Kindheit ist mit der zunächst unscheinbaren Tatsache verbunden, dass wir alle als Kinder Kindheit erlebt und gestaltet haben. Kindheit ist somit ein von allen erwachsenen Menschen durchlaufener Lebensabschnitt und daher eine allumfassende, jeden betreffende Angelegenheit. […] Entwürfe von Kindheiten sind immer auch geprägt von sozialen und kulturellen Vorstellungen und gebunden an gesellschaftliche Strukturbedingungen. Das, was über Kinder gedacht, gesagt oder geschrieben wird, rekurriert also auf die historisch verorteten, biographisch erfahrenen und kulturell gegebenen Vorstellungen von und über die Kinder selbst. (Kaul, Schmidt & Thole, 2018, S. 1)

Dass die Bestimmung des Begriffs (früher) KindheitFootnote 1 keineswegs so deutlich – und schon gar nicht historisch überdauernd – ist, wie auf den ersten Augenblick vielleicht angenommen, zeigt sich spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Rückgriff auf die Analysen von Philippe Ariès (1984), der auf den erheblichen historischen Wandel von Kindheit(sverständnissen) verweist. Auch gegenwärtig scheint es nach wie vor nicht möglich zu sein, das Konzept (früher) Kindheit in seinem ontologischen Kern und seiner Konturierung klar zu bestimmen: „Im Alltagsgebrauch ist es unproblematisch, aber bei einer genaueren Definition und Klärung der Konzepte wird es doch schnell schwierig – wenn nicht sogar unmöglich“ (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 7). Rekurrierend auf Wittgenstein (1967, § 129; zit. n. Schmidt, 2018, S. 22) sind es allerdings genau jene Aspekte, die sich durch Einfachheit und Alltäglichkeit auszeichnen, welche (für die wissenschaftliche Analyse) von besonderer Bedeutsamkeit sind. Denn genau dann, wenn diese so scheinbar selbstverständlich ‚vor Augen sind‘ bleiben ihre Bedeutungen (unter der Oberfläche) oftmals verborgen – und dies gilt insbesondere auch für die ‚frühe Kindheit‘.Footnote 2

Die Klärung des Begriffs der Kindheit bzw. des Kindes wäre zu einfach, würde man der einfachen These Kind ist, wer kein Erwachsener ist folgen (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 7). Zwar sind Kinder und Kindheit relationale Kategorien, womit sie sich nicht ohne den Bezug auf Erwachsene oder Erwachsenheit bestimmen lassen (ebd.), zwar ist Kindheit nach Stein (2017, S. 43) ein chronologisches, auf Alter bezogenes Phänomen, aber „Kindheit ist vielmehr auch zeitgeschichtlich und kulturell bestimmt und definiert“ (ebd.) – und: Alter ist für sich bereits als „ein fundamentaler sozialer Tatbestand“ zu fassen (Honig, 1999, S. 178).

Auch wenn Kinder natürlich immer Bestandteil jeder Gesellschaft waren, ist die Kindheit als Betrachtungseinheit ein relativ neues Phänomen. Erst seit etwa der Renaissancezeit wird dieser Phase eine eigene qualitative Unterschiedlichkeit zur Phase des Erwachsenenlebens zugebilligt (Stein, 2017, S. 43).

Nach Ariès (1984) wird Kindheit (wie sie heute ‚verstanden‘ wird), in der Zeit der Renaissance ‚entdeckt‘ oder ‚erfunden‘. Kindheit stellt sich nicht als „Konstante naturgesetzlicher Art“ (Bramberger & Forster, 2004, S. 367) dar, sondern als „ein variables und tatsächlich historisch unendlich vielfältig variiertes, kulturelles Konstrukt“ (ebd.). Diese historische Veränderbarkeit von Kindheit zeigt sich bspw. in der kurzen Kindheit der entstehenden Moderne und der langen, beschützten Kindheit in aktuellen, westlichen Gesellschaften (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8).

Das vorliegende Kapitel dient einem kursorischen Einblick in vergangene (Abschnitt 2.1) und gegenwärtige Diskurse um (frühe) Kindheit (Abschnitte 2.2 bis 2.5) sowie deren Institutionalisierung (Abschnitt 2.6), wobei insbesondere Überlegungen aus den sog. childhood studies in den Fokus gerückt werden. Dabei wird keinesfalls der Anspruch verfolgt, das Phänomen in seiner Komplexität und Vollständigkeit theoretisch zu erfassen oder die vielfältigen Diskurse unterschiedlichster (Teil-)Disziplinen systematisch zu rekonstruieren. Es wird lediglich intendiert, einige Aspekte der breit geführten Debatte schlaglichtartig aufzugreifen, um daran in der empirischen Analyse – insbesondere in den Kapiteln 5 (Typenbildung) und 6 (Diskussion) anschließen zu können.

2.1 Ein historischer Blick auf (frühe) Kindheit

Mit dem Verweis auf einen historischen Blick auf (frühe) Kindheit sei der kursorische und ausschnitthafte Charakter der folgenden Ausführungen markiert. Insbesondere wird die Limitierung des hier eingenommenen ‚westlichen‘ Blicks bzw. das Sprechen aus der Perspektive des ‚globalen Nordens‘ angesprochen sowie auch die zeitliche Einschränkung der Darstellung, welche in erster Linie Entwicklungen zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert in Mittel-/Westeuropa nachzuzeichnen versucht.

Wie in der Einleitung des zweiten Kapitels schon erwähnt, ist die Kindheit nicht als etwas universell, unabhängig oder ‚natürlich‘ Gegebenes zu verstehen (Honig, 1999, S. 14). In Abgrenzung zum dominanten EntwicklungsparadigmaFootnote 3 erscheint sie im Kontext der sozialkonstruktivistisch inspirierten childhood studies (vgl. Abschnitt 2.3.2) vielmehr als ein in sozialen Prozessen hervorgebrachtes – auch: historisch gewordenes – Phänomen, das auf der Grundlage einer bedeutsamen Differenzierung von Kindern und Erwachsenen als gesellschaftliche Gruppen entfaltet wird (Prout & James, 2015, S. 8 ff.; Winkler, 2017, S. 10):

Ein solches Verständnis von Kindheit als soziale, kulturelle und historische Kategorie hat weitreichendes, in mancher Hinsicht geradezu revolutionäres Potential. Es widerspricht grundlegend der Selbstverständlichkeit, mit der wir dem Begriff der Kindheit normalerweise begegnen. Es problematisiert die Annahme, die Unterscheidung von Kindheit und Erwachsensein folge natürlichen Gegebenheiten und sei somit notwendig, universal und historisch konstant. Stattdessen geht die Kindheitsforschung davon aus, dass Kindheit ein soziales Konstrukt ist und damit kulturell und historisch variabel (Winkler, 2017, S. 10).

Aber: Nicht nur das Phänomen selbst, sondern auch der Blick, der sich hierauf richtet, ist historisch (sowie kulturell) gebunden. Damit wird Kindheit auf unterschiedliche Weise (re-)produziert, bearbeitet und bespielt (Kaul, Schmidt & Thole, 2018), sie zeigt sich im Kontext einer doppelten Historizität (Seichter, 2020, S. 19) bzw. doppelten Perspektivität (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 12). Dies bedeutet: Kindheit vollzieht sich nicht nur in spezifisch historisch-kulturellen Kontexten, auch die (wissenschaftliche) Perspektivierung ist als raum-zeitlich gebunden (Seichter, 2020, S. 19; Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, S. 12; Bühler-Niederberger, 2020, S. 10) und entsprechend als limitiert zu betrachten. Dies bedeutet schließlich auch: Wissenschaft rekonstruiert und konstruiert (frühe) Kindheit (Prout & James, 2015, S. 24).

Die historische Genese des Phänomens Kindheit wird im wissenschaftlichen Diskurs oftmals mit Begrifflichkeiten wie ‚Entdeckung‘ oder ‚Erfindung‘ verbunden und hiermit wird zumeist – implizit oder explizit – an das Werk L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime (dt.: Geschichte der Kindheit) des Historikers Philippe Ariés (1984Footnote 4) angeknüpftFootnote 5. Ariès vertritt die These, dass der Kindheit als Lebensphase bis ins Mittelalter kein gesellschaftlicher Platz zuteilwurde, sondern das Kind als „Minitaturerwachsener“ gedacht wurde (ebd., S. 92). Dies zeigt sich bspw. in künstlerischen Artefakten, die auf eine Weigerung hindeuten, die spezifische Morphologie des Kindes abzubilden. Und dies legt wiederum „den Gedanken nahe, daß die Kindheit nicht nur in der ästhetischen Darstellung, sondern auch in der Lebenswirklichkeit eine Übergangszeit war, die schnell vorüberging und die man ebenso schnell vergaß“ (ebd., S. 93).

Kindheit ist nach Ariés nicht als statisch, sondern als historisch wandelbar zu begreifenFootnote 6. Sie bildete sich erst ab dem 17. Jahrhundert in zunehmender Differenz zur Erwachsenheit aus und erscheint somit nicht (mehr) als „Konstante naturgesetzlicher Art, sondern [als] ein variables und tatsächlich historisch unendlich vielfältig variiertes, kulturelles Konstrukt“ (Bramberger & Forster, 2004, S. 367).

Die mittelalterliche Gesellschaft, die wir zum Ausgangspunkt gewählt haben, hatte kein Verhältnis zur Kindheit; das bedeutet nicht, daß die Kinder vernachlässigt, verlassen oder verachtet wurden. Das Verständnis für die Kindheit ist nicht zu verwechseln mit der Zuneigung zum Kind; es entspricht vielmehr einer bewußten Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit, jener Besonderheit, die das Kind vom Erwachsenen, selbst dem jungen Erwachsenen kategorial unterscheidet. Ein solches bewußtes Verhältnis zur Kindheit gab es nicht (Ariès, 1984, S. 209).

Die Frage „nach einer big-bang-theory der Kindheit, also nach einem historischen Anfangspunkt“ (Winkler, 2017, S. 22; Hervorhebung lt. Original) ist im Sinne einer unterstellten ‚Entdeckung‘ von Kindheit – anzuzweifeln, wenn davon ausgegangen wird, dass sich Kindheit im historischen Verlauf als vielfältig und komplex (vs. linear und teleologisch) realisiert. So ist KindheitsgeschichteFootnote 7 nicht nur eine „Geschichte von Kindern“ (ebd., S. 12), sondern eine „neue, innovative und unverzichtbare Perspektive auf Kultur- und Gesellschaftsgeschichte überhaupt“ (ebd.), da die „Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle Kinder in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen spielen und welche Position ihnen zugeschrieben wird“ zu einem fundamental veränderten Gesellschaftsverständnis führen kann (ebd.).

Auch Honig (1999, S. 18; 2010, S. 336) problematisiert den Zeitpunkt der ‚Entdeckung‘ der Kindheit. So stellt er die grundlegende (Schwierigkeit der) Annahme zur Disposition, dass Kindheit erst in den letzten Jahrhunderten „entdeckt“ oder „erfunden“ worden sei. Zwar lagen Interesse und Aufmerksamkeit in der Antike und im Mittelalter stärker bei den Erwachsenen, als bei den Kindern (und Jugendlichen). Inwiefern und in welchem Ausmaß hier ein Verständnis von Kindheit als Lebensphase angelegt ist, ist jedoch nicht abschließend geklärt (ebd., 1999, S. 18). Weiters schreibt Honig (2010, S. 336) der Benennung eines historischen Anfangspunkts geringe(re) Relevanz zu, als entscheidend markiert er hingegen die Bedeutung des Kindheitsbegriffs als Differenz markierend:

Entscheidend ist daher nicht, wann die Kindheit entdeckt oder erfunden wurde, entscheidend ist vielmehr die Unterscheidung, die Ariès mit seiner These von der ‚Entdeckung der Kindheit‘ zwischen jungen Menschen – den Neulingen der Gesellschaft – und ihrer Attribuierung als Kinder trifft. Eine solche Unterscheidung versteht ‚Kind‘ als Zuschreibungsprädikat, vergleichbar den Prädikaten ‚männlich‘ vs. ‚weiblich‘ oder ‚weiß‘ vs. ‚schwarz‘ (ebd.).

Im Hinblick auf die historische Entwicklung von Kindheit weisen Blaschke-Nacak, Stenger und Zirfas (2018, S. 13) darauf hin, dass (hier: aus anthropologischer wie historischer Sicht) davon auszugehen ist, dass „die These, dass es ‚Kinder‘ und ‚Kindheit‘ immer und überall gegeben habe, nur dann zu[trifft], wenn darunter kein professionelles (pädagogisches) Wissen und keine systematischen Modelle von Kindheit und Kindern verstanden werden“. Einen Zugang zur historischen Genese stellen begriffliche bzw. etmyologische Überlegungen dar. In diesem Kontext sei auf zwei Aufsätze verwiesen, die einen heterogenen Zugriff auf Begrifflichkeiten markieren. Einerseits existierten nach Blaschke-Nacak, Stenger und Zirfas (2018, S. 13 ff.) in der griechischen und römischen Antike spezifische Begrifflichkeiten, die Hinweise zur Annahme offerieren, dass es in Antike (und Mittelalter) eine Vorstellung von Kindheit als Lebensphase gab, die sich von jener der Erwachsenheit (und Jugend) unterschied: bspw. pais (griech.: Kind) oder paideia (griech.: Kindheit) bzw. infans (lat.: Kleinkind), liberi lat.: Kinder) sowie puerita (lat.: Kindheit) (ebd.). Nach Alanen (2022, S. 4) kann hingegen von ‚fehlenden‘ Begrifflichkeiten in der griechischen Antike ausgegangen werden: „in the ancient Greek language, there were many words for ‚child‘ but no word for ‚childhood‘“. Im Hinblick auf die römische Antike greift Alanen infantia heraus, was sie (ins Englische) mit „lack of voice“ übersetzt und auf eine juristische Bedeutung hinweist, die jedoch in keinem direkten Zusammenhang mit (realen) Kindern steht. Aus jener – quasi zentralen – Begrifflichkeit lassen sich wiederum Termini in (lebenden) romanischen Sprachen wie Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch ableiten (ebd.).

Neben Philippe Ariés bemühten sich auch andere Wissenschafter:innen unterschiedlicher Disziplinen, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darum, die (westliche) Geschichte der Kindheit zu schreiben bzw. jene nachzuzeichnen, kamen dabei jedoch zu unterschiedlichen, zum Teil überlappenden, zum Teil auch einander diametral gegenüberstehenden Ergebnissen. Herauszuheben sind hierbei insbesondere die Werke The history of childhood (dt.: Hört ihr die Kinder weinen) von Lloyd deMause (1992Footnote 8) und The Disappearance of Childhood (dt.: Das Verschwinden der Kindheit) von Neil Postman (1986Footnote 9). Während die Geschichte der Kindheit bei Philippe Ariés (1984) als Verfallsgeschichte erscheint, da Kindheit von einem zunehmendem Verlust von Freiheit – gründend in einer zunehmenden Differenzierung von Erwachsenen und Kindern resp. generationaler Sphären – betroffen sei, tendiert Lloyd deMause (1992) zur Erzählung einer Fortschrittsgeschichte, die sich vornehmlich durch eine sich wandelnde Eltern-Kind-Beziehung auszeichnet. Jene zeige sich im historischen Verlauf als zunehmend enger, bedürfnisorientierter und weniger gewaltvoll – kurz (und normativ) zusammengefasst: als zunehmend adäquaterFootnote 10. Ergänzen ließe sich mit Verweis auf Neil Postman (1986) eine Geschichte des Verschwindens von Kindheit, begründet durch einen steigenden Erfahrungsverlust, welcher u. a. in der erheblichen Präsenz von Medien – insbesondere des Fernsehens – gründeFootnote 11.

Im Kontext historischer Kindheitsforschung verweist Winkler (2017, S. 22) auf die Nähe zur dark legend und white legend: Die These der dark legend geht davon aus, dass sich Kindheit im historischen Verlauf vor dem Hintergrund von Gewalt realisiert, es jedoch eine positive, langsam und linear verlaufende Entwicklung hin zu einer „liebevollen Kindheit“ gebe (ebd., S. 22 f.). Die white legend versteht sich als Gegenthese, sie leugnet zwar keine gewaltvollen Handlungen in der Vergangenheit, wendet sich aber gegen pauschalierende Vorstellungen eines „gewaltsamen Mittelalters“ und plädiert für historische KontextualisierungenFootnote 12 (ebd., S. 22 ff.).

Nach Honig (1999, S. 19) sind – bezugnehmend auf Ariés – die Erzählungen über die Entdeckung von Kindheit nicht ohne dem gegenwärtigen Motiv einer Parteilichkeit für KinderFootnote 13 zu denken: Die Verhandlung der historisch sich wandelnden kindlichen Freiheit sowie die unterschiedlich sich realisierende elterliche Zuwendung zu ihren Kindern verweisen auf ein zeitgenössisches und zugleich verklärtes Ideal von Familialität bzw. auf normativ-romantisierte Vorstellungen von Eltern-Kind-Beziehungen (ebd.). Schließlich rückte die Kindheit im historischen Verlauf „als die bedeutsamste, weil grundlegende Zeit der Formung des Menschen in den Blick“ (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 15).

Auch Winkler (2017, S. 20) weist auf die „besondere emotionale Bindung und eine Begeisterung für das ‚Entzückende‘, das ‚Niedliche‘“ hin, welche dem Kind – anschließend an die nunmehrige Differenzierung der Generationen – zugeschrieben wird. Bezugnehmend auf den historischen Kontext der aufkommenden Epoche der Romantik scheint dieses ‚sentimentalistische‘ Kindheitsbild – also jenes, das „das unschuldige Kind als kulturelles ‚Ideal‘ stilisierte“ – eine logische Konsequenz zu sein (Lindner, 2014, S. 43). In diese Zeit fallen diverse Auseinandersetzungen mit Kind, Kindheit und Erziehungsvorstellungen, bspw. in der Literatur bei Friedrich Schiller oder in der Pädagogik bei Friedrich Fröbel. So wird die Kindheit bei Fröbel gar als „Paradies“ verherrlicht (ebd., S. 43 f.).

Das im 17. Jahrhundert aufkommende bzw. zunehmende Interesse ist somit nicht als ‚unabhängig‘ zu konstatieren, sondern in gesellschaftliche Ordnungs- und Wandlungsprozesse eingebunden. Die Umbrüche jener Zeit artikulieren sich im Kontext der Industrialisierung (Steinberger, 2020, S. 271), konkreter: u. a. in der Entstehung der industriellen Produktionsweise, dem Zerfall der ständischen Gesellschaft und dem säkularen Fortschrittsdenken im Projekt der Aufklärung sowie in der veränderten familiären Ordnung (Liegle, 2002, S. 57), welche sich vom (mittelalterlichen) Haus hin zur modernen KleinfamilieFootnote 14 entwickelt (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 15; Winkler, 2017, S. 20). Hiermit ist mit Bühler-Niederberger (2020) auf ein sich zunehmend ausbildendes Muster langer, behüteter Kindheit als Element sozialer Ordnung zu verweisen, das „höchst selbstverständlich als einzig richtige Art des Aufwachsens erachtet“ wird (ebd., S. 16):

Eine lange, behütete Kindheit ist ein ‚normatives Muster‘, […] gemeint ist damit, dass es eine recht enge Vorstellung von Kindheit gibt, an der sich Handlungen und Entscheidungen in Bezug auf einzelne Kinder und auf Kindheit als Institution mit großer Selbstverständlichkeit orientieren. Nur Kindheiten, die diesem Muster entsprechen, gelten als gute Kindheiten; es ist aber zum Teil eben erst diese Bewertung – und die damit stets verbundene Abwertung anderer Muster des Aufwachsens – die der favorisierten Kindheit auch zu der Qualität verhilft, die sie dann faktisch […] hat (ebd., S. 10 f.).

Kindheit erscheint in einem zunehmend bürgerlich geprägten Verständnis nunmehr als behütete Kindheit; und zwar im Sinne einer Familienkindheit, welche bis in die Gegenwart ihre Wirkmächtigkeit entfaltet und eine spezifische Normalität markiert (Bütow & Schär, 2016, S. 18; Bütow & Holztrattner, 2022, S. 29). Etwa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfährt Kindheit in diesem Kontext eine nie zuvor dagewesene Aufmerksamkeit:

Kindheit besitzt nun einen eigenen sozialen, gesellschaftlichen und gleichsam allgemeingültigen Status und sie wird – das ist entscheidend – als eine ‚eigenständige und von der Erwachsenenwelt unterschiedene Lebensphase‘ konstituiert (Bramberger & Forster, 2004, S. 368; Hervorgehobenes zit. n. Rathmayr, 1988, S. 13).

