Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der dokumentarischen Analyse auf Einzelfallebene vorgestellt (vgl. methodisch-methodologische Überlegungen in Kap. 3). Die Abschnitte 4.1 bis 4.4 umfassen die detaillierte Darstellung der vier ausgewählten Fälle Atelier, Ritter, Rutsche und Mittagskreis. Jene stehen für unterschiedliche und zugleich „typische“ institutionelle Arrangements in frühpädagogischen Einrichtungen (vgl. Ausführungen zur Fallauswahl in Abschnitt 3.3.2) und wurden jeweils zur Gänze analysiertFootnote 1.

Der Darstellung der Fälle, resp. deren Analyse, erfolgt in den folgenden Abschnitten 4.1 bis 4.4 nach folgendem MusterFootnote 2:

  1. 1.

    Rahmendaten zum Kontext der Sequenz

  2. 2.

    Raumskizze

  3. 3.

    Feldprotokoll

  4. 4.

    Thematischer Verlauf mit einer Gliederung in Oberthemen (= OT) und Unterthemen (= UT)

  5. 5.

    Reflektierende Interpretation, organisiert in Oberthemen (mit einführender Tabelle/Ausschnitt aus dem Feldprotokoll)

Der das folgende Kapitel abschließende Abschnitt 4.5 versteht sich als zusammenfassende Darstellung der zuvor umfangreich vorgestellten Fälle.

4.1 Sequenz Atelier

Rahmendaten

Beteiligte:

„ich“ (Forscherin), Hanna (Fachkraft), Eva (5 J.), Clemens (5 J.), Teresa (4 J.), Niklas (3 J.) (chronologische Reihung, nach erstmaligem Erscheinen im Protokoll)

Datum:

6. Erhebungstag (in dieser Einrichtung)

Zeit:

9.30–9.50 Uhr

Dauer:

ca. 20 min

Ort/Raum:

„Atelier“ (im „Bewegungsraum“)

Raumskizze in schematischer Darstellung, nach Erinnerung (Abbildung 4.1)

Abbildung 4.1
figure 1

Atelier: Raumskizze

Anmerkung

Die Personen sind in der Szene in Bewegung und verändern ihre Positionen, sie werden daher zwar im Protokoll sichtbar, nicht aber in der Raumskizze visuell zur Darstellung gebracht.

* Position retrospektiv nicht mehr eindeutig erinnerbar

Kontextualisierung

Der folgenden Szene ist ein kurzes Gespräch mit der Fachkraft Michaela vorgelagert. Sie erzählt mir, dass Hanna ein „Atelier“ im „Bewegungsraum“ vorbereitet hat. Dieser Raum ist ca. 20 m2 groß. Hier werden unterschiedliche Materialien zur Verfügung gestellt (Matten, Bälle, Stofftiere, …), die von den Kindern im regulären Betrieb frei gewählt und verwendet werden dürfen. Der Bewegungsraum verfügt über eine Tür sowie ein darin eingebautes „Holzgitter“ mit einer Höhe von ca. 80 cm, das auch von den Kindern geöffnet und geschlossen werden kann (Tabelle 4.1).

figure a
figure aa

Thematischer Verlauf: Atelier

Tabelle 4.1 Atelier: Thematischer Verlauf

Reflektierende Interpretation: Atelier

Tabelle 4.2 Atelier: Übersicht Passage OT 1

In der beobachteten Situation entfaltet sich die Hervorbringung und Aufrechterhaltung spezifischer Ordnung(en) auf unterschiedlichen EbenenFootnote 5 anhand eines pädagogischen Angebots, des Ateliers. Die Begrifflichkeit markiert bereits inhaltlich, um welche Tätigkeit es sich bei der Realisierung des Angebots handeln soll: um ein künstlerisch-ästhetisches Tun, für das Kinder im institutionellen Setting adressiert werden. Ihnen werden Bildsamkeit, insbesondere auf der Ebene kulturell-ästhetischer Bildung, und damit verbundene spezifische Aneignungs- und Ausdrucksformen zugesprochen. Das pädagogische Angebot des Ateliers wird von der Fachkraft vor dem Hintergrund raum-zeitlicher Exklusivität arrangiert, welche durch eine begrenzte Zugänglichkeit und Nutzbarkeit an einem spezifischen Tag („heute“), an nur einem spezifischen Ort („Bewegungsraum“) deutlich wird (Tabelle 4.2).

Auf räumlicher Ebene lässt sich eine mehrfache Begrenzung des Ateliers rekonstruieren. Die erste äußere Begrenzung bezieht sich auf die intentionale Festlegung und Bestimmung eines Raums zum Nutzungszweck eines Ateliers und damit auf die Transformation des Bewegungsraums. Potenziell hätten seitens der Fachkraft auch andere Räume innerhalb und/oder außerhalb des Hauses gewählt werden können. Zudem ist im „Gruppenraum“ ohnehin ein spezieller Platz für „Malen und Basteln“ vorgesehen und dieser in den Einrichtungsalltag integriert.

Der Bewegungsraum – wie begrifflich bereits angelegt bzw. als solcher konstruiert und adressiert – ist ein Raum, der innerhalb der institutionellen Lebenswelt von Bewegung gekennzeichnet und durch diese markiert wird. Üblicherweise wird er von den Kindern der Einrichtung nach eigenen inhaltlichen Vorstellungen und vorwiegend ohne zeitliche Begrenzungen genutzt. In der Arrangierung des Ateliers wird der Raum dieser relativ freien Verfügbarkeit entzogen und umgedeutet zu einem Ort der Kreativität und Ruhe, was sich bspw. im Flüstern der Fachkraft und im veränderten Materialangebot dokumentiert. Der Bewegungsraum, der den Kindern im Einrichtungsalltag die Möglichkeit bietet, ihn sich anzueignen, diesen zu strukturieren sowie (inter-)individuell und (inter-)aktiv auf unterschiedliche Weise zu bespielen, und dabei u. a. die Gelegenheit für Aushandlungsprozesse unter Kindern bietet, wird somit zu einem von der Fachkraft bestimmten, arrangierten, exklusiven pädagogischen Angebot mit vorgegebenen Strukturen, beschränkten Zugangsmöglichkeiten sowie vorausgewählten Nutzungs- und eingeschränkten Handlungsoptionen transformiert. Den Kindern wird, zugunsten der Herstellung eines „Bildungsangebots“, eine pädagogisch-intendierte, raum-zeitlich konstruierte Entität bzw. eine institutionell vorarrangierte Wirklichkeit präsentiert, welche eine Transformation der Ordnung des Raumes umfasst.

Die äußere Begrenzung des nunmehr geschaffenen Ateliers drückt sich u. a. über die Türe aus: An ihr wird die Grenze von innen und außen bearbeitet. Die Tür fungiert als Medium des Ein- und Ausschlusses bzw. der Möglichkeit des Öffnens und Schließens. Verstärkt wird diese Grenze durch das Holzgitter, das zusätzlich zur Türe angebracht ist und aufgrund seiner (relativ niedrigen) Höhe und der (relativ einfachen) Handhabung bei der Öffnung und Schließung potenziell von Kindern bedient werden kann. Erst aber wenn beide, die Türe und das Holzgitter, geöffnet sind, ist ein Überschreiten der Grenze überhaupt möglich. Türe und Holzgitter markieren somit nicht nur, wo (nicht) gemalt werden kann, darf und soll, sondern dies ist potenziell auch jener Ort, an welchem ausgehandelt und schließlich entschieden wird, wer innerhalb und außerhalb des Raumes (nicht) sein darf, kann und soll.

In der beobachteten Passage zeigt sich diese Verhandlung gleich zu Beginn, als die Forscherin anklopft und propositionell fragt, ob sie dem Geschehen beobachtend beiwohnen darf. Die Fachkraft verhält sich dazu differenzierend, indem sie signalisiert, dass sie es ist, die hinsichtlich der Zugänglichkeit zuständig und entscheidungsbefugt ist. Dieser Bestimmung folgend, wählt sie den Platz im Raum für die Forscherin aus, fordert sie somit explizit auf, sich auf eine konkrete Weise zu positionieren. Der Platz am Schemel unter dem Fenster zeigt sich hier als jener, der am weitesten vom eigentlichen „Geschehen“, dem Malen selbst, entfernt ist und somit potenziell am wenigsten Störung für diesen schöpferischen Akt bedeuten könnte. Diese Deutung lässt sich mit der Zuweisung auf einen Sitzplatz unterstreichen, da die Aufforderung des Sitzens vorwegnimmt, dass die einzunehmende Rolle (stärker) von Passivität gekennzeichnet sein soll. Angedeutet wird hier auch eine erste relationale Aushandlung: Im Flüstern der Fachkraft drückt sich Anerkennung und Wertschätzung den Kindern gegenüber aus; der Fokus der Aufmerksamkeit soll den Kindern zukommen, die, zumindest auf den ersten Blick, in einer aktiven, exklusiven Rolle – künstlerisch-ästhetisch – tätig sind. Diese Adressierung von Kindern im Raum zeigt sich wiederum an der Beschaffenheit des zugewiesenen Schemels bzw. aller Schemel, und damit zugleich aller Sitzmöbel im Raum: Denn dieser ist auf die Körpergröße von (jungen) Kindern ausgerichtet. Er ermöglicht für (potenziell anwesende) Erwachsene keine angenehme bzw. keine ergonomisch adäquate Sitzgelegenheit.Footnote 6

Drei Kinder sind zum Zeitpunkt des Eintritts der Forscherin in die Passage in dieser Rolle tätig: Sie malen gerade auf Blättern, die wiederum auf einer Korkplatte an der Wand befestigt sind. Diese Korkplatte und auch die Plane, die einen Teil des Raumes abdeckt, bilden die inneren (optischen) Marker des Ateliers. Bearbeitet wird die Grenze sowohl an der Wand als auch auf dem Boden, in doppelter Weise: Alle drei an der Korkplatte angebrachten Blätter sind im Hochformat aufgehängt und stellen für jedes Kind eine Zuweisung zu einem „Malort“ und eine Begrenzung des je eigenen Malbereichs dar.

Am Boden ist eine Kunststoffplane weitläufig ausgelegt, welche einerseits die Funktion des Schutzes vor Farbflecken erfüllt, andererseits aber auch genau jenes „Kleckern“ – eben auf der Plane – erst erlaubt. Darüber hinaus kann diese aber auch als Begrenzung gedacht werden, welche den Raum in zwei Bereiche teilt, wobei die Kante der Plane als Grenzmarkierung hervortritt. Während der eine Teil des Raumes für (passiv wartende) „nicht-malende Kinder“ nach Eintritt in das Atelier zugänglich ist, ist jener Bereich, der mit der Kunststoffplane ausgelegt ist, als zugleich individueller (individuelles Tun am eigenen Blatt) und kollektiver Malbereich (gemeinsames Tun im geteilten raum-zeitlichen Arrangement) den (aktiv tätigen) „malenden Kindern“ vorbehalten. Auf der Plane stehen Schemel mit Farbtöpfen und Pinseln, die den Malbereich im Raum, parallel zur Wand, wiederum deutlich be- und abgrenzen. Nur der Bereich zwischen dem je eigenen Blatt und den Schemeln kann von den Kindern schließlich für den Akt des Malens genutzt werden. Insgesamt steht jeder:m Malenden ein klar begrenzter Bereich mit einem räumlich eng begrenzten Aktionsradius zur Verfügung. Hier – und eben nicht an einem beliebigen anderen Ort (des ‚Ateliers‘) – kann sich auf Basis der Arrangierung somit kunstvoll-ästhetisches Tun ereignen.

Neben den visuellen Reizen (Malutensilien, Plane zum Schutz des Bodens, zur Seite geräumte „Bewegungsmaterialien“) wird auch mit auditiven Reizen changiert, um ein Szenario der „produktiv-schöpferischen Ruhe“ herzustellen: Das Flüstern der Fachkraft verweist auf die unterstellte notwendige Ruhe für ein konzentriertes, „störungsfreies“ Tätigsein, ein sich-einlassen-, sich-bilden-Können. Die klassische Musik verstärkt nicht nur die Intention der Störungsfreiheit – die Lautstärke ist so laut eingestellt, dass etwaige Hintergrundgeräusche abgefangen werden, aber auch so leise, dass die Musik dennoch hinter die visuelle Wahrnehmung zurücktritt. Klassische Musik fungiert zudem als impliziter (bildungsbürgerlich-elitärer) Hinweis, was unter Kunst (nicht) zu verstehen ist. Und: Klassischer Musik wird oftmals eine entwicklungs- bzw. bildungsfördernde Wirkung zugesprochen. Dies deutet darauf hin, dass das Abspielen von Musik bzw. die Auswahl von klassischer Musik im Kontext des Ateliers gezielt von der Fachkraft eingesetzt wurde.

Diese Arrangierung des Raumes legt somit eine Deutung als intentional hergestellter „Bildungsraum“ naheFootnote 7. Der potenziell schöpferische Gedanke, der mittels dieses Bildungssettings mit hohem Aufforderungscharakter zu Praktiken individuell-ästhetischen Ausdrucks aufrufen soll, kann aber gleichsam relativiert werden, wenn dem eine enge Auslegung von ästhetischer Bildung unterstellt wird. So wird die Tätigkeit des Malens hier als Mittel zum (Bildungs-)Zweck eingesetzt, was – zugespitzt – einem zweckfreien Kunstverständnis spannungsgeladen gegenübersteht.

Weiters scheint hier eine Deutung des Arrangements vor dem Hintergrund normativ-bildungsbürgerlicher, elitärer und leistungsorientierter Vorstellungen vakant zu werden: Schon die Verwendung der Terminologie ‚Atelier‘ legt den Verweis auf einen exklusiv zugänglichen, üblicherweise erwachsenen Professionist:innen vorbehaltenen Raum nahe, der die Produktion künstlerischer Artefakte intendiert, und dies auf spezifische Art und Weise: Ein Format, das sich in der Regel innerhalb anderer Voraussetzungen und Logiken im Bereich (professioneller) Kunst finden lassen könnte, wird hier an den Alltag einer frühpädagogischen Einrichtung herangetragen bzw. „hineinplatziert“ und vor dem Hintergrund generationaler und pädagogischer Ordnung transformiert.

Der Fachkraft kommt in diesem Geschehen die Rolle zu, den Raum so vorzubereiten bzw. pädagogisch anzureichern und nutzbar zu machen, dass er für die Bildsamkeit des Kindes förderlich ist. Die Praxis des Malens ist nicht irgendwo, irgendwann und irgendwie möglich, sondern nur unter bestimmten Gesichtspunkten, also innerhalb einer spezifischen Ordnung realisierbar, die, gesellschaftlich, generational und institutionell gerahmt, von der Fachkraft festgelegt wird, ggf. rekurrierend auf spezifische didaktische bzw. pädagogische Konzepte. Die Fachkraft ist dabei auf eine spezifische Rolle verwiesen: Ihr kommt die Aufgabe zu, das spezifische Setting raum-zeitlich zu arrangieren, mit jenen Materialien (Artefakten) auszustatten, welche diesem dienlich sind (bspw. Malutensilien, CD-Player), und all jene möglichst zu deplatzieren, welche diesem Bemühen entgegenstehen (bspw. Bewegungsmaterialien). Die Fachkraft ist somit gefordert, stets zwischen potenziell förderlichen und potenziell störenden Faktoren zu unterscheiden; und sie muss ihre Handlungen entlang dieser Klassifikation zugunsten der Aufrechterhaltung bzw. performativen Hervorbringung der Ordnung ausrichten. Sie selbst ist, eben in dieser ordnenden Funktion, in das Geschehen involviert, ohne aber der intendierten Tätigkeit – dem Malen – selbst nachzugehen. Diese ist in der Adressierung den Kindern der Einrichtung vorbehalten.

In der Inszenierung des Ateliers als „Bildungsraum“ verbirgt sich ein Spannungsverhältnis zwischen einerseits (potenziellen) Bildungsmöglichkeiten von Kindern, hier auf der Ebene künstlerisch-ästhetischer Bildung. Gleichsam bedeutet die Arrangierung aber auch einen raum-zeitlichen Eingriff in den Einrichtungsalltag. Und dieser ist wiederum im Kontext von (machtvollen) Ordnungsprozessen, u. a. auf generationaler Ebene, zu verstehen. Schon im Eintritt in den Raum dokumentiert sich eine Ordnung, welche das Geschehen im Atelier strukturiert. Es ist damit nicht zufällig, nicht beliebig und nicht egal, wer auf welche Weise in welcher Position handelnd tätig ist, denn spezifische Normen präformieren bereits die Zugänglichkeit zum spezifischen raum-zeitlichen Arrangement sowie die Differenzierung von (aktiven und passiven) generational geprägten Rollen und deren Zuweisung durch die Fachkraft.

Tabelle 4.3 Atelier: Übersicht Passage OT 2

Wie schon ausgeführt (vgl. Reflektierende Interpretation OT 1), ist das eigentliche Malen nur unter bestimmten Gesichtspunkten bzw. mehrfach raum-zeitlich und materiell begrenzten Möglichkeiten realisierbar und maßgeblich auf die Arrangierung durch die Fachkraft verwiesen. Anhand der Passage OT 2 wird die Positionierung der Personen im Raum deutlich, die wesentlich mit drei unterschiedlichen Modi des „Tätigseins“ verbunden sind bzw. durch diese repräsentiert werden und die sich wiederum in einem spannungsreichen Verhältnis von Aktivität und Passivität verorten lassen (Tabelle 4.3). Diese drei Modi umfassen das (aktive) Malen und (passive) Warten der Kinder sowie das Arrangieren und Aufrechterhalten des Angebots seitens der Fachkraft.

Wie bereits ausgeführt, steht das Malen als zentrale Tätigkeit im Fokus des hier arrangierten Bildungsangebots Atelier. Während des Vollzugs der konkreten Malpraktiken durch die Kinder Eva, Clemens und Teresa am vorab definierten Malplatz, wartet Niklas sitzend auf einem „freien Platz“, um die intendierten Praktiken auch aufrufen und ausführen zu können. Die pädagogische Fachkraft Hanna bewegt sich indessen „frei“ im Raum.

Die Kinder der frühpädagogischen Institution werden in dieser Szene als potenzielle Nutzer:innen des Arrangements adressiert, wobei sie zugleich aktiv und passiv in die Ordnung eingebunden sind: Sie haben die Möglichkeit, beim Malen – elaborierend – selbsttätig zu sein, sich auf das intendierte schöpferische Tun völlig einzulassen, ohne das „Drumherum“ außerhalb ihres Aktionsradius beachten zu müssen. So wurden potentiell störende Elemente und Reize bereits präventiv möglichst ausgeschlossen, bspw. durch das Schließen der Türe (womit Störungen „von außen“ weitgehend vermieden werden können), durch das Deplatzieren von Materialien (womit Materialien mit einem anderen als dem intendiert künstlerisch-ästhetischen Anregungsgehalt keine Ablenkung von der Tätigkeit mehr darstellen) und auch durch die hergestellte Ruhe im Raum (die sich u. a. in der kaum bzw. nur sehr leise realisierten verbalen Kommunikation dokumentiert).

Das Arrangement ist so angelegt, dass Kinder entscheiden dürfen, ob sie sich im Raum aufhalten möchten oder nicht. Wenngleich die Handlungsoptionen beschränkt sind („malen“ oder „warten“) haben sie doch die freie Wahl, sich für oder gegen die Nutzung des exklusiven Angebots zu entscheiden. Diese Wahlmöglichkeit dokumentiert sich insbesondere darin, dass die Fachkraft sich transpositionell an Niklas mit einer Information und Nachfrage richtet. Sie weist nicht nur auf die vermutete längere Wartedauer hin, sondern eröffnet auch eine echte (vs. suggerierte) Handlungsalternative („in der Zwischenzeit zu Michaela rüber gehen und noch etwas spielen“, UT 2.2). Die von Niklas getroffene und explizierte Entscheidung (Fortsetzung der aktuellen Handlungspraxis resp. Ablehnung der offerierten Alternative) wird als solche (von der Fachkraft) anerkannt und nonverbal ratifiziert.

Die vorbereitete (Mal-)Umgebung bietet durch das bewusste Arrangieren einen Rahmen, indem Akteur:innenschaft und strukturelle Begrenzung in einem spannungsreichen Verhältnis stehen. Das Atelier bietet einen Raum, in dem sich die Kinder relativ frei und selbstbestimmt bewegen und sich schöpferischen, kulturell-ästhetischen Bildungsprozessen hingeben können, da, wie bereits ausgeführt, potentiell „Störendes“ (bzw. entsprechend Klassifiziertes) bereits vorab möglichst ausgeschlossen, exkludiert, quasi aus-gerahmt wurde. Potenziell „Förderliches“ (bzw. entsprechend Klassifiziertes) wurde hingegen eingeschlossen, inkludiert, quasi ein-gerahmt. Das Arrangement bietet somit – zumindest von dem spezifischen Standort der pädagogischen Fachkraft innerhalb der generationalen, pädagogischen und institutionellen Ordnung aus – bereits alles, was es für eine Auseinandersetzung – bzw. normativer: was es für die Initiierung eines kreativen Bildungsprozesses – braucht. Das Kind (jenes, das über die exklusive Zugangsmöglichkeit zum Malarrangement verfügt) kann dem Aufforderungscharakter des Arrangements somit unmittelbar folgen und entsprechende Malpraktiken hervorbringen.

Relevant werden für das Kind somit erst gar nicht die Fragen danach, ob, wo, wann und auf welche Weise es sich überhaupt künstlerisch-ästhetisch betätigen kann und will, und was es zu dieser Realisierung alles braucht. Die Vor-Arrangierung durch die Fachkraft innerhalb des institutionellen Settings, ebenso getragen von der Rahmungshoheit des realisierten ‚Atelier‘-Konzepts, macht die Vorbereitungsleistung, der die Fragen nach dem ob, wann und wie vorangehen, für das Kind obsolet. Es kann, darf und soll – sofern es der Anrufung folgt – direkt in das schöpferische Tun einsteigen. Das konzeptuell geprägte Skript strukturiert das Arrangement derart, dass die Akteur:innen auf ihr konjunktives Erfahrungswissen unmittelbar zurückgreifen können. So geben spezifische Markierungen des Settings Aufschluss darüber, wer sich wo, wann und auf welche Weise verhalten kann, darf und soll.

