäischen Wissenschaftsstiftung veröffentlichen Bericht erwähnt (European Science Foundation, 1998). Der Bericht empfahl die Ausweitung des Verfahrens auf andere, nationale Synchrotronstrahlungsquellen innerhalb Europas, um der gestiegenen Nachfrage lebenswissenschaftlicher Forschung gerecht zu werden, den Durchlauf von Experimenten und Messungen in diesem Bereich zu erhöhen und damit die Verfahren an diesen Einrichtungen effizienter zu gestalten (European Science Foundation, 1998).

Diese gestiegene Nachfrage im Bereich der Röntgenkristallographie an der ESRF führte schließlich 2002 zur Einrichtung eines neuen Gutachter:innenausschusses (siehe Tab. 2). Der neue Ausschuss Macromolecular Crystallography ging aus dem vorangegangenen Ausschuss Life Sciences hervor, der zum Jahr 2002 seine Arbeit beendete. Durch diese Neuausrichtung konnten die Projektvorschläge und durchgeführten Messungen in diesem durch die Nutzer:innengruppen stark nachgefragten Bereich explizit ausgewiesen werden und mussten damit nicht mehr unter dem Bereich der Lebenswissenschaften zusammengefasst werden. Bemerkenswert ist, dass zwischen März und August 2003 der Anteil von Experimenten, der sich allein auf die Technik der Röntgenkristallographie fokussierte, bei 12 % lag (ESRF Highlights, 2004, S. 140). Der Anteil der Experimente in den thematisch und methodisch ungleich breiter aufgestellten Bereichen Chemie oder Medizin lag im Vergleich bei 9 % bzw. 4 %.

3.2 Strahllinienkomplex ID23 und strukturbiologische Partnerschaft

Mit diesen prozeduralen und thematischen Schwerpunktverschiebungen ging auch ein Ausbau der materiellen Ressourcen der ESRF einher. Den Nutzer:innen an der ESRF standen Ende der 1990er Jahre einzigartige Strahllinienkomplexe zur Verfügung, wie zum Beispiel der 1998/1999 fertiggestellte Strahllinienkomplex ID14 „Quadriga“ und der 2000 fertiggestellte Strahllinienkomplex ID29. Beide Strahllinien waren auf die spezifischen Anforderungen der Röntgenkristallographie für strukturbiologische Forschung ausgerichtet (Lindley, 1999; Nurizzo et al., 2006). Zur gleichen Zeit plante die ESRF die Realisierung eines weiteren, auf Röntgenkristallographie spezialisierten Strahllinienkomplexes (ID23), der in den Jahren 2004 und 2005 fertiggestellt wurde und für externe Nutzer:innengruppen öffnete (Nurizzo et al., 2006). Hervorgehoben werden muss, dass der Strahllinienkomplex ID23 über eine komplexe, unterstützende Software verfügte, um den Betrieb weitestgehend zu automatisieren und den Nutzer:innengruppen einen optimalen und effizienten Aufenthalt an der ESRF und ihrer Strahllinie zu gewährleisten. Die gestiegene Nachfrage nach Ressourcen im Bereich der Röntgenkristallographie durch die Wissenschaftsgemeinschaften wurde vonseiten der ESRF mit einem schrittweisen Ausbau der internen Kapazitäten beantwortet. Im Gesamtkontext der organisatorischen Erneuerungsfähigkeit der ESRF definiert sich der Strahllinienkomplex ID23 damit als Komplementärgut (vgl. hierzu Hallonsten, 2016, S. 105; vgl. auch Hallonsten, 2009, S. 102, 2013, S. 501), der in strategischer und funktioneller Abhängigkeit mit denjenigen Nutzer:innengruppen entworfen und realisiert wurde, die ihn für ihre Forschung benötigen.

Planung und Realisierung des Strahllinienkomplexes ID23 stehen in direkter Verbindung zur 2002 unterzeichneten Partnerschaft für Strukturbiologie. Neben der ESRF waren an der Unterzeichnung außerdem noch folgende benachbarte Forschungseinrichtungen beteiligt: Der Neutronenforschungsreaktor des Institut Laue-Langevin (ILL) in unmittelbarer Nachbarschaft zur ESRF; das EMBL, das seinen Hauptsitz in Heidelberg hat, aber seit Jahren auch mit einer Außenstation an der ESRF angesiedelt ist; und das Institut für Strukturbiologie (IBS), als gemeinsame Einrichtung der Universität Grenoble, des französischen Kommissariats für alternative Energien und Atomenergie (Commissariat à l'Énergie Atomique et aux Énergies alternatives, CEA) und des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (Centre National de la Recherche Scientifique, CNRS) (ESRF Highlights, 2002). Vorausgegangen war dieser formellen Unterzeichnung eine zweijährige Vorbereitungsphase, die von Beratungen und Beschlüssen im Rat der ESRF durch die Vertreter:innen der Mitgliedsstaaten geprägt war (ESRF Highlights, 2003, S. 2).