Bezugnehmend auf Elias sowie Richter setzt Honig (1999, S. 22 f.) die Geschichte der Kindheit in Beziehung mit dem Prozess der Zivilisation: „In der Kontinuität des zivilisationsgeschichtlichen Prozesses stecken […] wesentliche Elemente der Diskontinuität, des Bruchs. ‚Kind‘ und ‚Erwachsener‘ treten in ein polares zugleich aber auch interdependentes Verhältnis“ – und diese Trennung bzw. Dichotomisierung führt zur Annahme des Kindes als „noch nicht fertig[en]“ (ebd.) Wesens, als (Noch-)Nicht-Erwachsenen und zugleich Fremden, das – so die Schlussfolgerung – erzogen werden muss. Hierin ist ein Grundgedanke angelegt, der in pädagogischen Auseinandersetzungen auf vielfältige Weise bearbeitet wurde und wird. Dabei wird insbesondere der Zusammenhang zwischen generationaler und pädagogischer Differenz sichtbar (vgl. auch Abschnitt 2.4.2), der schließlich zur „Institutionalisierung des Generationenverhältnisses in Familie und Schule“ (ebd., S. 24) führt und mit dem Familialisierung und Scolarisierung als die beiden Prozesse angelegt sind, die das moderne Kindheitskonzept bis in die Gegenwart entscheidend prägen (Ariès, 1984; Bollig, Betz & Joos, 2018; Deckert-Peaceman, 2022; Mierendorff, 2014).

Von einer bestimmten Periode an […], endgültig und unabweisbar jedoch jedenfalls seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich in der Verfassung der Lebensformen, die ich analysiert habe, ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Er läßt sich von zwei unterschiedlichen Ansatzpunkten her begreifen. Die Schule ist als Mittel der Erziehung an die Stelle des Lehrverhältnisses her getreten. Das bedeutet, daß das Kind sich nicht länger einfach nur unter die Erwachsenen mischt und das Leben direkt durch den Kontakt mit ihnen kennenlernt. Mancherlei Verzögerungen und Verspätungen zum Trotz ist das Kind nun von den Erwachsenen getrennt und wird in einer Art Quarantäne gehalten, ehe es in die Welt entlassen wird. Diese Quarantäne ist die Schule, das Kolleg. Damit beginnt ein langer Prozeß der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten) der bis in unsere Tage nicht zum Stillstand kommen sollte und den man als ‚Verschulung‘ (scolarisation) bezeichnen könnte (Ariès, 1984, S. 47 f.).

Wie bereits angerissen: Die Eigenständigkeit (bzw. Andersartigkeit), mit der Kindheit nun als von der Erwachsenheit abgegrenzte Lebensphase betrachtet wird, führt erstens zur Idee, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und somit zweitens einer spezifischen Bildung und Erziehung bedürfen (Stein, 2017, S. 44). Nach Honig (1999, S. 21) kristallisieren sich in aufkommenden und sich transformierenden Kindheitsbildern reflexive Praktiken und „eine der wichtigsten dieser Praktiken ist als ‚Erziehung‘ kulturell normiert und institutionalisiert“ (ebd.). Entsprechend sind auch der Wandel von Erziehungspraktiken und das Entstehen neuer Erziehungsvorstellungen und pädagogischer KonzepteFootnote 15 in diesen zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen (Winkler, 2017, S. 13; Zinnecker, 2000, S. 40).

Im Hinblick auf die Scholarisierung bzw. Institutionalisierung von Kindheit im historischen Verlauf sei auf zwei Aspekte besonders hingewiesen. Erstens konstatieren Prout und James (2015, S. 14) – bezugnehmend auf Ariés – eine veränderte Adressierung: Sind es erst sozial privilegierte Familien, die über die Ressourcen zur Inanspruchnahme von institutionellen (Bildungs-)Angeboten verfügen und die die Möglichkeit realisieren können, „time and money for ‚childhood‘“ zu investieren; so erweitert sich die ‚Zielgruppe‘ zusehends, angesprochen sind zunehmend ‚alle‘ Kinder: „Childhood became institutionalized for all“ (ebd.).

Zweitens erfährt die These von Kindheit als einem Schutz- und Schonraum (Mierendorff, 2013, S. 59) oder als einem pädagogischem Moratorium (Zinnecker, 2000; Andresen 2016b, S. 24 ff.) seine (erste) Konturierung. Wird Kindheit als pädagogisches Moratorium verstanden, so bedeutet dies eine „spezifische, lebensgeschichtliche ‚Auszeit‘ für die Jüngeren […], sichtbar gemacht in ausgewiesenen Zeiten, Statuspositionen und Diskursen“ (Zinnecker, 2000, S. 37). Diese hergestellte ‚Auszeit‘ meint wiederum einen „Rückzug auf Zeit aus bestimmten Verpflichtungen und Teilhaben der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd.). Sie soll eine Vorbereitung der Mündigkeit ermöglichen, welche eine unabhängige Teilhabe in der Gesellschaft bzw. ihrer Teilsysteme eröffnet. Das pädagogische Moratorium ist in seiner Anlage auf einen bestimmten Zeitraum befristet – und diese Limitierung impliziert schließlich eine „Entthronung“ der pädagogischen Generation (ebd.). Diese normative Idee eines raum-zeitlichen Moratoriums ist jedoch von grundlegender Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gekennzeichnet: „Schutz beispielsweise kann grundsätzlich unterschiedlich konnotiert sein, Integrität ebenso fördern wie Paternalisierung ermöglichen […]. Insofern gehört zu den neueren Herausforderungen der Forschung die Annäherung an die Vulnerabilität von Kindern ohne deren Streben nach Autonomie auszublenden“ (Andresen, 2016b, S. 24 f.; vgl. auch Qvortrup, 2015). Wie bereits – mit Bezug auf die doppelte Historizität bzw. Perspektivität – ausgeführt, ist (historischen und gegenwärtigen) Forschungsbemühungen eine beachtenswerte Konstruktionsleistung inhärent. So weist Seichter (2020, S. 15) etwa problematisierend auf den normativ-normalisierenden Blick wissenschaftlicher Bemühungen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hin, denen „auch die Möglichkeit des Verfügens über Kinder und die Gefahr ihrer Vergegenständlichung inne[wohnt]. Pädagogische Forschung am Gegenstand Kind führt unausweichlich zu einer Pädagogisierung von Kindheit und äußert sich besonders in den Spannungsfeldern von Selbst- und Fremdbestimmung sowie von Emanzipation und Unterwerfung“ (ebd.).

Das Kind bzw. die Kindheit stehen nicht nur im Fokus unterschiedlicher wissenschaftlicher (und anderer gesellschaftlicher Akteur:innen), sie werden als das ‚Andere‘ zum Erwachsenen bzw. zur Erwachsenheit auch vielschichtig mit Attributen bespielt (vgl. auch Abschnitt 2.2).

Insbesondere moderne Gesellschaften orientieren sich in sehr intensiver und komplexer Weise ‚am Kind‘. Aus postkolonial inspirierter Perspektive kann man dabei ‚das Kind‘ als Konstruktion eines ‚Anderen‘ identifizieren, als Folie, von der sich die moderne, normale, mündige – und vor allem: erwachsene – Gesellschaft abhebt. Dass dieser Dualismus seit wenigen Jahrzehnten wieder zur Disposition steht, macht die Angelegenheit nur noch vielschichtiger und interessanter. Historisch wurde ‚das Kind‘ dabei mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften belegt. Die Bandbreite reicht hier von ‚fundamental böse und mit der Erbsünde beladen‘ über das ‚weiße Blatt‘, das dem Erziehungsberechtigten unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeiten bietet, bis hin zum Ideal von Unschuld und Güte (Winkler, 2017, S. 12).

Ausgehend von einer tiefen Verwobenheit zwischen Kind(heits)bildern und Erziehungsvorstellungen realisiert sich auch eine Transformation erzieherischer Ideen: Das traditionelle erzieherische Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen kehrt sich im sog. Jahrhundert des Kindes ideengeschichtlich um und Kindheit wird eine erhebliche Aufmerksamkeit zuteil. Damit ist auf Ellen Key und auf die heterogen ausgestaltete reformpädagogische BewegungFootnote 16, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwiesen (Bramberger & Forster, 2004, S. 366; James & Prout, 2015b, S. 1). Nach Prout und James (2015, S. 7 f.) ist das 20. Jahrhundert zudem vom Aufbau eines erheblichen Wissensbestandes resp. der Ausdifferenzierung theoretischer Überlegungen und empirischer Befunde gekennzeichnet:

[…] ‘the century of the child’ can be characterized as such precisely because of the massive corpus of knowledge built up by psychologists and other social scientists through the systematic study of children. If the concept of childhood as a distinct stage in the human life cycle crystallized in the nineteenth century western thought, then the twentieth century has seen that theoretical space elaborated and filled out with detailed empirical findings.

Der vorliegende historische Abriss intendierte lediglich das kursorische Nachzeichnen ausgewählter Entwicklungen in Geschichte(n) der Kindheit(en). Geschlossen wird dieser Abschnitt mit einem Zitat der Soziologin Doris Bühler-Niederberger (2020), welches einen (epochen)übergreifenden Blick auf das Phänomen (‚guter‘) Kindheit erlaubt bzw. es abschließend im Kontext eines normativen Musters zu systematisieren versucht:

Am Ende der hier auszugsweise erzählten Geschichte steht die lange und behütete Kindheit in Schule und Elternhaus als normatives Muster und als soziale Realität. Diese Art der Kindheit kann aus historischer Perspektive als Konstruktion sozialer Ordnung erkannt werden: Es sind die Einsichten in die Akteure, Argumente und Leistungen, die hinter der Konstruktion standen, die diese Einschätzung rechtfertigen. Das Kindheitsmuster ist ausgerichtet auf die zentralen Probleme moderner sozialer Ordnung: die Herstellung des erwünschten Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft – und dies in einer gesellschaftlichen Ordnung, die zunehmend auf den Einzelnen und seine innere Disziplin setzt. Stets gingen dabei die Bemühungen, ‚gute Kindheit‘ zu schaffen, einher mit der Stigmatisierung ‚schlechter‘, ungenügender Kindheiten, mit der realen Abwertung und Ausgrenzung von Lebensmustern und der Menschen, die sie – gewollt oder gezwungenermaßen – praktizierten. Eine ‚gute Kindheit‘ ist nicht einfach ein individuelles Glückserlebnis – und ob sie das sei, hat die Protagonisten der Öffentlichkeit, die sich für sie einsetzten, sicher nicht vorrangig interessiert. Sie ist vielmehr ein wichtiges Element gesellschaftlicher Anerkennung geworden: für die Eltern, die sie ihren Kindern bieten, für die Kinder, die sie genossen haben, und für die ganzen Bevölkerungsgruppen, die ihre Lebensmuster entsprechend gestalten. Es ist zunächst das Bürgertum des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert sind es die Angehörigen der sogenannten Mittelschicht, die diesen Anspruch aufgreifen. In dieser Weise ist dieses Muster der Kindheit auch ein zentrales Element in der Begründung und Legitimation der sozialen Statusverteilung in der Gesellschaft geworden. Was die Eltern an Sorge und Aufwand in die Kinderstube investieren, trägt Früchte: Es führt zum legitimen gesellschaftlichen Erfolg der Kinder. […] Dennoch dienen die ‚gute Kindheit‘ und die davon deutlich abgesetzte und kritisierte ‚schlechte Kindheit‘ als Legitimationsmuster in gesellschaftlichen Diskursen und als Kriterium für Entscheidungen (Bühler-Niederberger, 2020, S. 131).

2.2 Kindheitsforschung – Erforschung von (früher) Kindheit

Wie bereits erläutert, können das KonstruktFootnote 17 ‚(frühe) Kindheit’ sowie das wissenschaftliche Interesse am Gegenstand selbst, resp. die Praktiken der Erforschung von Kindheit, nicht aus ihren jeweiligen historischen und kulturellen Kontexten herausgelöst werden, da sie von jenen maßgeblich (mit)bestimmt werden (vgl. Abschnitt 2.1). Aufgrund der doppelten Perspektivität (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 12) ist die Kindheitsforschung selbst in die Herstellung von (früher) Kindheit involviert (Eßer, Neumann & Siebholz, 2013, S. 88; Kerle, Hartmann & Cloos, 2024, S. 211; Prout & James, 2015, S. 24) und daher auf eine besondere Reflexivität verwiesen.

Nach Honig (1999, S. 31) lässt sich das Nachdenken über die Frage, „was ein Kind ist“, in der sog. ‚abendländischen Tradition‘ bis in die Antike zurückverfolgen:

Es knüpft an die offensichtlichen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen in körperlicher, moralischer und sexueller Hinsicht an und entwickelt daraus Vorstellungen über die menschliche NaturFootnote 18. Im Zeitalter der Aufklärung bildet sich in dieser Tradition eine pädagogische Anthropologie heraus; sie ist als Rechtfertigung von ‚Pädagogik‘ und ‚Bildung‘ zu verstehen […]: ‚Kinder‘ werden zu ‚Menschen, die erzogen werden müssen‘. Für das Erziehungsdenken der Moderne sind die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern und die Begründung eines Eigenrechts der Kindheit konstitutiv (ebd.).

Die empirische Erforschung des Kindes geht zurück auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, welche als ein internationales Phänomen einordenbar ist. Eine exponierte Rolle nahm hier die Disziplin der Psychologie ein, was sich u. a. an der Entwicklung einer eigenständigen Kinderpsychologie zeigt (Heinemann, 2016, S. 30 f.; Prout & James, 2015, S. 8):

It is therefore predominantly developmental psychology which has provided a framework of explanation of the child’s nature and indeed justified the concept of the naturalness of childhood itself. During this period however, alternative voices have been raised in the ideologies of populist movements and from changing paradigms within the social sciences. But for a long time these have gone unremarked and unheard, or, indeed, have been silenced (Prout & James, 2015, S. 8).

Über lange Zeit hinweg galt das Interesse ‚der‘ Kindheitsforschung jedoch nicht den Kindern selbst, ihren Lebenswelten wie -bedingungen, und schon gar nicht ihrer Perspektive (Bühler-Niederberger, 2020, S. 10). Vielmehr war die Kindheitsforschung über die lange Zeit ihrer historischen Genese von der Fokussierung eines wissenschaftlichen, erwachsenen Blicks auf Kindheit geprägt. Damit war die Erwartung verbunden, durch die Erforschung von Kindheit menschliche Entwicklung begreifbar machen zu können (Heinemann, 2016, S. 31). Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Gedanken früherer Kindheitsdiskurse aufgegriffen – so auch die idealisierenden Momente eines romantizistischen bzw. naturalistischen Kindheitsbegriffs (ebd., S. 32). Erst etwa seit den 1990-er JahrenFootnote 19 wurde zunehmend gefordert, diesem (einseitigen) Blick kritisch zu begegnen und Kinder, so sie als handlungsfähige Subjekte bzw. Akteur:innen gefasst werden, in Forschungsbemühungen miteinzubeziehen (Alanen, 2005, S. 67; Bock, 2014, S. 283 f.; Büker, Hüpping, Mayne & Howitt, 2018; Christensen & Prout, 2002, S. 480 f.; Menzel, 2022) bzw. „ihre eigenen Sichtweisen systematisch zur Geltung zu bringen“ (Andresen & Neumann, 2018, S. 37). Hinter diesem Anliegen steht eine Kritik an einem „ideologischen (Erwachsenen-)Standpunkt gegenüber Kindern und Kindheit“ (Alanen, 2005, S. 67), woraus die normative Forderung resultiert, das Kind (die Kindheit) nicht (mehr) am Maßstab des Erwachsenen (der Erwachsenheit) zu beurteilen (Heinemann, 2016, S. 33).

Vor diesem Hintergrund sind zahlreiche Forschungsprojekte entstanden, die sich durch die bewusste Entscheidung auszeichnen, Kinder nicht (nur) zu beforschen, resp. nicht (lediglich) über sie zu forschen, sondern Forschungsprozesse ko-produktiv mit ihnen anzulegen (bspw. Haude, Sitter, Eßer & Schröer, 2021; Hüpping & Velten, 2023). Kinder wurden zusehends weniger als (passive) Reproduzent:innen (vgl. Kind als becoming, bspw. Baader, 2018a; Bollig, 2018a; 2020), sondern zunehmend als handlungsmächtige, autonome Akteur:innen (vgl. Kind als being, bspw. Baader, 2018a; Bollig, 2018a; 2020) ins (Forschungs-)Licht gerückt (vgl. Abschnitt 2.5.2).

The emergence of children as social actors (or participants and co-researchers), however, has significantly changed the position of children within the social and cultural sciences. It has contributed to a weakening of taken-for-granted assumptions and ideas about children that still pervade the field as a whole. That children themselves have a voice in matters from which they were once excluded has added new complexities and uncertainties to the research process by interposing a new actor and thus a new set of social relations into the field (Christensen & Prout, 2002, S. 482).

Insbesondere Forschungsprojekte mit partizipativen Ansätzen holen Kinder seither explizit „ins Boot“ (Bütow, Reicher & Sting, 2021, S. 7; Büker et al., 2018, S. 110 ff.; von Unger, 2014, S. 1 ff.)Footnote 20, wobei der Grad der Involviertheit, der Teilnahme- und Teilhabemöglichkeiten erheblich variiert (Büker et al., 2018, S. 111 ff.). Obwohl sich Kindheitsforschung nach wie vor als Forschung über Kinder kennzeichnet, so lässt sie sich zunehmend auch als Forschung mit Kindern verstehen – und (zumindest vereinzelt) als Forschung von Kindern (Bock, 2014, S. 282 ff.; Mey & Schwentesius, 2019, S. 34).

Mit diesen Partizipationstendenzen – die normativ aufgeladen „zu einem neuen Gold Standard der Kindheitsforschung avanciert zu sein“ (Hüpping & Velten, 2023, S. 176) scheinen – gehen auch erhebliche Herausforderungen einher, welche einer kritischen methodisch-methodologischen sowie forschungsethischen Reflexion bedürfen (Christensen & Prout, 2002, S. 476 ff.; Eßer & Sitter, 2018, S. 3; Hüpping & Velten, 2023, S. 176). So ist bspw. zu fragen, ob es des Einsatzes ‚kindgerechter Methoden‘ bedarf – und wenn ja, auf welche Weise diese ausgestaltet werden können –, wie mit der generationalen Ordnung und seiner Einlagerung in hierarchische sowie asymmetrische Sorge- und Herrschaftsbeziehungen in diesem Kontext umzugehen sei und wie – vor dem Hintergrund partizipativer Ansprüche – Kompetenz- und Ressourcenunterschieden bzw. der Differenz von Laienschaft und Expert:innenschaft begegnet werden kann (Eßer & Sitter, 2018, S. 3 ff.; Eunicke, Mickats & Glotz, 2023, S. 2 ff.; Hunger, Zander, Zweigert & Schwark, 2019, S. 174 f.; Mey & Schwentesius, 2019, S. 5 f., S. 30 f.; Punch, 2002, S. 1 ff.; Sünker & Bühler-Niederberger, 2020, S. 50; von Köppen, Schmidt & Tiefenthaler, 2021, S. 226).

Eine zentrale Problematik, Perspektiven von Kindern zu erfassen, lässt sich im Kern des Anspruchs selbst verorten: Ausgehend von der oftmals geäußerten Kritik eines erwachsenen Blicks auf Kindheit, folgten Forschungsvorhaben der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zunehmend dem Versuch, Perspektiven von Kindern – im Sinne einer Forschung vom Kind aus – zu fokussieren und entlang dieses Interesses Forschungsmethoden auszurichten.

Forschung ‚vom Kind aus‘ bedeutet, Kindern zu ermöglichen, ihr begrifflich-theoretisches Wissen zum Ausdruck zu bringen, ihr explizites Wissen, ihre Konzepte, Einschätzungen und Deutungen zu formulieren. Darüber hinaus muss sie ihnen aber auch und vor allem die Chance eröffnen, ihr implizites Erfahrungswissen zur Sprache zu bringen – die narrativen Interessen und Kompetenzen von Kindern entfalten sich, wenn sie sich an konkrete, selbst erlebte Situationen erinnern und davon zu erzählen beginnen. Schließlich muss eine an den Kindern orientierte Forschung diesen die Chance geben, sich mit ihrem Körper und im praktischen Tun sowie in der Interaktion mit anderen auszudrücken. Hier greifen sie ebenfalls auf weitgehend implizite, inkorporierte Wissensbestände zurück. Neben den verbalen, am Gespräch orientierten Forschungsmethoden, sind also auch methodische Zugänge erforderlich, die das Performative, d.h. den schöpferischen Charakter, die Körperlichkeit, Bildhaftigkeit, Expressivität und Theatralität kindlich-sozialer Situationen explizit berücksichtigen (Nentwig-Gesemann, Walther & Thedinga, 2017, S. 14).

Mit Blaschke-Nacak, Stenger und Zirfas (2018, S. 13) lässt sich jedoch kritisch fragen, inwieweit es überhaupt gelingen kann, ‚den‘ kindlichen Blick einzufangen. Die Setzung, dass Erwachsene nicht ohne Weiteres die Perspektive wechseln und die Welt quasi (wieder) ‚aus Kinderaugen‘ sehen können, zeigt sich zugleich als banal sowie als höchst folgenreich. So bedingt sie, dass die Idee, kindliche Perspektiven einzunehmen, nicht oder zumindest nicht unmittelbar und erschöpfend, eingelöst werden kann (Butschi & Hedderich, 2021, S. 34 ff.).