Diese Markierungen zeigen sich u. a. in der (vorab analysierten) Arrangierung des Materials. Denn dieses wurde – seitens der Fachkraft – bereits so vorbereitet, dass es über einen hohen Aufforderungscharakter (im Hinblick auf die kindliche Nutzung) verfügt: Unterschiedlichste Farben stehen, sorgfältig ausgewählt, sortiert und in Farbköchern in wohldosiertem Maße befüllt, in einer Reihe übersichtlich drapiert, bereit. Pinsel sind bereits in den Farbköchern vorhanden; weitere saubere Pinsel sind darüber hinaus gesondert bereitgelegt. Die Kartonblätter offerieren individuelle Gestaltungsmöglichkeiten für jedes Kind; das Format A2 ermöglicht dabei eine relativ großflächige Bemalung; zudem weicht Karton nicht allzu schnell – selbst bei Auftragen von viel flüssiger Farbe – auf, wellt auch bei entsprechend höherem Feuchtigkeitsgrad nicht so schnell und reißt auch bei stärkerer Beanspruchung, bspw. bei festem Aufdrücken eines Pinsels, nicht so rasch wie dünneres Papier. Neben der Vorbereitung des Raumes, ist auch der Schutz vor potenzieller Verschmutzung der Kleidung bereits mitgedacht. So sind u. a. „Malpatschen“ in ausreichender Anzahl (für jedes „malende Kind“) vorhanden, die die Socken und Füße vor Farbflecken bewahren sollen.

Das Atelier stellt sich also als hoch strukturiertes pädagogisches Angebot dar; es ist bereits so detailliert und sorgsam vor- bzw. aufbereitet, dass einem möglichst störungsfreien Sich-Einlassen-Können, einem schöpferisch-ästhetischen Tätigsein augenscheinlich nichts im Wege zu stehen scheint. Das Arrangement legt die Deutung eines großen Bemühens seitens der Fachkraft nahe, Kindern die Gelegenheit für sinnlich-ästhetische Bildungsprozesse einzuräumen und sich zugleich in der eigenen erzieherischen Präsenz zurückzunehmen (vgl. auch Holztrattner, 2023, S. 9).

Doch die Exklusivität und selektive Darbietung des Materials zeichnet sich nicht nur durch einen Ermöglichungs-, sondern gleichermaßen durch einen Begrenzungscharakter dergestalt aus, dass alternative Gestaltungs-, Auswahl- und Entscheidungsprozesse der Kinder dadurch zugleich vorweggenommen werden. Die augenscheinliche Aktivität im sinnlich-ästhetischen Tun wird durch die enge Verwobenheit von räumlicher Positionierung und entsprechend exklusiver Zugänglichkeit zu Malplätzen nochmals erheblich relativiert. So führt die begrenzte Verfügbarkeit von Malplätzen dazu, dass nicht alle an dem Angebot (potenziell) interessierten Kinder dieser Tätigkeit unmittelbar nachkommen können. Die Exklusivität des Arrangements führt (vorerst) zum Ausschluss, wenn die vorab festgelegten Malplätze belegt sind. Die hier vorgenommene Festlegung einer maximalen Nutzer:innenzahl bedingt eine Differenzierung der Kinder in malende Kinder und wartende Kinder und eine entsprechende räumliche Zuweisung spezifischer „Aufenthaltsbereiche“, die den Malbereich in ein innen und außen trennen. Die Kante der Plane repräsentiert (ähnlich der Türe zum Bewegungsraum) dabei jene Grenze, die die beiden Bereiche voneinander trennt. Die exklusive Zugänglichkeit zu einem Malplatz wird von der pädagogischen Fachkraft anhand der Ordnungsprinzipien drei Malplätze bzw. drei Blätter auf der Korkwand sowie ein Kind pro Blatt bzw. pro Malplatz reguliert. So ist Niklas darauf verwiesen, sitzend auf einem Schemel zu warten, bis ein entsprechender Platz frei wird, er – einem chronologischen Ordnungsprinzip folgend – „drankommt“. Nicht nur Niklas verhält sich entsprechend der an ihn gestellten Anforderungen, die vom Skript gesichert werden. Diese – zumindest performatorische – Validierung betrifft auch die drei gerade malenden Kinder, die die an sie gestellte Anfrage, das Setting auf spezifische Weise, anhand anerkannter Nutzungspraktiken zu bespielen, erfüllen. Und dies lässt schließlich Rückschlüsse auf den konjunktiven Erfahrungsraum der Akteur:innen – der Kinder und der Fachkraft – im generational, institutionell und konzeptionell gerahmten Gefüge zu.

Während die Kinder auf die spezifischen räumlichen – relativ immobilen – Positionen verwiesen sind, kommt der pädagogischen Fachkraft die exklusive Möglichkeit zu, zwischen den unterschiedlichen Raumbereichen nach eigenem Ermessen zu wechseln. Doch die Fachkraft selbst ist keine direkte Teilnehmerin, im Sinne einer „Nutzerin“ des pädagogischen Angebots – d. h. sie darf nicht malen (anders als Niklas auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt) –, sondern sie ist vielmehr gefordert, die Übersicht zu behalten und – möglichst achtsam und responsiv – zwischen (wahrgenommenen) kollektiven und individuellen Bedarfen der Kinder zu changieren. In der Passage dokumentiert sich die Bearbeitung dieses Anspruchs insbesondere in der Mobilität der Fachkraft. Sie bewegt sich zwar auf exklusive Weise im Raum, nutzt den höheren Bewegungsradius aber insbesondere dazu, mit Niklas in Kontakt zu treten, der eine Warteposition innehat und somit von der aktiven Teilhabe am Angebot (vorerst) ausgeschlossen ist. Sie reduziert die räumliche Distanz zugunsten einer Kommunikation in größerer Nähe und nimmt durch das tief-in-die-Knie-Gehen und in die Augen sehen eine Körperposition ein, die ein ruhiges – wenn auch kurzes –, wertschätzendes Gespräch auf wirklicher Augenhöhe (vs. ein Sprechen von oben herab) ermöglicht.

Wie schon ausgeführt, informiert die Fachkraft Niklas über ihre Einschätzung der zeitlichen Dauer, bis er der Tätigkeit des Malens nachkommen kann. Mit dieser verbalen Explikation im Kontext des impliziten Skriptwissens schafft sie nicht nur eine gewisse Form von Transparenz und Nachvollziehbarkeit, sondern offeriert propositionell auch mögliche Handlungsanschlüsse für Niklas. Dies bedeutet für ihn, zwischen zwei vordefinierten Optionen wählen zu können, nämlich entweder, die aktuelle Tätigkeit des (passiven) Wartens fortzuführen oder sich stattdessen für die (aktive) Alternative des Spielens im Gruppenraum zu entscheiden. Das Skript begrenzt somit zwar die kindliche Handlungsmacht, das Transparent-Machen seitens der Fachkraft lässt jedoch einen (reflexiven) Umgang damit zu.

Niklas verändert seine Position bei dem Gespräch nicht, er antwortet kurz anhand des Verbs „warten“ (UT 2.2) und beendet das kurze Gespräch somit mit der Präferenz, die aktuelle Positionierung und Tätigkeit im Raum beizubehalten. Diese Entscheidung betont die Bedeutung des Malakts, und sie verweist zudem auf eine spezifische Form von Handlungsmacht, die zwar strukturell (durch das Skript) begrenzt wird, aber dennoch eigenmächtige Entscheidungsmöglichkeiten für die vordefinierten Handlungsoptionen bietet. Die – sowohl verbale als auch korporierte – Interaktion deutet auf konjunktive Erfahrungen von Fachkraft und Kind, u. a. im Hinblick auf die implizite Verteilung der Handlungsmacht, hin.

Die an die transpositionelle Frage der Fachkraft anschließende Entscheidung von Niklas, die aktuelle Position im Raum beizubehalten, oszilliert hier zwischen einem positioniert-werden (Alternativen/Optionen der Positionierung werden durch das Skript begrenzt) und einem sich-positionieren (Handlungsmacht in der Auswahl einer Positionierungs-Option). Die gewählte Position impliziert zwar einen geringen Aktionsradius und fordert eine gewisse Passivität, sie eröffnet aber auch einen unmittelbaren Blick auf das Geschehen an der Malwand, im Sinne einer Beobachtungsposition; ähnlich einem Sitzplatz als Zuschauer:in im Publikum, wo der Blick auf die (Theater-)Bühne gerichtet ist und dem inszenierten Geschehen damit erst seine besondere Bedeutung und Relevanz zukommt.

Tabelle 4.4 Atelier: Übersicht Passage OT 3

Wie in den Interpretationen aus OT1 und OT2 bereits ausführlich ausgeführt, werden die Malpraktiken der Kinder in einem spezifisch raum-zeitlichen und institutionell geprägten Kontext realisiert. So dokumentiert sich in OT3 erneut eine intendierte schöpferisch-produktive Ruhe, welche sich auditiv insbesondere durch geringe Kommunikation, bzw. dem leisen Sprechen (der Kinder) und dem Flüstern (der Fachkraft) vor dem Hintergrund klassischer Musik manifestiert. Visuell wird diese Ruhe insbesondere im Hinblick auf die geringen Bewegungs- und Aktionsradien, v. a. der Kinder, sichtbar (Tabelle 4.4). So bewegt sich Niklas kaum, er sitzt wartend auf dem Schemel; die malenden Kinder bewegen zumeist nur die Hand mit dem Pinsel. Nur wenn der Pinsel zu wenig Farbe aufweist oder die Farbe gewechselt wird, vergrößert sich der Bewegungsradius des entsprechenden Kindes, indem es mit ein paar Schritten die Farbtöpfe bzw. Pinsel aufsucht, um anschließend gleich wieder an die Wand – quasi als räumlichen Bezugspunkt – zurückzukehren.

Diese körperliche Haltung mit Blickrichtung zur Wand wird nicht nur von den malenden Kindern, sondern auch von Niklas und der Forscherin eingenommen. Dieses Hintereinander steht einer (potenziell denkbaren) kommunikativ-interaktiven Gestaltung des Arrangements entgegen, vielmehr repräsentiert es eine Hierarchisierung der Positionen nach den Prinzipien je weiter vorne/je näher der Wand, desto aktiver bzw. je weiter vorne/je näher der Wand, desto exklusiver. Dies stützt die Deutung, dass die Beobachtung der Malpraktiken eine Erhöhung deren Bedeutung erwirkt.

Auch in jenen Momenten, in denen die malenden Kinder ihre Pinsel wechseln oder neue Farbe aufnehmen und dabei in Blickrichtung zu Niklas, der pädagogischen Fachkraft als auch der Forscherin stehen, treten sie mit diesen nicht, bzw. mit der Fachkraft nur kaum, in Kontakt. Die nur geringe verbale Kommunikation, im Sinne sehr kurzer Gespräche (im Modus Transposition/Proposition-Elaboration-Zwischenkonklusion), findet ausschließlich unter den malenden Kindern statt. Die Gesprächslautstärke ist aber so gering, dass der Inhalt der Gespräche nicht vor die Musik hervortritt und für die anderen Akteur:innen sich nicht als hör-/verstehbar darstellt und daher auch nicht anhand des Protokolls festgehalten werden konnte. Die soziale Ordnung dieser Situation zeichnet sich weitgehend durch ein jede:r-für-sich aus. Die Malpraktiken selbst dokumentieren sich hier trotz der räumlich nahen Positionierungen der Akteur:innen weniger als ein soziales bzw. kollektiv-vergemeinschaftetes, sondern vielmehr als individuelles bzw. individualisiertes Geschehen.

Kinder und Fachkraft folgen, wie bereits zuvor ausgeführt, dabei der generationalen bzw. pädagogischen Zuschreibung von institutionalisierten Rollen: alle involvierten Akteur:innen halten die Ordnung aufrecht, indem sie die zugeschriebenen Rollen einnehmen, die damit verbundenen Tätigkeiten ausführen und anhand der anerkannten Praktiken elaborieren sowie korporiert validieren. Der pädagogischen Fachkraft kommt dabei die erzieherische Aufgabe zu, die Umgebung resp. den Raum entsprechend vorzubereiten (pädagogisch anzureichern) und die so geschaffene vorbereitete Umgebung, z. B. durch das Auffüllen der Farben, aufrechtzuerhalten. Die Kinder nutzen das Arrangement, indem sie eine spezifische Praktik (das Malen) auf einem bestimmten Platz (der Korkwand am Malplatz) und auf einem spezifischen Untergrund (dem Papier) anhand eines spezifischen Formats (A2 Hochformat) mit spezifischem Darstellungsmittel (Pinsel und flüssiger Farbe) auf spezifische Weise (Farbe wird mit dem Pinsel mit relativ ruhigen Bewegungen auf das Papier aufgetragen) zum Ausdruck bringen.

Zwar vollziehen sich die Malpraktiken in Begrenzung – vor dem Hintergrund der schon ausgeführten institutionellen und generationalen Strukturierung –, dennoch schafft das Skript auch die Möglichkeit zur Ausgestaltung von künstlerischer Freiheit und Expressivität, bzw. kindlicher agency. Denn das Setting ist so angelegt, dass sich jedes Kind inhaltlich-thematisch frei ausdrücken kann, resp. ein Motiv sowie eine individuelle Form der Darstellung wählen darf. Es gibt keine Vorgaben und keine Aushandlung darüber, was auf welche Weise und/oder in welchem Umfang gemalt werden soll. Die Entscheidung für bestimmte Inhalte, Themen und Motive müssen auch nicht verbalisiert – und damit auch nicht reflexiv zugänglich gemacht – werden. Jedes Kind kann zudem aus den zur Verfügung gestellten Farben frei wählen. Da ausreichend Pinsel vorhanden sind, muss die Verwendung der Farben/Pinsel ebenso nicht (verbal) ausgehandelt werden. Die relative „Störungsfreiheit“ bietet auch eine Atmosphäre des eintauchen-Könnens bzw. eines sich-intensiv-einlassen-Könnens. Und schließlich hat jedes Kind die Möglichkeit, den zeitlichen Horizont der Malpraktik nach Belieben festzulegen, resp. beliebig lange zu malen, um dann den Endpunkt individuell zu setzen.

Diese individuelle Schließung zeigt sich in UT 3.3: Teresa beendet die Malpraktiken, indem sie propositionell mit Hanna in Kontakt tritt. Sie informiert sie verbal darüber, dass sie mit der Produktion des Artefakts „fertig“ (UT 3.3) ist. In der Folge vollzieht sich eine elaborierende Transformation des Geschehens im Hinblick auf die räumlichen Positionen: Teresa verlässt das Atelier durch die Türe; das entstandene Bild wird von der pädagogischen Fachkraft entfernt und der potenziellen inter-individuellen Bearbeitung (durch andere Akteur:innen) – Teresas Entscheidung im Modus der Validierung konkludierend – entzogen. Diese personelle und raum-zeitlich-materiale Transformation wird von der Fachkraft nicht verbal begleitet, was darauf hindeutet, dass es sich um ein ritualisiertes Vorgehen handelt, das einer inhärenten impliziten Ordnung folgt und dessen Regeln von den beteiligten Akteur:innen konjunktiv hervorgebracht werden.

Tabelle 4.5 Atelier: Übersicht Passage OT 4

Wie in den vorangegangenen Analysen von OT 1 bis OT 3 bereits ausgeführt, zeichnet sich das Geschehen im Atelier durch eine implizite generationale wie pädagogische Ordnung im Kontext institutioneller Logik aus. Die internalisierten, inhärenten Regeln, bzw. das Skript des Arrangements werden in OT 4 von der pädagogischen Fachkraft zum Teil explizit gemacht, um Niklas in das Bildungsangebot bzw. in das dahinter liegende Ordnungsgeschehen einzuführen (Tabelle 4.5). Die bislang analysierten Beobachtungen in situ lassen sich hier zum geäußerten kommunikativen Wissensbestand der pädagogischen Fachkraft in Beziehung setzen. Erneut zeigt sich: Innerhalb dieses pädagogischen Settings vollziehen sich Prozesse der Hervorbringung einer generationalen Ordnung, die insbesondere durch ein machtvolles Verhältnis von Kindern und Erwachsenen resp. frühpädagogischen Fachkräften im institutionellen, konzeptuell gerahmten Setting geprägt ist.

Die Fertigstellung des künstlerischen Artefakts durch Teresa bedeutet, wie bereits ausgeführt, eine räumliche Transformation, die schließlich in einer Konklusion mündet: Teresa verlässt nach Abschluss des produktiven Prozesses den Raum, die pädagogische Fachkraft nimmt das hergestellte Bild von der Wand. So wird eine – aktive – Malposition frei. Hierbei kommt der pädagogischen Fachkraft die Aufgabe zu, eine Proposition einzubringen, im Sinne einer Neuordnung bzw. -besetzung der Positionen im Raum. Sie stellt somit erneut Kontakt zu Niklas her, der nach wie vor sitzend wartet und weist ihn auf den vakanten Malplatz hin. Damit eröffnet sie ihm einen Wechsel der Position, welcher den Zugang zum exklusiven innen, zum eigentlichen pädagogischen Angebot ermöglicht. Insbesondere im Hinblick auf die hierarchische Dimension dieser Positionierung bedeutet diese veränderte räumliche Platzierung eine Höherwertigkeit, die sich in der Transformation der Handlungsoptionen dokumentiert: Niklas wird vom passiv-wartenden Beobachter zum aktiv-malenden Gestalter – repräsentiert durch die Nutzung des pädagogischen Angebots.

Die Farb- und Pinselwahl wurde von Niklas zuvor bereits mehrfach beobachtet. Im Kontext des nunmehr erfolgten Rollenwechsels kann sie von ihm nun auch – elaborierend – exploriert bzw. selbst erprobt werden. Hierbei wird nun er seitens der Fachkraft beobachtet, die Niklas` alternative Praktik vor der normativen Hintergrundfolie „korrekten Pinselgebrauchs“ bewertet und schließlich als nicht-anerkannte klassifiziert: Denn der Pinsel wird von Niklas – entgegen der anerkannten Nutzungspraxis – nicht abgestreift, nachdem dem Topf Farbe entnommen wurde. Die alternativ-irritierende Praktik spricht die Fachkraft implizit an, das rahmende und ordnende Skript sichernd zu bearbeiten. Dies tut sie sowohl verbal als auch korporiert, indem sie erneut Kontakt mit Niklas aufnimmt. Differenzierend greift sie mittels der erzieherischen Figur des Zeigens ein, um die anerkannte Nutzungspraktik folgend von ihr elaborierend, im Modus der Exemplifizierung, performativ zum Ausdruck zu bringen resp. mit einem anderen Pinsel und einem anderen Farbtopf aufzuführen. Diese Praktik der Fachkraft zeigt sich als Ausdruck eines Eingriffs, der in möglichst geringem Ausmaß erfolgt. Sie beschränkt Niklas Aktionsradius und Handlungsmacht nur gerade so weit, dass das Zeigen der anerkannten Nutzungspraktik noch in den Vordergrund der (Inter-)Aktion treten kann. Niklas wird adressiert, sich die gezeigte Praktik mimetisch anzueignen bzw. diese anhand der eigenen Malpraktiken performativ hervorzubringen.

Als Niklas anschließend die vorher bereits von ihm zur Performanz gebrachte alternative Nutzungspraktik erneut antithetisch aufführt und sich damit der Anrufung durch die Fachkraft, die als ‚korrekt‘ klassifizierte Praktik zum Ausdruck zu bringen, entzieht, tritt die Fachkraft erneut mit ihm differenzierend in Interaktion. Blieben Niklas und ‚sein‘ Pinsel zuvor auf körper-leiblicher Ebene wahrlich ‚unberührt‘, so verändert sich dies beim erneuten Einritt der Fachkraft in die zum Vollzug gebrachte Malpraxis. Nutzte die Fachkraft das Zeigen mit einem anderen Pinsel und anderem Farbtopf zuvor ausschließlich verbal und visuell verfolgbar, so tut sie dies beim zweiten Mal in deutlich betonter Form. Zwar erfolgt auch die zweite Zeige-Praktik mit verbaler Begleitung („warte kurz, Niklas“; UT 4.5), doch nun wird auch auf körper-leiblicher Ebene auf Niklas (Praktik) zugegriffen, indem die Fachkraft Niklas Hand – wenn auch vorsichtig – berührt und ergreift, um die anerkannte Nutzungspraktik nun für ihn anhand seines Pinsels mit ihm an ihm auszuführen.

Zwar erfolgt dieser Zugriff seitens der Fachkraft relativ behutsam (auf verbaler Ebene ruhige und leise Stimme, auf korporierter Ebene vorsichtige Handbewegung), sie ist aber dennoch (auch) als Ausdruck von zu Performanz gebrachter Handlungsmacht zu deuten. Dies dokumentiert sich insbesondere darin, dass kein explizites Einverständnis, (körperlich) zeigen zu dürfen, eingeholt wird. Die Handlungspraktik der Fachkraft ist somit zwar auf das Kind bezogen, aber nicht im Sinne eines reziproken mit-einanders, sondern im Sinne eines machtvollen Zeigens: Hannah zeigt, indem sie Niklas auf ihre – normativ als korrekt klassifizierte – Weise „führt“. Und Niklas folgt der Anforderung, sich-zeigen-zu-lassen. Dieser Akt lässt sich als, wenn auch kurze, machtvolle Praktik der Disziplinierung hin zur anerkannten, die Ordnung aufrechterhaltenden, Nutzungspraktik deuten. Erst nach der machtvollen Festschreibung des Malens als ruhigen, geordneten Akt, wird Niklas rituell konkludierend in die „freie“ Exploration entlassen.