Der Beschluss der strukturbiologischen Partnerschaft bildet nicht nur den wissenschaftlichen und forschungspolitischen Kontext zur Realisierung weiterer Strahllinien im Bereich der Röntgenkristallographie an der ESRF; wie zum Beispiel ID23. Er kann auch als ein Beispiel für die organisatorische Erneuerung über die internen Grenzen der ESRF hinaus angesehen werden. Im Kontext dieser Partnerschaft gab der Rat der ESRF im Dezember 2003 die Bewilligung zur Beteiligung am Bau eines Labor- und Bürogebäudes, welches das Zentrum für die gemeinsame Arbeit von ESRF, EMBL, ILL und IBS an Themen der Strukturbiologie werden sollte (ESRF Highlights, 2004, S. 2). Durch die Errichtung eines solchen Zentrums außerhalb ihres eigentlichen Standorts in Kollaboration mit anderen strategischen Partnern vergrößerte die ESRF sich nicht nur räumlich, sondern erweiterte auch ihre Kernaufgabe und schuf eine sichtbare Außenwirkung. Mit dem neuen Laborkomplex ging es nun nicht mehr ausschließlich um die Bereitstellung von Synchrotronstrahlung für eine große Bandbreite unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsfelder. Das neue Zentrum versorgte Nutzer:innen auch mit den nötigen Ressourcen und Infrastrukturen, um Proben vorzubereiten und unmittelbar an der ESRF messen zu können. Die ESRF begann sich durch die massiven finanziellen Investitionen und die Langfristigkeit des Vorhabens, immer stärker an den thematischen Kontext der Strukturbiologie zu binden.

4 Diskussion und Ausblick

Was hat die Organisationsform von Forschungseinrichtungen damit zu tun, wonach und wie dort geforscht wird und was dabei herauskommt? Dies ist die zentrale Fragestellung dieses Sammelbandes. Für die Fallstudie der ESRF kann die Frage nach dem Wonach? folgendermaßen beantwortet werden: Die organisatorische Struktur und das Selbstverständnis der ESRF als service facility gaben ihr genug Flexibilität, sich strategisch an geänderte politische Anforderungen und neue Forschungsinteressen und -techniken innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaften anzupassen. Das bedeutet einerseits, dass die Einrichtung einer gegebenen wissenschaftlichen Nachfrage folgte und sich dieser durch thematische, materielle und prozedurale Neuerungen anpasste. Andererseits kann auch argumentiert werden, dass ihr das Vorhandensein dieser Neuerungen auf lange Sicht eine dominierende Stellung innerhalb der europäischen Landschaft der Synchrotronstrahlungsquellen und der strukturbiologischen Forschung sicherte. Davon zeugt nicht zuletzt der 2009 an die Wissenschaftler:innen Ada Yonath, Venkatraman Ramakrishna und Thomas Steitz verliehene Chemie-Nobelpreis im Bereich der strukturbiologischen Forschung. Die Forschung von Yonath und Ramakrishna basiert maßgeblich auf Messungen an der ESRF (ESRF, 2009).

Der vorangegangene Beitrag erläutert organisatorische Erneuerungsfähigkeit am Beispiel des Aufstiegs der Strukturbiologie an der ESRF in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren. An der ESRF zeigte sich diese Entwicklung konkret an der gestiegenen Anzahl von Projektvorschlägen im Bereich der Strukturbiologie, ganz besonders mit Fokus auf die Nutzung von Röntgenkristallographie. Als Konsequenz lassen sich an der ESRF verschiedene organisatorische Neuerung beobachten, wie zum Beispiel die Einrichtung eines Gutachter:innenausschusses Macromolecular Crystallography oder die Einführung der block allocation für Strahlzeit im Bereich der Strukturbiologie. Diese Entwicklungen spiegeln klar das eingangs beschriebene Verständnis von organisatorischer Erneuerungsfähigkeit wider, nämlich die Fähigkeit thematische (Strukturbiologie), materielle (Strahllinienkomplex ID23, Labor- und Gebäudekomplex innerhalb der Partnerschaft für Strukturbiologie) und prozedurale (block allocation, Gutachter:innenausschuss Macromolecular Crystallography) Neuerungen innerhalb der Organisation der ESRF zu verankern. Die Neuerungen prägen auf diese Weise dauerhaft die Außenwirkung, das wissenschaftliche Programm sowie die materiellen Ressourcen der Einrichtung.

Einerseits wurde diese Entwicklung durch die Anpassung und Weiterentwicklung von bestehenden Technologien und Instrumenten gefördert. Denn erst in den 1980er Jahren wurde Synchrotronstrahlung zu einer bedeutenden Ressource für die Proteinstrukturanalyse innerhalb strukturbiologischer Forschung. Andererseits ist diese Entwicklung nicht auf den Fall der ESRF begrenzt, sondern bettet sich ein in eine globale Transformation lebenswissenschaftlicher Forschung und ihrer Methoden, Techniken und Organisation im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Die beschriebene Entwicklung an der ESRF war aus dieser Sicht auch eine Antwort auf die forschungspolitischen Trends in Europa, wie zum Beispiel die Priorisierung lebenswissenschaftlicher Forschung innerhalb nationaler Forschungsprogramme oder die Eröffnung oder Erneuerung nationaler Synchrotronstrahlungsquellen.