Wenn es aber nicht gelingen kann, die Perspektive der Kinder einzunehmen, können wir uns dann damit begnügen, nur referentielle Theorien zu entwickeln, um uns dem Gegenstand [einer Pädagogischen Anthropologie] der Kindheit anzunähern? (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 13)

Kindheit vollzieht sich immer innerhalb der generationalen Ordnung (vgl. Abschnitt 2.4.1): Da Kinder Erwachsenen zugleich vertraut und fremd sind, können Erwachsene „nie tatsächlich die kindliche Perspektive rekonstruieren, einer ‚natürlichen‘, durch Erwachsene unbeeinflussten Kinderkultur nicht wirklich begegnen“ (Deckert-Peaceman, 2020, S. 317). Aufgrund ihrer Konstituiertheit als stabiles und machtvolles Instrument der Herstellung und Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen kann und soll generationale Ordnung – auch in Forschungsprojekten – nicht einfach übergangen werden, wenn jene zum Gegenstand einer kritisch-reflexiven Analyse gemacht werden. Im Kontext der Kindheitsforschung zeichnen sich die Relationen zwischen Forschenden und Kindern, über generation hinaus, außerdem noch durch eine weitere Differenzdimension aus: Erwachsene Forschende sind erwachsen und forschendFootnote 21 – und Kinder sind beides nicht (Mey & Schwentesius, 2019, S. 29), was wiederum spezifische (Re-)Positionierungen und (Re-)Adressierungen impliziert und eine doppelte Fremdheitsrelation zwischen erwachsenen Forschenden und Kindern provoziert.

Das nicht-unmittelbare-einnehmen-können kindlicher Perspektiven muss aber nicht notwendigerweise eine Abkehr vom Gegenstand bedeuten. In Rückgriff auf poststrukturalistische und postkoloniale Ansätze, die die Bedeutung von voice (giving) hervorheben, kann gerade gegenteilig argumentiert werden, sich diesem zuzuwenden: Denn im (nicht) sprechen dürfen und können vs. (nicht) schweigen (müssen) artikuliert sich ein beachtliches Machtverhältnis (Cooper, 2023, S. 72; Machold, 2015, S. 152). Ein Ausblenden kindlicher Perspektiven aus Gründen der Uneinnehmbarkeit im Kontext generationaler Ordnung bzw. doppelter Fremdheitsrelation im Forschungsprozess würde ein – erneutes und ausschließliches – sprechen-über (von erwachsenen Forschenden über Kinder) bewirken, das die Asymmetrie im generationalen Machtgefüge nicht weiter reflexiv bearbeitet, sondern (implizit) verstärkt (Christensen & Prout, 2002, S. 483).

The task of the social scientist is to work for the right of people to have a voice and to be heard. In the case of children, ‚age’ is perhaps one of the most dominant factors used to discriminate against children being heard and listened to (ebd.).

Jedoch geht es nicht nur darum, voice von Kindern grundsätzlich zu berücksichtigen, es geht vor allem auch um das wie dieser Bezugnahme: „it is important to consider how voices are heard within relational research practices where a number of other voices are situated […] and where adults characteristically wield most power“ (Cooper, 2023, S. 72). Auch nach Nentwig-Gesemann und Großmaß (2017, S. 209) steht aus (interaktions-)ethischer und kinderrechtlicher Perspektive „außer Frage, dass Kinder bei allen Belangen, die sie direkt oder indirekt betreffen, in ihrem Akteursstatus anerkannt und angemessen einbezogen werden müssen“ – und dies umfasst insbesondere auch Forschungsprojekte mit Kindern.

Bock (2014, S. 284) verweist darauf, „dass es diesseits und jenseits dieser ‚Probleme‘ [in den Ansätzen der neueren Kindheitsforschung; Anm. MH] jedenfalls möglich wird, sich einer (wie auch immer konstruierten) kindlichen Perspektive anzunähern.“ Das vorangegangene Zitat bietet zwar keine unmittelbare Empfehlung oder Strategie im Hinblick auf das Einlösen des Anspruchs, mit kindlichen Perspektiven in Forschungsprojekten angemessen umzugehen, aber es verweist auf eine Anschlussmöglichkeit, nämlich bezugnehmend auf die Idee der Annäherung: Sich kindlichen Perspektiven anzunähern könnte bedeuten, deren Relevanz wahrzunehmen, sie zu achten und zu berücksichtigen und gleichzeitig zu reflektieren, dass kindliche Perspektiven nicht unmittelbar eingenommen werden können, um sich schließlich an einer Rekonstruktion zu versuchen, die sich ihrer Kontingenz gewahr wird.

Die Frage des Fremdverstehens zeigt sich in der Kindheitsforschung zwar in verdichteter Form (Mey & Schwentesius, 2019, S. 34), dennoch kann auch auf die generelle methodisch-methodologische „(Un-)Möglichkeit der Repräsentation des Anderen“ (Tervooren, 2014, S. 59) verwiesen werden, die in der Ethnografie im Kontext der Krise der Repräsentation verhandelt wird. Der:die Andere wird notwendigerweise immer verfehlt, im Forschungsprozess kann sich generell lediglich eine Annäherung vollziehenFootnote 22 (ebd.).

Diese Frage nach dem Umgang mit der generationalen Asymmetrie in Forschungsprojekten wird etwa seit der Jahrtausendwende zunehmend im Kontext forschungsethischer Debatten innerhalb der childhood studies (vgl. Abschnitt 2.3.2) diskutiert. Dabei wird insbesondere der Ansatz ethischer Symmetrie aufgerufenFootnote 23. Er geht zurück auf Christensen und Prout (2002) und wird im deutschsprachigen Diskurs bspw. von Eßer und Sitter (2018) als gewinnbringend vertreten. Kinder werden hier als Akteur:innen perspektiviertFootnote 24 (vgl. Abschnitt 2.5), welche einerseits eine soziale Gruppe repräsentieren, die in klassischen ethischen Entwürfen kaum Berücksichtigung fand und daher über lange Zeit hinweg erhebliche Benachteiligungen erfahren hatte (Eßer & Sitter, 2018, S. 7). Andererseits fordert das Konzept ethischer Symmetrie „dazu auf, diese zu überwinden, ohne dabei die [als sozial und situativ hervorgebracht verstandenen; Anm. MH] Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen zu negieren“ (ebd.). Christensen und Prout (2002, S. 482) formulieren hierzu drei Annahmen, die die Adressierung der beforschten Akteur:innen und der Forscher:innen im Kontext ethischer Symmetrie grundlegen:

By this we mean that the researcher takes as his or her starting point the view that the ethical relationship between researcher and informant is the same whether he or she conducts research with adults or with children. This has a number of implications. The first is that the researcher employs the same ethical principles whether they are researching children or adults. Second, that each right and ethical consideration in relation to adults in the research process has its counterpart for children. Third, the symmetrical treatment of children in research means that any differences between carrying out research with children or with adults should be allowed to arise from this starting point, according to the concrete situation of children, rather than being assumed in advance (ebd.).

Forschungsprojekte im Kontext der Kindheitsforschung sind grundlegend in soziale Bedingungen eingelagert, die sich insbesondere durch eine Asymmetrie zwischen den Statusgruppen Kinder und Erwachsene, aber auch innerhalb jener, kennzeichnen (Eßer & Sitter, 2018, S. 6). Ethische Symmetrie kann hierbei als ein allgemeines Prinzip fungieren, „an dem sich die Forschung auch beziehungsweise gerade unter den Bedingungen sozialer Asymmetrie zu orientieren habe“ (ebd.). Ethische Symmetrie ist somit nicht als erreichbares Produkt oder Ergebnis zu verstehen, sondern als Prozess, der durch die Akteur:innen – ob Erwachsene oder Kinder – immer wieder hervorgebracht werden muss (von Köppen, Schmidt & Tiefenthaler, 2021, S. 226 f.).

Die Ermöglichung einer kindlichen Beteiligung an Forschungsprojekten im Kontext der Kindheitsforschung zieht unweigerlich methodische, methodologische und forschungsethische Fragen nach sich. Ausgehend von der Annahme, dass sich Forschungsprojekte eben in sozialen Beziehungen (zwischen Forscher:innen und Beforschten) in spezifisch historisch-kulturellen Kontexten vollziehen, die den Forschungsprozess und die Ergebnisse beeinflussen, kann (und will) ethische Symmetrie nicht beanspruchen, komplexe forschungsethische, methodische und methodologische Fragen vor dem Hintergrund von Macht und Asymmetrie in einem statischen Sinne beantworten zu können. Vielmehr ruft das Konzept zu einer permanenten reflexiven Bearbeitungsleistung auf (Christensen & Prout, 2002, S. 482 ff.):

Thus […] researchers do not have to use particular methods or, indeed, work with a different set of ethical standards when working with children. Rather it means that the practices employed in the research have to be in line with children’s experiences, interests, values and everyday routines (ebd., S. 482).

Nach Eßer und Sitter (2018, S. 7) besagt das Prinzip ethischer Symmetrie, „dass in methodologischer Hinsicht ein reflexiver Umgang mit generationaler Differenz zu praktizieren sei, der gewährleistet, dass sich für Kinder aus ihrem sozialen Status als Kinder keine Nachteile ergeben.“ Es stellt sich somit die Frage, wie Forschungsprojekte im Kontext von Gleichheit und VerschiedenheitFootnote 25 konkret arrangiert werden können und sollen, wollen sie diese Ansprüche einlösen (vgl. bspw. Maywald, 2017). Im Hinblick auf das Konzept der ethischen Symmetrie lässt sich festhalten, „dass die ethischen Grundsätze partizipativer Forschung wie Gleichheit und Inklusion, gegenseitiger Respekt und die Förderung demokratischer Prozesse […] nicht nur für Erwachsene, sondern uneingeschränkt auch für Kinder gelten“ (von Köppen, Schmidt & Tiefenthaler, 2021, S. 205). Vielmehr bedarf es eines Dialogs, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede würdigt: „Dies gilt allerdings nicht, weil im Verhältnis zu Kindern per se andere ethische Prinzipien bestehen, sondern weil, gerade um den ethischen Anspruch der Gleichberechtigung verwirklichen zu können, die Unterschiede bezüglich sozialer Erfahrungen oder Kompetenzen berücksichtigt werden müssen“ (ebd.). Empirische Kindheitsforschung ist somit darauf verwiesen, „die spezifische Situation der Forschung mit Kindern“ (Nentwig-Gesemann & Großmaß, 2017, S. 212) zu berücksichtigen; sie muss aber gleichzeitig die realitätsmächtige generationale Relationierung und Positionierung, die mit der ggf. vollzogenen impliziten Zuschreibung von kindlicher Vulnerabilität verbunden ist, kritisch reflektieren, um einer machtvollen Paternalisierung entgegenzuwirken (Andresen, 2016a, S. 18). Es bedarf also der Entschiedenheit, einerseits das spezifische Wissen und die Perspektiven von Kindern jenen der Erwachsenen nicht nachzureihen, sondern diese als gleichwertig zu achten (Nentwig-Gesemann & Großmaß, 2017, S. 217), andererseits braucht es ein Gewahrwerden der Spezifität, da Kinder (zum Teil) – bezugnehmend auf den Aspekt der Leiblichkeit – auf andere Weise auf Beteiligungs- und Ausdrucksmöglichkeiten verwiesen sind (Andresen, 2016a, S. 22). Kinder im Forschungsprozess zu berücksichtigen und ihnen ehrliches Interesse zukommen zu lassen, bedeutet somit (u. a.), sie gleichzeitig als Gleiche und als Andere – vor dem Hintergrund machtvoller gesellschaftlicher Strukturen und Ordnungen – anzuerkennen und ihnen – insbesondere mit einem angemessenen methodischen Instrumentarium – würdevoll zu begegnen.

Kindheitsforschung ist – und mit dieser Überlegung soll der vorliegende Abschnitt einen Abschluss finden – insbesondere im Kontext des Versuchs der Realisierung ethischer Symmetrie, auf eine besondere Reflexivität verwiesen (vgl. Abschnitt 3.2.3), schließlich ist sie – auch bei partizipativen Bemühungen – letztlich eine „über Erwachsene vermittelte, (vor-)strukturierte und hergestellte Forschung“ (Mey & Schwentesius, 2019, S. 31), die „konsequent als reflektierende und generational ausgerichtete Forschung gedacht werden [muss und] das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern sowie die gemeinsame Herstellung von generationaler Ordnung zum Ausgangspunkt ihrer Rekonstruktionen nimmt“ (ebd.).

2.3 Disziplinäre und paradigmatische Zugriffe auf (frühe) Kindheit

Auseinandersetzungen mit (früher) Kindheit finden in verschiedenen Disziplinen, in heterogenen historisch-kulturellen Kontexten und in vielfältigen paradigmatischen Zugängen auf plurale Weise ihren Niederschlag. Über die Pädagogik hinaus wird intendiert, (frühe) Kindheit als Gegenstand zu erfassen und zu bearbeiten. Verwiesen sei hier exemplarisch auf soziologische (bspw. Lange, Reiter, Schutter & Steiner, 2018; Prout & James, 2015; Schweizer, 2007), (entwicklungs-)psychologische (bspw. Dornes, 2009; Kienbaum, Schuhrke & Ebersbach, 2019; Schwarzer & Jovanovic, 2015) oder philosophische BemühungenFootnote 26 (bspw. Boesen, 2020; Drerup & Schweiger, 2019).

Auch ‚die‘ Kindheitsforschung im engeren Sinne ist von erheblicher Heterogenität im Hinblick auf deren (disziplinäre) Verortung gekennzeichnet (exemplarisch Bock, 2014, S. 284): So sind bspw. im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Terminologien zu konstatieren, die sich – schon allein auf die Benennung rekurrierend – mit (früher) Kindheit beschäftigen. Insbesondere treten dabei Verortungen hervor, die sich zum Teil auf (Selbst-)Bezeichnungen als (Semi-)Profession beziehen (Brunner, 2018, S. 56; S. 96) und sich (u. a.) mit folgenden Termini umreißen lassen: Kindheitspädagogik, Pädagogik der frühen Kindheit, Frühpädagogik, Elementarpädagogik, Soziologie der Kindheit bzw. KindheitssoziologieFootnote 27.

Auch die – stärker international situierten – childhood studies, die sich in ihrer terminologischen Bestimmung explizit auf den Gegenstand childhood beziehen, sind als heterogenes Feld zu verstehen, das sich aus verschiedenen disziplinären und methodologischen Strängen sowie theoretischen Bezugnahmen speist (Alanen, 2019; 2022). Auf einige Überlegungen, bezugnehmend auf disziplinäre und paradigmatische Zugriffe auf das Phänomen (früher) Kindheit, wird im Folgenden – insbesondere im Hinblick auf die Pädagogik der frühen Kindheit und Kindheitspädagogik (Abschnitt 2.3.1) sowie die childhood studies (Abschnitt 2.3.2) – schlaglichtartig eingegangen.

2.3.1 Von der Pädagogik der frühen Kindheit zur Kindheitspädagogik?

Während frühere (pädagogische) Diskurse stärker auf Begrifflichkeiten wie Kindergartenpädagogik oder Frühpädagogik rekurrieren, lässt sich die Debatte der letzten Jahrzehnte als stärker von der Pädagogik der frühen Kindheit markiert herausstellen, nach der auch eine eigene Kommission innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) benannt istFootnote 28. Noch im Jahr 2010 scheint eine Klärung, was die Pädagogik der (frühen) Kindheit überhaupt sei, ausständig (Stieve, 2010, S. 24), dennoch weist Stieve in einem Bestimmungsversuch auf die Notwendigkeit hin, „sich nicht alleine auf das Kind, seine Entwicklung und sein Lernen, sondern auf die Zusammenhänge seines Aufwachsens“ (ebd.) zu beziehen. Ähnlich wird dies auch von Fried und Kolleg:innen (2012, S. 9) formuliert: So befasse sich die Pädagogik der frühen Kindheit mit den Institutionen früher Kindheit, mit Familie, mit den Beziehungen von Einrichtungen, Familie und Schule – allgemeiner: mit den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen des Aufwachsens.

Trotz der etwa ab der Jahrtausendwende deutlich intensivierten Forschungsleistungen (Nentwig-Gesemann & Großmaß 2017, S. 214), welche mit dem Wandel und Ausbau institutioneller Arrangements (vgl. Abschnitt 2.6) sowie einem „kindheitspädagogischen Akademisierungsschub“ (Obermaier & Schilling, 2021, S. 14) in Beziehung stehen, wird um 2010 in Frage gestellt, inwieweit der (sozial-)pädagogischen Teildisziplin der Pädagogik der frühen Kindheit angemessene Bedeutung zukommt. So weisen Fried und Kolleg:innen 2012 (S. 11) noch dezidiert darauf hin, dass sie „in der Gesellschaft bis heute nicht die Anerkennung gefunden [hat], die ihrer Bedeutung angemessen ist“. Und die Autor:innen fügen hinzu, dass sie insofern auch „nicht in dem Maße über eine Infrastruktur [verfügt], beispielsweise Lehrstühle an Universitäten und eigenständige Forschungsinstitutionen, wie sie erforderlich wäre, um ausgedehnte, in sich konsistente Wissensbestände zu generieren“. Nur einige Jahre später kommen andere Autor:innen zu dem Ergebnis, dass sich der Stellenwert frühkindlicher Bildung und Erziehung deutlich erhöht habe (Brunner, 2018, S. 54; S. 96; Kunze, 2021, S. 31). Jener Befund steht, wie eben schon angedeutet, in Zusammenhang mit deutlich zunehmenden Forschungsbemühungen, die wiederum (u. a.) in Relation zur Neueinrichtung von Studiengängen und der entsprechenden Besetzung von wissenschaftlichen Stellen im Bereich der Pädagogik der frühen Kindheit zu sehen sind. Verwiesen sei hierbei jedoch auf die heterogene internationale Entwicklung, wobei insbesondere die unterschiedliche vergangene wie gegenwärtige Situation in Deutschland und Österreich benannt werden kann. Wie schon angedeutet: Während Fried und Kolleg:innen 2012 (S. 11) noch – implizit im bundesdeutschen Kontext – darauf hinweisen, dass das vorhandene Wissen im Rahmen der Pädagogik der frühen Kindheit von unterschiedlicher Qualität ist und es noch zu wenige empirisch-systematische Analysen gibt, konstatieren Bock und Kolleg:innen 2013 (S. 9) bereits eine Expansion der Forschungsbemühungen sowie Nentwig-Gesemann und Großmaß im Jahre 2017 (S. 214) einen innerdisziplinären nachholenden Forschungsboom.

In Österreich ist von jenem jedoch (noch) nicht zu sprechen. Im Gegenteil: Hier ist vielmehr von einem enormen Forschungsdesiderat – in der ElementarpädagogikFootnote 29 – auszugehen (Cafuta, 2017, S. 9; Smidt, 2018, S. 628 f.): Während sich das Ausbildungssystem in Deutschland erheblich diversifizierte und die Akademisierung der Fachkräfte deutlich voranschritt (Autorengruppe Fachkräftebarometer, 2021, S. 110 ff.; Hoffmann, 2015, S. 24), scheint jene Entwicklung in Österreich zeitlich deutlich verzögert zu sein. Zwar wurden auch hier elementarpädagogische Studiengänge – vorwiegend an pädagogischen Hochschulen – eingerichtet (Kobler, 2022, S. 8 f.; Koch, 2021), jedoch in einem relativ geringen Ausmaß. Österreichweit wurden nur zwei einschlägige Professuren – an den Universitäten Graz und Innsbruck – eingerichtet (Smidt, 2018, S. 629), womit sich entsprechend geringe Forschungsleistungen verbinden resp. überhaupt möglich sind.

Im Hinblick auf die Verortung der Pädagogik der frühen Kindheit zeichnet sich (insbesondere im bundesdeutschen Kontext) eine historische Verwobenheit und inhaltliche Nähe zur Sozialpädagogik bzw. zur Sozialen Arbeit ab (bspw. Sting, 2013). Viele Autor:innen sprechen sich auch inhaltlich dezidiert für einen sozialpädagogischen Zugang innerhalb der frühpädagogischen Praxis (insbesondere im Hinblick auf Institutionen früher Kindheit) aus (bspw. Böhnisch, 2008), wenngleich eine systematische Bearbeitung und Bestimmung des Verhältnisses Sozialpädagogik/Soziale Arbeit-Pädagogik der frühen Kindheit bislang noch ausständig ist: Grenzlinien und/oder Übereinstimmungen wurden – so Bock und Kolleg:innen im Jahre 2013 (S. 10) – weder diskutiert, noch ausgehandelt. Eine kontroverse Diskussion ist auch in der Frage angelegt, inwiefern der Bildungsbegriff einen adäquaten Ausganspunkt beider Zugänge darstelltFootnote 30.