4.2 Sequenz Ritter

Rahmendaten

Beteiligte:

Katharina (5 J.), Tobias (5 J.), „ich“ (Forscherin), Teresa (4 J.) (chronologische Reihung nach erstmaligem Erscheinen im Protokoll)

Datum:

8. Erhebungstag (in dieser Einrichtung)

Zeit:

8.50–9.20 Uhr

Dauer:

ca. 30 min

Ort/Raum:

„Gruppenraum“

Raumskizze in schematischer Darstellung, nach Erinnerung (Abbildung 4.2)

Abbildung 4.2
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Ritter: Raumskizze

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Thematischer Verlauf: Ritter

Tabelle 4.6 Ritter: Thematischer Verlauf

Reflektierende Interpretation: Ritter

Tabelle 4.7 Ritter: Übersicht Passage OT 1

Die hier vorgestellte Sequenz vollzieht sich im „Gruppenraum“ der Einrichtung in der zeitlichen Phase bzw. im pädagogischen Arrangement des „Freispiels“. In Komparation zur Sequenz Atelier steht hier nicht die Gestaltung und Nutzung eines spezifisch strukturierten pädagogischen Angebots im Fokus, sondern ein (relativ) offenes, freies, unstrukturiertes „Spiel“ resp. Spielpraktiken von Kindern in einer frühpädagogischen Institution. Dass diese Offenheit und Unstrukturiertheit relativiert werden kann bzw. – stärker normativ – soll, zeigt sich auf mehreren Ebenen: So wird in OT 1 eine raum-zeitliche, von erwachsenen Fachkräften (mit)erzeugte pädagogisch-materialisierte Ordnung sichtbar, die das Geschehen rahmt und vorstrukturiert (Tabelle 4.7).

Die in OT 1 protokollierte Passage vollzieht sich in der Mitte des Gruppenraums der Institution, welcher für alle Akteur:innen der Einrichtung (insbesondere Kinder und Fachkräfte) zumeist frei zugänglich ist. Der von Fachkräften pädagogisch inszenierte, für Kinder gestaltete Raum ruft zur Performanz anerkannter Spiel- resp. Nutzungspraktiken auf, wobei dem ‚kindlichen Spiel‘ im frühpädagogischen common sense ein hoher normativer bzw. affirmativer Gehalt zukommt.

Bezugnehmend auf die RaumskizzeFootnote 16 und komparativ zu anderen Institutionen ist das hohe Ausmaß an ‚freien‘ Flächen in Relation zu Tischen und Stühlen auffällig. Dies fordert zu unterschiedlichsten Praktiken auf dem Boden, bzw. auf kleineren TeppichenFootnote 17 und einem größeren, runden Teppich auf. Hiermit ist zugleich ein oben und unten angesprochen, das generationale (Platz-)Zuweisungen impliziert. Während Erwachsene kaum auf dem Boden oder dem Teppich positioniert sindFootnote 18 und hier entsprechend selten performative Praktiken zum Ausdruck bringenFootnote 19, folgen die Kinder dem impliziten Aufruf, die horizontalen Flächen zu nutzen, um Spielpraktiken zur Aufführung zu bringen.

OT 1 vollzieht sich in einem begrenzten Spielbereich, zentral im langgezogenen, quaderförmigen Raum, vertikal abgegrenzt durch Regale und Wände sowie horizontal markiert durch einen großen, runden Teppich. Auf einer Hälfte dieses Teppichs sind Katharina und Tobias als bedeutsame Protagonist:innen der Passage sitzend positioniert. Ihre Körper rahmen einen gemeinschaftlichen Interaktionsraum, quasi ein innen, das dyadische Interaktionsmöglichkeiten schafft und den Zugriff auf die Spielgegenstände – repräsentiert durch die Bausteine, zum Teil in verbauter Konstellation – ermöglicht. Zugleich bringen die Körper ein außen hervor, das wiederum auf die Exklusivität des Arrangements im innen – hinsichtlich Kommunikations- und Zugriffsmöglichkeiten – verweist. Dass die Kinder dem generational codierten Aufforderungscharakter des pädagogisch inszenierten Raums nachkommen, dokumentiert sich in deren Performanz, resp. der anerkannten Nutzungspraktiken des Raums im Sinne von Spielpraktiken. So wird die raum-zeitlich, institutionell, generational und konzeptuell gerahmte Ordnung – hier gefasst als Proposition – von Tobias und Katharina elaboriert bzw. inhaltlich ausgestaltet.

Die Forscherin tritt in dieses exklusive Geschehen, zum Zweck des Wahrnehmens einer Beobachtungsgelegenheit – im Modus einer Transposition – ein. Dieser, von ihr in geringer Geschwindigkeit vollzogenen Bewegung, ist die Intention inhärent, räumliche Distanz zu reduzieren, um eine Frage auf Augenhöhe einbringen zu können, realisiert durch ein in-die-Knie-gehen sowie durch eine – vorerst – nonverbale Initiierung von Kommunikation mittels Suchen von Augenkontakt. Erst nach positiver Beantwortung dieses Kommunikationsangebots wird von der korporierten zur narrativen Ebene gewechselt, um ein explizites Einverständnis für die Teilnahme am Geschehen einzuholen, wobei unerwähnt bleibt, dass dieser Wunsch nach Teilnahme im Modus einer wissenschaftlich gerahmten Beobachtung erfolgen soll (alternativ wäre auch eine Teilnahme in Form eines mit-Spielens denkbar). Nach Erteilung des Einverständnisses durch beide Kinder (Validierung) nimmt die Forscherin eine sitzende Position, relativ mittig – aber doch ein wenig abseits – auf dem Teppich (oben bereits genannter Standort) ein (Elaboration), welche einen visuellen Einblick in das interaktive Geschehen gewährt und die (via Fußnote im Protokoll explizierte) Absicht, zwischen Nähe und Distanz bei der Wahl der Beobachtungsposition zu changieren, zu realisieren versucht.

Dieser Eintritt in den Interaktionsraum deutet auf die Bearbeitung eines Spannungsverhältnisses hin: Einerseits auf die forschungsethische Orientierung der Forscherin, Kinder transparent um eine Teilnahme zum Zweck der Datengewinnung zu bitten resp. ihnen Entscheidungsmacht zukommen zu lassen; andererseits auf ein nicht-stören-wollen der Kinder bei der Hervorbringung von (Spiel-)Praktiken. Die (De-)Thematisierung der Teilnahme im Modus der Beobachtung – welche einer Erwachsenen-Praktik entspricht – führt an dieser Stelle zu einer (Re-)Produktion generationaler Ordnung und leistet zugleich einen Beitrag zur Zuschreibung bzw. Herstellung kindlicher Akteur:innenschaft.

Die, im Hinblick auf die Diversitätsdimension Alter, homogene (Kinder-)Dyade wird vor diesem Hintergrund zu einer heterogenen (Kinder-Erwachsenen-)Triade transformiert. Diese führt jedoch nicht zu einer Veränderung, (größeren) Irritation, Störung oder Unterbrechung der Praktiken der beiden Kinder. Dies wird bspw. darin deutlich, dass die räumlichen Positionierungen – beide verbleiben in ihrer Sitzposition – beibehalten werden. Auch die Spielpraktiken werden weitergeführt, resp. ohne wahrnehmbare Veränderung von denselben Akteur:innen vollzogen. Die Spiel-Beobachtungs-Situation wird als solche von allen drei beteiligten Personen validiert.

So ist Tobias weiterhin frontal vor der Spielwelt platziert, was eine optimale Zugriffs- und Konstruktionsmöglichkeit zu bzw. von Ritterburg und Kugelbahn impliziert. Diese Position bedeutet umgekehrt aber auch eine eingeschränkte Zugänglichkeit zu den beiden Kisten, dahingehend, dass er seine körperliche Sitzposition für deren Erreichbarkeit verlassen müsste und sich bei Kiste 1 erheblich vornüberbeugen (über Burg und Kugelbahn) bzw. bei Kiste 2 aufstehen und sich z. B. seitlich an der Burg vorbeibewegen müsste. Katharina kann aus ihrer Position unmittelbar auf die Kiste 1 sowie – potenziell – auf die Kugelbahn und eingeschränkt auch auf die Burg zugreifen, bei letzterer müsste sie ihre körperliche Position zugunsten eines Vornüberbeugens verändern. Kiste 2 ist für sie jedenfalls nur bei einem Verlassen des aktuellen Platzes, z. B. mittels eines Vorbei-Bewegens an Kiste 1, möglich.

Die im Protokoll und der bereits erfolgten Analyse – von der Forscherin – mehrfach verwendete Begrifflichkeit des Spiels (auch: Spielpraktiken, Spielwelt) zeugt von einer normativen Setzung vor dem Hintergrund des common sense: Es scheint (für sie) auf den ersten Blick klar – und eben nicht auf eine Beschreibbarkeit verwiesen – zu sein, was unter dem Spiel zu verstehen ist. Kindliches Tätigsein bzw. kindliche Praktiken und Spiel scheinen gewissermaßen gleichgesetztFootnote 20. Hierin drückt sich eine Involviertheit in den konjunktiven Erfahrungsraum des pädagogisch-institutionellen Feldes Kita bzw. im Hinblick auf die generationale Ordnung – im Sinne der Perspektive einer erwachsenen, pädagogisch sozialisierten Forscherin auf Kinder und deren Tätigsein – aus. Dabei wird die Rolle, resp. die Standortgebundenheit der Forschenden zum Dreh- und Angelpunkt der De-Thematisierung bzw. der Nicht-Beschreibung „des“ Spiels.

Tobias und Katharina bringen (‚Spiel‘-)Praktiken simultan zur Aufführung, indem sie Material nutzen, das explizit für junge Kinder konstruiert, produziert, einer medialen Bewerbung zugeführt und zum Verkauf gebracht bzw. von den Fachkräften ausgewählt und im Gruppenraum in Boxen bereitgestellt wurde. Der Anrufung, dem appellativen Charakter des Materials unmittelbar zu folgen, kommen Tobias und Katharina auch nach. Sie wählen in einem anerkannten Raum (dem Gruppenraum der Einrichtung) zu einer anerkannten Zeit (im ‚Freispiel‘) anerkanntes Material (zur Nutzung zur Verfügung gestelltes Spielzeug) und vollziehen an einem anerkannten Ort (auf dem großen, runden Teppich) anerkannte Praktiken (Spiel). Die Spielpraxis wird nicht nur auf Basis des Anregungsgehalts des Raums und des Materials zum Vollzug gebracht, sondern sie ist auch untrennbar in eine institutionell, raum-zeitlich, konzeptuell und generationale Ordnung eingewoben, die präformiert, welche Praktiken auf welche Weise (nicht) hervorgebracht werden können.

Tabelle 4.8 Ritter: Übersicht Passage OT 2

Die in OT 1 rekonstruierte (erwachsene) Zuschreibung (kindlicher) Akteur:innenschaft wird in OT 2 erneut aufgerufen (Tabelle 4.8). Der transpositionelle Redebeitrag geht von den Kindern (zumindest von Tobias) aus, wenngleich auf Basis der Erinnerung die genauen Redebeiträge und -anteile nicht mehr zugänglich sind. Die Äußerung, „dass in der Burg Ritter und Drachen leben und die Ritter die ‚Guten‘ darstellen“ (UT 2.1) deutet darauf hin, dass die schon zuvor transformierte Sozialform – von der Dyade zur Triade – an dieser Stelle auch verbal bestätigt bzw. zwischenkonkludiert wird und die Forscherin explizit in die Spielpraktiken eingeführt wird. Diese Einladung kann als Ausdruck generationaler Ordnung verstanden werden, indem die erwachsene Person, hier als Nicht-Wissende (vs. Kinder als Wissende), einen Einblick in den konjunktiven Erfahrungsraum dergestalt erhält, dass der implizite Wissensbestand der Kinder für die erwachsene Forscherin (zum Teil) explizit gemacht wird. Die Forscherin wird damit als Erwachsene adressiert und positioniert, die selbst nicht Teil des konjunktiven Erfahrungsraums ist. Dieses ‚Abholen‘ ermöglicht eine Teilnahme, ohne die Relationen bzw. Rollen der nunmehr drei teilnehmenden Personen (genauer) zu thematisieren. Die Einladung vollzieht sich jedoch nur auf einer verbalen Ebene, es gibt keine größeren korporierten Veränderungen, im Sinne einer Transformation der körperlichen Positionen (abgesehen vom z. T. bestehenden Blickkontakt).

Offen bleibt an dieser Stelle noch, ob diese Einladung auch als aktive Teilnahme am Spiel verstanden werden kann oder hier der Spiel-Beobachtungs-Modus von den Kindern erneut validiert wird, oder, ob die Forschende adressiert wird, sich für eine Rolle selbst entscheiden zu dürfen. Im Hinblick auf die Exklusivität des Arrangements kann jedenfalls auf einen erheblichen ‚Vertrauensvorschuss‘ geschlossen werden, welcher der Forscherin von den beiden Kindern entgegengebracht wird, insbesondere im Hinblick auf eine zumindest nicht-störende Rollenein- bzw. -übernahme.

Die Forscherin erwidert die Teilnahme, indem sie die thematische Einführung der „Guten“ aufgreift und transpositionell – in einer binären Logik – nach potenziellen „Bösen“ und deren Lebensraum fragt. Während die Spielpraktiken von Katharina und Tobias zuvor im Modus des Selbstverständlichen erfolgten, kann die Forscherin auf diesen konjunktiven Rahmen nicht zurückgreifen, sie bedient sich der kommunikativen Ebene, um an die vorangegangene Kommunikation anzuschließen. Rekurriert wird hierbei auf die Annahme einer Dualität bzw. auf eine unterstellte antinomische Anlage von Phänomenen, hier: der Gegenüberstellung des Bösen in Relation zu dem Guten. Im Einbringen dieses Gegenhorizonts dokumentiert sich zwar eine Erwachsenen-Perspektive, aber auch Kindern begegnet die Dichotomie gut-böse, gerade auch in ihrem fiktionalen Gehalt, im Kontext der Thematik Burg/Ritter/Drachen, bspw. in Gestalt medialer Darbietungen (z. B. Märchen, Filme) oder in überlieferten Spielen (z. B. Räuber und Gendarm), als historisch-kulturelles Schema, in denen Rollen mit Attributen von gut-böse besetzt werden. So fungiert diese Antinomie als bekannte und zugleich ordnende Dimension, indem sie eben bspw. in Narrationen und Skripten Handlungspraktiken, normative Zuschreibungen, Platzzuweisungen, etc. (re-)produziert und reguliert.

Interessant erscheint im Kontext der Frage nach dem Bösen die von Tobias elaborierende, im Modus der Beschreibung eingebrachte, Antwort, „dass es Böse gibt, aber die ‚nirgends‘ wohnen“ (T 2.1). Die von der Forschenden eingeworfene Dichotomisierung gut-böse wird hierbei insoweit aufgegriffen, als dass es als böse attribuierte Personen prinzipiell gibt. Anders als den Guten wird den Bösen allerdings keine räumliche Positionierung, im Hinblick auf die Exklusivität eines Lebensorts, entgegengebracht. Wenn die Bösen keinen spezifischen Ort haben, so sind sie damit einerseits aus dem Fokus gerückt, andererseits ist hiermit aber auch die Gefahr der potenziellen Omnipräsenz verbunden, da sie sich einer raum-zeitlichen Ordnung und Kontrollierbarkeit entziehen.

Sich der Figur des Zeigens bedienend und die Rahmung von Tobias differenzierend, weist Katharina die Forschende auf etwa zehn weiblicheFootnote 23 Figuren hin, die einen (auf verbaler Ebene undefinierten) Ort haben und in deutlicher räumlicher Distanz zur ‚Spielwelt‘ angeordnet sind (zwischen Katharina und Kiste 1, am Teppich). Deren durchgängige Positionierung auf dem Rücken deutet auf die Zuschreibung eines geringen Aktionsradius, auf Passivität, hin. Dies ist im Hinblick auf die negative Konnotation des Bösen interessant: Anders als potenziell erwartbar, sind es gerade nicht aktive (stehende/gehende), möglicherweise auch mittels einschlägiger Waffen und Schutzschilder ausgestattete, Figuren, auf die hier rekurriert wird. Es sind auch nicht andere Ritter oder Drachen, die als böse adressiert werden. Zudem wird nicht auf ein größenmäßig unbestimmtes und abstraktes Kollektiv von bösen Figuren Bezug genommen, sondern das Attribut ‚böse‘ individualisiert, was sich im korporierten Zeigen und der verbalisierten Betonung konkret einer Figur artikuliert. Was es mit den anderen etwa neun Figuren auf sich hat, bleibt an dieser Stelle unbestimmt. Auffällig ist, dass es gerade die bislang einzig sichtbare weibliche, ‚schwarze‘ Figur ist, auf die hier – ohne dies zu verbalisieren – Bezug genommen wird. Diese zeichnet sich, intersektional betrachtet, im Hinblick auf die Dimensionen Alter, gender und ‚race‘ als different zu Tobias, im Hinblick auf Alter und ‚race‘ als different zu Katharina aus. Hier drückt sich eine spezifische Fremdheitsrelation auf mehreren Achsen sozialer Kategorisierung aus, eine Fremdheit, die potenziell auch schwierig fassbar und einordenbar ist. Der von der Forscherin eingebrachte Versuch der Differenzierung, im Sinne einer De-Personalisierung bzw. einer stärkeren Zuschreibung von gut-böse auf einer handlungspraktischen Ebene – und damit der Distanz zur Ontologisierung – wird von Katharina jedoch oppositionell beantwortet: „die ist böse“ (UT 2.3). Katharina stellt somit erneut keinen (unmittelbaren) Bezug zur Hautfarbe her, verbalisiert aber wiederum, dass die Zuschreibung als totale Modalität zu verstehen ist, resp. die gesamte Figur umfasst.

Katharina verhält sich hierin zu der von der Forscherin gestellten Frage nach dem warum der Attribuierung, welche einerseits als Aufforderung zur Legitimierung dieser Attribuierungspraxis gedeutet werden kann, andererseits aber auch den Relevanzrahmen der Forschenden sichtbar macht. Denn deren Frage ist nicht nur deskriptiv im Sinne eines Verstehen-Wollens angelegt, sondern beinhaltet auch ein normatives Moment, ein Ergründen-Wollen von möglicherweise im Spiel sichtbaren – unterstellten und negativ konnotierten – Othering-Mechanismen im Hinblick auf ‚race‘ (vgl. Ausführungen zu De-/Thematisierungen auf Basis der Standortgebundenheit in der Beobachtung, OT 1). Die Frage der Forscherin schließt somit gerade nicht an Katharinas (und ggf. Tobias’) Relevanzrahmen an, sondern es werden unterschiedliche Rahmungen zur Geltung gebracht: Während die Forschende das Geschehen – auf einer kommunikativ-reflexiven Ebene – zu ergründen versucht, orientieren sich die beiden Kinder am unmittelbaren Tun; sie bringen die Handlungspraxis im Modus des Selbstverständlichen, vor dem Hintergrund eines konjunktiven Erfahrungswissens, hervor, das es ermöglicht, einfach zu machen, ohne dieses Tun reflexiv einholen oder erklären zu müssen oder zu wollen. Spätestens hier zeigt sich eine Rahmeninkongruenz zwischen den Kindern und der Forscherin.

Tabelle 4.9 Ritter: Übersicht Passage OT 3

Die Passage OT 3 kann als Form der Elaboration der Spiel-Beobachtungs-Praktiken verstanden werden (Tabelle 4.9). Die beiden Kinder bringen ihre Orientierung(en) im Hinblick auf das gemeinsame Tun zur Performanz, zumeist zwar in Form eines Nebeneinanders, aber dennoch auch synthetisch. Die Praktiken des Suchens und Bauens folgen zwar unterschiedlichen Logiken und umfassen differente Tätigkeiten, dennoch sind sie mittels einer reziproken Ordnung aufeinander verwiesen. Ihr Spiel folgt konjunktiven Regeln, die im Prozess hergestellt werden bzw. wurden. Wie bereits in OT 2 ausgeführt, ereignen sich die Praktiken im Modus des Selbstverständlichen. So folgen Katharina und Tobias einem implizit vorhandenen, nicht explizit zur Artikulation gebrachten Skript, das beiden spezifische Positionen, Zugänglichkeiten und Handlungsoptionen zuweist. Während Tobias hier die Rolle eines Konstrukteurs einnimmt, kommt Katharina die Rolle der Suchenden passender Teile zu. Quasi nebenbei (zur Suche) führt sie die Forscherin auch tiefer in den konjunktiven Erfahrungsraum ein. Zwischen Realität und Fiktion oszillierend vollzieht sich die Suche Katharinas nach „brauchbaren Teilen“ aus der Kiste sowie deren Ordnung auf dem Teppich. Die korporierten Praktiken werden von ihr dergestalt verbal elaboriert (zum Teil argumentierend, zum Teil exemplifizierend), dass sie auf einer kommunikativen Ebene nachvollzogen werden können. Die Forschende wird somit auf spezifische Weise in die Spielpraktiken inkludiert. Offen bleibt an dieser Stelle, inwieweit Katharinas Praktiken einem – weiblich konnotierten – sozialen Interesse entsprechen, das nicht nur thematisch orientiert zu sein scheint, sondern auch an der Interaktion, an den personalen Relationen des Spiels.

Auf thematischer Ebene schließt Katharina nicht an den „realen“ Bedarfen auf einer Burg, insbesondere im zeitgeschichtlichen Kontext des Mittelalters, in dem sich die Ritter verorten lassen, an, sondern nimmt ihr eigenes Alltagsverständnis zum Ausgangspunkt der Frage, was man auf einer Burg braucht. Dabei bezieht sie sich in ihrer Auswahl der brauchbaren Dinge auf die gegenwärtige Lebenswelt von Erwachsenen, die zur Organisation des Alltags bspw. eines Telefons oder einer Mülltonne bedürfen. Interessant scheint hier auch die Äußerung, dass man auf der Burg kein Papier braucht. Im Hinblick auf die generationale Ordnung könnte dies auf die Annahme hindeuten, dass Papier als Ausdruck einer Kinder-Welt zu verstehen ist, da Papier ein Material darstellt, das in der Lebenswelt der Kinder von besonderer Bedeutung ist. So ist es bspw. in dieser frühpädagogischen Einrichtung jederzeit für sie zugänglich. Es ruft zu einer relativ freien kreativen Betätigung – vielleicht auch im Sinne spielerischer Nutzungspraktiken – auf und wird daher vermeintlich weniger der ‚Erwachsenen-Welt‘ zugeschrieben.

Tobias’ Fokus liegt über die Passage hinweg auf der Konstruktion und Bearbeitung des Artefakts. Dabei kommt ihm auch eine hohe Entscheidungs-, Handlungs- und Deutungsmacht zu: Es scheint, als würde er – zumindest auf den ersten Blick – in einem Hauptszenario seine Praktiken zur Aufführung bringen, in dem er bestimmt, was auf welche Weise gebaut wird und diese Intention(en) auch unmittelbar zur Performanz bringt. Katharina scheint hingegen auf ein Nebenszenario verwiesen zu sein, im Sinne der Ausführung einer Assistenzrolle. Diese Hierarchisierung – im Hinblick auf ein Haupt- und Nebenszenario –, bzw. die ungleiche Verteilung von Macht (auf einer entsprechend vertikalen Ebene) kann aber bei näherer Betrachtung relativiert werden. Zwar sichert Katharina als „Zubringerin“ Tobias’ mächtige Position, aber auch ihr kommt Macht zu: Sie entscheidet, welche Teile zur Verwendung kommen (können) und schränkt damit Tobias’ Entscheidungsbefugnis, bzw. die Gestaltungsmöglichkeiten beim Bau des Artefakts ein. Das hier zur Geltung kommende interdependente Verhältnis könnte man folgendermaßen fassen: Ohne Suche kein Bau, ohne Bau keine Suche.

Macht ist in dieser Passage somit sowohl vertikal (im Sinne einer Hierarchie), als auch horizontal (im Sinne eines Nebeneinanders) verteilt. Die Positionen der Peers sind somit zwar separiert, aber doch reziprok aufeinander verwiesen, ihre Rollen sind mit unterschiedlichen Funktionen, Expertisen und Aufgaben ausgestattet. Beide bedürfen keiner Aushandlung, sondern werden wechselseitig validiert. Sie sind eng aufeinander abgestimmt sowie aufeinander angewiesen und werden performativ gesichert. Katharina und Tobias teilen eine gemeinsame Orientierung, die aber über unterschiedliche Orientierungsgehalte verfügt. Der Orientierungsrahmen lässt sich somit als kongruent rekonstruieren.

Tabelle 4.10 Ritter: Übersicht Passage OT 4

In OT 4 bringt sich die Forschende auf verbaler Ebene transpositionell ins Geschehen ein (Tabelle 4.10). Auf die hier gestellte Frage, wer auf der Burg lebt, folgt die Elaboration im Modus der Beschreibung, dass an diesem Ort „nur Ritter leben“. Die zuvor angesprochene Position der Drachen wird hier nicht mehr besetzt bzw. thematisiert. Die folgende Anschlussproposition der Forscherin, ob Kinder auf der Burg leben – und die im Kontext des Erkenntnisinteresses der ethnografischen Beobachtung gedeutet werden kann – wirft die Frage nach der generationalen Ordnung der ‚Spielwelt‘ auf. Sie wird von Katharina dahingehend elaboriert, dass Kindern eine besondere Rolle im generationalen Arrangement zukommt. Ohne auszuführen, wo deren ‚Lebensort‘ ist (vgl. OT 2), werden diese lediglich funktional, nämlich als Besuchende, adressiert. Während Tobias sich der Konstruktion und Bearbeitung des Artefakts zuwendet, hält Katharina den Kontakt mit der Forscherin aufrecht und führt diese verbal explizierend noch tiefer in den Wissensbestand des Spielgeschehens ein. Dabei schließt sie thematisch an den schon erwähnten personalen Relationen bzw. an die generationale Ordnung an, indem sie darauf hinweist, dass von den Rittern aufgrund deren Waffen zwar potenzielle Gefahr ausgeht, Kinder aber unter besonderem Schutz stehen. Damit bezeichnet Katharina Kinder implizit als eine vulnerable Gruppe, die sich nicht nur durch Schutzbedürftigkeit auszeichnet. Dieser Bedarf wird zugleich von einer „stärkeren“ Gruppe, nämlich jener der Ritter, auch adäquat beantwortet, denn jene seien zu den Kindern „lieb und freundlich“ (UT 4.3).

Die bereits in OT 2 sichtbare Spannung von Aktivität und Passivität, die dort im Kontext eines hegemonialen Geschlechterverhältnisses gedeutet werden könnte (aktiv/männlich vs. passiv/weiblich), zeigt sich hier erneut, in ausdifferenzierter Weise bzw. in Ergänzung um die Dimension Generation (aktiv/männlich und erwachsen vs. passiv/Kind). Zwar muss „man“ prinzipiell „gut aufpassen und vorsichtig sein“ (UT 4.3), sprich: passiv wachsam sein, doch dieses generalisierte „man“ umfasst nicht alle Gruppen gleichermaßen. So sind die Ritter selbst mit Waffen ausgestattet, sodass sie sowohl als potenziell angriffsbereit als auch als sich selbst zur Wehr setzen könnend, sich aktiv schützen könnend, adressiert werden. Die Kinder werden, wie oben bereits ausgeführt, als schutzbedürftige, schützenswerte und von den Rittern beschützte Gruppe betrachtet, die von der Sorge bzw. der Verantwortung um den Eigenschutz entbunden wird. Das auf passive Vorsicht und Sorge verwiesene Kollektiv umfasst somit Nicht-Ritter und Nicht-Kinder, unklar bleibt hierbei, welche Personengruppe hiermit konkret angesprochen wirdFootnote 24.

Tabelle 4.11 Ritter: Übersicht Passage OT 5

In OT 5 (insbesondere UT 5.1) werden die Spiel- und Beobachtungspraktiken über mehrere Minuten hinweg fortgeführt, das Skript wird gesichert, der Orientierungsrahmen validiert (Tabelle 4.11). Dies dokumentiert sich in der Performanz auf korporierter Ebene bzw. in den Nicht-Verbalisierungen, auch im Sinne eines nicht bestehenden Bedarfs an kommunikativer Aushandlung.

In UT 5.2 bringt sich Katharina transpositionell ein, indem sie die Forschende darauf hinweist, dass der Stift geöffnet ist und ihm somit eine potenzielle Gefahr der Austrocknung droht. Dieser Hinweis lässt sich nicht nur informativ verstehen, ihm wohnt auch ein appellativer Charakter inne, dergestalt, dass die Forscherin aufgefordert wird, den Stift zu schließen. Diesem impliziten Aufruf folgt sie ratifizierend auf korporierter Ebene, mit Verzicht auf eine verbale Äußerung. Hierin deutet sich ein Aushandlungsprozess im Hinblick auf generationale Relationen an. Denn hier ist es das Kind (und eben nicht der:die Erwachsene), das die Erwachsene (und eben nicht das Kind) zur Handlung aufruft und damit gewissermaßen erzieherisch-intentional auf sie einwirkt.

In diesen von Katharina und der Forschenden aufgeführten Praktiken dokumentiert sich die Besonderheit der Forschungsrolle, die ein Stück weit unbesetzt ist und damit Möglichkeiten zur Aushandlung bietet. Dass die Forschende kein Kind ist, drückt sich schon allein durch die körper-leibliche Dimension der Körpergröße aus, aber auch durch deren Praktiken, die sich von denen der Peers unterscheidet (vgl. auch Rahmeninkongruenz, OT 2). Die Rolle der Forschenden hebt sich aber auch von der der Fachkraft ab, sofern davon ausgegangen wird, dass das Verhältnis Fachkraft-Kind ein pädagogisch-erzieherisches und damit einseitig(er) generationales ist, in dem die Fachkraft zeigend auf das Kind einwirkt – und nicht umgekehrt (zumindest zumeist), wie dies in der vorliegenden Passage sichtbar wird. Die Forschende zeigt sich somit als eine unbestimmte resp. zu bestimmende Andere, auf die die in der Institution gängigen Adressierungen von Kind (vs. Erwachsene, insbesondere körper-leibliche groß erscheinende Person) und Fachkraft (pädagogische Rolle) kaum zutreffend sind und deren Rolle somit Aushandlungspotenzial beinhaltet.

Die schon in OT 4 rekonstruierte Bedeutung von Gefahr und Vorsicht wird transpositionell erneut aufgerufen, indem Katharina wieder zum thematischen Bezugspunkt der Ritter zurückkehrt. Wiederum bedient sie sich der Figur des Zeigens – hier im Hinblick auf die Fahne auf der Ritterburg –, als sie die Forscherin darauf hinweist „da wissen dann alle, da sind die Ritter, da muss man vorsichtig sein“ (UT 5.3). Ohne eine Antwort abzuwarten, widmet sich Katharina weiter der Suche. Tobias ist in die verbale Kommunikation nicht eingebunden, er widmet sich nach wie vor der Konstruktion des Artefakts. Die Suche wird von Katharina erneut kurz unterbrochen, als sie einen orangefarbenen Kegel in der Hand hält. Sie elaboriert im Modus der Exemplifizierung, dass auch dem Warnhütchen eine appellative Funktion zukommt, indem jenes allein aufgrund seiner visuellen Erscheinung „alle“ darüber informiert, „Stop, da muss man vorsichtig sein“ (UT 5.4). Die besondere Betonung auf „alle“ deutet darauf hin, dass dieser Aufruf an alle sozialen Gruppen gleichermaßen gerichtet wird (vs. OT 4). Die Äußerung steht weitgehend für sich; die eben nicht eingebrachte Elaboration von Tobias oder der Forscherin deutet auf eine nonverbale Ratifizierung hin.

Tabelle 4.12 Ritter: Übersicht Passage OT 6

Nach kurzer Zeit ist es wieder Katharina, die eine Transposition einbringt (Tabelle 4.12). Dabei greift sie thematisch auf das in OT 2 eingebrachte Attribut böse zurück. Erneut hält sie eine weibliche, ‚schwarze‘ Figur in der Hand, als sie diese als „noch eine Böse“ (UT 6.1) bezeichnet. War Tobias zuvor auf die Bau-Praktiken fokussiert resp. zumeist nicht in die Kommunikation zwischen Katharina und Forschender involviert, so bringt er sich hier antithetisch ins Gespräch ein: Er expliziert, dass (allen) Frauen das Attribut böse zuzuschreiben ist. Frauen werden von ihm als homogene Vertreterinnen zweier spezifischer sozialer Dimensionen konstruiert, denen Tobias eben gerade nicht zugehörig ist, nämlich jener des Geschlechts (weiblich) und jener des Alters (erwachsen). Bei Katharina ist diese Orientierung anders gelagert. Möglicherweise gerade deshalb, weil Katharina mit den Frauen die Kategorie Geschlecht (weiblich) teilt, könnte eine implizite Distanzierung bzw. Differenzkonstruktion relevant werden. Dass sie die als böse etikettierten Personen jedoch erneut nicht verbal benennt, deutet darauf hin, dass diese Differenzpraktik auf einer atheoretischen Ebene zu verorten ist und daher über den kommunikativ bzw. theoretisch zugänglichen Wissensbestand hinausgeht. So greift Katharina implizit auf eine weitere Dimension (‚race‘) zurück, die ihr selbst vermutlich fremd ist; eine Praktik, die die ‚schwarze‘ Frau performativ zur Anderen macht (i.S.v. othering) und daher mit totalitären Etikettierungen bespielt werden kann.

Wie auch schon in der Interpretation von OT 2 sichtbar, sind die Attributionen von einer Spannung im Horizont von Kollektiv und Individuum getragen. Während die Zuschreibung böse in Tobias’ Ausführungen kollektiviert wird – im Sinne der Zuschreibung einer sozialen Gruppe –, wird sie bei Katharina individualisiert. Diese Aufführungen lassen sich auch vor dem Horizont einer Gesellschaftsordnung kontextualisieren, in der sich soziale Ungleichheit und Hegemonie beständig realisieren und reproduzieren. Auch das Material, das als Ausdruck dieser Realität gelesen werden kann, ist hierbei von erheblicher Relevanz. Denn es ist nicht nur als Produkt gesellschaftlicher Ordnung zu verstehen, es bringt diese auch hervor, indem es die Spielpraktiken proponiert.

Tabelle 4.13 Ritter: Übersicht Passage OT 7

In OT 7 wird die schon zuvor rekonstruierte Orientierung von Katharina und Tobias im Sinne der Hervorbringung einer gemeinsamen Spielpraxis erneut sichtbar (Tabelle 4.13). Vor diesem Hintergrund kommt der (In-)Stabilität des Skripts, insbesondere im Hinblick auf die reziproken Praktiken, die wiederum auf einer impliziten Rollenverteilung beruhen, eine besondere Bedeutung zu.

Tobias, dem in dieser Szene eine hohe Handlungs- und Deutungsmacht zukommt, informiert Katharina transpositionell, dass er den Raum verlässt, um die Toilette aufzusuchen. Damit wird seine Position für eine gewisse Dauer frei bzw. unbesetzt. Katharina elaboriert, indem sie auf Tobias Praktiken ausschließlich auf korporierter Ebene reagiert: Sie blickt auf, beendet die Suche, bleibt sitzen und richtet ihren Blick über längere Zeit auf die Türe, durch die Tobias den Raum verlassen hat. Die schon in OT 3 rekonstruierte Reziprozität der Spielpraktiken erhält hierbei seine besondere Relevanz: Denn ohne Suche ist kein Bau möglich, ohne Bau aber auch keine Suche.

Der geteilte, exklusive Interaktionsraum erfährt hier einen Bruch, der dazu führt, dass Katharina ihre Rolle resp. „ihre“ Praktik – nämlich jene des Suchens – nicht mehr zur Performanz bringen kann. Obwohl Tobias beim Verlassen des Raums eine klare Handlungsanweisung gibt, bietet das Skript keinen ausreichenden Halt für Katharina dergestalt, dass sie die auf Tobias (und den Bau) unmittelbar abgestimmte Praktik des Suchens nicht mehr vollziehen kann. Dass die Positionen nicht beliebig besetzt werden können, dokumentiert sich mehrfach: So wird die Forscherin explizit nicht von Katharina ins aktive Spiel involviert, sie folgt aber auch von sich aus Tobias’ Aufruf nicht, ein „steiles Teil“ zu suchen (UT 7.2). Zudem nimmt Katharina auch die kommunikative Anfrage von Teresa nicht an, am Spiel – wenn auch im Modus des Ausprobierens des Artefakts – teilzuhaben und das Skript somit zu modifizieren. Die von Teresa transpositionell eingebrachte Frage wird von Katharina hingegen differenzierend beantwortet, indem sie auf die machtvolle Position von Tobias verweist. Zwar waren beide am Prozess der Konstruktion – reziprok – beteiligt, die Entscheidungsmacht wird aber Tobias zugesprochen. Hiermit wird die Deutung aus OT 3 bestärkt, dass die Handlungsmacht seitens Katharina und Tobias sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Ebene verteilt ist und dieser Umstand von beiden einvernehmlich getragen wird.

Es scheint, als siehe das Skript keine weitere Position vor, als wäre die Spielpraktik exklusiv auf zwei Personen mit reziproker und unveränderbarer Rollenverteilung festgelegt. Auch die „Zusatzposition“ der Beobachtung ist bereits von der Forscherin besetzt und daher nicht mehr ‚frei‘. Die Exklusivität des Arrangements wird jedenfalls von Teresa dahingehend validiert, dass sie sich eben nicht unmittelbar involviert, sondern die gesetzte Grenze – visuell gerahmt vom Teppich – anerkennt.

Tabelle 4.14 Ritter: Übersicht Passage OT 8

Mit der Rückkehr von Tobias wird das Skript erneut zur Entfaltung gebracht, sodass Tobias und Katharina ihre Praktiken unmittelbar zur Performanz bringen können. Das Skript wird hierbei zugleich unverändert aufgerufen und bespielt resp. stabilisiert. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass Tobias und Katharina dem Bauen und Suchen, wie zuvor, simultan nachgehen, sondern auch darin, dass Teresa, die noch immer an der gleichen Position wartet, weder inkludiert wird, noch sich selbst – verbal und/oder korporiert – einbringt (Tabelle 4.14).

Die Exklusivität und das implizite Skript des Arrangements entfalten so deutlich ihre Kraft, dass für alle drei Kinder konjunktiv klar zu sein scheint, dass die Rollen bereits verteilt resp. besetzt sind und somit gar kein Bedarf besteht, in Aushandlung zu gehen: Tobias reagiert weder auf das Da-Sein von Teresa, noch kommentiert er den Zustand des Artefakts oder das (Nicht-)Vorhandensein neuer (steiler) Teile. Katharina vollzieht wortlos dieselben Suchpraktiken wie vor dem Brüchigwerden des Skripts, wiederum ohne jegliche Verbalisierung, obwohl sie vorab zugesichert hatte, Tobias zu fragen, ob Teresa die Kugelbahn probieren darf – und damit die kommunikative Vereinbarung bricht. Und auch Teresa verzichtet nach erneuter Wartezeit darauf, ihrem Anliegen erneut Gehör zu verschaffen. Hierin drückt sich aus, dass auch sie Teil des konjunktiven Erfahrungsraums ist – auch ihre Praktiken lassen sich als rahmenkongruent mit jenen der Peers rekonstruieren. Mit ihrem Verlassen der Warteposition vollzieht sich eine rituelle Zwischenkonklusion, die von Tobias und Katharina indirekt – im Sinne der Fortführung deren Spielpraktiken – validiert wird.

4.3 Sequenz Rutsche

Rahmendaten

Beteiligte:

„ich“ (Forscherin), Toni (Alter unbekannt), Jona (Alter unbekannt), Mika (Alter unbekannt), Leyla (ca. 3–4 J.), Marc (ca. 4 J.), Bettina (Fachkraft), Julia (5 J.), Marie (5 J.) (chronologische Reihung, nach erstmaligem Erscheinen im Protokoll)

Datum:

4. Erhebungstag (in dieser Einrichtung)

Zeit:

9.20–9.30 Uhr

Dauer:

ca. 10 min

Ort/Raum:

„Gruppenraum“

Raumskizze in schematischer Darstellung, nach Erinnerung (Abbildung 4.3):

Abbildung 4.3
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Rutsche: Raumskizze

Anmerkung

Die Personen sind in der Szene in Bewegung und verändern ihre Positionen, sie werden daher zwar im Protokoll sichtbar, in der Raumskizze aber nur indirekt (mit Angabe der Positionen in Form von Zahlen/Buchstaben) visuell zur Darstellung gebracht.

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Thematischer Verlauf: Rutsche

Tabelle 4.15 Rutsche: Thematischer Verlauf

Reflektierende Interpretation: Rutsche

Tabelle 4.16 Rutsche: Übersicht Passage OT 1

Die Sequenz Rutsche vollzieht sich im „Gruppenraum“ der Einrichtung in der zeitlichen Phase bzw. im pädagogischen Arrangement des „Freispiels“. Sie situiert sich im Kontext eines (relativ) freien, offenen „Spiels“Footnote 29. Im Fokus steht der Beginn einer Beobachtungspraktik der Forscherin, welche auf Praktiken von Kindern ausgerichtet ist. Jene versteht sich wiederum als eine Art Suchbewegung nach einer ‚beobachtbaren‘ (Spiel-)Praxis. Der Beobachtungsfokus richtet sich schließlich auf drei Kinder (Toni, Jona und Mika), die in der Nähe resp. im unmittelbaren Sichtfeld der Forscherin um einen Tisch mit einem Puzzle herum Platz nehmen und in eine nonverbale Kommunikation treten. Ob bzw. in welcher Weise schon vorab eine Interaktion stattfand, lässt sich auf Basis des Protokolls nicht rekonstruieren (Tabelle 4.16).

Für die Forschende bedeutet die körperliche Anordnung der drei Kinder und letztlich auch der nicht besetzte, durch die quadratische Form angedeutete ‚vierte Platz‘ die Schaffung einer ‚guten Beobachtungsgelegenheit‘ mit unmittelbar visuellem Zugang. Die Positionierungen ermöglichen die Beobachtung visueller Eindrücke sowie die Wahrnehmung akustischer Reize, wenngleich letztere aufgrund des Geräuschpegels im Raum nicht vollständig verstanden werden können. Für die Kinder scheint die Forscherin keine Störung zu bedeuten, sie positionieren sich frontal in ihrem Blickfeld, stellen jedoch keinen Kontakt her.

Das Geschehen vollzieht sich übergreifend im Kontext einer von erwachsenen Fachkräften (mit)erzeugten, pädagogisch-materialisierten Ordnung, welcher ein die Praktiken präformierender Gehalt zukommt. Der „Gruppenraum“, in den die Szene räumlich eingelagert ist, ist – entsprechend dem ethnografisch generierten Kontextwissen der Forscherin – für die Kinder und Fachkräfte dieser „Gruppe“, sowie übergreifend für die Fachkräfte anderer Gruppen und die Leitung der Institution – nicht aber für Kinder anderer Gruppen oder anderer Akteur:innen –, zumeist frei zugänglich. Der Raum gestaltet sich als pädagogisches Arrangement, als generational und institutionell gerahmt: Erwachsene Fachkräfte der frühpädagogischen Institution bereiteten ihn, vor dem Hintergrund der fachlich adressierten Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung, für Kinder – genauer: für Kinder einer spezifischen Kita-Gruppe – vorab vor, zum Zweck der Schaffung von Bedingungen, die potenzielle Spielpraktiken von Kindern erlauben und ermöglichen. Wie auch in der Sequenz Ritter rekonstruiert, ist somit davon auszugehen, dass der Raum so gestaltet wurde, dass er adressierte Akteur:innen (Kinder der Gruppe) möglichst zur Performanz anerkannter Nutzungspraktiken (Aufführung kindlicher Spielpraxis) aufruft.