In neueren Debatten wird – insbesondere im bundesdeutschen Kontext – zunehmend der Begriff Kindheitspädagogik verhandelt. Mit ihm verbinden sich insbesondere die Einführung – eben kindheitspädagogischer – Studiengänge sowie eine neue Berufsbezeichnung, vor dem Hintergrund eines breiten Spektrums an Handlungsfeldern in der Fachpraxis (Cloos et al., 2023; Jahreiß, 2022, S. 242 f.). Letztere reichen von ‚klassischen‘ frühpädagogischen Institutionen (insbesondere Kindertagesstätten bzw. Kindergärten) über die Arbeit in Schulen bis hin zur Familienbildung (Obermair & Schilling, 2021, S. 23). Blaschke-Nacak, Stenger und Zirfas (2018, S. 20) weisen auf das Verhältnis der Begrifflichkeiten Pädagogik der frühen Kindheit (und Frühpädagogik) sowie Kindheitspädagogik hin, das sich eben im Kontext der Zuschreibung der Handlungsfelder in der Praxis konturieren lässt. Stellen die frühpädagogischen Einrichtungen den zentralen, ‚klassischen‘ Gegenstand der Pädagogik der frühen Kindheit dar, so ist die Kindheitspädagogik mit weiteren Arbeitsfeldern befasstFootnote 31, die wiederum in Zusammenhang mit dem Muster moderner Kindheit stehenFootnote 32:

Kindheitspädagogik, so zeichnet sich ab, ist künftig das Synonym für die Gesamtheit der pädagogischen Theorien und Praxen, der erziehungswissenschaftlichen Forschung und der pädagogischen Handlungsfelder, der beruflichen und der akademischen Ausbildung, die sich mit der Lebensphase Kindheit im generationalen Gefüge und im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungsdynamik beschäftigen (Helm & Schwertfeger, 2016, S. 10 f.; zit. n. Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 20).

Gemein ist den eben angeschnittenen Begriffen der terminologische Verweis auf ‚Pädagogik‘ in der Pädagogik der frühen Kindheit und Kindheitspädagogik (sowie Elementarpädagogik). Mit Stieve (2010, S. 24) ist hierbei auf die Forderung einer Problematisierung bzw. Reflexion zu verweisen, „was sich unter Kindheit verstehen ließe und in welcher Relation Pädagogik und Kindheit zueinander stehen. Leichterdings könnte Kindheit als selbstverständlich gegebene Lebensphase definiert werden, in der die grundlegenden Kompetenzen für das weitere Leben erworben werden“. Demgegenüber bemüht sich die ‚neuere‘ Kindheitsforschung, Kindheit eben als vielschichtiges, historisch-kulturelles Konzept zu konturieren (vgl. insbesondere Abschnitte 2.1 und 2.2). Innerhalb der zeitgenössischen (kindheits-)pädagogischen Forschung im deutschsprachigen Kontext weisen Blaschke-Nacak, Stenger und Zirfas (2018, S. 19 ff.) auf unterschiedliche Perspektivierungen hin und schlagen eine Systematisierung anhand dreier Forschungslinien mit verschiedenen Vorstellungen von Kind und Kindheit vor:

  1. 1.

    Entwicklungs-, Kompetenz- und Professionalisierungsdiskurs:

    das Kind als ein sich entwickelndes, (möglichst) kompetentes Kind

  2. 2.

    sozialwissenschaftlich-soziologisch orientierte KindheitsforschungFootnote 33:

    Kindheit als ein historisch variables sowie sozial hervorgebrachtes, generationales Ordnungsmuster

  3. 3.

    (u. a.) phänomenologisch inspirierte Perspektiven auf frühkindliche Bildung und Erfahrung:

    das Kind als Subjekt in Prozessen der Erfahrungskonstitution und der Bildung

Wie eingangs bereits dargelegt, versteht sich die vorliegende Arbeit im Kreis des zweiten hier angeführten Forschungsstrangs verortet, der sich eben artikuliert in einem Verständnis von Kindheit als generational hervorgebracht sowie historisch-kulturell bzw. sozial vermittelt. Damit folgt sie jenen Forschungsbemühungen, die sich als childhood studies bündeln lassen und im folgenden Abschnitt 2.3.2 in ihren Grundzügen vorgestellt werden.

2.3.2 Childhood studies

Die childhood studiesFootnote 34 verstehen sich als ein multidisziplinäresFootnote 35, vielfältiges Forschungsfeld mit unterschiedlichen (Theorie-)Traditionen, welche – trotz des prinzipiell international angelegten Bemühens – insbesondere auf spezifische Diskurse in bestimmten Sprachen (und Ländern/Regionen) bezogen sind (Alanen, 2019, S. 37; 2022, S. 3; Eunicke, Mikats & Glots, 2023, S. 2; Tisdall & Punch, 2012, S. 251). So wurzeln sie insbesondere in Forschungsleistungen aus Skandinavien, Großbritannien sowie Deutschland (Braches-Chyrek et al., 2020, S. 13) und realisieren sich seit den späteren 1980-ern vorwiegend englisch- und deutschsprachig (Alanen, 2019, S. 137 f.). Trotz der heterogenen Ausrichtung – gerade auch im Hinblick auf turnsFootnote 36 –, die childhood studies eint die Annahme von Kindheit „als einer sozialen Tatsache“ (Honig, 1999, S. 8), als „sozialer Figuration“ (Sünker & Bühler-Niederberger, 2020, S. 47), als kontinuierliches und zugleich diskontinuierlichesFootnote 37 (Qvortrup, 2009, S. 645), als historisch variables und sozial hervorgebrachtes, generationales Ordnungsmuster (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 22). Prout und James (2015, S. 7) benennen sechs ‚key features‘, die die childhood studies (bzw. die soziologische Kindheitsforschung) kennzeichnen:

  1. 1

    Childhood is understood as a social construction […]. Childhood, as distinct from biological immaturity, is neither a natural nor universal feature of human groups but appears as a specific structural and cultural component of many societies.

  2. 2

    Childhood is a variable of social analysis. It can never be entirely divorced from other variables such as class, gender, or ethnicity […].

  3. 3

    Children’s social relationships and cultures are worthy of study in their own right, independent of the perspective and concerns of adults.

  4. 4

    Children are and must be seen as active in the construction and determination of their own social lives, the lives of those around them and of the societies in which they live. Children are not just the passive subjects of social structures and processes.

  5. 5

    Ethnography is particularly useful methodology for the study of childhood […].

  6. 6

    Childhood is a phenomenon in relation to which the double hermeneutic of the social sciences is acutely present […].

In Anschluss an Honig (1999, S. 29) beruhen Grundannahmen der childhood studies (zum Teil implizit) auf Überlegungen von Ariés’ (vgl. Abschnitt 2.1), insbesondere dahingehend, dass Kindheit per se auf eine soziale Praxis verwiesen ist, in der Akteur:innen ständig und in vielen Kontexten aushandeln, was Kinder und Kindheit überhaupt sind. Kindheit ist dieser Logik folgend keineswegs (ausschließlich) als „naturgebundenes und deshalb universales Phänomen“ (Hengst & Zeiher, 2005, S. 11) zu verstehen. Zugleich kann die Bedeutung von Kindheit als sozial hervorgebracht hervorgehoben werden, ohne die Bezogenheit auf die biologisch bzw. körper-leiblich bedingte ‚Entwicklungstatsache‘ zu negieren (Prout & James, 2015, S. 6):

The immaturity of children is a biological fact of life but the ways in which this immaturity is understood and made meaningful are a fact of culture […]. It is these ‚facts of culture‘ which may vary and which can be said to make of childhood a social institution (ebd.)

In „Reaktion auf die Entwicklungstatsache“ (ebd.) werden Vorab-Setzungen problematisiert, welche ein Verständnis von Kindern und Kindheit in scheinbarer Selbstverständlichkeit suggerieren. Jenen wird die Frage nach konkreten Praktiken gegenübergestellt, in denen Kindheit und Erwachsenheit überhaupt erst als solche hervorgebracht werden (Mierendorff, 2014, S. 24).

Leena Alanen (2005) zeigt drei unterschiedliche Forschungsstränge innerhalb der soziologischen Kindheitsforschung auf, auf deren Basis sie Kindheit als generationales Phänomen zu entfalten versuchtFootnote 38: Ausgehend von der Kritik an der bislang vorherrschenden erwachsenenzentriert-adultistischen, paternalistischen und chauvinistischen Forschung, in der ein „ideologische[r] (Erwachsenen-) Standpunkt gegenüber Kindern und Kindheit“ eingenommen wurde, entwickelt sich ab den 1990-er Jahren erstens eine Soziologie der Kinder, die sich darum bemüht, Kinder in Forschungsprojekte miteinzubeziehen (ebd., S. 67). Hiermit wird der Annahme, „Kinder sind nicht sozial, noch-nicht-sozial, sind sozial Werdende, und müssen deshalb sozialisiert werden“ (ebd.) kritisch begegnet: Wurden Kinder wegen des unterstellten „noch-nicht-sozialen Wesens“ (ebd.) als Gegenstand (soziologischer) Forschung zuvor de-thematisiert, so werden Kinder im Kontext der Soziologie der Kinder als Forschungssubjekte adressiert, um „ihre Aktivitäten und Erfahrungen, Verstehensweisen, ihr Wissen und ihre Bedeutung direkt in den Blick“ zu nehmen (ebd., S. 68). Hengst und Zeiher (2005, S. 13) weisen darauf hin, dass sich dieser Forschungsstrang durch eine Etikettierung von Kindern als eigenständige, kompetent handelnde, deutungsmächtige und kreative Personen auszeichnetFootnote 39 und sich zur Erforschung insbesondere qualitative, resp. ethnografische Zugänge eignen. Jene Forschungsleistungen bearbeiten Kindheit in einem breiten thematischen Spektrum, besondere Bedeutung wird alltagskulturellen Peer-Praktiken beigemessen (ebd., S. 14).

Die von Alanen (2005, S. 68 f.) als zweiter Forschungsstrang benannten Bemühungen einer dekonstruktiven bzw. diskursiven Kinder- und Kindheitssoziologie fassen Kindheit als eine soziale und kulturelle Konstruktionsleistung. Aus einer sozialkonstruktivistischen PerspektiveFootnote 40 werden Kinder und Kindheit „als semiotische, diskursive Formationen betrachtet, die Ideen und Bilder transportieren, mittels derer Kinder und Kindheit als ‚Wahrheiten‘ ‚gewusst‘ und kommuniziert wurden und werden“. Die Forschungsleistung liegt hier in der Dekonstruktion von Konstruktionsleistungen, indem „die Akteure, die Interessen und die historischen Umstände ihrer Produktion, Interpretation und praktischen Umsetzung“ aufgedeckt werden sollen (Alanen, 2005, S. 68 f.). Dabei wird insbesondere deren Einlagerung in Machtverhältnisse mitberücksichtigt, kritisiert und destabilisiert (Hengst & Zeiher, 2005, S. 15). In einem – eine Dekade später erscheinenden – Aufsatz weist Alanen (2015, S. 149 f.) auf die Prominenz (sozial-)konstruktivistischer Ideen innerhalb der childhood studies hin: Ihre Bedeutung erlangen jene u. a. durch die grundlegende (und im vorliegenden Werk bereits mehrfach herausgestellte) Annahme, dass Phänomene – insbesondere auch (frühe) Kindheit – als sozial und kulturell hervorgebracht verstanden werden können.

Social constructionism suggests that changes do not occur as a result of biological or natural processes; instead, it is a result of the differing ways in which meanings are constructed and reconstructed through people’s histories as they interact with each other, in their experiencing the world and in their making sense of the world. The social constructionist sees these primarily as the product of social and cultural processes (ebd.).

Kindheit wird in einem dritten Forschungsstrang, benannt als strukturelle Soziologie der Kindheit, eben als strukturelles – also: strukturiertes und strukturierendes Phänomen – gefasst (Alanen, 2005, S. 69). Kindheit erscheint damit als „integrierte[r] Bestandteil der Sozialstruktur der Gesellschaft“ (Hengst & Zeiher, 2005, S. 17) und zugleich als „ein (relativ) dauerhaftes Element im (modernen) Sozialleben (während diese für individuelle Kinder eine vorübergehende Lebensphase darstellt)“ (Alanen, 2005, S. 69). Verfolgt wird das Ziel, alltägliche Praktiken mit gesamtgesellschaftlichen Kontexten in Beziehung zu setzen resp. die Bedeutung sozialer Strukturen und Prozesse (makro) wechselseitig mit den Alltags- und Lebensbedingungen von Kindern (mikro) zu relationieren (ebd.) und schließlich auch, jene Erkenntnisse für eine stärkere sozialpolitische Ausrichtung hin zu ‚Partizipations- und Ressourcengerechtigkeit‘ zu nutzen (Hengst & Zeiher, 2005, S. 17). ‚Kindheitsverhältnisse‘ werden aus sozialstrukturell-soziologischer Sicht dezentriert perspektiviert: In den Blick geraten „nicht Kinder und Kindheit für sich, sondern […] die Art und Weise, wie Kinder in die Sozialstruktur der Gesellschaft integriert sind“ (ebd.).

2.4 (Frühe) Kindheit im Kontext generationaler Ordnung und pädagogischer Differenz

Bedeutsam erscheint, dass es Kindheit nie isoliert gibt, sondern nur in Differenz und im Zusammenhang mit anderen Lebensaltern – vor allem mit dem Erwachsenenalter. Die Perspektive auf Kinder und Kindheiten bringt Abgrenzungen, Differenzierungen und Gemeinsamkeiten innerhalb der generationalen Ordnung in den Blick und fragt nach Handlungsmöglichkeiten und Grenzen, die diese Ordnungen zugestehen oder eröffnen (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 12 f.).

Die folgenden Ausführungen sind von einer relationalen These getragen, nämlich dahingehend, dass sich (frühe) Kindheit nicht für sich – quasi unabhängig – realisiert, sondern immer in Relation zu vollzogen wird; vorrangig in Relation zu Erwachsenheit. (Frühe) Kindheit wird folglich nicht „als selbstverständlich gegebene Lebensphase“ (Stieve, 2010, S. 24) gefasst, die sich an (Zuschreibungen von) Alter (Cerny, 2016, S. 12 ff.; Honig, 1999, S. 9) bzw. Alterslimiten (Giesinger, 2019, S. 43 ff.) festmachen lässt. Cerny (2016, S. 13 ff.) verweist in diesem Kontext auf die gesellschaftsordnende und -stabilisierende Funktion der Einteilung in Altersstufen bzw. Lebensphasen und problematisiert Zuschreibungspraktiken von Alter im Kontext des Bildungswesens. Alter(szugehörigkeit) erscheint folglich als gesellschaftliche Strukturkategorie (Honig, 1999, S. 9). Allerdings weist Bock (2014, S. 279 f.) darauf hin, dass das Alter von Kindern (bzw. die sog. Altersspanne) innerhalb der Kindheitsforschung zwar thematisiert, aber nicht konsequent diskutiert wird und letztlich sehr vielfältige Auffassungen von Kindheit bestehen. Damit verbindet sich die Problematik, dass Forschungsergebnisse zu Kind(ern) und Kindheit(en) an körper-leiblichkeits- bzw. entwicklungs-, lern-, bildungs- und sozialisationsbezogene Aspekte gebunden sind.

Der Kindheitsforschung fehlt es – auch in ihrer ‚neuen Dimensionierung‘ – nach wie vor an einem einheitlichen Verständnis darüber, welches nun genau die ‚konkreten Kinder‘ sind, deren Lebens- und Lernwelten erforscht und deren Kinderkulturen analysiert werden sollen (ebd., S. 280).

Offen bleibt somit, inwieweit Befunde der Kindheitsforschung über Altersspannen hinweg Geltung beanspruchen könnenFootnote 41 und inwiefern die Differenzierung von Kindheit – insbesondere in frühe, mittlere und späte Kindheit – grundsätzlich zur Bearbeitung dieser Problematik beitragen kann (ebd.). Ohne diese Fragen an dieser Stelle beantworten zu könnenFootnote 42, in der vorliegenden Schrift wird (frühe) Kindheit als eingewoben in gesellschaftliche, insbesondere historisch-kulturell vermittelte Verhältnisse betrachtet (vgl. insbesondere Abschnitte 2.1 und 2.2) sowie als relationales Phänomen, das in generationalen Ordnungsprozessen hervorgebracht wird. Mit dieser relationalen Perspektive wird an aktuelle Diskurse der childhood studies (vgl. Abschnitt 2.3.2) angeschlossen, wo der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen eine grundlegende Bedeutung für kindheitstheoretische bzw. erziehungs- und sozialwissenschaftliche Überlegungen beigemessen wird (Honig, 2018, S. 193).

2.4.1 Generationale Ordnung

Der Diskurs um Kindheit als generationales Phänomen geht insbesondere auf die Soziologin Leena Alanen zurück: Sie hebt Generation als zentralen Aspekt gesellschaftlicher Ordnung hervor. Damit wird ein traditionsreicher Begriff aufgerufen: Soziologisch bieten sich hier vor allem Anschlüsse an Karl Mannheim (1971) an, pädagogisch sei insbesondere auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1983) verwiesen.Footnote 43 Seit mehreren Jahren ist der Begriff – auch in der Erziehungswissenschaft – (wieder) von erheblicher Prominenz gekennzeichnet. Er wird insbesondere im Kontext generationaler Ordnung verhandelt (bspw. Butschi & Hedderich, 2021, S. 37; Honig, 1999, S. 8; Wulf & Zirfas, 2014, S. 341).

Etymologisch verweist Generation auf mehrere Dimensionen. So geht generatio (lat.) auf genos (griech.) zurück, zudem finden sich Verweise auf gens (lat.) sowie genos (griech.). Ohne auf die Bedeutungen en detail eingehen zu wollen, sei auf die Gemeinsamkeit jener Begrifflichkeiten verwiesen, die sich auf aristokratische und geschlechtlich codierte Relationen und Abstammungen männlicher Personen in Familienverbänden bezieht (Wulf & Zirfas, 2014, S. 341). In seiner heutigen Bedeutung stellt der Generationsbegriff disziplinübergreifend „einen Bezug zu zeitlichen Zusammenhängen (zyklisch, linear, fortschrittlich) [her]; er definiert einen Bezug zur Herkunft (biologisch, sozial, kulturell) und er definiert schließlich auch einen Bezug zu anderen Generationen (Einheit/Differenz, Gleichzeitigkeit/Ungleichzeitigkeit)“ (ebd., S. 342).

Mit Mannheim (1971) lässt sich ein wissenssoziologisches Interesse an historisch-politischen Generationen konstatieren – und dieses Generationenverständnis ist systematisch zu unterscheiden von einem pädagogischen Verständnis von Generation (Kelle, 2005, S. 88). Der Generationenbegriff wird bei Mannheim nicht binär gedacht, er bezieht sich auch nicht auf pädagogische Generationen und ihre gesellschaftliche Institutionalisierung, sondern eben auf die Konstituierung historisch-politischer Generationen, die als „historisch gleichartig positionierte, ‚gelagerte‘ Gruppe[n] von Geburtsjahrgängen“ (Alanen, 2005, S. 73) – also als Generationslagen (Mannheim, 1971, S. 35) – verstanden werden können. Generationen sind somit durch ein gemeinsames Hineingeborensein in eine bestimmte Zeit und durch das Teilen gesellschaftlicher Erfahrungshintergründe gekennzeichnet (Kelle, 2005, S. 89):

Verwandt gelagert ist eine Generation zunächst dadurch, daß sie am selben Abschnitt des kollektiven Geschehens parallel teilnimmt. […] Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altgewordenseins konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raume, sondern erst die entstehende Möglichkeit, an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren […]. Nur ein gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum ermöglicht, daß die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch-relevanten werde (Mannheim, 1971, S. 40).

Kindheitssoziologische Überlegungen rekurrieren auf Mannheims Konzept dahingehend, dass Kindheit einerseits als ein permanentes Phänomen von Gesellschaft gefasst werden kann, dessen Mitglieder beständig wechseln (Qvortrup, 2009, S. 645) und andererseits im Hinblick auf die Forderung, Generation als relationale Kategorie zu fassen (Alanen, 2005, S. 72; vgl. auch Ausführungen in Abschnitt 2.5.2). Nach Honig (1999, S. 182) bedeutet dies: „‚Kind‘ und ‚Erwachsener‘ schließen sich gegenseitig aus, setzen sich aber auch wechselseitig voraus, so daß das eine jeweils nicht ohne Bezug auf das andere gedacht werden kann“. Somit sind Kindheit und Erwachsenheit aufeinander bezogen, ihr Verhältnis realisiert sich – relational zueinander – eben im Kontext generationaler Ordnungsprozesse, in denen sich Kinder und Erwachsene mittels doing generation „in die generationale Ordnung einschreiben“ (Baader, 2018a, S. 26 f.). Alanen (2005, S. 65) betont die für dieses Verständnis fundierende Annahme, „dass das Soziale (auch) generational strukturiert ist“. Generation bezeichnet in diesem Sinne „das sozial definierte und institutionalisierte Alter, welches dem Lebensalter als biologischer Größe hinzugefügt wird (Bühler-Niederberger, 2020, S. 194). Nach Alanen (2005, S. 65) ist Generation im doppelten Sinne als strukturiertes Element gesellschaftlicher Ordnung zu verstehen, nämlich einerseits als Ausdruck von Strukturen sowie andererseits als strukturierend. Damit wird eine kritische Positionierung gegenüber der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass Kindheit „eine empirisch belegbare Tatsache“ (ebd.) sei, eingenommen.

Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen resp. von (früher) Kindheit und Erwachsenheit erscheint im Alltagsverständnis als eine „natürliche Tatsache“ (Kelle, 2005, S. 83). Die Frage, ob „Kinder ‚anders‘ (als Erwachsene)“ (Honig, 2018, S. 193) sind, wird daher in der Regel nicht gestellt, vielmehr wird bereits von ihrer Beantwortung ausgegangen (ebd.). Dennoch – oder gerade deshalb – lohnt ein analytischer Blick auf die Hervorbringungsprozesse dieser „Differenz und Asymmetrie von Kindern und Erwachsenen in der kulturellen Praxis“ (Kelle, 2005, S. 83), um das Zustandekommen generationaler Ordnung beschreiben zu können (Honig, 2018, S. 193).

Der Begriff der ‚generationalen Ordnung‘ ist […] geläufig geworden, um das Faktum der sozialen und komplementären Konstruiertheit und Strukturiertheit von Kinder- und Erwachsenenkategorie und der Interaktionen zwischen den Angehörigen beider Kategorien zu erfassen (Sünker & Bühler-Niederberger, 2020, S. 48).

Ausgehend von der Annahme, dass das Sprechen über Kinder bereits eine Vorstellung von bzw. über Erwachsene voraussetzt (ebd., S. 194), interessiert insofern, „wie Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen alltäglich funktionieren, das heißt: wie Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen relevant werden und Kinder zu ‚Kindern‘ werden“ (ebd.). Gerade aus pädagogischer Sicht ist dies von erheblicher Relevanz, fungiert doch gerade die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen als die Prämisse der meisten pädagogischen KonzeptionenFootnote 44: die generationale Ordnung stellt (oftmals implizit) gerade die denknotwendige Voraussetzung für die pädagogische Differenz dar (Honig, 2018, S. 195). Die unterstellte binäre Gegebenheit von Kindheit und Erwachsenheit wird im Kontext der childhood studies kritisch befragtFootnote 45, operierend mit einem Verständnis von Kindheit als Konstrukt (ebd.). Damit wird auf James und Prout (1990; zit. n. Bühler-Niederberger, 2020, S. 62 f.) rekurriert, welche intendieren, Kindheit in gegenwärtigen und historischen gesellschaftlichen Prozessen der Gestaltung und Institutionalisierung zu analysieren. Der Konstruktionscharakter lässt sich anhand des normativen Musters langer, behüteter Kindheit in aktuellen westlichen Gesellschaften in Relation zur kurzen Kindheit der entstehenden Moderne nachzeichnen (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8; Bühler-Niederberger, 2020, S. 62 f.):

Am normativen Muster der langen und behüteten Kindheit in Deutschland und seiner Ausgestaltung und Stabilisierung ließ sich dieses beständige Konstruktionsgeschehen erkennen, das auf verschiedensten Ebenen abläuft: der Ebene der Familien, der Bildungsinstitutionen, der politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Debatten. Ein wichtiges Merkmal dieses Konstruktionsprozesses ist es, dass er in einer Weise verläuft, dass sein Produkt ‚die gute Kindheit‘ nicht als gesellschaftliche Schöpfung und ‚Erfindung‘ erscheint, sondern als natürlich richtig, als die Kindheit, die den naturgegebenen Bedürfnissen der Kinder entspricht (Bühler-Niederberger, 2020, S. 62 f.).

Generationale Ordnung steht somit nicht für sich, sondern zeigt sich als verwoben mit anderen gesellschaftlichen Ordnungsprozessen. Von generationaler Ordnung zu sprechen, bedeutet daher, die gesellschaftliche Positionierung von Kindern vor dem Hintergrund von Alter(szugehörigkeit) als gesellschaftlicher Strukturkategorie grundlegend zu berücksichtigenFootnote 46 (Honig, 1999, S. 9). Kindheit erscheint damit zugleich als „ein Konstrukt generationaler Verhältnisse und [als] ein symbolischer sozialer und materieller Kontext des Kinderlebens zugleich“ (ebd., S. 10).

Sünker und Bühler-Niederberger (2020, S. 49 f.) weisen auf das Erfordernis hin, andere Differenzdimensionen – neben Generation – (weiterhin) konsequent mitzudenken. Ansonsten bestehe die Gefahr, die Bedeutung generationaler Asymmetrien „nur ungenügend [zu] erfassen, weil die generationale Dimension in ihrem theoretischen Repertoire die einzige ist, mit der Ungleichheit thematisch wird“. Schon in ihren Anfängen beziehen sich die childhood studies auf Überlegungen der Frauen- und Geschlechterforschung, nämlich im Hinblick auf die Analyse der Sozialstruktur von Geschlechter- und Generationenordnungen (Honig, 1999, S. 179) bzw. dahingehend, dass das Kind resp. seine Position im Generationenverhältnis analog zur Frau* resp. ihrer Position im Geschlechterverhältnis gedacht werden kann (Hengst & Zeiher, 2005, S. 11; Prout & James, 2015, S. 6). Damit ist insbesondere auf patriarchale Macht- und Herrschaftsverhältnisse verwiesen, in das die Dimensionen gender und generation eingewoben sind (Mayall, 2005, S. 136). Wurde in frühen Schriften – an Judith Butler anschließend – zwischen natürlicher und sozialer Kindheit (analog zu sex und gender) differenziert (Honig, 1999, S. 179), wird aktuell ein relationales Verständnis von generation vertreten.

Anschließend an die Kritik an einer ‚Strukturblindheit‘ ist somit die Frage zu stellen, von welchen Kindern eigentlich (nicht) gesprochen wird, wenn Kindheit thematisiert wird (Sünker & Bühler-Niederberger, 2020, S. 49): „Man kann also die generationale Dimension nicht analysieren, ohne Ungleichheit – und sagen wir es deutlich: Herrschaftsverhältnisse – insgesamt in den Blick zu nehmen.“ (Sünker & Bühler-Niederberger, 2020, S. 49). Im Kontext des Bemühens einer wissenschaftlichen Rekonstruktion der Positionierung von Kindern im generationalen und gesellschaftlichen Verhältnis ist – dies deutete sich eben bereits an – auch eine Kritik an Autoritätsverhältnissen und an Marginalisierungen verbunden (Hengst & Zeiher, 2005, S. 11). Die Frage nach generationalen Verhältnissen ist somit immer auch als eine Frage nach Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu lesenFootnote 47 (ebd.) – unterschiedliche soziale Dimensionen und deren intersektionale Verwobenheiten berücksichtigend (Alanen, 2011, o. S.; Bühler-Niederberger, 2020, S. 195). Dennoch soll an dieser Stelle auf die kritische Diskussion intersektionaler Perspektivierungen verwiesen werden. Zwar ist es als fundamental anzusehen, Überschneidungen sozialer (Ungleichheits-)Dimensionen zu berücksichtigen, um die Prekarität spezifischer Lagerungen aufdecken zu können. Inwieweit dieser Anspruch gegenwärtig in der Kindheitsforschung eingelöst wird oder ob voice bestimmter Kinder(gruppen) nicht vielmehr strukturell unberücksichtigt bleibt, ist kritisch zu hinterfragen (Cooper, 2023, S. 74). Zudem bleibt einstweilen ungeklärt, wie mit einer intersektionalen Perspektive Kindheit per se angemessen analysiert werden kann, da Ressentiments dahingehend bestehen, „dass die Strukturkategorie ‚Kindheit‘ erneut an wissenschaftlicher und sozialpolitischer Beachtung verlieren könnte und ihre Bedeutung als zentrale Dimension der Macht und Teilhabe an Gesellschaft verkannt werden könnte“ (Bühler-Niederberger, 2020, S. 195).

2.4.2 Pädagogische Differenz

Das Aushandeln von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zeigt sich nicht nur auf der Ebene des Gegenstands, im Kontext von (früher) Kindheit und GenerationalitätFootnote 48, sondern auch auf jener der wissenschaftlichen Perspektivierung, resp. in der Frage, welche Disziplinen und Paradigmen auf welche Weise auf den Gegenstandsbereich zugreifen können, wollen und sollen – womit erneut eine doppelte Perspektivität (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 12), resp. die Notwendigkeit von deren Reflexion, herausgestellt werden kann. So konstatiert Kelle (2005, S. 86) für die Soziologie und Erziehungswissenschaft eine Konkurrenzsituation im Hinblick auf die Zuständigkeit für das ‚Generationen-Thema‘. Während sich soziologische Ausführungen vorrangig mit Prozessen der Sozialisation im generationalen Gefüge befassen (Bühler-Niederberger, 2020, S. 136), wird pädagogisch bzw. erziehungswissenschaftlich die Beziehung von Erwachsenen und Kindern, im Hinblick auf Reziprozität und Erziehung, perspektiviert (Wulf & Zirfas, 2014, S. 341 f.). Im Kontext der childhood studies werden beide Perspektiven berücksichtigtFootnote 49, wenngleich sich insbesondere soziologische Orientierungspunkte zeigen. Mit Wulf und Zirfas (2014, S. 342) lässt sich aus einer pädagogischen Perspektive festhalten, dass der Generationsbegriff für Erziehung von besonderer Bedeutung ist und „als ein heuristisches pädagogisch-anthropologisches Prinzip dienen kann“:

Denn Generationen gibt es nie an sich und isoliert, sondern nur im Zusammenhang und in Differenz zu anderen Generationen sowie mit einem Bewusstsein darüber, wie dieser Zusammenhang aussieht. Generation kann als eine ungemein bedeutsame pädagogisch-anthropologische Grundbedingung betrachtet werden, da jedes menschliche Leben in biographisch-zeitliche, sozial-räumliche und historisch-kulturelle Zusammenhänge eingebettet ist. In diesem Sinne dient der Generationenbegriff (historisch) als Begründung der Pädagogik, als Thematik der pädagogischen Professionalisierung, als vielschichtiger Reflexions- und Problematisierungsbegriff sowie – wegen seiner vielseitigen disziplinären Bezüge – als interdisziplinäres Kontextualisierungskonzept (ebd.).

Erziehungswissenschaftlich wird das Konzept der generationalen Ordnung zwar zunehmend rezipiert (exemplarisch: Honig, 2018). In seiner historischen Genese resp. im traditionellen (westlichen) Erziehungsverständnis ist der Generationsbegriff jedoch (auch) mit dem Konzept der pädagogischen Differenz verbunden. Jene pädagogische Differenz versteht sich im Kontext eines dichotomen Verhältnisses zwischen ‚erziehender‘ und ‚zu erziehender Person‘. Sie beschreibt „eine Wahrnehmungs- und Interpretationskategorie, mit der zwischen Kindern und Erwachsenen im Alltag und in der Theorie unterschieden wird“ (Beck, Deckert-Peaceman & Scholz, 2022, S. 20). Bramberger und Forster (2004, S. 365) fassen die pädagogische Differenz als „einen seltsamen Abstand des Zöglings zu seinem Lehrmeister, denn dieser Abstand, dessen Aufhebung durch Erziehung und Bildung angestrebt wird, entpuppt sich als ein im Rahmen des traditionellen Erziehungsverhältnisses nicht auflösbarer Abstand des Zöglings zum Menschsein“ (ebd.).

Der Zusammenhang des generationalen Verhältnisses mit Vorstellungen von Erziehung wird grundlegend bei Schleiermacher sichtbar. In den zyklischen Wechsel der Generationen eingebunden wird der Mensch im Akt der Erziehung, als einer Tätigkeit, die von der älteren an der jüngeren Generation vollzogen wird, angesprochen (Cerny, 2012, S. 122 f.).

Das menschliche Geschlecht besteht aus einzelnen Wesen, die einen gewissen Zyklus des Daseins auf der Erde durchlaufen und dann wieder von derselben verschwinden, und zwar so, daß alle, welche gleichzeitig einem Zyklus angehören, immer geteilt werden können in die ältere und die jüngere Generation, von denen die erste immer eher von der Erde scheidet. Allein wenn wir das menschliche Geschlecht betrachten in den größeren Massen, die wir Völker nennen: so sehen wir, daß diese in dem Wechsel der Generationen sich nicht gleich bleiben; sondern es gibt darin ein Steigen und Sinken in jeder Beziehung, worauf wir Wert legen. […] Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird was man tut, und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt, Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere obliegt, bauen wir alles was in das Gebiet dieser Theorie fällt (Schleiermacher, 1983, S. 38 f.).

Die Frage „Ist die generationale Ordnung von Kindern und Erwachsenen immer schon und in allen Aspekten eine pädagogische Ordnung?“ (Kelle, 2005, S. 87) lässt sich in Rückgriff auf dieses traditionelle Erziehungsverständnis zumindest so beantworten, dass die pädagogische Ordnung immer schon eine generationale Ordnung ist, sich auf zyklische generationale Gruppen bezieht. Dies lässt sich – pädagogisch – einerseits anhand der grundlegenden Unterscheidung von Generationen, also Erwachsenen und Kindern, begründen, andererseits anhand der These, dass das Kind nur durch Erziehung zum Menschen werden könne (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 11; Bramberger & Forster, 2004, S. 369; Honig, 1999, S. 41), womit (z. T. implizit) an aufklärerische Ideen angeschlossen wird. Die Idee der Erziehung bezieht sich auf keine beliebigen Vorstellungen, sondern formuliert teleologische Überlegungen, die sich – bspw. bei Kant (2005, S. 32) – auf eine normative Vision besserer Zukunft, resp. auf die regulative „Idee des Guten“ (Wulf & Zirfas, 2014, S. 344) stützen. Erziehung dient entsprechend als Instrument, das Kind in diese bessere Version der Zukunft zu leiten, zugleich legitimiert die generationale Differenz das pädagogische Handeln (Alexi, 2014, S. 19).

Der Mensch soll seine Anlagen zum Guten erst entwickeln; die Vorsehung hat sie nicht schon fertig in ihn gelegt: es sind bloße Anlagen und ohne den Unterschied der Moralität. Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, das soll der Mensch. Wenn man das aber reiflich überdenkt, so findet man, daß dieses sehr schwer sei. Daher ist die Erziehung das größte Problem und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden. Denn Einsicht hängt von der Erziehung, und Erziehung hängt wieder von der Einsicht ab. Daher kann die Erziehung auch nur nach und nach einen Schritt vorwärts tun, und nur dadurch, daß eine Generation ihre Erfahrungen und Kenntnisse der folgenden überliefert, diese wieder etwas hinzutut und es so der folgenden übergibt, kann ein richtiger Begriff von der Erziehungsart entspringen […]. Kinder sollen nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch dem zukünftig möglichen besseren Zustand des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollen sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde (Kant 2005, S. 32 ff.).

Honig (1999, S. 41) weist darauf hin, dass das Motiv einer durch Erziehung zu verwirklichenden Natur des Kindes eine ‚erwachsene Vision‘ darstellt. Diese Natur des Kindes bezieht sich auf Rousseau, der das Kind nicht als kleinen Erwachsenen bezeichnet, sondern als Menschen – im Sinne eines ‚Potenzials der Menschwerdung‘ im Kontext von sein und werden (ebd., S. 38):

Das Kind wird zur Hoffnung auf Erlösung aus den Widersprüchen der Moderne. Die Debatte um die Natur des Kindes ist daher nicht lediglich eine Debatte um die kindliche Entwicklung, sondern zugleich immer auch eine um die sittliche Bestimmung der Menschheit und deren Herstellbarkeit, gestützt auf den Glauben an die Vervollkommungsfähigkeit des Menschen und an die Geschichte als Fortschritt. Daher bedeutet Teilhabe für Kinder Teilhabe an diesem menschheitsgeschichtlichen Projekt. Es bietet den Rahmen, in dem Entwicklung, Erziehung und gesellschaftliche Teilhabe als Prozeß der Selbst-Findung ineinander aufgehen (ebd., S. 41).

Das Konstrukt generationale Ordnung knüpft an die pädagogische Tradition an, „Erziehung als Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ zu verstehen (ebd., S. 9), wobei die Entwicklungstatsache – insbesondere im Hinblick auf die Aspekte Zeitlichkeit und LeiblichkeitFootnote 50 – als Ausgangsbedingung für die Pädagogisierung von Beziehungen gedacht wird (Kelle, 2005, S. 85 ff.): „Die Tatsache, dass Menschenkinder nach der Geburt für relativ lange Zeit der Pflege und des Schutzes bedürfen, bevor sie selbständig leben können, begründet eine relativ lange Phase der Verantwortung der Elterngeneration für die Kinder“ (ebd., S. 87).

Pädagogische Überlegungen beziehen sich an vielen Stellen auf plurale anthropologische Vorstellungen (Holztrattner & Kobler, 2020; Kähler, 2022), die sich im Spannungsfeld der Etikettierung von Kindern als gut und verletzlich bis böse und grausam verorten und jeweils auf Interventionen verweisen, welche sich wiederum zwischen (Für-)Sorge, (Wissens-)Vermittlung sowie Kontrolle und Disziplinierung aufspannen lassen (Alexi, 2014, S. 19; Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 11).

Besondere Bedeutung kommt im Kontext der pädagogischen Anthropologie auch dem Moment der Vulnerabilität zu (bspw. Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 24 ff.), das wiederum in Beziehung zu generationaler Ordnung und pädagogischer Differenz steht. Grundsätzlich wäre hier zu fragen, ob Kindern besondere Vulnerabilität zugeschrieben werden soll: Sind sie auf Zugewandtheit, Responsivität, Pflege und Schutz verwiesen – bei gleichzeitiger Zuschreibung von Autonomie –, gerade weil sie Kinder sind? Jene Frage wird im gegenwärtigen Diskurs ambivalent verhandelt, (u. a.) indem sie die pädagogische Beziehung als asymmetrisches Sorge- und Machtverhältnis kritisch in den Blick nimmt.

Einerseits beschreiben Esser, Günther und Scheepers (2008, S. 13) das Moment der Verletzlichkeit und der daraus resultierenden Abhängigkeit von anderen – nämlich erwachsenen – Menschen als das Kontinuierliche am ‚Kind-sein‘. Und auch Brumlik (2004) nimmt die Verwundbarkeit als einen pädagogischen Ausgangspunkt wissenschaftlichen Denkens und praktischen Handelns. Daran anschließend wird mit Andresen (2016a, S. 23) jedoch die pädagogische Herausforderung sichtbar, „Kinder und Jugendliche als verletzlich in den Blick zu nehmen und das Recht auf Verletzlichkeit auch zuzugestehen, ohne in einseitig paternalistische oder autoritäre generationale Ordnung zurück zu fallen“. Andererseits kann die Zuschreibung von Vulnerabilität auch essentialistisch gedeutet werden, woran sich mit der Frage nach (In-)Kompetenz bzw. Akteur:innenschaft von Kindern anschließen lässt (bspw. Christensen & Prout, 2002, S. 479 f.; vgl. Abschnitt 2.5.2). Mit dem Einsetzen der COVID-19-Pandemie erfährt die Relationierung von Kindheit, Vulnerabilität und Schutz auch noch eine ganz andere Wendung: Kinder werden nunmehr als zugleich ‚Gefährdete‘ und ‚Gefährdende‘ verhandelt, etwa im Sinne von ‚Superspreadern‘, vor denen andere (vulnerable) Personen – etwa ältere*alte Menschen – mittels ‚social distancing‘ geschützt werden sollten (Holztrattner et al., 2023, S. 145).

Ohne an dieser Stelle eine abschließende Antwort auf die Frage, ob bzw. inwieweit Kinder (angemessen) als vulnerabel zu bezeichnen sind, finden zu können oder zu wollen, sei darauf verwiesen, dass sich einige Autor:innen (implizit oder explizit) dafür aussprechen, die (vor bzw. abseits der Pandemie) geführten und zum Teil gegenläufigen Debatten zu integrieren. So bedeutet die Annahme einer kindlichen Akteur:innenschaft nach Nentwig-Gesemann und Großmaß (2017, S. 210 f.) kein unmittelbares Abstreiten der Erziehungs- und Schutzbedürftigkeit von Kindern: „Das Kind als selbsttätigen Akteur anzuerkennen und zugleich die Erziehungsverantwortung zu übernehmen stellt also keine antagonistische Positionierung dar“ (ebd., S. 211). Generationale Ordnung zielt „auf das Strukturmuster dieser ‚Reaktionen‘ auf die soziale Organisation der Erziehungsaufgabe“ (Honig, 1999, S. 9). In Distanz zur Annahme einer faktischen Gegebenheit binärer Generationsverhältnisse gehen praxeologische Zugänge im Kontext der childhood studies davon aus, dass die Herstellung des generationalen Gefüges an Leistungen von Akteur:innen gebunden ist und dass die generationale Ordnung, die auf Differenzierungen beruht, durch die Akteur:innen – Erwachsene und Kinder – hervorgebracht und in Praktiken (re-)produziert wird (Alanen, 2005, S. 79; Bühler-Niederberger, 2020, S. 158; Eßer, Neumann & Siebholz, 2013, S. 90; Prout & James, 2015, S. 6). Differenztheoretische bzw. praxeologische Analysen sind nach Honig (2018, S. 193 f.) entsprechend in der Lage,

die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen [zu] lenken, unter denen Kinder zu ‚Kindern‘ werden. Sie können daher den Begriff des Kindes aus seiner Fixierung auf pädagogische Ordnungen lösen und erlauben sich vorzustellen, dass die Kindheit in einer anderen Gesellschaft auch anders sein könnte als sie uns selbstverständlich erscheint und als es von einer Pädagogischen Anthropologie artikuliert wird. In funktional differenzierten Gesellschaften sind die psycho-physischen Neulinge zunächst weder ‚Kinder‘ noch ‚Menschen‘, sondern Personen, die jeweils abhängig von gesellschaftlichen Funktionsbereichen unterschiedlich positioniert bzw. subjektiviert werden […]. Eine praxeologische Kindheitsforschung schließt an diese These an, indem sie beobachtet, wie Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen alltäglich funktionieren, das heißt: wie Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen relevant werden und Kinder zu ‚Kindern‘ werden (Honig, 2018, S. 193 f.).