Ähnlich der Sequenz Ritter, ereignet sich die Passage auf einem großen, runden Teppich. Jener beansprucht in Relation zur Größe des Gruppenraums der Einrichtung viel Raum und zeigt sich als relativ zentral positioniert, nicht ganz mittig, sondern etwas seitlich bzw. in der Nähe zweier, zu einer Ecke zusammenlaufenden Wände, vor denen sich jeweils Mobiliar mit Spielmaterial sowie Sitzgelegenheiten für Kinder befinden (vgl. Raumskizze). Das schon in der Sequenz Ritter rekonstruierte Moment des oben und unten, das generationale Platzzuweisungen impliziert, findet sich hier erneut: Der Teppich wird – auch darauf lässt sich auf Basis der teilnehmenden Beobachtungen schließen – fast ausschließlich von den Kindern der Gruppe genutzt. Fachkräfte hingegen halten sich hier ‚nur‘ bei Zusammenkünften der Gruppe im „Kreis“ auf, bringen ihre Handlungen hier also nur selten – und wenn, dann in Form kollektiver Gruppenpraktiken – performativ zum Ausdruck. Kinder werden jedoch als Adressat:innen angesprochen, die horizontale Fläche zu nutzen und spezifisch auszugestalten, nämlich zu ‚bespielen‘. Auch hier bietet der Teppich die Möglichkeit der Schaffung einer Grenze, eines Innen und Außens, er wirkt zugleich inkludierend und abgrenzend. Anders als in der Sequenz Ritter entfaltet der Teppich in der Sequenz Rutsche seine Bedeutung aber nicht entlang seiner horizontalen Ausrichtung und den damit verbundenen Potenzialen (bspw. im Hinblick auf Nutzungspraktiken mit erhöhtem Platzbedarf, bspw. mit ‚Baumaterial‘ oder im Kontext von ‚Rollenspielen‘). Sowohl die Akteur:innen – hier: Toni, Jona und Mika – als auch das schon vor ihnen platzierte Material – ein Puzzle – arrangieren sich nicht direkt auf dem Teppich, sondern um bzw. auf einem niedrigen Tisch auf dem Teppich, der eine zweite horizontale Ebene bildet, die Körper der Akteur:innen auszurichten und deren Praktiken in Beziehung zu setzen scheint.

Das bereits angedeutete oben und unten wird hiermit ausgestaltet – eben, indem die unterschiedlichen Ebenen zu unterschiedlichen Praktiken aufrufen. Der Tisch appelliert an der Stelle dazu, sich um ihn zu positionieren bzw. fordert dazu auf, auf ihm Materialien und Artefakte zu bearbeiten. Die niedrige Höhe des Tisches ruft dabei explizit Kinder – als zentrale Adressat:innen des institutionellen Arrangements Kita – auf, diese Praktiken hervorzubringen. Die Appellfunktion des Teppichs tritt zugleich in den Hintergrund: Die drei beobachteten Kinder sind zwar auf dem Teppich sitzend positioniert – ohne Stühle –, in ihrem Zentrum steht aber der Tisch, der – gemeinsam mit den Körpern – den triadischen Interaktionsraum rahmt und zentriert. Der Tisch fungiert hier gleichsam als Medium, der Interaktions- und Zugriffsmöglichkeiten auf den Gegenstand – das Puzzle – ermöglicht. Die quadratische Form verschafft den drei Kindern eine relativ egalitäre körperliche Ausrichtung resp. beinahe dieselbe Nähe zum Gegenstand und damit ähnliche Zugriffsmöglichkeiten. Der Tisch schränkt Bewegungsmöglichkeiten (in Kontrast zum Teppich) zwar ein, eröffnet im Gegenzug aber alternative Bearbeitungsmöglichkeiten des Gegenstands. Anders als bei den anderen Tischen im Raum sind rund um diesen Tisch keine Stühle arrangiert, was an der niedrigen Höhe des Tisches liegen könnte. Denn der Zugriff auf den Tisch ist auch bei einer unmittelbaren Positionierung auf dem Teppich – sitzend, kniend, stehend – möglich. Stühle würden die Zahl an potenziellen Teilnehmenden limitieren und deren körperliche Ausrichtung vor-arrangieren. Der Tisch fordert zwar auf, sich – wortwörtlich – zu ihm ins Verhältnis zu setzen, schafft aber durch die dennoch bestehende Vagheit unterschiedliche Positionierungsmöglichkeiten der Akteur:innen und verschiedene Bearbeitungsoptionen im Hinblick auf den hierauf positionierten Gegenstand. Der Tisch fungiert in diesem Fall somit gleichsam als Instrument der Herstellung von Ordnung, ohne unmittelbar vorzugeben, wie jene ausgestaltet werden soll.

Das Puzzle stellt hierauf einen exklusiven Gegenstand dar, was sich insbesondere darin zeigt, dass es eben ein Artefakt ist, das auf dem Tisch prominent vorhanden und zugleich zugänglich ist. Jenes Artefakt versteht sich als ein kommerziell produziertes und erworbenes Spielmaterial von Erwachsenen für Kinder, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Das Puzzle entfaltet erst durch seine Vollständigkeit seine Bedeutung. Es kann zerlegt und wieder zusammengesetzt werden. Zwar eröffnet der Prozess vielfältige Wege des Bearbeitens, im Sinne einer relativ freien, also nicht vorab festgelegten Reihenfolge der einzelnen Schritte des Zusammensetzens. Jedoch gibt es nur eine korrekte Form der Fertigstellung. Am Ende des Prozesses – der Praktiken des Zerlegens und Zusammensetzens – steht ein stets gleiches Produkt (in Kontrast zu anderen Konstruktionsmaterialien, bspw. Spielmaterial in der Sequenz Ritter), das zugleich Ausgangspunkt des Prozesses war. Ist das Puzzle fertig zusammengesetzt, so verdeutlicht es diese Abgeschlossenheit durch das entstandene Bild. Zwar ist das Puzzle exklusiv nur einmalig verfügbar (im Hinblick auf das Vorhandensein in der Kita-Gruppe), gerade die Teilbarkeit des Materials ermöglicht aber auch die Bearbeitbarkeit durch mehrere Personen. In der Kita können somit potenziell mehrere Kinder (und Fachkräfte) gleichzeitig und gemeinsam Praktiken des Puzzelns zum Ausdruck bringen. Unklar ist in der vorgestellten Sequenz, wie das Puzzle auf dem Tisch „gelandet“ ist, ob es dort bewusst – im Sinne seines appellativen Charakters – von Fachkräften hingelegt wurde, um Kinder zur Hervorbringung von Spielpraktiken anzuregen; oder ob es von Kindern positioniert wurde, bspw., weil es (noch) nicht ‚weggeräumt‘ wurde. Das Vorhandensein des Puzzles auf dem Tisch, positioniert auf dem Teppich, könnte somit einerseits Ausdruck von institutionell, pädagogisch und generational gerahmten Ordnungsprozessen sein, indem es sich hier um eine bewusste Arrangierung handelt oder gerade gegenteilig, indem sich die Situierung – quasi als Regelbruch – oppositionell zur Ordnung verhält.

Wie auch in der Sequenz Ritter, kommen die Kinder dem generational codierten Aufforderungscharakter des pädagogisch inszenierten Raums nach, was sich in deren korporierter Performanz, resp. den anerkannten Nutzungspraktiken zeigt: Toni, Jona und Mika positionieren sich entsprechend dem intendierten Charakter um den Tisch – sitzend – vor dem Spielmaterial. Und: Sie treten in Kommunikation, im Sinne positiv konnotierter, nonverbaler und zugleich emotional codierter Äußerungen, indem sie sich ansehen, und daraufhin zu lachen beginnen. Die raum-zeitlich, institutionell, generational und konzeptuell gerahmte Ordnung wird somit von Toni, Jona und Mika (inhaltlich) ausgestaltet. Dass sich die Kinder nicht verbal verständigen (müssen), sondern sich implizit verstehen, deutet auf gemeinsam geteilte Erfahrungen resp. einen konjunktiven Erfahrungsraum hin.

Tabelle 4.17 Rutsche: Übersicht Passage OT 2

In OT 2 vollzieht sich eine korporierte Kontaktaufnahme durch ein neu in die Situation eintretendes Kind (Tabelle 4.17). Leyla nähert sich der Forscherin, bleibt stehen, stellt Blickkontakt her und lächelt. Hierin dokumentiert sich ein propositioneller Gehalt, der von der Forscherin in ähnlichem Modus elaboriert wird. Auch sie äußert sich anhand körperlicher Zugewandtheit, Augenkontakt sowie Lächeln. Leylas Kommunikationsanfrage bedeutet zugleich eine Lenkung der Aufmerksamkeit der Forscherin: Fokussierte jene zuvor Praktiken von Toni, Jona und Mika, richtet sie den Fokus nun – vorerst und exklusiv – auf Leyla. Das Lächeln beider Personen scheint sich als emotionaler Ausdruck beidseitigen Wohlbefindens zu äußern. Leyla hält die dyadische Interaktionssituation aufrecht, in dem sie den Blickkontakt weiterhin hält und die Interaktion zugleich weiter elaboriert und die Verständigung, resp. deren nonverbalen Modus, validiert.

Die Bedeutung der Vertikalität, die sich schon in OT 1 zeigte, wird dabei erneut vakant: Während die Fachkräfte erhöht auf großen Hockern in der Nähe des Basteltisches sitzen (vgl. Raumskizze), ist die Forscherin auf dem Teppich am Boden positioniert – und scheint damit, die unterschiedlichen Körpergrößen von Kita-Kindern und Erwachsenen berücksichtigend, für Kinder in anderer Weise sichtbar, ansprechbar und verfügbar zu sein. Die Forschende zeigt sich hier (ähnlich der Sequenz Ritter) in gewisser Weise als eine unbestimmte resp. zu bestimmende Andere, für die die in der Institution gängigen binären Adressierungen von Kind vs. Fachkraft nicht unmittelbar anwendbar sind.

Die Art und Weise, in der sich Leyla der Forscherin zuwendet – nämlich seitlich (vs. frontal) –, eröffnet der Forscherin die Möglichkeit, auf die Kontaktaufnahme zu antworten – im Sinne der Erwiderung einer Einladung –, sie lässt aber auch die Option zu, sich nicht zuzuwenden – im Sinne einer potenziellen Ablehnung jener Anfrage. Dass es sich tatsächlich um ein Interaktionsangebot handelt, drückt sich insbesondere darin aus, dass Leyla noch nach dem korporierten Interaktionsanschluss der Forscherin stehen bleibt und den Kontakt weiterhin aufrechterhält. Auch die Praktik der Forscherin drückt sich – vor dem Hintergrund einer ethnografischen Haltung – als offen aus, nämlich im Sinne eines ungewissen Sich-Einlassens, auf das, was da – noch unbestimmt – ‚kommen‘ könnte. In UT 2.2 wird diese Ungewissheit auch im Protokoll zum Ausdruck gebracht: Die Forscherin wechselt die Darstellungsebene und gibt in den kursiv markierten Textteilen einen reflexiven Einblick in gedankliche Prozesse (aus Forschenden-Erwachsenen-Perspektive). Sie ist offenbar unsicher, wie sie mit der ambivalenten, ethnografisch und forschungsethisch gerahmten, Situation umgehen soll: Einerseits intendiert sie die weitere Beobachtung der in OT 1 thematisierten Peer-Praktiken, andererseits eine möglichst angemessene Beantwortung Leylas Kontaktaufnahme. Ein Versuch, mit dem Unbehagen umzugehen, drückt sich in einer verbalisierten Transposition aus, indem die Forscherin fragt, wie Leyla geschlafen hat. Jene Frage artikuliert sich als Ausdruck eines common sense-Wissensbestands, indem sie sich an Praktiken der erwachsenen Fachkräfte der Institution orientiert. Damit bemüht die Forschende die (ethnografische) Idee, Inhalte möglichst nicht in das zu beobachtende Feld hineinzutragen. Die vorhin angesprochene, unbestimmte Rolle der Forschenden wird anhand der aufgerufenen Praktiken nunmehr von ihr selbst bespielt: Im Kontext von Unbehagen und Unsicherheit zeigt sie sich selbst als Erwachsene, die auf eine ihr vertrautere Interaktionsform (verbale Kommunikation) zurückgreift, – im weitesten Sinne – pädagogisch handeltFootnote 36 und sich damit selbst als Fachkraft-nahe positioniert.

Die zuvor ausschließlich auf korporierter Ebene vollzogene Interaktionssituation erfährt im Hinblick auf die Diskursorganisation durch die Transposition der Forscherin eine Transformation, indem die Kommunikation nun auf verbaler Ebene vollzogen wird. Die schon zuvor rekonstruierte Ähnlichkeit in den Interaktionsmodi Proposition/Transposition und Elaboration wird, wenn auch anders gelagert, erneut aufgerufen: In UT 2.1. folgt auf die korporierte Proposition von Leyla die korporierte Elaboration der Forscherin (körperliche Näherung, Augenkontakt, Lächeln). In UT 2.2 schließt an die verbalisierte Transposition der Forscherin eine verbalisierte Elaboration von Leyla an. Folgend wird die Deutung vorgeschlagen, dass sich mit jener Elaboration Leylas ein Versuch artikuliert, eine anerkannte Antwort zu geben, die jedoch von der Forscherin nicht verstanden wird, woraufhin Leyla folgend in die – ihr vertraute – nonverbale Ebene (Blickkontakt) zurückwechselt. Die Forscherin ist damit erneut auf den Umgang mit Non-Verbalität verwiesen. Die kursiven Einschübe im Protokoll verdeutlichen, dass die schon zuvor thematisierte Unsicherheit nach wie vor von der Forscherin gedanklich bearbeitet wird. Dies zeigt sich bspw. im Hinblick auf das reflexive Ergründen, warum sich Leyla nonverbal bzw. der Forscherin gegenüber nicht verständlich verbal äußert. Mit Rückgriff auf Kontextwissen wird unterstellt, dass Leyla sich in deutscher Sprache nur gering artikulieren kann. Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass sich die beiden nicht im Modus des Selbstverständlichen verstehen, also keinen konjunktiven Erfahrungsraum teilen. Die dyadische Interaktion wird dennoch aufrechterhalten – und wechselseitig als solche hervorgebracht.

Indem Leyla sich einer Zeige-Geste bedient, als sie auf die Pailletten ihres Shirts deutet, bringt sie erneut eine nonverbale Transposition ein. Damit wird eine Anschlussmöglichkeit eröffnet, welche von der Forscherin aufgegriffen wird. Sie äußert sich – ungefragt und subjektiv – dahingehend, dass ihr Leylas Shirt gefällt. Hiermit verbindet sich einerseits eine verbale Validierung der Zeigegeste Leylas und andererseits eine (positive) Bewertung. Erneut wird damit die generationale und institutionelle Ordnung aufgerufen: Die Forscherin positioniert sich hierbei als Erwachsene in der Logik der Einrichtung und adressiert zugleich Leyla als Kita-Kind. Leyla validiert jene Praktiken – und Positionierungen – wiederum, indem sie „strahlt“ und damit zugleich die Interaktion aufrechterhält und ihren positiven Emotionen Ausdruck verleiht.

In UT 2.5 bedient sich Leyla erneut im Modus einer Transposition der Zeige-Geste, als sie auf die Fensterbank deutet, auf der Spielmaterial arrangiert ist. Aus dieser Richtung kam sie zuvor auf die Forscherin zu. Ob bzw. inwieweit sie zuvor schon (Spiel-)Praktiken auf diesem Platz hervorbrachte, kann an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden. Der eingeschobene Hinweis im Protokoll, dass Leyla das Material schon am Vortag nutzte, deutet jedenfalls auf eine besondere Bedeutung des Artefakts für Leyla hin. Wie schon zuvor, nutzen Leyla und die Forscherin unterschiedliche, reziprok aufeinander bezogene Kommunikationsformen (Leyla nonverbal, Forscherin verbal), die jedoch nicht unmittelbar verstanden werden, sondern auf Interpretationsleistungen des jeweiligen Gegenübers verwiesen sind. Die Forscherin elaboriert die Anfrage verbalisierend mit einer Rückfrage, ob sie mit Leyla „zum Spielen mitkommen soll“. Leyla verbleibt auf der non-verbalen Ebene. Der aufrechterhaltene Blickkontakt wird von der Forscherin als Zustimmung gedeutet. Inwieweit sich dieser tatsächlich als Validierung lesen lässt, bleibt an der Stelle offen, für diese Interpretation spricht der weitere Interaktionsverlauf: Hier gehen beide gemeinsam zum Fensterbrett. Es kommt zumindest zu keiner gegenteiligen Rahmung bzw. oppositionellen Praktik.

In Gesamtsicht des OT 2 lässt sich die Deutung vorschlagen, dass sich Leyla und die Forscherin im Kontext der generationalen Ordnung als Kind und Erwachsene begegnen, und dabei zwar unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Kommunikationsmodi nutzen. Hier kommt kein ritualisiertes Skriptwissen zum Tragen, das den reziproken Kommunikations- und Interaktionsverlauf steuert. Es besteht auch (noch) keine (länger andauernde) Beziehung zwischen den beiden Akteurinnen. Die Relationen müssen (auf kommunikativer Ebene) erst hergestellt, aufrechterhalten und gesichert werden. Die Situation gestaltet sich somit als fragil: Kind und Forscherin sind darauf verwiesen, die Praktiken wiederholt performativ hervorzubringen, zu (re)produzieren und damit die exklusive dyadische Interaktion zu sichern.

Tabelle 4.18 Rutsche: Übersicht Passage OT 3

Im Übergang von UT 2.5 zu UT 3.1. vollzieht sich eine Transformation des Positionierungsgefüges: Leyla setzt sich vor dem Fensterbrett auf einen Hocker, der sich zwischen Marc und einer Wand befindet (Tabelle 4.18). Die Forscherin zögert erst, setzt sich nach einer Rückfrage dann auch auf einen freien Hocker, links von Marc. Diese Praktik kann – auf die Transposition Leylas reagierend – als differenzierend gedeutet werden: Die Fortführung der bisherigen Interaktion kann auf Basis der räumlich-materiellen Grenzen nicht geleistet werden; zwar ermöglicht die Positionierung Leylas für sie selbst eine – wenngleich aufgrund der seitlichen Lage eingeschränkte – Zugriffsmöglichkeit zum Spielgegenstand, dem Einfamilienhaus sowie Pool. Die Arrangierung des Raumes ordnet jedoch die Positionierungsmöglichkeiten. Konkret limitieren die Wand – als räumliche Grenze – sowie das Vorhandensein dreier Hocker vor der Fensterbank Positionierungsoptionen für bis zu drei Personen (adressiert werden dabei vornehmlich Kita-Kinder). Die zuvor bestehende dyadische Interaktionssituation von Leyla und der Forscherin transformiert sich somit mit der Veränderung des Positionierungsgefüges: Sie wird (vorerst) unterbrochen, eine Triade (mit Marc) entsteht nicht.

Durch die hinter der Fensterbank befindliche Fensterreihe ist der Zugriff auf das Material nur beschränkt realisierbarFootnote 40: Haus und Pool können nur von einer Seite (insbesondere Innenseite des Hauses) bespielt werden (vs. dreidimensionale Zugänglichkeit zum Puzzle in UT 1 oder der Ritterburg sowie Kugelbahn in der Sequenz Ritter). Ein unmittelbarer Zugriff ist vom mittleren Hocker aus möglich (Position 2). Hier sitzt Marc, der zum Zeitpunkt des Herantretens von Leyla und der Forscherin bereits Spielpraktiken – in Auseinandersetzung mit dem vor ihm positionierten Material – zur Aufführung bringt. In die neuen Positionierungen, die sich direkt um ihn ereignen, wird er nicht miteinbezogen: Leyla setzt sich wortlos auf den Platz rechts neben ihm. Die Forscherin adressiert in ihrer Frage, ob sie sich setzen soll, ‚nur‘ Leyla, das Einverständnis von Marc wird nicht eingeholtFootnote 41. Er setzt seine Praktiken, (noch) scheinbar unbeirrt, fort. Dies deutet vorerst (UT 3.1/3.2) auf eine Ratifizierung hin; werden spätere Praktiken miteinbezogen (UT 3.3), so lässt sich der Modus eher als divergent beschreiben.

Die darauffolgenden ‚Spielpraktiken‘ ereignen sich auf Peer-Ebene: Leyla und Marc folgen dem Aufforderungscharakter des Materials. Die Forscherin nutzt die Zeit – vor dem Hintergrund einer Unterbrechung der Interaktionspraktiken mit Leyla – zur Anfertigung von Feldnotizen. Damit rufen die Akteur:innen unterschiedliche – generational codierte – Praktiken auf resp. bringen sie hervor: spielen (Kinder) vs. notieren (forschende Erwachsene). Durch die hierbei entstehende ‚Beobachtungspause‘ weist das Protokoll eine inhaltliche Lücke auf; es lässt sich nicht rekonstruieren, wodurch sich die Peer-Spielpraxis im Konkreten ausgestaltet. Das simultane Tätigsein und die zwischendurch stattfindenden (verbalisierten) Interaktionen zwischen den Peers deuten dennoch darauf hin, dass sich die beiden im ‚Modus des Selbstverständlichen‘ verstehen, da es kaum zu Aushandlungen auf kommunikativer Ebene kommt, sondern beide für sich Praktiken zur Aufführung bringen, die sich zu ergänzen scheinen – oder zumindest keine Irritation hervorzurufen – und hierbei implizit auf konjunktives Erfahrungswissen zurückgreifen.