Dieses zu-Kindern-werden vollzieht sich eben im Kontext von Ordnungspraktiken bzw. – bezugnehmend auf Bühler-Niederberger (2020, S. 136) – als (Sozialisations-)Prozess,

in dem die Individuen Schritt für Schritt die Fähigkeiten, das Wissen, die Werteorientierungen und Motivationen erwerben, um an Gesellschaft teilzuhaben […]. Das Sozialisationskonzept zielt auf nicht weniger als das Herstellen und Aufrechterhalten sozialer Ordnung, soweit es deren Voraussetzungen betrifft, die auf Seiten der Individuen zu schaffen sind (ebd.).

Die Herstellung gesellschaftlicher resp. generationaler Ordnung ist untrennbar mit Vorstellungen bzw. Bildern von Kindern und Kindheit verknüpft (ebd., S. 136 f.). Diese umfassen widersprüchliche und antinomische Vorstellungen „und sie beziehen sich auf eine historische und kulturelle Vielgestaltigkeit, die es unmöglich macht, von ‚dem‘ Kind oder ‚der‘ Kindheit zu sprechen“ (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 11).

Damit angedeutet ist die Unterscheidung von Kindern und Kindheiten. Zwar sind beide Begrifflichkeiten untrennbar – komplex und zugleich reziprok – miteinander verbunden, dennoch wird vielfach eine analytische Differenzierung vorgeschlagen (bspw. Winkler, 2017, S. 16), um auszudrücken, dass Kinder zwar real existieren, es sie quasi „von Natur aus“ (Andresen, 2016a, S. 19) gibt, sich Kindheit hingegen auf eine Abstraktion bezieht. Jene meint eine Vorstellung der Unterscheidung von Lebensphasen bzw. -abschnitten, insbesondere im Hinblick auf die generationale Ordnung von Kindern und Erwachsenen sowie (normativen) Vorstellungs-, Inszenierungs- und Konstruktionsleistungen (Andresen, 2016a, S. 19; Kluge, 2018, S. 73; Winkler, 2017, S. 16).

Der Begriff des Kindes bezieht sich […] auf räumlich zu verortende Entitäten, die im letzten Schritt als solche wahrgenommen und bezeichnet werden können […]. Kindheit stellt sich nicht als ein einfach gegebenes Phänomen dar, das unmittelbar mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Es erfordert eine zusätzliche Leistung des Denkens, die in der Abstraktion zu liegen scheint (Kluge, 2018, S. 73).

Mit Bühler-Niederberger (2020, S. 136) ist darauf hinzuweisen, dass Bilder von Kindern und Kindheit zwar Konstruktionsleistungen darstellen, jene aber unmittelbar historisch-kulturell bzw. gesellschaftlich umformt sind und eine „bildhafte Zuspitzung der jeweiligen Antwort auf die zentrale soziologische Frage ‚Wie ist soziale Ordnung möglich?‘“ geben. Das Bild vom Kind, das in der jeweiligen Vorstellung gezeichnet wird, steht schließlich „als eine Chiffre für das Individuum vis-à-vis den gesellschaftlichen Erfordernissen sozialer Ordnung“ (ebd., S. 137). Vorstellungen über Kindheit und generationale Ordnung geben somit nicht nur Aufschluss über gesellschaftliche Ordnung – und umgekehrt (ebd., S. 158), sondern stehen auch in einem wechselseitigen Verhältnis mit den Lebenswirklichkeiten realer Kinder (Winkler, 2017, S. 16).

2.5 (Frühe) Kindheit im Kontext von (relationaler) agency

Ausgehend von der Kritik an erwachsenenzentrierter und patriarchal organisierter gesellschaftlicher Ordnung entwickelten sich in den childhood studies zwei zentrale – miteinander in Verbindung stehende – Begrifflichkeiten für das Verständnis von (früher) Kindheit. Zum einen ist damit generationale Ordnung angesprochen (vgl. Abschnitt 2.4), zum anderen das Bemühen, Kinder als soziale Akteur:innen zu betrachten (Bühler-Niederberger, 2020, S. 194; Eßer, Baader, Betz & Hungerland, 2016, S. 4 ff.). Hiermit wird wiederum agency bearbeitet, das Schlüsselkonzept der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung (Alanen, 2019, S. 136; Bollig & Kelle, 2014, S. 264; Bühler-Niederberger, 2020, S. 194; Eßer et al., 2016, S. 1), welches folgend in seinen Grundzügen vorgestellt (Abschnitt 2.5.1) und im Hinblick auf seine Bedeutung für ein relationales Verständnis (früher) Kindheit diskutiert werden soll (Abschnitt 2.5.2).

2.5.1 Agency

Wenn wir Menschen als Akteure betrachten, meinen wir damit oft, dass Individuen mehr oder weniger bewusst und reflexiv auf sich selbst und ihre Umgebung Einfluss nehmen können. Wir nehmen an, dass sie über ein Vermögen, eine Fähigkeit oder Mächtigkeit zum Handeln verfügen (Raithelhuber, 2008, S. 17).

Im Kern bezeichnet agency Handlungsfähigkeit, Handlungsbefähigung, Handlungsmächtigkeit oder Handlungsmöglichkeit (Neumann, Kuhn, Hekel, Brandenberg & Tinguely, 2019, S. 325; Raithelhuber, 2008, S. 17), zum Teil wird der Begriff auch „ganz schlicht mit Handeln gleichgesetzt“ (Raithelhuber, 2008, S. 18). Dennoch will an dieser Stelle auf die pluralen Verhandlungen von agency bzw. auf die Problematik der prinzipiellen Fassbar- und Darstellbarkeit hingewiesen werden (Bollig & Kelle, 2014, S. 266; Helfferich, 2012, S. 9; Paseka, 2013, S. 134; Scherr, 2012, S. 101). Im Kontext der childhood studiesFootnote 51 lassen sich zwei zentrale Diskursstränge umreißen, die einerseits – bezugnehmend auf Latour und Deleuze – agency im Kontext von Akteur-NetzwerkenFootnote 52 bzw. Assemblages bearbeiten und andererseits – in Anschluss an Anthony Giddens – das Verhältnis von agency und structureFootnote 53 problematisieren (James & Prout, 2015a, S. ix; Oswell, 2016, S. 19 f.; Prout & James, 2015, S. 23).

In Rückgriff auf Giddens zeichnet agency die Möglichkeit, zwischen Handlungsoptionen wählen zu können, aus:

Das Entscheidende an agency sei damit nicht die Intention, etwas zu tun, sondern das Vermögen bzw. die Fähigkeit dazu. Bei Giddens bezieht sich agency auf das Tun (doing). Agency beinhaltet für ihn immer auch Macht – im Sinne einer transformativen Kapazität. Wolle man entscheiden, ob jemand eine Person sei, die handele oder ‚nur‘ reagiere, sei nicht ausschlaggebend, ob eine Situation jemandem ‚eine Wahl lasse‘ oder nicht […]. Alltägliche soziale Handlungen sind […] vor allem durch ihre Routinehaftigkeit gekennzeichnetFootnote 54 (Raithelhuber, 2008, S. 23 f.)

Mit dem agency-Begriff verbindet sich die grundlegende sozialwissenschaftliche bzw. soziologische Frage, „wie weit die Fähigkeit der Individuen reichen soll, mehr oder weniger losgelöst von strukturellen Einschränkungen oder Zwängen handeln zu können“ (ebd., S. 18); und in jener Frage ist die Spannung des Verhältnisses von agency und structure angelegt, die die soziologische Theoriebildung in besonderem Maße beschäftigt(e)Footnote 55 (ebd., S. 18 ff., S. 36 f.; Scherr, 2012, S. 100) und den Diskurs der childhood studies erheblich beeinflusst(e). Nach James und Prout (2015a, S. ix) ist dabei insbesondere die Aushandlung des schon angesprochenen Verhältnisses von agency und structure von erheblicher Relevanz: „From interactionist sociology came the idea of children as agents and actors in the social world. Structural sociology contributed the idea of childhood as a permanent feature of social structure.“

Hervorzuheben ist zudem das Bemühen seit den 1970-er Jahren, die beiden Begrifflichkeiten agency und structure integrativ ins Verhältnis zu setzen. Dabei werden soziale Praktiken als zentrale, prozesshafte Momente gefasst, in denen sich sowohl Kontinuität – in sozialer Reproduktion und Persistenz – sowie Diskontinuität – in sozialem Wandel und Transformation – integrieren lassen (Raithelhuber, 2008, S. 20 f.). Bezogen auf Kindheit bedeutet dies, sie sowohl als determiniert durch Strukturen, als auch als hervorgebracht durch die Praktiken der sozialen Akteure – (auch) der Kinder – zu verstehen (Prout & James, 2015, S. 23).

2.5.2 (Relationale) agency in Diskursen der childhood studies

Die Vorstellung, dass Kinder innerhalb der generationalen Ordnung als Akteure zu betrachten sind, die in ihrem Handeln und in der Ausgestaltung von Beziehungen an ihrer Selbst-Werdung und der Gestaltung von Welt beteiligt sind, ist im gesellschaftlichen Common Sense ebenso breit verankert wie das Zugeständnis eines eigenen Werts für die Lebensphase Kindheit. […] In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung werden Kinder dieser Grundüberzeugung entsprechend als Akteure im sozialen Feld gesehen (Nentwig-Gesemann & Großmaß, 2017, S. 210).

Wie bereits erläutert, markieren die Begrifflichkeiten generationale Ordnung und agency zentrale Diskursstränge innerhalb der childhood studies, die sich von der scheinbar faktischen Gegebenheit von (früher) Kindheit im Kontext (binärer) generationaler Ordnung distanzieren und den Status von Kindern als becomings (Baader, 2018a; Bollig, 2018a; 2020; Qvortrup, 2009) kritisch hinterfragen.

Aus der kindheitssoziologischen Perspektive wird vor allem kritisiert, dass Kinder darauf reduziert würden, ‚becomings‘ zu sein, noch unvollkommene, durch Bildung und Erziehung mit Kompetenzen auszustattende Menschen, nicht aber als wertzuschätzende, eigenständige und eigensinnige Subjekte, als ‚beings‘, Anerkennung finden würden, die sich aktiv an der Konstitution von Prozessen des Aufwachsens im Kontext generationaler Ordnungen beteiligen. (Nentwig-Gesemann & Thole, 2023, S. 119)

Beide Konzepte – generationale Ordnung und (relationale) agency – eint die Annahme, dass die Herstellung dieser Vorstellungen an Praktiken, resp. an (Re-)Produktionsleistungen von Akteur:innen gebunden ist – und Kinder, eben als Akteur:innen, an diesen beteiligt sind (vgl. Abschnitte 2.4.1 und 2.5.1). Grundlegend für die Verhandlung von agency in den childhood studies ist eben ein zunehmendes Verständnis vom Kind als being (Baader, 2018a; Bollig, 2018a; 2020; Qvortrup, 2009), womit auf die schon geäußerte machttheoretische Kritik an adultistischen Kindheitsvorstellungen geantwortet wird, indem Kindern ein Status als handlungsmächtige, autonome Akteur:innen zugewiesen wirdFootnote 56.

Mit der konzeptuellen Befreiung von Kindern aus denen ihnen bisher zugedachten theoretischen Kategorien und Forschungsperspektiven ging es entsprechend um nichts weniger, als Kinder nicht mehr als becomings, als inkompetente, unfertige, noch-nicht-Erwachsene zu sehen, deren Lebensäußerungen vor allem mit Blick auf ihr zukünftiges Erwachsensein zu interpretieren seien, sondern als beings, als gegenwärtige Gesellschaftsmitglieder und kompetente Akteure ihrer Lebensrealität als Kinder. Dieser Blickwechsel fand seinen Brennpunkt in der Frage nach der Agency von Kindern bzw. der Figur des Kindes als ‚kompetenten Akteur‘ (Bollig, 2020, S. 22).

Diese „Opposition von ‚being‘ und ‚becoming‘“ (Honig, 2018, S. 195) stellt einen Versuch dar, „einen Begriff des Kindes als Akteur zu fassen, der nicht mehr vom Begriff des Erwachsenen abhängig ist“ (ebd.). Die Zuschreibung von kindlicher agency ist im Kontext advokatorischer Bemühungen einzuordnen, welche sich kritisch gegenüber „biologisierenden Selbstverständlichkeiten“ positionieren (Beck, Deckert-Peaceman & Scholz, 2022, S. 31). Damit wird Kindern ein Akteursstatus zugesprochen, der erlaubt, „sie überhaupt zu Gehör kommen zu lassen“ (ebd.), um der Gefahr zu begegnen, „Kinder nur als passive Objekte erwachsener Vorstellungen zu begreifen“ (ebd.). Nach Honig (2018, S. 196) geht es allerdings nicht (primär) darum, Kindheit als being oder becoming (dialektisch) zu verortenFootnote 57, sondern darum, die Möglichkeitsbedingungen von Kindheit zu rekonstruieren bzw. auszuloten: „Die Pointe des differenztheoretischen Ansatzes besteht daher darin, dass er die binäre Schematisierung von Kindern und Erwachsenen und damit die Hervorbringung von Unterschieden selbst zum Thema macht und nicht lediglich die Beschaffenheiten von Kindern und Erwachsenen“ (ebd.).

In den letzten Jahren wird agency zunehmend kritisch verhandelt, insbesondere im Hinblick auf die essentialistische Vorstellung, dass sie etwas sei, dass Menschen besitzen, im Sinne eines Zustands oder einer inneren Eigenschaft (Baader, 2018a, S. 25; Bollig, 2020, S. 24; Deckert-Peaceman, 2022, S. 43; Eßer et al., 2016, S. 9; Neumann, 2019, S. 325; Raithelhuber, 2008, S. 38; 2012, S. 146):

Agency is therefore not a quality that children possess by nature; instead, it is produced in conjunction with a whole network of different human and non-human actors, and is distributed among these (Eßer et al. 2016, S. 9).

Die Gefahr einer essentialistischen Zuschreibung von kindlicher agency zeigt sich auf mehreren Ebenen, bspw. darin, die Fluidität und Komplexität dieser im Kontext sich verändernder Gesellschaft(en) nicht ausreichend zu perspektivieren (Bollig, 2020, S. 20). Nach Hengst und Zeiher (2005, S. 14) bedarf es eines kritischen Blicks auf die (mögliche) Marginalität jener Situationen, in denen Kinder agency zur Entfaltung bringen können, sofern berücksichtigt wird, dass sich alltägliche Lebensverhältnisse von Kindern in komplexen und widersprüchlichen Kontexten realisieren. Agency ist daher notwendigerweise in Abhängigkeit der konkret gegebenen Rahmenbedingungen zu sehen, was bedeutet, dass sie „in verschiedenen Kontexten auch unterschiedlich gelesen werden kann“ (Wilmes, 2024, S. 25). Nach Deckert-Peaceman (2022, S. 43) läuft der Akteurs-Begriff zudem Gefahr, Kinder als mündige Bürger zu adressieren, die vernünftig handeln sollen. Denn daran sei eben eine implizite Erwartung und Normierung gekoppelt, „die Kinder entmachtet“ (ebd., S. 43):

Kindern [als Akteur:innen; Anm. MH] eine Stimme zu geben, kann das hierarchische generationale Verhältnis, das nicht nur Konstruktion ist, sondern tief verankert in die Entwicklungstatsache, nicht aufheben. Alle Versuche der gesellschaftlichen Egalisierung von Kindern können auch als eine Zumutung interpretiert werden, weil die Sorgebedürftigkeit ausgeblendet wird […]. Erziehung muss die Sorgebedürftigkeit anerkennen, stellvertretend für Kinder sprechen und handeln und gleichzeitig dieses Verhältnis aufheben wollen – im Sinne von Emanzipation als Leitprinzip gesellschaftlicher Entwicklung (ebd., S. 44).

Wird das Kind als Akteur konzipiert, so wird es jedoch oftmals mit einem verkürzten, romantisierten Bild bespielt. Dabei wird ihm eben eine Autonomie zugewiesen, die es letztlich „entmachtet“ (ebd., S. 43). Zudem lässt sich agency als Konzept des Globalen Nordens kritisieren, das globale Ansprüche geltend machtFootnote 58 (Eßer et al., 2016, S. 8; Eßer & Sitter, 2018, S. 4).

Eingefordert wird [vor dem Hintergrund der Kritik an romantisierten, universalisierten, essentialistisch-naturalistischen Vorstellungen von agency; Anm. MH] eine De-Essentialisierung, De-Ontologisierung, De-Naturalisierung, De-Romantisierung und De-Zentrierung sowie eine Relationierung und Kontextualisierung von kindlicher agency. […] Eine Perspektive, die agency vorgängig im Subjekt verortet, vernachlässigt, dass agency auch mit den jeweiligen historischen Konstellationen, Institutionen und Organisationen sowie mit pädagogischen Konzepten, mit der Aufforderung zur Anrufung von agency und mit damit verbundenen Subjektivierungspraktiken zusammenhängt (Baader, 2018a, S. 24 f.)

Kritische Problematisierungen von agency münden – dies deutet sich auch im vorangegangenen Zitat an – oftmals in der Forderung, jene relational zu fassen. Relationale Perspektiven beziehen sich auf unterschiedliche Traditionslinien und reichen bis zu Marx, Dewey, Mead, Simmel, Elias und Bourdieu zurück (Baader, 2018a, S. 30; Scherr, 2012, S. 101). Eine Relation bezeichnet dabei – bezugnehmend auf Latour – „ein Verhältnis in einem Netzwerk, das mehrere Akteure miteinander auf bestimmte Art und Weise in Beziehung setzt“ (Mitterle, 2016, S. 229). Ein relationales Verständnis ‚destabilisiert‘ traditionelle Vorstellungen dahingehend, dass agency sich aus sozialen Relationen ergibt, erst in Praktiken hergestellt, resp. erst von Akteur:innen praktisch vollzogen wird und sich die Handlungsfähigkeit und -mächtigkeit entsprechend auf unterschiedliche Akteur:innen verteilt (Alberth, Bollig & Schindler, 2020, S. 4; Eßer & Sitter, 2018, S. 4 f.).

Mit einer relationalen Brille wird dabei eher interessant, wie Agency möglich ist und wie es als kollektive Errungenschaft hergestellt werden kann – innerhalb von sozialen Situationen, in denen Menschen und Dinge sich wechselseitig beeinflussen (Raithelhuber, 2012, S. 149).

Relationale agency richtet sich somit gegen die Annahme, dass jemand agency hat; sie verbindet sich hingegen mit der Frage nach der Zuschreibung von agency (ebd., S. 124 f.). Der Blick wird entsprechend nicht auf den:die Akteur:in oder auf die Struktur gelegt, „sondern auf den Akt der Konstruktion im Handlungsprozess. Nur im Vollzug erhalten deutungsgenerierende Strukturen ihre Faktizität, werden ‚real‘, sind als Ordnungsmuster erkennbar und können empirisch erfasst werden“ (Paseka, 2013, S. 135). Damit geraten die Handlungen einzelner Akteur:innen aus dem Fokus, zugunsten einer Perspektivierung der – eben relationalen – Beziehungen zwischen den Akteur:innen, unter denen Handlungsmacht, Hierarchien und Machtpositionen verteilt bzw. soziale Ordnung hervorgebracht wird (Raithelhuber, 2012, S. 134 f.; bezugnehmend auf Barnes) und die als Figurationen zutage treten (Scherr, 2012, S. 102).

Nach Scherr (2012, S. 103) liegt der Gewinn der relationalen Perspektive unter anderem darin, die Dichotomie von agency und structure zu überwinden, indem agency „nicht als Eigenschaft von Individuen und sozialen Gruppen vorausgesetzt, sondern die Ermöglichung und Aktualisierung einer sozial nicht determinierten Handlungsfähigkeit selbst als ein Moment sozialer Strukturen und Prozesse analysiert wird“.

Für die Kindheitsforschung resultiert hieraus, dass Kinder – ebenso wie andere Subjekte – Agency nicht einfach ‚haben‘, sondern dass Agency in jeweils unterschiedlich gelagerten sozialen Beziehungen entsteht – in die auch Erwachsene eingebunden sein können. […] Statt einer Gegenüberstellung von Kindern als kompetenten Akteur_innen versus Strukturen, die eine urwüchsige Agency von Kindern korrumpieren und begrenzen, geht es um Beziehungen zwischen Akteur_innen, aus denen wiederum unterschiedliche Eigenschaften und Agencies im Plural entstehen (Eßer & Sitter, 2002, S. 4 f.; Hervorhebungen lt. Original)

Nach Latour sind mit Akteur:innen nicht nur Menschen benannt, vielmehr werden hier auch Räume, Artefakte und Diskurse als Akteur:innen in Netzwerken gefasst (Bollig & Kelle, 2016, S. 38). Soziale Strukturen und Prozesse bestehen in relationaler Perspektive somit nicht nur grundlegend aus Relationen, sondern sind zudem auch nicht vorgängig oder unabhängig der Relationen zu denken, in denen sie situiert sind (Scherr, 2012, S. 102).