Das Spielmaterial selbst versteht sich als ein kommerzielles ‚Spielzeug‘, das von erwachsenen Fachkräften in der Kita für Kinder arrangiert wurde (vgl. auch: Puzzle in UT 1 sowie Spielmaterial in der Sequenz Ritter). Jenes ist bereits ‚fertig‘ zusammengebaut und entfaltet seine Relevanz durch genau jene Beschaffenheit – durch seine thematisch-räumliche Kontextualisierung als Einfamilienhaus und Pool. Der appellative Charakter des Artefakts ruft dazu auf, diese Rahmung kongruent zu ‚bespielen‘. Analog zur Sequenz Ritter kommen Marc und Leyla ihrer Adressierung als Kita-Kinder – vor dem Hintergrund der generationalen und institutionellen Ordnung – nach und bringen diese angerufene Praktiken auch zur Aufführung: Sie wählen in einem anerkannten Raum (dem Gruppenraum der Kita) zu einer anerkannten Zeit (der Phase des Freispiels) anerkanntes Material (industriell gefertigtes, von den Fachkräften zur Verfügung gestelltes Spielzeug) und vollziehen auf einem anerkannten Platz (der Fensterbank bzw. den davor positionierten Hockern) anerkannte Praktiken (Spiel).

Im sog. ‚Spielzeug‘ materialisieren sich gesellschaftliche Normative mit erheblicher Wirkmächtigkeit. Hier werden Muster ‚guten Aufwachsens‘ von Kindern, bezugnehmend auf die private Sphäre der Familie, im Kontext der öffentlichen Sphäre der Institution aufgerufen. Jene entsprechen jedoch nur zum Teil der sozialen Realität der Kinder, die mit dem Artefakt in Berührung kommen und es anhand anerkannter Praktiken nutzen, resp. ‚bespielen‘ sollen. Einfamilienhaus und Pool verstehen sich nicht nur als Ausdruck hohen ökonomischen Kapitals und als gesellschaftliche Statussymbole für privilegierte Lebenslagen, sondern suggerieren zugleich eine Norm ‚gut-bürgerlichen‘ Aufwachsens. Vor dem Hintergrund der Kontextinformation, dass in der Kita, in der sich die Sequenz ereignet, vorrangig Kinder aus benachteiligten Verhältnissen Bildung, Betreuung und Erziehung erfahren, wird eine Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Erwartungen bzw. normativen Zuschreibungen und tatsächlichen Lebensrealitäten von Kindern im Kontext sozialer Ungleichheit deutlich, zu der sich Kinder im institutionellen Arrangement ins Verhältnis setzen müssen.

In UT 3.2 nutzt Leyla die schon in OT 2 mehrfach aufgeführte Praktik des in-die-Augen-Schauens zur Herstellung einer Interaktion mit der Forscherin. Wiederholt folgt auf diese nonverbale Proposition (in UT 3.3) eine verbale Elaboration der Forscherin, hier mit der Frage, ob sich jene neben Leyla setzen soll, was als ihr Versuch der Herstellung von Nähe auf körperlich-räumlicher Ebene verstanden werden kann. Dieser wird im Modus der Beschreibung verbal mit einem Verb validiert („sitzen“). Die Forscherin schließt elaborierend auf korporierter Ebene an, indem sie den Hocker hinter Leyla rückt und sich setzt. Erneut wird Marc nicht in das Positionierungsgeschehen involviert; er ist gefordert, sich ins Verhältnis zu setzen. Zunächst bleibt er sitzen und spielt weiter; als Leyla und die Forscherin erneut spielend und schreibend tätig werden, steht Marc auf und verlässt den Platz.

Daraufhin folgt eine erneute Hervorbringung der schon mehrfach sichtbar gewordenen Abfolge in der dyadischen Diskursorganisation: Leyla wendet sich im Modus einer Transposition der Forscherin zu, indem sie Blickkontakt herstellt. Die Forscherin elaboriert verbalisiert (erneute Frage nach Sitzplatzwechsel), unterstützt durch eine Zeige-Geste (Hand auf dem Hocker). Leyla validiert die Anfrage verbalisiert anhand des Verbs „sitzen“. Die Forscherin vollzieht einen erneuten Platzwechsel, sitzt nun neben Leyla und ermöglicht dieser zugleich, potenziell näher am Material zu sitzen und damit unmittelbarere Zugriffsmöglichkeiten. Jener Option kommt Leyla nicht nach, sie validiert das nunmehrige Positionierungsgefüge auf korporierter Ebene, indem sie sitzen bleibt.

Tabelle 4.19 Rutsche: Übersicht Passage OT 4

In OT 4 werden – in hoher interaktiver Dichte – Praktiken vollzogen, die bereits in OT 2 und OT 3 in sehr ähnlichen Modi hervorgebracht wurden: Auf Leylas Transposition, die sich als korporiertes Reichen von Figuren und einer verbalisierten Anfrage anhand des Verbs „spielen“ zeigt, folgt eine korporierte Elaboration der Forscherin, die sich in der Auswahl einer Spielfigur ausgestaltet (Tabelle 4.19). Daraufhin ereignen sich mehrere Abfolgen von Transpositionen und Elaborationen, auf korporierter und teils verbalisierter Ebene. Die Interaktionen sind reziprok aufeinander bezogen und werden wechselseitig, emotional codiert, validiert (Lächeln, Blickkontakt). Die Transpositionen werden dabei nicht nur von Leyla eingebracht, sondern bei der Hervorbringung der Spielpraktiken anhand der Figuren auch von der Forscherin, woraufhin sich Leyla zu jenen elaborierend ins Verhältnis setzt. Das Interaktionsgeschehen scheint hier nicht (mehr) brüchig, sondern von relativer Stabilität und Selbstläufigkeit getragen zu sein.

Als der Polster im Stockbett verrutscht, stellt Leyla die vorherige Ordnung unmittelbar wieder her, indem sie ihn in die vorangegangene Position rückt. Die Praktiken in OT 4 scheinen sich somit langsam – trotz der unterschiedlichen Positionierungen, insbesondere der generationalen Differenz zwischen Leyla und der Forscherin – zu einem konjunktiven Tun hin anzunähern.

Wie auch schon in OT 3 wird in OT 4 im Protokoll erneut das Spielmaterial, als von den Akteur:innen bearbeiteter Gegenstand, sichtbar. Leyla und die Forscherin greifen auf eine Art und Weise auf diesen zu, die sie einerseits ‚spielend‘ in Interaktion treten und diese aufrechterhalten lässt, die sich andererseits aber auch als anerkannte Nutzungspraktik fassen lässt; nämlich, indem sie zur Verfügung gestellte Figuren auswählen, diese wiederum in einem Rollenspiel in Interaktion treten lassen und jene, quasi stellvertretend, die räumlich rahmende „Spielwelt“ – das Einfamilienhaus und dessen Interior – nutzen lassen. Damit folgen sie dem unmittelbaren Aufforderungscharakter des Materials.Footnote 45

Tabelle 4.20 Rutsche: Übersicht Passage OT 5

In OT 5 wird zum ersten Mal im Protokoll eine Fachkraft erwähnt, nämlich, als jene eine Proposition einbringt, die sich an die gesamte Kita-Gruppe – genauer: die Kinder der Kita-Gruppe – richtet (Tabelle 4.20). Das Singen des Aufräumlieds steht im Kita-Kontext symbolisch für die zeitliche Ordnung des Alltags, resp. die Regelung des Übergangs zeitlicher Phasen: Die Zeit des Freispiels wird rituell und kollektiv beendet, die Kinder werden mittels eines pädagogischen Instruments adressiert, den Raum und das hierin befindliche Material aufzuräumen und die (optische) Ordnung (wieder-)herzustellen. Dem Aufräumlied wohnt somit nicht nur ein informativer Gehalt inne – im Sinne eines in-Kenntnis-Setzens bzgl. des Wechsels zeitlicher Phasen –, sondern ihm ist auch ein appellativ-erzieherischer Gehalt inhärent – der pädagogische Aufruf zur Hervorbringung von Ordnungspraktiken. Eingebettet sind diese Funktionen in eine musikalische Darbietung der Fachkraft – in ihrer Rolle als Fachkraft –, welche sich im Liedtext als kommunikative Formulierung artikulieren und damit auch potenziell für jene Personen, die (noch) nicht über konjunktives Erfahrungswissen verfügen, Anschlussmöglichkeiten zur Hervorbringung der Transformation des Handlungsgeschehens – und somit auch Transparenz – schaffen.

Das Aufräumlied stellt sich somit zwar als Ausdruck eines explizit gemachten Wissensbestandes dar, es ist darüber hinaus aber auch als Teil konjunktiven Erfahrungswissens der Akteur:innen der Institution zu verstehen. Diese Annahme lässt sich mit den unmittelbar auf das Lied folgenden Praktiken des Aufräumens seitens der Kinder belegen. Dass auch Leyla über diesen impliziten Wissensbestand verfügt, zeigt sich darin, dass sie schon direkt nach dem Einsetzen des akustischen Reizes eine alternative Praktik zum Ausdruck bringt – in Komparation zu den bisher in der Sequenz von ihr vollzogenen Praktiken. Leyla muss sich den Liedtext also nicht erst kommunikativ erschließen, sondern verhält sich bereits zu Beginn dieses Liedes dazu, indem sie sich von der Forscherin und vom gemeinsam bearbeiteten Gegenstand abwendet, was sich wiederum in der veränderten Körperpositionierung (gekrümmter Oberkörper, Blickrichtung nach unten) dokumentiert.

Die langsam aufgebaute Interaktionssituation, die sich gegen Ende von OT 4 erst zu festigen begann, erfährt hier einen deutlichen Bruch: Während sich die Forscherin um die Aufrechterhaltung der dyadischen Kommunikation bemüht und zugleich ratifizierend darum ringt, der Aufforderung der Fachkraft nachzukommen, zieht sich Leyla zurück. Kennzeichnete sich die Interaktion zuvor durch eine gemeinsame Orientierung am Aufbau einer konjunktiv-dyadischen (Spiel-)Praxis, deutet sich Leylas Praktik mit der Transformation des zeit-räumlich-materiellen Geschehens nunmehr als oppositionell zur Praktik der Fachkraft an. Darüber hinaus verändert sich auch die dyadische Interaktion zwischen Leyla und der Forscherin; sie scheint abgebrochen zu sein. Leyla führt die Praktik des Spielens zwar fort, nunmehr aber nicht interaktiv, sondern für sich, ohne Bezugnahme auf die Forscherin. Das Spiel erfolgt, in Kontrast zu den OT 2, 3 und 4, abgewandt (vs. zugewandt) in veränderter körperlicher Positionierung mit veränderter Aufmerksamkeitsfokussierung (ausschließlich auf die Figur in Leylas Hand) und ohne Blickkontakt. Die zuvor von Leyla eingebrachten Transpositionen ereignen sich nicht mehr, Leyla verbleibt über das gesamt OT 5 hinweg in einem oppositionellen Modus – auch gegenüber den von der Forscherin eingebrachten Transpositionen, im Sinne von Versuchen der Wiederherstellung der Interaktion sowie der Paraphrasierung des von der Fachkraft geäußerten Appells.

Die anderen Kinder der Gruppe verhalten sich – in Kontrast zu Leyla und soweit dies auf Basis des Protokolls rekonstruierbar ist – ratifizierend bis validierend im Hinblick auf die Proposition der Fachkraft: Sie nehmen die Information des zeitlichen Übergangs zur Kenntnis und folgen dem Aufforderungscharakter des Aufräumlieds, indem sie eben Praktiken des Aufräumens zur Performanz bringen.

Die Verfasstheit des Protokolls verdeutlicht die atmosphärische Spannung des OT 5: Es wird auf einer inhaltlichen Ebene weniger beschrieben, welche Praktiken sich auf welche Weise genau vollziehen; hingegen wird stärker eine Negation aufgerufen: Es wird vorrangig thematisiert, was Leyla gerade nicht macht. Der Fokus richtet sich somit auf die Aufforderung, Praktiken des Aufräumens zum Vollzug zu bringen, bzw. auf das nicht-Folgen und oppositionelle Verhalten Leylas. Zudem ist das Protokoll auch auf einer formalen Ebene von einer Transformation gekennzeichnet. Darin finden sich ab 5.2 deutlich weniger kursive Einschübe, womit eine Distanz zu den reflexiven und emotionalen Prozessen hergestellt und ein Zugang zu jenen zugleich tendenziell verschlossen wird.

Die Art und Weise der Verschriftlichung und Formulierung des Protokolls deutet auf Unbehagen und einen widersprüchlichen Handlungsdruck hin, denen sich die Forscherin ausgesetzt zu fühlen scheint. War jene zuvor Spielpartnerin für Leyla, lässt sie sich nun von der Fachkraft als Aufräumende adressieren und kommt der an sie gestellten – bzw. so von ihr wahrgenommenen – Aufforderung nach. Hierin zeigt sich auch die Unbestimmtheit ihrer Rolle, die – in Abgrenzung zur binären Codierung Kita-Kind und erwachsener Fachkraft – offenlässt, wie sie sich zu kollektiven Appellen der Fachkraft verhalten kann und soll. Die in 5.1 vorhandenen kursiven Einschübe im Protokoll erlauben einen Einblick in die emotionale Involviertheit in die spannungsgeladene Szene. Die Forscherin äußert ein persönliches Bedauern auf drei unterschiedlichen Ebenen: Erstens im Hinblick auf die abwendende Praktik Leylas, die zu einem Abbruch der dyadischen Interaktion und – zumindest für die Situation – zur Aufgabe des Beziehungsaufbaus führt; zweitens im Hinblick auf die damit einhergehende Beendigung der gemeinsamen Spielpraxis im Sinne eines konjunktiv-selbstläufigen Tuns; drittens im Hinblick auf die Initiierung dieser abrupten Transformation „von außen“ (UT 5.1), womit die Praktik der Fachkraft als außerhalb der dyadischen Interaktion stattfindend markiert und als störend bewertet wird.

Die Fachkraft wiederum ist im institutionell-pädagogischen Handeln darauf verwiesen, viele Ansprüche und Anforderungen simultan zu berücksichtigen, individuelle und kollektive Bedarfe zu changieren und die raum-zeitliche Ordnung des Gruppengeschehens (wieder-)herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Um den Spielplatz im Kollektiv – als Kindergarten-Gruppe – besuchen zu könnenFootnote 48, bedarf es einer Beendigung der individuellen Praktiken im Gruppenraum. Die Fachkraft nutzt das Aufräumen in UT 5.1 als ein pädagogisches Instrument zur Gestaltung einer geordneten raum-zeitlichen Mikrotransition. Diese Ordnung wird in UT 5.2 auch über den runden Teppich hergestellt, indem Kinder, die das Aufräumen bereits vollzogen und abgeschlossen haben, sich auf dem Teppich einzufinden haben. Anders als in OT 1, kommt dem Teppich hier eine Wartefunktion in der zeitlichen Strukturierung zu, womit unterschiedliche Nutzungspraktiken des Artefakts deutlich werden.

Ähnlich dem Singen resp. Hören des Aufräumliedes, scheint auch das Aufrufen von Kindern in Kleingruppen resp. das kollektive und zugleich disziplinierende auf-die-Toilette-schicken einem impliziten Wissensbestand resp. konjunktiven Erfahrungen zu entsprechen. Die Fachkraft führt keine weiteren, expliziten Erläuterungen an, die Kinder ‚verstehen‘ die an sie gestellte Aufforderung, kennen das Skript und folgen ihm – sie bringen die intendierten Praktiken zur Aufführung und verhalten sich ratifizierend bis validierend. Nur Leyla entzieht sich diesen Anforderungen. Sie nutzt die schon in OT 2 rekonstruierte nonverbal-korporierte Kommunikationsform, hier jedoch eben nicht auf das Gegenüber Bezug nehmend, sondern auf sich selbst zurückziehend.

Tabelle 4.21 Rutsche: Übersicht Passage OT 6

Auch als die Fachkraft individuell mit Leyla in Kontakt tritt (vs. kollektive Adressierung in UT 5.1) – nämlich mit der verbalen Aufforderung, zur Toilette zu kommen –, verbleibt Leyla in einem oppositionellen Modus. Auf korporiert-nonverbaler Ebene macht sie deutlich, die von der Fachkraft an sie gestellte Anfrage abzulehnen. Auch an die mehrfachen verbalen Elaborationen der Fachkraft und der Forscherin schließt sie nicht an, sondern hält den korporierten Widerstand aufrecht.

Schließlich verändert die Fachkraft ihre Positionierung: Sie überwindet die räumliche Distanz, indem sie den Platz in der Tür verlässt und sich Leyla nähert (Tabelle 4.21). Während dieser korporierten Elaboration der von ihr zuvor aufgeworfenen Transposition stellt sie Blickkontakt zur Forscherin her und äußert ihren Unmut ihr gegenüber darüber, dass sie Leyla „wieder extra holen muss“ (UT 6.2). Diese negativ konnotierte Aussage deutet einerseits darauf hin, dass die Forscherin als erwachsene Person in der Institution – in generational ähnlich gelagerter Position zu den Fachkräften – angesprochen wird und möglicherweise auch kommunikativ in deren konjunktiven Erfahrungsraum eingeführt werden soll, womit auch eine Sicherung von Macht und Status der Fachkraft – bzw. eine Legitimation der von ihr aufgeführten Praktiken – angesprochen sein könnteFootnote 52. Andererseits zeigt sich auf der inhaltlichen Ebene der Verbalisierung bzw. der dabei zum Ausdruck gelangenden Wortwahl, dass der Szene Erfahrungswissen vorausgeht, resp. Leyla wohl schon zuvor Praktiken zur Aufführung brachte, die sich als Bruch des impliziten Skripts, expliziter Aufforderungen oder/und als Irritation der institutionell-pädagogischen Ordnung äußerten. Jene wurden – so lässt sich vermuten – seitens der Fachkraft als nicht-anerkannte Praktiken klassifiziert und forderten sie folglich, sich zu diesen – individualisiert (vs. kollektiviert) – zu verhalten.

Leyla scheint eine exponierte Stellung in der Gruppe zuzukommen: Dass sie „extra“ geholt werden „muss“ (UT 6.2) impliziert, dass es für die Fachkraft eine ungewollte Praktik darstellt, auf Leyla individualisiert zuzugehen und sie nicht nur verbal aufzufordern, sondern auch körperlich-räumliche Nähe herzustellen. Die Verwendung des Modalverbs müssen deutet auf eine als belastend und/oder mühevoll erlebte Praktik hin, die die Fachkraft als verpflichtend wahrnimmt und sich selbst adressiert sieht, diese hervorbringen zu müssen. Zudem verweist die Formulierung im Passiv auf die Zuschreibung eines Objektstatus: Leyla wird geholt. Leyla und die Fachkraft verfügen zwar über gemeinsame Erfahrungen, jene scheinen jedoch von Prekarität gekennzeichnet zu sein. Die Diskursorganisation in OT 5, UT 6.1 sowie UT 6.2 legt somit die Annahme nicht geteilter Orientierungen resp. von Rahmeninkongruenz nahe.

War die Fachkraft im Protokoll zuvor nicht präsent, tritt sie ab OT 5 erheblich in Erscheinung: Sie ist es, die die Hervorbringung der Ordnung des Geschehens in der Kita-Gruppe regelt, bzw. dafür sorgt, dass sie im Falle von Störungen und/oder Irritationen wieder aufgebaut und performativ hergestellt wird. Dabei bedient sie sich jener Macht, die ihr im institutionell und generational geprägten pädagogischen Arrangement der Kita zugewiesen wird und die im Falle eines Brüchigwerdens des Skripts besondere Relevanz erlangt.

In UT 6.3 kommt es zum dramaturgischen Höhepunkt der Passage: Die Fachkraft bleibt hinter Leyla stehen. Diese Positionierung bedeutet die Herstellung einer körperlich-leiblichen Nähe, die zu einer vertikalen Differenz resp. einem Herabblicken der Fachkraft auf Leyla führt. Auf horizontaler Ebene werden – durch das von-hinten – für Leyla eine Sichtmöglichkeit, ein optionaler verbaler Kommunikationsanschluss sowie der Aktions- und Bewegungsradius erheblich eingeschränkt. In Kontrast zu UT 6.1 wird Leyla nunmehr nicht verbal angesprochen, sondern ausschließlich auf korporierter Ebene von der Fachkraft berührt – jene überschreitet daraufhin eine körper-leibliche Grenze, indem sie unter Leylas Arme greift und sie vom Hocker herunterzieht. Leylas Körper wird von der Fachkraft hierbei in einem machtvollen Akt nonverbal um-positioniert. Hierauf verhält sich Leyla, anders als zuvor in OT 5 sowie UT 6.1 bis 6.2, nicht mehr oppositionell: Sie bleibt stehen und ratifiziert die verobjektivierende Elaboration der Fachkraft hinsichtlich der Um-Positionierung, indem sie diese schweigend zur Kenntnis nimmt und, nunmehr entsprechend der Adressierung – passiv –, stehen bleibt.

Andere Fälle kontrastierend, in denen sich Interaktionsprozesse zwischen Erwachsenen und Kindern – auch im Konfliktfall (vgl. Sequenz Atelier) – auf Augenhöhe realisieren, gestaltet sich die Interaktion hier als machtvoll und eine körperlich-leibliche Grenze deutlich überschreitend: von hinten und oben. Der Zugriff auf den kindlichen Körper vollzieht sich, ähnlich gelagert, noch ein zweites Mal, indem die Fachkraft zwei Figuren ungefragt aus Leylas Händen nimmt. Dieser korporierten Praktik verleiht sie mit der verbalen Begleitung „die bleiben jetzt da“ (UT 6.3) besonderen Ausdruck und Relevanz.