In Anschluss an Latour können Kindheit und Erwachsenheit zudem von einem binären Verständnis gelöst werden und vielmehr als komplexes Zusammenspiel in „einem Beziehungsgeflecht diverser natürlicher, diskursiver, kollektiver und hybrider Materialien“ (Burmeister, 2020, S. 49 f.) betrachtet werden. In jenem werden unterschiedliche Kindheiten und Erwachsenheiten dann erst hervorgebracht (ebd., S. 50). Agency lässt sich so als etwas Hergestelltes verstehen, im Kontext von sozialen Beziehungen und vor dem Hintergrund der Eingebundenheit in soziale Situationen (Neumann et al., 2019, S. 325). Kindliche agency bezeichnet dann die Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit von Kindern, „die ein Effekt von Relationen sind“ (Baader, 2018a, S. 26; bezugnehmend auf Prout, 2003).

Wie bereits mehrfach angedeutet: (relationale) agency steht nicht für sich, sondern ist – insbesondere im Kontext von (früher) Kindheit – im Verhältnis zu generationaler Ordnung zu sehen. Nicht nur auf der Gegenstandsebene operieren beide Konzepte mit Relationalität, auch die Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten selbst kann als relational bezeichnet werden:

child agency has to be developed theoretically as a relational concept in order to be able to connect it to the concept of generational ordering: thus the discourses and practices of generational ordering present themselves as the condition for children’s agency, which is made possible and limited by generational ordering. At the same time, however, the actions of children also have a reproductive or transformative effect on the generational order (Eßer et al., 2016, S. 7 f.).

Eine relationale Betrachtung (früher) Kindheit ermöglicht schließlich ein „anders stellen“ (Eßer & Sitter, 2018, S. 5) der Frage, „wie man Kindern in der Kindheitsforschung Agency zuschreiben kann, wenn sie doch aufgrund der dominanten Machtverhältnisse in einer adultzentristischen Gesellschaft so häufig ohnmächtig und verletzlich sind“ (Eßer & Sitter, 2018, S. 4 f.; vgl. auch Abschnitt 2.2). Anstatt Kinder als kompetente Akteur:innen den Strukturen gegenüberzustellen, welche die (scheinbar ‚urwüchsige‘) agency von Kindern begrenzen, können die Beziehungen zwischen Akteur:innen in den Blick genommen werden, aus denen agencies entstehen (ebd.). Zwar wird die Überwindung dieser agency-structure-Dichotomie in gegenwärtigen Debatten gefordert (ebd.; Scherr, 2012, S. 103), inwieweit sie auch wirklich leistbar ist, muss an dieser Stelle jedoch offenbleiben.

Kinder sind nicht lediglich passives Gegenüber der gesellschaftlichen Konstruktionen von Kindheit. Sie stehen zu den Überlegungen und Bestrebungen der Erwachsenen in einem ‚relationalen Verhältnis‘ […] und gestalten durch ihre eigenen kulturellen Formen Vorstellungen von Kindheit mit. Dennoch wachsen sie in eine Welt hinein, die immer schon durch Erwartungen und Anforderungen an sie bestimmt ist (Stieve, 2010, S. 25).

2.6 (Frühe) Kindheit im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit

In Anschluss an die Ausführungen der vorrangegangenen Abschnitte ist (frühe) Kindheit nicht als isoliertes Phänomen zu begreifen, sondern verwiesen auf komplexe generationale Ordnungsprozesse vor dem Hintergrund einer Gesellschaftsordnung, welche sich u. a. durch das Verhältnis von ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘ auszeichnet. (Frühe) Kindheit wird im Kontext von Familialisierung und InstitutionalisierungFootnote 59 verhandelt, womit jene beiden Muster angesprochen sind, die das moderne Kindheitskonzept bis in die Gegenwart entscheidend prägen. Eine hinter diesen Mustern liegende und in seiner historischen Genese zu berücksichtigende Grundidee liegt darin, dass Kindheit als eine von der Erwachsenheit abgegrenzte Lebensphase betrachtet wird, die erstens zur Annahme führt, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und somit zweitens einer spezifischen Bildung und Erziehung bedürfen.

Kinder (des globalen Nordens) bewegen sich, vor dem Hintergrund der verstärkten Inanspruchnahme institutioneller Angebote (Chassé, 2020, S. 434), in „einer widersprüchliche[n] Mischung von de- und re-familialisierenden Regulierungen des Verhältnisses von Familie und Staat“ (ebd., S. 435). Kindheit erscheint somit einerseits als betreute Kindheit (Bollig, 2018b), andererseits als Familienkindheit (Eßer, 2013, S. 164). Die Zuständigkeit für Kinder ist einem historischen Wandel unterlegen, der sich gegenwärtig als Verschiebung von privater hin zu öffentlicher Sorge zeigt (Gaßmann, 2021, S. 120; Stieve, 2010, S. 25), wobei „die Sphäre des Privaten bzw. die Familie im Hinblick auf die Zuständigkeit und Betreuung von Kindern als normativer Bezugsrahmen des Eigenen, Vertrauten, Natürlichen“ (Gaßmann, 2021, S. 115) fungiert.

Diese Entwicklung in der Institutionalisierung von Kindheit stellt einen Paradigmenwechsel von der Dominanz privat-familialer Kindererziehung zu öffentlichen Betreuungsformen dar, der mit grundlegenden Veränderungen der Rahmenbedingungen des Aufwachsens von Kindern im Kleinkindalter verbunden ist. Kindheitstheoretisch ist der Wechsel von der familialen zur institutionalisiert-öffentlichen Erziehung von herausgehobener Bedeutung, da mit dem Übergang von der Familie in die Institution Formierungs- und Sozialisationsprozesse einhergehen, die Kinder soziale Ordnungen und gesellschaftliche Praxen unterstellen, die sich vom Leben in der Familie und ihren je spezifischen sozialen Milieus unterscheiden (Braches-Chyrek et al., 2020, S. 17).

Familialität und Privatheit vollziehen sich vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Strukturkategorien: gender und generation. Hiermit wird ein patriarchal organisiertes, machtvolles Familienmodell der (bürgerlichen) Kleinfamilie vakant, in denen den Generationen und Geschlechtern entsprechend unterschiedliche gesellschaftliche Segmente und Rollen zugewiesen und u. a. Fragen nach Sorge(verteilung) verhandelt werden. Während erwachsene MännerFootnote 60 adressiert werden, die öffentliche Sphäre zu bespielen – in der sie bezahlter Erwerbs- und Produktionsarbeit nachkommen (sollen) – und Frauen die Leistung unbezahlter Care- und Reproduktionsarbeit im Privaten zugewiesen wirdFootnote 61 (Buschmeyer & Haller, 2022; Bütow, 2013; Gaßmann, 2021; Geipel, Koch, Künstler & Rein, 2023), werden Kinder – hier unabhängig des GeschlechtsFootnote 62 – angesprochen, sich zwischen Familie und Institution – in sog. (pädagogischen) Moratorien – zu bewegen (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8; Eßer, 2013, S. 164; Zinnecker, 2000, S. 39 f.). Die Familie stellt sich nach Müller und Krinninger (2019, S. 324) in einer praxeologischen Perspektive dabei als sozial geordnet, als ein

pädagogischer Raum dar, dessen Ordnung sich aus der gemeinsamen Praxis der familialen Akteure ergibt […]. Der pädagogische Raum der Familie konstituiert sich im praktischen Tun ihrer Mitglieder und damit ebenso in den eingespielten Routinen und den Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens wie auch im bewussten Erziehungshandeln.

Familiale Verhältnisse bzw. der private Raum sind zwar von zunehmender Pluralität gekennzeichnet (bspw. Lenz, 2016), dennoch ist nach wie vor das heteronormativ-bürgerliche Ideal der Kleinfamilie mit zwei leiblichen Elternteilen und oftmals leiblichen Geschwistern in traditioneller Arbeitsteilung (angesprochen ist hiermit insbesondere das Verhältnis bezahlter Erwerbs-/Produktions- und unbezahlter Care-/Reproduktionsarbeit) für deren Ausgestaltung leitend (Bühler-Niederberger, 2020, S. 17 ff.; Buschmeyer & Haller, 2022). So stellt für die meisten KinderFootnote 63 das normative Muster langer, behüteter Kindheit zwar deren soziale Realität dar; andererseits stellt gerade das Einlösen dieses verklärt romantisierten, normativen Musters langer, behüteter Kindheit eine Herausforderung dar, der „nicht alle sozialen Gruppen in gleichem Maße gerecht werden“ (Bühler-Niederberger, 2020, S. 16). Es kann – gerade im Hinblick auf soziale Ungleichheit – eben nicht von allen (auf gleiche Weise) eingelöst werden. Und dieses Nicht-Einlösen bzw. Nicht-Einlösen-Können des Musters im Kontext sozialer Ungleichheit ist somit „gerade nicht Folge einer Erosion des normativen Musters ‚gute Kindheit‘, weit eher resultiert [es] aus seiner Geltung“ (ebd.). Ihre besondere Brisanz erfährt diese Tatsache vor dem Hintergrund von Krisen, in der sich Benachteiligungen nochmal deutlich verschärfen (bspw. im Kontext der Pandemie: Holztrattner et al., 2023).

2.6.1 (Frühe) Kindheit in frühpädagogischen Institutionen

Von früher Kindheit zu sprechen bedeutet […], über einen bestimmten Altersbereich zu sprechen. Im Fokus stehen Kinder, die sich in einem Alter befinden, in dem sie eine der Institutionen frühkindlicher Bildung und Erziehung besuchen – wie den Kindergarten. Von diesem Alter an werden Kinder als ‚reif‘ für eine Institution betrachtet, was wir als einen Prozess ansehen könnten, innerhalb dessen sich die Überwachung und Formalisierung jener Aufgabe vollzieht, die ‚Werden‘ genannt werden kann – die Aufgabe des Aufwachsens, um ein qualifizierter Erwachsener zu werden (Ellis, 2014, S. 172).

Frühe Kindheit stellt kein deskriptives Phänomen dar, sondern ist vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ordnungsprozesse sowie historisch-kulturell gewordener (Erziehungs-)Vorstellungen und (Kindheits-)Bilder vielmehr als normatives Konstrukt zu fassen (Bühler-Niederberger, 2020; Honig, 1999, S. 29), das realitäts- und wirkmächtig ist und das (pädagogische) Handeln orientiert (Holztrattner & Kobler, 2020, S. 31). Organisiert wird frühe Kindheit (auch) in frühpädagogischen Institutionen, als spezifisch raum-zeitliches Arrangement im gesellschaftlichen Geflecht sozialer Ordnungen, wo Kinder als ‚Kindergartenkinder‘Footnote 64 adressiert und positioniert werden (Braches-Chyrek et al., 2020, S. 17; Kaul et al., 2023, S. 20; Mierendorff, 2014, S. 24).

Institutionen früher Kindheit sind einerseits als Ausdruck der Bearbeitung des Spannungsfeldes von Öffentlichkeit und Privatheit zu verstehen, andererseits sind Akteur:innen frühpädagogischer Einrichtungen gefordert, dieses zu bearbeiten und (mit)zugestalten: Sie „reagieren nicht allein auf Kindheit, sie bringen sie auch in ihrer konkreten Gestalt hervor“ (Stieve, 2010, S. 25). Eingewoben sind frühpädagogische Einrichtungen – bereits seit ihren historischen Anfängen – in die schon angesprochenen Muster der Familialisierung und Scholarisierung. In diesem Kontext weist Franke-Meyer (2020, S. 245 f.) auf eine notwendige doppelte Verhältnisbestimmung institutioneller Arrangements im Hinblick auf den Aspekt Zeit hin: Sie bestehen einerseits simultan zur Familie, führen andererseits aber auch sukzessive zur Schule: „Auch wenn das leitende Motiv zur Gründung frühkindlicher Betreuungseinrichtungen zunächst und vorrangig sozialfürsorgerischen Ursprungs war, hat es immer auch schulbezogene Motive gegeben“ (ebd., S. 246). Frühpädagogische Einrichtungen sind somit in eine Sorge-Ordnung eingebettet, die sich im Kontext von Kindheit als einem „institutionalisierten Lebens- und Altersabschnitt“ seit dem 18./19. Jahrhundert entwickelte (Gaßmann, 2021, S. 114).

Nach Bühler-Niederberger (2020, S. 62) schließen pädagogische Institutionen an normativen – im Sinne von traditionell-heteronormativ geprägten – Vorstellungen von Familien an: „in ihrer Betreuungsintensität, die sie von Seiten der Eltern verlangen, in ihren Öffnungszeiten und in ihren heimlichen Bewertungsmustern“ (ebd.). Pädagogische Institutionen bringen damit Kindheit als lange, behütete Kindheit (mit)hervor; und sie (re)produzieren soziale Ungleichheit, in die Familien eingelagert sind und werden.

Eine Institution ist […] ein System miteinander verknüpfter, formgebundener (formaler, d. h. gesetzlich fixierter, also staatlich sanktionsbewehrter) und/oder formungebundener (informeller, d. h. in der Gesellschaft faktisch akzeptierter) Regeln. Institutionen haben die Funktion, soziales Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie bringen Ordnung in alltägliche Handlungen und vermindern die Unsicherheit darüber, was andere wohl in solchen Situationen tun oder erwarten werden. Institutionen definieren einen gemeinsamen Handlungs- und Interpretationsrahmen und markieren die damit verbundenen Verpflichtungen, Optionen und Wissensbestände. Wer sich an Institutionen orientiert, macht etwas, was dem allgemeinen Konsens in der relevanten Umwelt entspricht. Institutionalisierung wäre demnach ein Vorgang, durch den sich soziale Beziehungen und Handlungen zu selbstverständlichen und nicht mehr zu hinterfragenden Strukturen und Schemata entwickeln. Regeln, Skripte, Klassifizierungen und intersubjektiv geteilte Sinnmuster und Symbole sind Elemente, aus denen Institutionen ‚gebaut‘ werden (Wolff, 2021, S. 23).

Institutionalisierungen verweisen „auf gesellschaftlich oder feldspezifisch universalisierte Erwartungshorizonte, die sich wiederum in Form einer gewissen Regelmäßigkeit der Herstellung und Objektivierung sozialer Wirklichkeiten abzeichnen“ (Bollig et al., 2018, S. 9) – und Institutionalisierungen können so als „historisch akkumulierte und relativ beständige Muster sozialer Ordnungsbildung“ (ebd.) verstanden werden. Diese Perspektive auf Institutionalisierungsprozesse gestattet es wiederum, „Kindheit als ein gleichermaßen historisch kontingentes wie vergesellschaftetes Phänomen zu denken, das in besonderer Weise in und durch pädagogische Regimes – Familie, Schule, Kindertagesbetreuung, sozialpädagogische Hilfen – geformt wird“ (ebd., S. 10). Kritisch zu fragen ist dabei nicht nur, welche Rolle frühpädagogische Einrichtungen einnehmen, sondern auch, welche sie – unter besonderer Berücksichtigung der Ansprüche und Bedürfnisse von Kindern (und ihrem sozialen und familiären Umfeld) – einnehmen sollen (Giener-Grün, 2012, S. 96).

Die Institutionalisierung von Kindheit vollzieht sich […] im Horizont einer durchgreifenden Pädagogisierung der Lebensphase Kindheit und im Kontext von pädagogischen Settings, zugleich geht sie jedoch weit darüber hinaus (Bollig et al., 2018, S. 9).

Wie schon angesprochen, haben die Aushandlung und die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen eine Ausbildung von je unterschiedlichen Kindheitsräumen zur Folge (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8). Zinnecker (2000, S. 39) beschreibt dieses Phänomen auch als Zuweisung bestimmter Kern-Institutionen zu pädagogischen Moratorien von Kindheit – und somit bestimmten Abschnitten im Lebenslauf (ebd., S. 40). Institutionen der Kindheit verfügen demnach über ein bestimmtes Raum- und Sinnsegment, „in dem die pädagogischen Generationenbeziehungen sich jenseits der dominanten Erwachsenengesellschaft entfalten“ (ebd. S. 39 f.). In diesen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Kindheitsräumen vollziehen sich permanent Prozesse der Hervorbringung von Kindheit und Erwachsenheit sowie der interpretativen Reproduktion von Kultur, wodurch Kindheit als ‚kulturelles Muster‘ (u. a.) hierin entsteht – und zwar durch Kinder und durch Erwachsene (Mierendorff, 2014, S. 24):

Es konstituieren sich bspw. Regeln in Bezug auf das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern sowie Zuschreibungen an das Kind als Kind und den Erwachsenen bspw. in der Rolle des Erziehenden […]. Das Kind wird durch die Institutionen der Kindheit […] an sich, sowie durch die dort handelnden Akteure in seiner Rolle als Kind, als Kindergartenkind […] angesprochen (ebd.).

Der Kindergarten kann als einer dieser gesellschaftlich ausdifferenzierten Kindheitsräume gefasst werden. Mit seinem Begriff verbindet sich eine historische Entwicklung frühpädagogischer Institutionen (Fröbel, 1973), die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. In dieser Zeit entstanden erste KinderbewahranstaltenFootnote 65 (Steinberger, 2020, S. 271), zu Beginn ohne pädagogisches Konzept (Aden-Grossmann, 2020, S. 2333), fungierend als Betreuungseinrichtungen für Kinder aus benachteiligten Familien, die ihrer Sorgeverantwortung (u. a. aufgrund ökonomischer Bedingungen) nicht ausreichend nachkommen konnten (Drieschner, 2021, S. 86) und mit dem Ziel, die Erwerbstätigkeit von Frauen mit geringem ökonomischem Kapital zu fördern (ebd., S. 91). Demgegenüber steht die Idee des Kindergartens (Fröbel, 1973): Fröbel intendierte, ihn als elementare Stufe des Bildungswesens – explizit in (Volks-)Schulnähe – zu verankern. Ausgehend von der Bedeutsamkeit des Spiels (Staege, 2014, S. 202), als „reinste[m] Ausdruck kindlicher ‚Selbsttätigkeit‘“ (Franke-Meyer, 2020, S. 246), sollte der Kindergarten „nicht nur bewahren oder unterrichten“ (ebd.), sondern – didaktisch – Bildung initiieren, in dem „im spielenden Umgang mit den Dingen über die Dinge hinausweisend“ (Staege, 2014, S: 202) eine sinnhafte Ordnung von Welt erschlossen werden sollte (ebd.). Dabei wurde der Kindergarten als Bindeglied zwischen familialer und schulischer Erziehung konzipiert (Drieschner, 2021, S. 87). Die – noch gegenwärtig zu beobachtende – Spannung zwischen Bildungs- und sozialpädagogischen Ansprüchen (Zirfas, 2018, S. 101) und den Funktionszuschreibungen im Kontext der Trias frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung reicht somit bereits bis in die Anfänge der Institutionalisierungsbemühungen zurück (Holztrattner, 2023, S. 7).

Der Kindergarten steht sinnbildlich zugleich für einen Ort und als Metapher (Staege, 2014, S. 1999). Brodbeck (2013, S. IV) weist darauf hin, dass in Fröbels Werk MenschenerziehungFootnote 66 noch die – vergeschlechtlichte – Begrifflichkeit Kinder- und Knabengärten verwendet wurde, wenngleich sich diskursiv letztlich ‚nur‘ Kindergarten durchsetzte, womit nicht nur eine Idee, sondern auch ein Begriff in viele Sprachen Eingang fand:

‚Kindergarten‘ steht mehr als sinnbildlich für eine Idee von Kindheit, für eine Sicht auf das Kind, zu deren wesentlichsten Protagonisten Friedrich Fröbel gehört. […] Im Sprachgebrauch dokumentiert sich Bewusstsein. Sich für den Gebrauch des Wortes ‚Kindergarten‘ einzusetzen hat nicht vordergründig mit Sprachbewahrung zu tun. Es geht um die Bewahrung der Idee von Kindheit (ebd.).

Die normative Aufladung des Kindergartens wird im vorangegangenen Zitat bereits mit dem Verweis auf die Bewahrung der Idee von Kindheit klar deutlich. Fröbel schuf die Institution als romantische Erziehungsmetaphorik eines „Garten-Paradieses“ (Staege, 2014, S. 199), in dem die „ursprüngliche Reinheit des Kindes“ (ebd.) im Kontext der Realisierung einer pädagogischen Utopie gewahrt bleibe (ebd.). Im Kontext romantischer und naturphilosophischer Grundgedanken (Franke-Meyer, 2020, S. 246) wurde der Kindergarten überhöht zu einem „heiligen hortus conclusus“ (Lindner, 2014, S. 44). Nicht unbegründet beinhaltet die Begrifflichkeit den Garten als bürgerlich wie christlich geprägten „umfriedeten Ort und geschützte Sphäre“ (Staege, 2014, S. 200), der nicht nur romantisch-idealistisch aufgeladen ist, sondern auch symbolisch für die „Reinheit und Jungfräulichkeit Marias“ steht (ebd.).

Hingegen verweist Reyer (2009, S. 518) auf die heutige Bedeutung des Kindergartens als institutionellen Ort, in seiner Bezeichnung als „Einrichtung des Bildungssystems für die Altersgruppe der drei- bis sechsjährigen Kleinkinder, unabhängig von der didaktisch-methodischen und weltanschaulichen Ausrichtung der einzelnen Einrichtung“, wenngleich relativierend angefügt wird: „Das war nicht immer so.“ (ebd.). Auch nach Zirfas (2018, S. 101) spielt die historische Bedeutung heute kaum mehr eine Rolle: Seit etwa 200 Jahren steht der Kindergarten im Spannungsfeld von sozialpädagogischen und bildungstheoretischen Ansprüchen – so sieht er sich gegenwärtig mit einer zunehmenden Fokussierung von Bildung (Holztrattner, 2023) – bzw. Lernen, Entwicklung und Förderung – konfrontiert, denn jene fungiert in (post-)modernen Gesellschaften quasi als „universeller Qualifikations- und Gestaltungsschlüssel“ (Zirfas, 2018, S. 101). Hoffmann (2015, S. 18) fasst den Kindergarten gegenwärtig als eine Institution, in der sich verschiedene Vorläufer kulminieren: „Insofern handelt es sich heute nicht mehr um den Fröbelschen Kindergarten, sondern um eine durch viele konzeptionelle, institutionelle und ideologische Einflüsse geprägte Einrichtung, die in Deutschland etwa seit Beginn der zwanziger Jahre vereinheitlicht nur noch den Fröbelschen Namen trägt“ (ebd.).

Nach Braches-Chyrek und Kolleg:innen (2020, S. 17) stellt die frühpädagogische Einrichtung (heute) „die erste institutionalisierte Vergesellschaftungsform dar, in der sich Kindheit als Lebensort und Erfahrungsraum manifestiert und sich als soziale Kinderwelt konstituiert“. Er definiert Handlungspraxen, Räume und Zeiten von Kindern und vermittelt soziale Ordnungsprinzipien, bietet zugleich ‚Raum für selbstbestimmte Vergesellung‘ und stellt Kinder vor die Herausforderung, soziale Beziehungen zu gestalten (ebd.). Der Kindergarten stiftet dabei nicht ‚nur‘ einen praktischen Kontext des Aufwachsens – Kinder sind als Akteur:innen auch gefordert, Kindheitsräume mitzugestalten (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8). So zeigt sich das Muster moderner Kindheit als „Teil einer hochgradig ausdifferenzierten institutionalisierten Altershierarchie […], was sich auch in der Ausdifferenzierung der Institutionen der Kindheit […] spiegelt“ (Mierendorff, 2014, S. 24).

Kindertageseinrichtungen werden heute als wesentliche Orte kindlichen Aufwachsens in Deutschland verstanden. In ihnen finden nicht nur Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) statt, sondern in ihnen ereignet sich Kindheit. Zugleich werden diese Kindheiten von den Akteur:innen unter den jeweils gegebenen Bedingungen gestaltet (Kaul et al., 2023, S. 20).

Mit dem steigenden Angebot an frühkindlichen Einrichtungen verbindet sich eine Transformation des kindlichen Alltags, die Inanspruchnahme öffentlicher Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote erscheint zunehmend als ‚normalbiografisch‘. Damit verbindet sich auch eine Reallokation kindlicher Lebenszeit, was bedeutet, dass Kinder über eine zunehmend früher und über eine zunehmend längere Dauer in öffentlicher Bildung, Betreuung und Erziehung aufwachsenFootnote 67 (Andresen, 2016b, S. 34; Cloos & Tervooren, 2013, S. 40; Hoffmann, 2015, S. 23; Stieve, 2010, S. 25). Mit diesen Institutionalisierungsprozessen ist nicht nur die – schon angesprochene – Transformation von Zuständigkeiten im Spannungsfeld von Öffentlichem und Privatem verbunden, indem Aufgaben, die zuvor von Familien geleistet wurden, nun in stärkerem Ausmaß von Einrichtungen übernommen werden (Gaßmann, 2021, S. 120; Stieve, 2010, S. 25). Im Hinblick auf veränderte zeitliche Strukturen verbringen Kinder weniger Zeit in der Familie „und die verbleibende Zeit [wird] mit dem Ziel modelliert, Erziehung und Bildung der Kinder zu verbessern.“ (Cloos & Tervooren, 2013, S. 40).

Aus der Genese institutioneller Arrangements entwickelte sich eine Ausdifferenzierung von Rollen, womit insbesondere jene der ‚verberuflichten‘ frühpädagogischen Fachkräfte und jene der Kindergartenkinder angesprochen sind (Drieschner, 2021, S. 84): „Diese Differenzierung ist ein konstitutives Merkmal modernen Lebens und der Kindergarten führt im Lebenslauf erstmals in diese Differenzerfahrung ein“ (ebd.). Geistige Mütterlichkeit bespielt als romantisches Deutungsmuster (zum Teil implizit noch heute) das Berufsbild der Fachkraft – im jeweiligen historischen Kontext auch bezeichnet als Kindergärtnerin – im Sinne einer ‚Mütterlichkeitspädagogik‘, die es vor allem bürgerlichen Mädchen und unverheirateten Frauen ab dem beginnenden 20. Jahrhundert ermöglichte, aufgrund der Adressierung ‚natürlicher weiblicher Eignung‘ für pädagogische Tätigkeiten eine Ausbildung zu absolvieren und einer Erwerbsarbeit nachzugehen (Drieschner, 2021, S. 89; Gaßmann, 2021, S. 123). Bot dieses Berufsfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauen „ein Ventil, um ihre natürliche Bestimmung der Liebestätigkeit in den öffentlichen Raum zu verschieben“ (Gaßmann, 2021, S. 123), so zieht jenes bis heute mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und schlechte Entlohnung in sog. ‚Frauenberufen’ im Spannungsfeld öffentlicher und privater Sorgearbeit nach sich (ebd.).

Fachkräfte sind mit vielfältigen Adressierungen und Ansprüchen konfrontiert, die sich grob im Kontext der Funktionsbestimmungen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) umreißen lassen (Bahr & Stalder, 2015, S. 30). Lediglich angedeutet wird an dieser Stelle die prekäre Situation von frühpädagogischen Akteur:innen im Hinblick auf strukturelle Rahmenbedingungen, die sich bspw. in unzureichenden Personalressourcen und Fachkräftemangel dokumentieren (Brunner, 2018, S. 317; Autorengruppe Fachkräftebarometer, 2021, S. 5; educare, 2022; Hoffmann, 2015, S. 21 ff.), und denen die hohen Anforderungen gegenüberstehen, denen Fachkräfte im Kontext eines kontingenten Alltags und vor dem Hintergrund von Qualitätsdiskursen und Professionalisierungsbemühungen genügen sollen (Bock et al., 2013, S. 9 f.; Hoffmann, 2015, S. 38; Holztrattner & Kobler, 2020, S. 38; Kunze, 2021, S. 32). Schließlich kann im Kontext der komplexen Gemengelage zwischen Professionalisierung (resp. attribuierten Defiziten) und zunehmenden gesellschaftlichen Ansprüchen, die an das Feld herangetragen werden, auf eine spezifische Empfänglichkeit für Rezeptivität und Normhungrigkeit hingewiesen werden (Cloos, Gerstenberg & Krähnert; 2019; Gerstenberg & Cloos, 2022).

2.6.2 Ein Exkurs in das gegenwärtige Feld der Elementarpädagogik in Österreich

Im folgenden Abschnitt sollen aktuelle Entwicklungen und Debatten im Kontext der ElementarpädagogikFootnote 68 thematisiert werden, welche sich insbesondere auf Österreich beziehen.

Nach Smidt (2018, S. 624) lassen sich zwei Peaks in den – jüngerenFootnote 69 – politischen und akademischen Debatten um Elementarpädagogik in Österreich ausmachen: Diese betreffen die Phase nach dem sog. Sputnik-Schock in den 1960-er/1970-er Jahren sowie jene ab den 2000-er Jahren. Allerdings wäre kritisch zu fragen, inwiefern die Debatte nach der Jahrtausendwende (auch) durch einen – hier metaphorisch gebrauchten – „Schock“ ausgelöst wurde, konkret: im Kontext des Erscheinens der PISA-Ergebnisse, resp. als Folge des sog. Pisa-Schocks (bspw. Hover-Reisner, Paschon & Smidt, S. 18 f.).

Nach Braches-Chyrek und Kolleg:innen (2020, S. 15) führten die anschließenden bildungspolitischen, gesellschaftlichen und programmatischen Debatten zu erheblich gestiegener Aufmerksamkeit. Sie mündeten in einem strukturellen Wandel, der bisherige Muster und Vorstellungen von früher Kindheit, Familialität und Elternschaft im Kontext von Öffentlichkeit und Privatheit transformierteFootnote 70 (Mierendorff, Höhne & Grunau, 2022, S. 7). Im Kontext ökonomischer und wohlfahrtsstaatlicher Überlegungen wurden zunehmend Fragen nach früher Bildung bearbeitet, die sich im Rahmen des Diskurses um Qualität, Professionalisierung und Akademisierung nachzeichnen lassen (Bock et al., 2013, S. 9 f.).

Im Jahre 2018 – also kurz vor der globalen COVID-19-Pandemie – konstatiert Smidt (S. 625) vier Problemkreise des Diskurses um Elementarpädagogik in Österreich:

  1. 1.

    Akademisierung der elementarpädagogischen Fachkräfte

  2. 2.

    Steigerung der Interaktionsqualität in elementarpädagogischen Einrichtungen

  3. 3.

    Erhöhung der Kooperation zwischen Schule (Primarstufe) und Elementarpädagogik

  4. 4.

    Gründung einer Forschungs-Infrastruktur im Elementarbereich

Die eben dargestellten Problemkreise im österreichischen elementarpädagogischen Diskurs weisen auf eine Fokussierung des Entwicklungs-, Kompetenz- und Professionalisierungsdiskurses hin (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas, 2018, S. 19 ff.), die sich auch in entsprechenden Forschungsleistungen artikuliertFootnote 71 (bspw. Mittischek et al., 2022; Smidt & Embacher, 2023).

Im Kontext der Akademisierungsdebatte kann auch auf vielfältige Hoffnungen und Erwartungen verwiesen werden, die sich etwa auf eine ‚Qualitätssteigerung‘ im Feld, auf höheres gesellschaftliches Ansehen, höhere Vergütung, höhere Verweildauer von Fachkräften, eine alternative Geschlechterverteilung (höhere ‚Männerquote‘) sowie verstärkte Forschungsaktivitäten beziehen (Kunze, 2021, S. 31). Für den Bereich der elementarpädagogischen Ausbildung der Fachkräfte lässt sich für Österreich im internationalen Vergleich eine besondere Situation dahingehend konstatieren, dass jene vorwiegend auf Sekundarstufenniveau angesiedelt ist, wenngleich viele Weiterbildungsformate angeboten werden (Smidt, 2018, S. 625). Explizite akademische Formate etablierten sich erst in den letzten Jahren (Koch, 2021; Mittischek & Gumpold-Hölblinger, 2022). Nach Rösler, Schwab und Sild (2019, S. 185) erfolgte der „erste Schritt im Bereich der Akademisierung“ in Österreich im Jahr 2007, indem an der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz (Oberösterreich) der Lehrgang Bildung in der frühen Kindheit eingerichtet wurde. In den letzten Jahren etablierten sich an unterschiedlichen Hochschulen und Standorten zunehmend Studiengänge – vorwiegend auf Bachelorniveau.

Herauszuheben ist im Hinblick auf Ausbildungsformate die begrifflich-diskursive Differenzierung von Fachkräfte(gruppe)n in Österreich: Die pädagogischen Fachkräfte – im österreichischen common sense als (gruppenführende) Pädagog:innen bzw. Elementarpädagog:innen bezeichnetverfügen zumeist über eine mehrjährige Ausbildung auf SekundarstufenniveauFootnote 72. Ihnen werden vornehmlich pädagogische Aufgaben – insbesondere der Initiierung von Bildung – zugesprochen (Charlotte Bühler Institut, 2009, S. 5 f.). Gemäß LehrplanFootnote 73 haben Bildungsanstalten für Elementarpädagogik die Aufgabe,

den Schülerinnen und Schülern die für die Erfüllung der Erziehungs- und Bildungsaufgaben in den Kindergärten als elementarpädagogische Bildungseinrichtungen für Kinder vom ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt erforderliche Berufsgesinnung sowie das dafür notwendige Berufswissen und Berufskönnen zu vermitteln und sie zur Universitätsreife zu führen.

Sog. Assistent:innenFootnote 74 verfügen in der Regel über eine deutlich geringere Ausbildung. Sie unterstützen die Pädagog:innen, sind aber auch für hauswirtschaftliche Tätigkeiten zuständig. Auf der Homepage des österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) findet sich der Hinweis, dass Assistent:innen „die Kinder in ihren Gruppen [betreuen], […] jedoch nicht in die pädagogischen Maßnahmen der KindergartenpädagogInnen ein[greifen]. Sie spielen mit den Kindern beispielsweise Brettspiele, unterstützen Kleingruppen beim Malen und Basteln oder beaufsichtigen die Kinder beim Spielen im Garten“ (AMS, o. J., o. S.). Assistent:innen als bedeutende ‚Fachkraftgruppe‘ in Österreich sind bislang in der Forschung deutlich unterrepräsentiert. Erste Befunde bietet eine auf das Bundesland Tirol bezogene Studie (Koch et al., 2023). Assistenzkräfte geben im Hinblick auf die Ausgestaltung des Alltags in Einrichtungen früher Bildung, Betreuung und Erziehung einerseits getrennte Zuständigkeitsbereiche von (gruppenführenden) Pädagog:innen und Assistent:innen an, etwa, indem Assistenzkräfte in hohem Ausmaß pflegerische und Routinetätigkeiten durchführen und Praktiken des ‚Beaufsichtigens‘ vollziehen, im Sinne einer eher ‚passiv‘ konnotierten Teilnahme am Gruppengeschehen. Andererseits wird auch auf geteilte Zuständigkeiten verwiesen, im Sinne eines geteilten Vollzugs bildungsorientierter Tätigkeiten (ebd., S. 24 ff., S. 44).

Auf politischer bzw. administrativer Ebene wird in Österreich auf BundesebeneFootnote 75 zwischen KrippenFootnote 76, Kindergärten, Schülerhorten und altersgemischten Betreuungseinrichtungen unterschieden, die allesamt dem elementarpädagogischen Sektor zugerechnet werden (Statistik Austria, 2022, S. 9). Laut Kindertagesheimstatistik besuchten im Jahr 2021/2022 etwa 230.000 Kinder einen Kindergarten und etwa 50.000 Kinder eine Krippe (Statistik Austria, 2022, S. 9). Die sog. Betreuungsquote liegt bei vier- und fünfjährigen Kindern in Österreich bei etwa 97 % und damit etwa im EU-Schnitt. Bei dreijährigen Kindern liegt sie mit etwa 65 % deutlich darunterFootnote 77, und damit zugleich weit unter dem EU-Schnitt von etwa 89 % (Statistik Austria, 2021, S. 13).

Während die etwa 4600 Kindergärten in Österreich mehrheitlich, zu knapp drei Vierteln, von öffentlichen Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) erhalten werden, liegen die etwa 2500 KrippenFootnote 78 mehrheitlich in privater Trägerschaft (Statistik Austria, 2022, S. 9). Während die Anzahl der Kindergärten stagniert, nimmt jene der Krippen in der jüngeren Vergangenheit hingegen deutlich zu. Im Fünfjahres-Vergleich zeigt sich ein Zuwachs von über 35 % im Bereich des Ausbaus der Einrichtungen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung für sog. Unter-Dreijährige-Kinder, die im Rahmen der Institution Krippe adressiert werden (ebd.).

Die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf den Ausbau frühpädagogischer Einrichtungen sind insbesondere im Kontext zunehmender (international und neoliberal beförderter) Institutionalisierung (Deckert-Peaceman, 2020, S. 320) zu sehen, konkret: um dem Anliegen, den Anteil von jungen Kindern, die FBBE-Institutionen besuchen, zu erhöhen, nachzukommen (bspw. OECD, 2021). Hierin zeigt sich (u. a.) das politische und wirtschaftliche Bestreben, die Erwerbstätigkeit von Eltern (vornehmlich Frauen*), resp. deren Beteiligung am Arbeitsmarkt, zu erhöhen, um hiermit „zum wirtschaftlichen Wohlstand und Wachstum bei[zu]tragen“ (ebd., S. 185) und die ‚Work-Life-Balance‘ von Eltern zu verbessern (ebd.; Rösler, Schwab & Sild, 2019).

Lag im der Fokus dieser Bemühungen erst der – eher quantitative – Ausbau des Betreuungsangebots, so verschob er sich etwa ab der Jahrtausendwende. Es ging nicht mehr ‚nur‘ darum, Betreuungsplätze auszubauen, um der arbeitsförmigen Verfügbarkeit von Müttern* und Vätern* nachzukommen, zunehmend erfuhr die Bildungssemantik erhebliche Präsenz und Prominenz (Drieschner, 2021, S. 82; Holztrattner, 2023, S. 6; Obermaier & Schilling, 2021, S. 18): „Das Narrativ von frühkindlicher Bildung ist ubiquitär, omnipräsent“ (Obermaier & Schilling, 2021, S. 18).

Gerade den aus bildungstheoretischer Sicht viel kritisierten und wenig schmeichelhaften Ergebnisse der PISA-Studien ist es gleichsam zu verdanken, dass das Thema Bildung in früher Kindheit überhaupt zu einem bildungspolitischen und ökonomischen Dauerthema in Deutschland [und Österreich; Anm. MH] avancierte. Die hastige Lösungssuche für den abermals diagnostizierten Bildungsnotstand im weiteren Sinne als auch die Frage nach der Qualität von Bildungsinstitutionen im engeren Sinne erreichte dann schließlich den institutionellen Ursprung nahezu jeder Bildungsbiographie: den elementarpädagogischen Bereich […]. Damit wurde der Elementarbereich jäh aus seinem Dornröschenschlaf gerissen und mit einem Schlag stand die Qualität der bisherigen Arbeit von engagierten Erzieherinnen und Erziehern, deren konzeptionellen Grundlagen sowie deren Qualifikation an Fachschulen für Sozialpädagogik und Fachakademien zur Disposition (ebd., S. 17).

Frühpädagogische Einrichtungen wurden zunehmend „als prädestinierte Orte von (früher) Bildung ausgewiesen“ (Cloos & Tervooren, 2013, S. 38), was sich auch im Hinblick auf Benennungspraktiken zeigt: Kindergärten werden in Österreich zunehmend als elementare Bildungseinrichtungen gelabelt (Sting, 2013, S. 10), die normative Bildungspläne zu verfolgen haben (Bock et al., 2013, S. 10; Obermaier & Schilling, 2021, S. 18; Bundesweiter Bildungsrahmenplan für Österreich: Charlotte Bühler Institut, 2009) und sich von ihrer historischen Genese (u. a.) als Betreuungsinstitutionen zu lösen versuchen (Holztrattner, 2023, S. 6)Footnote 79. Diese zunehmende Priorisierung von Bildung führte implizit zu einer randständigeren Bearbeitung anderer Funktionen in den letzten Jahren. Im Kontext des Akronyms FBBE sind hiermit insbesondere Betreuung und Erziehung angesprochenFootnote 80 (Bilgi, Sauerbrey & Stenger, 2021; Holztrattner, 2023).

Bezugnehmend auf Honig weisen Farrenberg und Schulz (2021, S. 27 f.) auf die reale Problematik hin, dass sich frühpädagogische Einrichtungen zwar – gesetzlich verbrieft – auf einen Bildungsauftrag stützen müssen, sie de facto aber insbesondere auf das Moment der Betreuung verwiesen sind. Verschärft zeigte sich dies während der Pandemie, als institutionelle Arrangements nicht mehr in der Verschränkung der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsfunktion angesprochen, sondern die Betreuungsfunktion prioritär gesetzt wurde. Zeitweise wurde gar auf ‚Notbetreuung‘ rekurriert (ebd.). Die Tendenzen der Schließung und Reduktion während der Pandemie lassen sich gerade nicht (wie noch zuvor) als Ausdruck zunehmender Institutionalisierungsprozesse fassen, sondern gegenteilig als de-institutionalisierend. Die Reduktion resp. der (zeitweilige) ‚Wegfall‘ von frühpädagogischen Einrichtungen und der damit verbundene Rückgang von Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten im institutionellen Setting führten dazu, dass Familien während der Pandemie mit Prozessen der De-Stabilisierung, Re-Familialisierung und Re-Traditionalisierung konfrontiert wurden – und jene auch selbst (mit)hervorbrachten (Holztrattner et al., 2023). Ohne auf die Konsequenzen der COVID-19-Krise für den Elementarbereich genauer eingehen zu wollen, sei hier dennoch konkludierend darauf verwiesen, dass die Entwicklungen im Kontext der Pandemie den neoliberal beförderten Institutionalisierungsbemühungen entgegenstehen resp. das spannungsgeladene Verhältnis von Familialisierung und Institutionalisierung – oder allgemeiner: von Privatheit und Öffentlichkeit – zur Bearbeitung aufforder(te)n. Die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern wurde hier in ihrer Rückverlagerung in die Familie „erneut als vermeintlich naturwüchsiges privates Phänomen reproduziert“ (Gaßmann, 2021, S. 117).