Letztere machtvolle Praktik bezieht sich auf den vorausgegangenen verbalisierten Hinweis eines anderen Kindes: Julia informierte die Fachkraft darüber, dass sich noch zwei Figuren in Leylas Händen befinden und die Praxis des Aufräumens somit noch nicht – der institutionellen Ordnung entsprechend – abgeschlossen wurde. Die Fachkraft nimmt jenen Hinweis jedoch nicht als Anlass, mit dem „angeschwärzten“ Kind in Kommunikation zu treten (im Sinne der Formulierung einer inhaltlichen Nachfrage) oder es verbal – diesmal in körperlicher Nähe – aufzufordern, die Figuren wegzuräumen. Julias Hinweis fungiert hingegen als unmittelbarer und unhinterfragter Anlass zum erneuten Zugriff der Fachkraft auf den kindlichen Körper, in Gestalt einer Öffnung der Hände Leylas und der anschließenden Entfernung der von ihnen gehaltenen Spielfiguren.

Schon in UT 5.2 trat Julia nonverbal in Erscheinung, indem sie sich – wie dann auch später die Fachkraft – von hinten näherte, um Praktiken des Aufräumens zur Aufführung zu bringen und damit der Aufforderung der Fachkraft regelkonform, und zugleich über die individuelle Positionierung im Raum hinweg, nachzukommen. Angesprochen ist damit, dass Julia nicht nur den eigenen Spielbereich resp. das von ihr zuvor genutzte Material aufräumt, sondern sich nach der Fertigstellung des individuellen Aufräumprozesses auch an anderen Artefakten bedient, um hier Praktiken des Aufräumens zur Darstellung zu bringen. Julias Rolle zeigt sich hierbei als diametral zu Leylas: Beiden wohnt in der Gruppe eine exponierte, normativ bewertete Stellung inne. Während Leyla – als junges, Widerstand zum Ausdruck bringendes Kita-Kind – von der Fachkraft als potenziell belastend adressiert wird, ist Julia schon älter und seit einem längeren Zeitraum in die Einrichtung sozialisiert. Ihr Verhalten entspricht anerkannten und von der Fachkraft intendierten Praktiken, was zur – auch verbal explizierten –, geschlechtlich und generational codierten Adressierung als „großes Mädel“ (UT 6.4) führt. Jener Ausdruck fungiert gleichsam als Fokussierungsmetapher, in dem eine Art Fachkraft-Assistenz erzeugt wird. In ihr dokumentiert sich auch die positiv konnotierte Zuschreibung von Angepasstheit (an die Kita-Ordnung), die auf der Beobachtung der Hervorbringung von Praktiken Julias beruht, welche das institutionelle Skript nicht herausfordern, sondern im Gegenteil zur Aufrechterhaltung – aktiv und handlungsmächtig (vs. passiv bei Leyla) – beitragen.

Die Sequenz wird rituell vor dem Hintergrund nicht-geteilter Orientierungen zwischen Fachkraft und Leyla beendet bzw. vor dem Hintergrund geteilter Orientierungen zwischen Fachkraft und Julia (sowie Marie) konkludiert: Noch ein drittes Mal greift die Fachkraft auf den Körper von Leyla zu, indem sie diese bei der Hand nimmt und die körperliche Ausrichtung zur Türe vornimmt. Leyla folgt dieser Aufforderung ebenso auf korporierter Ebene: Händehaltend verlassen beide den Gruppenraum, ohne Vollzug einer verbalen Interaktion.

Drückt sich das Hände-Halten anderswo als Form der Zuneigung und/oder der Artikulation von Schutz aus, fungiert es hier kontrollierend: Leyla hat sich der machtvollen Rolle der Fachkraft passiv unterzuordnen, im Sinne der Negation alternativer, (stärker) selbstbestimmter Handlungs- und Bewegungsoptionen. Ein erneuter Widerstand wird somit (fast) verunmöglicht. Demgegenüber werden die noch auf dem Teppich verbliebenen, wartenden – und damit anerkannte Praktiken hervorbringenden – Kinder Julia und Marie seitens der Fachkraft verbal – aus räumlich und körperlicher Distanz heraus – angesprochen, den Raum zu verlassen und die Toilette aufzusuchen. Und dieser Anforderung kommen sie, Leylas vorherige widerständige Praktiken kontrastierend – eben konkludierend, im Modus der Validierung – auch nach.

4.4 Sequenz Mittagskreis

Rahmendaten

Beteiligte:

Doreen (Fachkraft), „ich“ (Forscherin), Kinder der Gruppe, Robin (ca. 5 J.), Cornelia (Fachkraft), Kai (ca. 5–6 J.), Heidi (Fachkraft/Leitung)

(chronologische Reihung, nach erstmaligem Erscheinen im Protokoll)

Datum:

5. Erhebungstag (in dieser Einrichtung)

Zeit:

10.30–11.00 Uhr

Dauer:

ca. 30 min

Ort/Raum:

„Gruppenraum“ (sowie Vorraum)

Raumskizze (Raumausschnitt) in schematischer Darstellung, nach Erinnerung (Abbildung 4.4)

Abbildung 4.4
figure 4

Mittagskreis: Raumskizze

Anmerkung

Die Personen sind in der Szene in Bewegung und verändern ihre Positionen, sie werden daher zwar im Protokoll sichtbar, in der Raumskizze aber nur indirekt (mit Angabe der Positionen in Form von Buchstaben) visuell zur Darstellung gebracht.

* Form retrospektiv nicht mehr eindeutig erinnerbar (Kreis oder Quadrat mit abgerundeten Ecken)

Kontextualisierung

Der folgenden Szene ist ein kurzes Gespräch mit der Fachkraft Doreen vorgelagert: Ich sitze gerade im großen Vorraum auf einer Couch und mache Notizen in meinem Feldtagebuch. Heute wurde die Wahl eines Märchens für ein Kindergartenfest durchgeführt, welches am Faschingsdienstag – also wenige Wochen später – stattfinden wird. Das Personal wählte vorab zwei Märchen aus, welche den Kindern als Angebot an mehreren Terminen im Rahmen der „Reisezeit“ (steht für die tägliche Phase des „(teil)offenen Hauses“, freiwillige Teilnahme) vorgestellt wurden. Alle Personen der Einrichtung (Kinder, Fachkräfte, Leitung) stimmten für je eines der beiden Märchen. Das Stück mit den meisten Stimmen wird von den Fachkräften als Theater institutionsintern als jährliches Ritual vorbereitet und gespielt.Footnote 53 Ich bin gerade dabei, die Beobachtungen zur heute stattgefundenen „Wahl“ zu notieren.

Doreen kommt auf mich zu und sagt mir, „dass heute Ausatmen ist“. Bei diesem wöchentlichen Ritual trifft sich die gesamte Einrichtung (Kinder, Fachkräfte, Leitung) im „Bewegungsraum“ zu einem gemeinsamen „Wochenabschluss“. Doreen informiert mich, dass das „Reisen“ heute daher schon um 10.30 Uhr endet (veränderter Zeitraum 9–10.30 Uhr statt regulär 9.00–11.00 Uhr). Bereits um 10.30 Uhr treffen sich die Gruppen daher in den Gruppenräumen zum „Mittagskreis“ (veränderter Zeitraum 10.30–11.00 Uhr statt regulär 11.00–11.30 Uhr). Das „Ausatmen“ findet dann um 11.00 Uhr im Turnsaal im Obergeschoß für alle Gruppen statt (Tabelle 4.22).

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Thematischer Verlauf: Mittagskreis

Tabelle 4.22 Mittagkreis: Thematischer Verlauf

Reflektierende Interpretation: Mittagskreis

Tabelle 4.23 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 1

Die hier vorgestellte Sequenz Mittagskreis vollzieht sich vorrangig im Gruppenraum einer Einrichtung, im Übergang der zeitlichen Phasen, vom Freispiel zum Mittagskreis. Damit sind zwei aufeinanderfolgende heterogene pädagogische Arrangements der institutionellen Tagesstruktur angesprochen: So versteht sich das Freispiel als Phase, in der Kinder relativ frei und offen – wenn auch raum-zeitlich und materiell bzw. pädagogisch geordnet – individuelle und/oder gemeinschaftliche Praktiken auf Peer-Ebene zum Ausdruck bringen können und Fachkräfte zumeist im Hintergrund agieren (vgl. auch Sequenzen Ritter und Rutsche). Demgegenüber realisiert sich der Mittagskreis als kollektive Zusammenkunft der Akteur:innen einer Gruppe – der Kinder und der Fachkräfte. Das zeitlich dazwischen gelagerte Aufräumen tritt im Protokoll nicht zu Tage, da die Forscherin in dieser Zeit Feldnotizen anfertigtFootnote 56 (Tabelle 4.23).

Eine zentrale Rolle nimmt die Fachkraft Doreen in diesem Übergangsgeschehen ein: Sie stellt expliziten Kontakt zur Forscherin her und lädt sie ein, an der/den folgenden zeitlichen Phase(n) teilzunehmen. Doreens Praktik kann als Proposition markiert werden: Sie folgt dem Ordnungsgeschehen, das seine Wirkung für (beinahe) alle Akteur:innen der Institution zu entfalten vermag und bringt zugleich eine Anfrage ein, die nicht nur verbal artikuliert wird, sondern sich auch durch eine korporierte Annäherung an die Forscherin auszeichnet. Handlungs-, Deutungs- und Entscheidungsmacht kommt dabei beiden Akteur:innen, wenn auch ungleich verteilt, zu. Die Fachkraft kann, darf und soll entscheiden, wer sich auf welche Weise an dem folgenden kollektiven Zusammentreffen in der Kita-Gruppe beteiligt. Sie ist es somit, die Exklusions- und Inklusionsprozesse steuern kann. Sie spricht in diesem Kontext der Forscherin implizit zu, agency zum Ausdruck zu bringen: Ihr kommt – anders als den Kindern – Wahlfreiheit zu, an jener Zusammenkunft teilzunehmen und somit der Einladung der Fachkraft zu folgen, oder eben auch nicht. Die Explikation der institutionellen Strukturen seitens der Fachkraft ermöglicht der Forscherin, einen Zugang zum impliziten Wissen zu erhalten. Die Fachkraft stellt gegenüber der Forscherin Transparenz her, indem sie in die Logik des Feldes einführt, welche sich wiederum einer institutionenspezifischen Sprache bedient. Jene speist sich bspw. aus Feldbegriffen wie ‚Mittagskreis‘ und ‚Ausatmen‘, welche gerade nicht ‚Allerweltsbegriffe‘ darstellen, sondern eine besondere Bedeutsamkeit ausdrücken, resp. eine institutionelle Exponierung erlauben.

Die Forscherin elaboriert die Proposition der Fachkraft, indem sie sich verbalisiert für die erhaltene Information bedankt und sie sie darüber in Kenntnis setzt, die aktuelle Tätigkeit (das Erstellen von Notizen) zu unterbrechen, um der Einladung nachkommen zu können. Die Bedeutsamkeit des folgenden Geschehens wird damit auch von der Forscherin anerkannt. Die Fachkraft antwortet nunmehr auf korporierter Ebene, indem sie nickt und damit die Elaboration der Forscherin ratifiziert. Der anschließende, getrennte Gang in den Gruppenraum bildet die (Zwischen-)Konklusion des kurzen dyadischen Kommunikations-, resp. Interaktionsgeschehens von Fachkraft und Forscherin.

Der Mittagskreis versteht sich als ein Geschehen, in dem die „Stammgruppen“Footnote 57 jeweils für sich kollektivierend zusammentreffen. Er ist zeitlich gebunden und zugleich konkret räumlich verortet. Im Begriff des Mittagskreises kumulieren pädagogische Intentionen und von den beteiligten Akteur:innen aufgerufene und zur Darstellung gebrachte Praktiken dergestalt, dass er eine spezifische Situation aufruft, in der sich Akteur:innen auf besondere Art und Weise in Beziehung setzen, in der sie sich einander zugewandt positionieren und mit ihren Körpern eine Rahmung des potenziellen Interaktionsgeschehens herstellen. Symbolisch steht der Kreis für eine runde Form, ohne Ecken, ohne Anfang und Ende. Der Kreis weist allen Personen dahingehend gleiche Positionen zu, dass der Abstand zum Kreismittelpunkt jeweils der gleiche ist und sich lediglich die Relationen der Akteur:innen zueinander unterscheiden (unterschiedliche Nähe/Ferne der einzelnen Körper zueinander). Aufgrund der zirkulären Struktur kommt allen teilnehmenden Personen der gleiche Status zu. Die Akteur:innen werden in Gestalt eines Kreises, entlang dessen Radius, somit auf gleiche Weise zueinander ins Verhältnis gesetzt, sodass auch jede Person potenziell mit jeder anderen in (Blick-)Kontakt treten kann.

Ein Blick auf die tatsächliche räumliche Positionierung (vgl. Raumskizze) zeigt jedoch, dass der begrifflich suggerierte Kreis sich gerade nicht als Kreis realisiert, sondern die Anordnung der Sitzmöbel – also die verwendeten Bänke und Stühle und deren Ausrichtung – eine quadratische Positionierung der Akteur:innen proponiert. Die im Kontext der pädagogischen Inszenierung des Mittagskreises adressierten Kinder und Fachkräfte können die Intention, die Körper kreisrund-zueinander-auszurichten, somit nicht bedienen, resp. nicht zur Aufführung bringen. Sie folgen vielmehr – und scheinbar widerspruchsfrei – dem Aufforderungscharakter des Mobiliars, indem sie sich in der Form eines Quadrates zueinander positionieren: An drei Bänken nehmen Kinder und Fachkräfte sitzend Platz, an den Stühlen weitere Kinder und die Forscherin. Die Körper sind nun nicht – wie es die Begrifflichkeit des Kreises andeutet – auf gleiche Weise zueinander relationiert, vielmehr erzeugt das Quadrat vier Seiten mit je einem Anfang und einem Ende, welche parallel verlaufen bzw. in einem rechten Winkel ineinander münden. Die quadratische Form schafft somit ungleiche Relationierungen und Exponierungen, im Sinne paralleler vs. seitlich zueinander verlaufender Sitz-Seiten. Damit entsteht ein Nebeneinander sowie ein (seitliches) Gegenüber mit potenziell nicht-egalitären Möglichkeiten der Interaktion.

In Komparation zu den Sequenzen AtelierFootnote 58, RutscheFootnote 59 und RitterFootnote 60 richten Erwachsene (Fachkräfte) und Kinder ihre Körper jedoch nicht auf vertikal unterschiedliche Weise zueinander aus (vgl. auch Anhang 3Footnote 61). In der vorliegenden Sequenz Mittagskreis sitzen alle Akteur:innengruppen auf denselben Sitzgelegenheiten in ähnlich niedriger Höhe. Es erfolgt somit keine Differenzierung der körperlichen Ausrichtung bzw. der Positionierung und Nutzung des Mobiliars entlang der Dimension Alter, resp. der differenten Körpergröße von Erwachsenen und KindernFootnote 62 (vgl. auch OT 2).

Begrenzt wird der Mittagskreis nach außen und nach innen hin: An zwei – parallel ausgerichteten – Seiten befinden sich hinter den Bänken Regale, die aus dieser Position keine Zugriffsmöglichkeit auf den Inhalt der Regale erlauben, sondern eher als vertikale, halbhohe HolzwändeFootnote 63 erscheinen. Eine dritte Bank steht direkt vor der verputzten und gestrichenen Wand des GruppenraumsFootnote 64. Alle drei Bänke offerieren die Option, sich mit dem Rücken anzulehnen. Die Stühle hingegen verstehen sich als Vereinzelungsvariante: Während die Bank eine sitzende Positionierung für mehrere Personen in Form eines direkten und potenziell sehr nahen, kollektiven Nebeneinanders schafft, erzeugt die Anordnung der Stühle ein individualisiertes Nebeneinander, im Sinne eines – wenn auch kleinen – eigenen Raums. Die Stühle-Bänke-Formation schafft auch unterschiedliche Bewegungsoptionen: Während sich die Bank als relativ immobil zeigt und nur unter größerem Kraftaufwand verrückt werden kann, ermöglicht der Stuhl deutlich einfacher – und gewichtsmäßig leichter – Bewegungen, im Sinne von Umpositionierungen, sowohl des darauf positionierten Körpers als auch des Mobiliars selbst. Damit ist auch die Möglichkeit, zwischen den Akteur:innen mehr Nähe resp. Distanz herzustellen, auf den Sitzgelegenheiten in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise verteilt. Zudem stellen die Bänke eine deutlichere Geschlossenheit des Quadrats auf drei Seiten dar, während die Stühle stärker öffnend zum Gruppenraum hin ausgerichtet sind. Dadurch, dass hinter den Stühlen keine Regale o. Ä. positioniert sind und zwischen den Stühlen etwas Raum frei ist – resp. im Zwischen „Lücken“ entstehen –, lässt sich die Grenze zum außen hier als deutlich poröser markieren.

Nach innen ist der Kreis durch einen größeren Teppich markiert. Wenngleich die Form der Erinnerung nicht mehr genau zugänglich ist – sie gleicht einem Kreis oder einem Quadrat mit abgerundeten Ecken –, so lässt sich doch auf die Ähnlichkeit zu einem Inkreis eines Quadrats verweisen, welcher zumindest an vier Punkten – jeweils in der Mitte der vier Seiten – das Quadrat berührt, in den Winkeln jedoch räumliche Lücken schafft, in denen der Holzboden zum Vorschein tritt. Die Akteur:innen sind somit zumeist nicht direkt auf dem Teppich positioniert, sondern berühren dessen Rand nur zum Teil mit den Füßen. Je nach körperlicher Größe, resp. Beinlänge sowie Positionierung im Quadrat, können die Füße potenziell auf den Teppich gestellt werden oder über ihm baumeln. Der Teppich fungiert hier – in Komparation zu den Sequenzen Ritter und Rutsche – zentrierend. Er lenkt den gemeinschaftlichen Fokus, er proponiert kollektive und kollektivierende Praktiken und rückt den „Kreis-Charakter“, der durch die Positionierung von Bänken und Stühlen nur hintergründig bespielt werden kann, in den Vordergrund. Der Teppich erzeugt eine gemeinsame Mitte und ermöglicht die Ausrichtung auf kollektive Praktiken, bzw. die Herstellung eines wir .

Tabelle 4.24 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 2

Als die Forscherin den Gruppenraum betritt, sind viele Kinder und die Fachkraft Doreen sitzend im Kreis versammelt, sie haben Praktiken der Herstellung eines kreisähnlichen Arrangements anhand der geordneten Positionierung ihrer Körper bereits hervorgebracht (Tabelle 4.24). Der Verfasstheit des Protokolls ist geschuldet, dass das vorangegangene und über den Aspekt des Raums hinausgehende (vgl. OT 1), proponierende Entstehen dieses Settings nicht rekonstruiert werden kann. Das Interaktionsgeschehen, im Sinne des Zustandekommens des Mittagskreises, zeigt sich mit UT 1.2 und UT 2.1 jedenfalls als schon laufend, der Eintritt der Forscherin in den Kreis kann insofern als elaborierend gedeutet werden. Ein paar Plätze auf den Bänken und Stühlen sind bislang noch unbesetzt, die Forscherin nimmt einen Stuhl als verfüg- und besetzbar wahr. Sie setzt sich – trotz vorangegangener Einladung durch die Fachkraft (vgl. UT 1.1) – nicht direkt hin, sondern bittet die daneben sitzenden Kinder erst verbal um Einverständnis. Mit der Wahl des Sitzplatzes auf dem Stuhl entscheidet sie sich für eine individualisierte Positionierungsoption. Sie hat hier ihren „eigenen Raum“ und verfügt über größere Bewegungsmöglichkeiten als auf der Bank. Damit kommt ihr potenziell ein stärkerer Einfluss auf die Nähe bzw. Distanz zu den direkten ‚Sitznachbar:innen‘ zu. In der transpositionellen Anfrage, die die beiden Kinder adressiert, ermöglicht sie jenen, an der Entscheidung für oder gegen eine ‚Sitznachbarschaft‘ zu partizipieren und die körperliche Nähe zur relativ fremden Forscherin somit zu unterstützen oder auch abzulehnen (vgl. auch Anfrage zur Beobachtung in Sequenz Ritter).

Die eingeräumte Möglichkeit, an dieser Entscheidung teilzuhaben, wird von den Kindern jedoch nicht elaboriert, sie zeigen keine – zumindest im Protokoll abgebildete – Reaktion. Nach einer kurzen Pause bzw. nach längerem Abwarten bringt sich die Fachkraft in das Geschehen ein, indem sie argumentativ elaboriert. Sie fordert die Kinder nicht auf, ‚selbst‘ zu antworten, sondern bejaht die von der Forscherin eingebrachte Anfrage und begründet dies mit dem ‚freien‘ Charakter des Stuhls. Die Fachkraft scheint hier zwar stellvertretend für die Kinder zu sprechen, tut dies aber nicht in machtvoller Weise, da die agency der Kinder – und auch der Forscherin – gewahrt wird. So nimmt die Fachkraft keine Antwort vorweg; sie übergeht die potenzielle Äußerung der Kinder nicht, sondern wartet erst ab, ob jene die Frage selbst beantworten. Sie trägt aber auch Sorge dafür, dass das Anliegen der Forscherin Gehör findet, resp. nicht unbeantwortet bleibt, gerade auch deshalb, weil jene nicht Teil des konjunktiven Erfahrungsraums der Kita-Gruppe ist.

Die Fachkraft übernimmt an dieser Stelle erneut (vgl. auch 1.1) die Rolle der Einführenden in jenes implizite Wissen und stabilisiert zugleich das Skript. Dass Letzteres jedoch nicht als brüchig erscheint und von der Praktik der Forscherin keine relevante Erschütterung erfährt, dokumentiert sich in der Wortwahl der Fachkraft, als diese zweifelsfrei verbalisiert, dass der Stuhl „sicher“ (UT 2.2) frei ist und sie die Forscherin auffordert, sich zur Gruppe zu setzen. Diese folgt der Anrufung auf korporierter Ebene und vollzieht damit eine Zwischenkonklusion. Das von der Fachkraft explizierte „uns“ (UT 2.2) verweist auf ein bestehendes wir, das einerseits auf Zusammengehörigkeit und Vergemeinschaftung der Gruppe verweist, sich andererseits in seiner Exklusivität aber auch zugleich nach außen öffnet. Es zeichnet sich gerade nicht durch Exklusion aus, sondern bemüht sich um Inklusion – hier im Sinne der zeitweiligen Integration der Forscherin in das kollektive Geschehen.

Unklar bleibt, worin die Praktiken des nicht-Antwortens der beiden Kinder gründen; ob die verbalisierten Fragen sprachlich und/oder inhaltlich nicht verstanden werden und/oder sie diese – in Gestalt eines Trialogs mit der Forscherin – nicht beantworten können und/oder wollen. Denkbar ist auch eine Rahmeninkongruenz dergestalt, dass die Absicht der gestellten Fragen nicht deutlich bzw. nicht nachvollziehbar wird, da das Anliegen der Forscherin den Orientierungen der Kinder bzw. deren konjunktivem, institutionell gerahmten, Erfahrungswissen diffus gegenübersteht.

Die Annahme, dass das explizite Fragen-um-einen-freien-Platz keine übliche Praktik darstellt, speist sich nicht nur in der Irritation, die die Forscherin bei den Kindern auszulösen scheint, sondern auch in der Formulierung des Protokolls in UT 2.3: Die Plätze werden nach und nach von den sich noch im Raum bewegenden Kindern und einer weiteren Fachkraft belegt, es gibt keine Hinweise auf Thematisierungen oder Aushandlungen im Positionierungsgeschehen. Alle Akteur:innen – mit Ausnahme der Forscherin – wissen somit implizit Bescheid, dass freie Plätze automatisch die Möglichkeit bieten, sich zu setzen; sie wissen ebenso auf einer konjunktiven Erfahrungsebene, dass es keine fix oder vorübergehend vergebenen Sitzplätze gibt – im Sinne zeitlich überdauernder individueller Platzzuweisungen oder „Reservierungen“ –; sie wissen zudem weiterhin, dass es bei der Platzwahl keiner Explikationen oder Nachfragen bedarf – sondern man sich „einfach“ dorthin setzen kann, wo ein Platz visuell unbesetzt scheint – und sie wissen schließlich auch, dass Fragen nach einer Sitznachbar:innenschaft folglich nicht aushandelbar sind, sondern sich allein aufgrund der individuellen Platzwahl ergeben. Jede:r Akteur:in entscheidet somit für sich, wo er:sie sitzen möchte. Beeinflussbar ist die Sitznachbar:innenschaft für die Akteur:innen also nur dadurch, dass sie sich zu-jemandem-dazu-setzen können. Es besteht folglich jedoch keine Option, nachkommende Sitznachbar:innen abzulehnen, worin sich erneut eine inkludierende Orientierung zeigt. Die Fachkraft hält das Skript durch die Information, dass der Platz für die Forscherin „sicher“ frei ist, aufrecht.

Entscheidend ist hierbei das Moment der Zeit: Die Möglichkeit, das Verhältnis von Nähe resp. Distanz zu den anderen Akteur:innen im Mittagskreis zu bearbeiten, besteht nur zu einem spezifischen Zeitpunkt; nämlich genau in dem Moment, in dem der:die Akteur:in gerade selbst eine Positionierungspraktik zum Ausdruck bringt. Dass die freien Plätze an sich relativ wertneutral und friktionsfrei nebeneinander existieren und zur Verfügung stehen, also keine besser-schlechter-Zuschreibungen im Hinblick auf die Positionierungsoptionen auf Stühlen und Bänken bestehen, deutet sich darin an, dass Fachkräfte und Kinder – unabhängig ihrer generationalen Adressierung – statusungebunden gleiche Zugriffsoptionen auf das Mobiliar haben resp. keine exklusiven Ansprüche geltend gemacht werden können. Diese Annahme wird durch die beobachteten performativen Praktiken der Positionierung noch dahingehend bestärkt, dass es simultan freie Plätze auf einem leeren Stuhl und auf Bänken gibt, jedoch keine potenziellen Präferenzen oder Artikulationen, in denen sich solche Hierarchisierungen ausdrücken würden, sichtbar werden.

Tabelle 4.25 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 3

Dass der Fachkraft als Fachkraft eine exponierte Stellung in der Rahmung des Interaktionsgeschehens, resp. der Gestaltung und Aufrechterhaltung des Skripts zukommt, wird erneut in UT 3.1 sichtbar (Tabelle 4.25). Als sich der Mittagskreis als konstituiert zeigt – was sich in einer vermuteten Vollständigkeit der Gruppe im Kreis abbildet (es sind keine Personen mehr außerhalb des Kreises in der Gruppe zu sehen) –, wird auf ritualisierte Praktiken zurückgegriffen: Auf die zeitlich vorgelagerte – relativ unbestimmte, eher offene und individualisierte – Phase des Freispiels, folgt nun ein sich täglich wiederholendesFootnote 68 – relativ klar konturiertes, eher geschlossenes – Ritual, das gemeinschaftliche Praktiken zur Aufführung bringt. Die Kindergruppe erscheint als Kollektiv, aus dessen Mitte ein:e individuelle:r Akteur:in von der Fachkraft transpositionell adressiert wird, „die Kinder ‚zu zählen‘“ (UT 3.1), und damit prüft, ob die vermutete Vollständigkeit der Stammgruppe tatsächlich gegeben ist.

Das „Zählen“ verweist auf eine administrativ-organisatorische und zugleich pädagogisch vermittelte Ordnungspraxis: Die Fachkräfte wollen und sollen Bescheid wissen, wo sich die Kinder aufhalten. Sie müssen die an sie gestellte Aufgabe der Aufsichtspflicht im institutionellen Kontext wahrnehmen und prüfen daher, ob alle Kinder nach dem „Reisen“ in die „Stammgruppen“ zurückgekehrt sind. Jener administrative Akt wird zugleich erzieherisch genutzt, indem das Kinder-Kollektiv in das Ordnungsgeschehen involviert wird, wenngleich hier zwischen aktiven und passiven Positionierungen unterschieden werden kann: Während Robin aktiv Praktiken des Zählens zur Aufführung bringt, werden die anderen Kinder passiv gezählt, wird etwas an ihnen vollzogen. Das Zählen suggeriert, Kinder wären grundsätzlich numerisch zählbar, worin sich ein objektivierender Charakter anzudeuten vermag. Und das Zählen ist zugleich auf eine:n zählende:n Akteur:in verwiesen, der:die über die entsprechende (u. a.) numerisch-mathematische Kompetenz verfügt, jene Zähl-Praktiken überhaupt zum Ausdruck bringen zu können. Bemerkenswert scheint hier, dass das Zählen weder im Kollektiv – also gemeinschaftlich – erfolgt, noch die Fachkraft offen in das Kollektiv fragt, ob sich Akteur:innen – quasi auf freiwilliger Basis – zur Verfügung stellen, jene Praktiken in exponiert-individueller Positionierung aufzuführen. Der Fachkraft kommt hier die alleinige Entscheidungsmacht zu, ein Kind mit dem Zählen – gleichsam bittend – zu „beauftragen“. Offen bleibt, ob ggf. schon zeitlich vorgelagert Aushandlungen stattfanden (z. B. Vereinbarung am Vortag, individuelle Anfrage von/an Robin vorab). Jene wurden zumindest nicht im Kollektiv expliziert und scheinen entsprechend auch nicht im Protokoll auf.

Der gestellten propositionellen Aufforderung folgt Robin jedenfalls unmittelbar elaborierend auf korporierter Ebene, indem er:sie aufsteht und die angerufenen Praktiken direkt zur Performanz bringt. Dass Fachkraft und Kind über gemeinsam geteiltes Erfahrungswissen verfügen, zeigt sich darin, dass Robin keiner Explikation bedarf, er:sie weiß implizit, wie das Zählen funktioniert. Es wurde schon öfters beobachtet und/oder selbst praktiziert, sodass die Umsetzung der Anfrage unmittelbar möglich ist. Das Zählen selbst erfolgt nach einem klaren Skript in zugleich korporierter und verbalisierter Praxis: Robin stellt Augenkontakt zu einem Kind her, zeigt auf dieses Kind und nennt – für das Kollektiv „gut hörbar“, also in entsprechend hoher Laustärke – eine Zahl, beginnend bei „eins“ und geht dann einen Schritt weiter, bis zum nächsten Kind. Nach und nach werden, im Uhrzeigersinn, alle Kinder nach dem gleichen Ablaufschema gezählt. Dabei wird die implizite Regel zur Aufführung gebracht, dass jenes Zählen nicht auf alle Akteur:innen der Gruppe anzuwenden ist, sondern nur für das Kinder-Kollektiv gilt. Erwachsene Fachkräfte werden nicht mitgezählt. Eine kurze Irritation erfährt das Skript bei der Forscherin: Sie lässt sich in die binäre Codierung – Kita-Kind/erwachsene Fachkraft – nicht unmittelbar einordnen. Letztlich wird die Forscherin von Robin als nicht-Kita-Kind resp. als (unbestimmte) Erwachsene adressiert und folglich nicht mitgezählt. Das Skript ist auch hier so stark, dass es durch die Irritation keine nennenswerte Erschütterung erfährt (vgl. auch 2.2).

Dass die zur Aufführung gebrachte Praxis einer konjunktiven Erfahrung der gesamten Stammgruppe entspricht, deutet sich in den Praktiken der anderen Kinder an: Sie sind während des Zählens leise, richten ihre Aufmerksamkeit geschlossen auf Robin. Es gibt keine Widerstände, keine Praktiken, die sich gegen die impliziten Konventionen richten würden. Die Akteur:innen verfügen über einen impliziten Wissensbestand, der die Hervorbringung des Skripts – das Rollen klar verteilt – gemeinschaftlich erlaubt. Der gemeinsame Beginn des Mittagskreis-Arrangements wird auf diese Weise von allen Akteur:innen anerkannt und validiert. Seine Zwischenkonklusion erfährt die Passage durch die abschließende Praktik Robins, als jene:r sich selbst zuletzt zählt und sich daraufhin auf seinen:ihren Platz setzt.

Tabelle 4.26 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 4

Nach Beendigung des „Zählens“, bei dem das Kind Robin im Fokus der kollektiven Aufmerksamkeit gestanden ist, tritt die Fachkraft Doreen wieder in den Vordergrund (Tabelle 4.26). Dabei bringt sie eine transpositionelle, an das Kinder-Kollektiv gerichtete, geschlossene Frage ein, nämlich, „welcher Tag heute ist“ (UT 4.1). Ein Kind folgt der Anrufung unmittelbar, indem es eine thematisch klar darauf bezogene Antwort verbal in höherer Lautstärke elaboriert: „der blaue Freitag“ (UT 4.1). Der Zusammenhang zwischen der Farbe Blau und dem Wochentag Freitag zeigt sich illustrierend anhand eines Artefakts, nämlich des Plakats an der Wand, welches im Protokoll beschrieben wird. Hier wird jeder Wochentag mit einer Farbe verknüpft und somit – erneut in einrichtungsspezifischem Wording – pädagogisch vermittelt. Dass die Verknüpfung tatsächlich bei den Kindern „ankommt“, zeigt sich in der Verbalisierung des Kindes, welche als eine habitualisierte Praktik zu Tage tritt. Der Freitag scheint für den:die Akteur:in eindeutig und zugleich implizit mit der Farbe Blau verbunden zu sein.

Die Fachkraft antwortet auf die Elaboration des Kindes zugleich validierend (im Sinne von es ist tatsächlich der blaue Freitag) und elaborierend (im Modus der Beschreibung), indem sie den gegenwärtigen Tag differenzierend und eine potenzielle Wissensdifferenz zum Ausdruck bringend als einen „ganz besonderen Freitag“ für die Akteur:innen der Institution (UT 4.2) markiert. Damit wird das schon zuvor mehrfach implizit aufgerufene Kollektiv erneut vakant: Es geht thematisch um einen Sinngehalt, der seine Wirkung im gemeinschaftlichen wir der Institution entfaltet. Der voraussetzungsvolle Wissensbestand, der zur Erschließung dieses Sinngehalts erforderlich ist, verbleibt folgend jedoch nicht in der Sphäre des Impliziten. Die Fachkraft schafft Anschlussmöglichkeiten für jene Akteur:innen, die über jenen ggf. (noch) nicht (ausreichend) verfügen, dergestalt, dass sie den Kommunikationsraum im Kollektiv öffnet und anschlussproponierend fragt, ob jemand diesen Wissensbestand zur Explikation zu bringen vermag, resp. sie sich danach erkundigt, ob jemand weiß, warum der gegenwärtige Tag von einer unterstellten Besonderheit gekennzeichnet ist. Der „schweifende Blick“ zeigt sich als korporierter Ausdruck, als potenzielle Adressierung aller individuellen Akteur:innen im Kollektiv, sich – sofern sie über entsprechendes (Erfahrungs-)Wissen verfügen – an dieser Stelle verbal einzubringen, resp. als Aufforderung, sich an der kollektiven Kommunikation zu beteiligen. Ein Kind kommt der Anrufung direkt nach. Anders als in UT 4.1 ist der verbalisierten Praktik hier eine korporierte vorgelagert: Das Kind zeigt auf, resp. spricht erst danach – oder zumindest erfolgen die beiden Praktiken simultanFootnote 70. In der Art und Weise des Miteinander-Sprechens wird jedenfalls die generational codierte Ordnung des Geschehens, resp. derer kommunikativen Interaktionsbeiträge sichtbar: Während Kinder adressiert sind, aufzuzeigen, bevor sie sich verbal einbringen, ist es erwachsenen Fachkräften möglich, „einfach so“ zu sprechen, ohne aufzuzeigen, wenngleich das Nicht-Aufzeigen nicht nur keine Sanktion durch die erwachsene Fachkraft erfährt, sondern generell nicht thematisiert wird (vgl. UT 4.1). Adressiert wird durch die Elaboration des Kindes nicht das Kinder-Kollektiv oder der gesamte Kreis, sondern die Fachkraft als Fachkraft in exponierter Position. Die Besonderheit und Bedeutsamkeit ihrer Rolle, die sich u. a. durch einen anderen – in vielen Bereichen umfangreicheren – Wissensbestand sowie einer höhergelagerten Deutungs-, Handlungs- und Entscheidungsmacht auszeichnet, wird damit indirekt validiert.

Inhaltlich auf die Elaboration des Kindes bezugnehmend, deutet das artikulierte Verb „wählen“ (UT 4.2) auf eine konkrete Tätigkeit hin, auf die Praktik der Teilhabe an einer Wahl (vs. abstrakteres Nomen „Wahl“). Offen bleibt an dieser Stelle der thematische Bezug, also der Gegenstand, der zur Wahl gestellt wird. Jedenfalls scheint mit diesem Akt des Wählens Exklusivität verbunden zu sein, da es genau jene Tätigkeit ist, die den gegenwärtigen Tag zu einem „ganz besonderen Freitag“ (UT 4.2) erhebt. Die Fachkraft verhält sich zu dieser Antwort auf korporierter Ebene validierend – indem sie nickt – sowie verbal elaborierend, diesmal im Modus der Erzählung und Beschreibung. Um das gesamte Kollektiv an der (konstruierten) Besonderheit teilhaben zu lassen, macht die Fachkraft jene transparent: Sie erzählt, dass am gegenwärtigen Tag die Wahl eines Märchens stattfand und alle Akteur:innen der Institution – Kita-Kinder und Fachkräfte, unabhängig ihrer generationalen Codierung – an dieser partizipierten. Das von dem Kind verwendete Verb „wählen“ kann vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer selbst erfahrenen, singulär stattfindenden, besonderen Praxis verstanden werden. Jene Erfahrung wird konjunktiv mit den anderen Akteur:innen der Einrichtung geteilt, sie wurde individuell – jeder für sich – und zugleich im Kollektiv – alle dasselbe – zum Ausdruck gebracht.

Die Praktik des Wählens steht nicht (nur) prozesshaft für sich, sie ist Voraussetzung für ein Produkt, nämlich ein Abstimmungsergebnis, das im – zeitlich nachgelagerten – „Ausatmen“ her- und vorgestellt wird. Das schon vielfach aufgerufene Verhältnis von Individualität und Vergemeinschaftung erfährt dann – und dort (es findet in einem anderen Raum der Kita statt) – besondere Relevanz: Alle Akteur:innen der Institution haben die Möglichkeit, die Auszählung der Wahl zu beobachten; alle erfahren das Ergebnis des Abstimmungsprozesses zeitgleich sowie am selben Ort, jede:r für sich und zugleich gemeinschaftlich im großen wir der gesamten Institution. Das ich (im Sinne der eigenen Stimme, des eigenen Beitrags) wird hierin im wir (im großen Ganzen) besonders erfahrbar. Seine große Bedeutung erlangt das Ergebnis dann zeitlich deutlich später, wenn das gewählte Märchen von den Fachkräften für die Kinder am Faschingsdienstag zur Aufführung gebracht wird.

Tabelle 4.27 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 5

Auf die Elaboration der Fachkraft erfolgt in UT 5.1 eine Anschlussproposition eines Kindes (Tabelle 4.27). Damit wird die Thematik des Faschings inhaltlich aufrechterhalten und zugleich eine neue inhaltliche Ebene – jene der individuellen Verkleidung eines Kindes – eingeführt. Die Art und Weise der Formulierung im Indikativ (vs. Konjunktiv) legt nahe, dass es sich bei der Verkleidung um keinen potenziellen Wunsch handelt, sondern hier ein konkreter, in der näheren Zukunft zu realisierender Plan – nämlich, sich im Fasching als jemand anderes zu verkleiden – mitgeteilt wird.

Aufgerufen wird damit zugleich eine spezifische Rolle, die eingenommen werden will: jene von Spider-Man, einer Figur, die nicht real existiert, sondern als Superheld mit Superkräften ausschließlich medial zur Darstellung gebracht wirdFootnote 76. Interessant scheint die Bezugnahme auf Spider-Man im Kontext generationaler Ordnung gerade deshalb, weil es sich hier um eine Figur handelt, der die Lebensphase Jugend bzw. junge Erwachsenheit zugeschrieben wird und ursprünglich für Jugendliche und Erwachsene konzipiert wurde. Erst in den letzten Jahren wird sie zunehmend an ein jüngeres Publikum herangetragen, resp. auf die Zielgruppe der Kinder zugeschnittenFootnote 77.

Auf den thematischen Wechsel bezieht sich Doreen elaborierend, indem sie die Aussage paraphrasiert. Damit bestätigt sie den gehörten Inhalt (ratifizierend), sie führt zugleich nicht in das von ihr eingebrachte vorherige Thema (Märchen/Wahl) zurück. Hierin – und auch in den folgenden Redebeiträgen – zeigt sich, dass der Fachkraft im kollektiven Gruppensetting die Aufgabe zukommt, den Rahmen für Kommunikation zur Verfügung zu stellen und Redebeiträge zu moderieren. Thematisch-inhaltlich kann jene (auch) von den Kindern ausgestaltet und mit deren Interessen bespielt werden. Die genaue Diskursorganisation kann an dieser Stelle (UT 5.1) nicht rekonstruiert werden, da das Protokoll nicht detailliert genug vorliegt. Sichtbar wird jedoch, dass ein erheblicher Anteil der Kommunikation von den Kindern stammt und sich jene elaborierend zur Anschlussproposition bzw. zu deren Ratifizierung ins Verhältnis setzen: Sie erzählen von den individuellen Verkleidungsplänen und/oder -wünschen. Während die Fachkraft Doreen die Redebeiträge der Kinder organisiert, bleibt die Fachkraft Cornelia im Hintergrund. Die unterschiedliche Sichtbarkeit der beiden Fachkräfte ist – so lässt sich vermuten – dem Umstand geschuldet, dass Doreen die prominentere Rolle der ‚gruppenführenden Pädagogin‘ zukommt, Cornelia hingegen als ‚Assistentin‘ operiertFootnote 78.

Nachdem mehrere Kinder sich zu Faschingsverkleidungen geäußert haben, validiert Doreen das hierin liegende Interesse, indem sie das individuelle Sprechen im Kreis zum Anlass nimmt, die Kommunikation kollektiv zu gestalten. Jene Transformation vollzieht sich vornehmlich auf sprachlicher Ebene: „na (.) dann machen wir das doch“ (UT 5.1). Das wir fungiert hierbei als Hinweis, dass die folgenden Praktiken gemeinschaftlich vollzogen werden sollen. Analog zum Zählen in OT 3 wird die Kommunikation in einem kollektiven nacheinander, resp. in einem im-Uhrzeigersinn-der-Reihe-nach, strukturiert. Als räumlich-korporierten Ausgangspunkt dieser Reihe setzt die Fachkraft jenes Kind, das sich zuletzt verbalisiert geäußert hatFootnote 79. Die Kinder folgen hierbei dem Aufforderungscharakter: nacheinander bringen sie sich auf verbaler Ebene ein, antworten direkt auf die an sie gestellte Frage, ob und als was sie sich im Fasching verkleiden (wollen). Damit elaborieren sie die Anfrage und ratifizieren sie zugleich. Das Ausmaß der Antworten variiert zwischen (einzelnen) Wörtern und (mehreren) Sätzen. Ein Kind äußert sich nicht verbal. Die Fachkraft kommentiert die Artikulationen zumeist nicht und nimmt auch keine Bewertungen – hinsichtlich des Inhalts und der Form bzw. des Ausmaßes des Redebeitrags – vor. Manchmal reformuliert sie, wobei sie auf einer deskriptiven Ebene verbleibt und womit sie die Sprechakte der Kinder zugleich ratifiziert. Erfolgen inhaltliche Mehrfachnennungen von Verkleidungen, so geht die Fachkraft hier dergestalt darauf ein, dass sie eine Frage ans Kinder-Kollektiv richtet, nämlich dahingehend, ob sich die Kinder noch erinnern können, wer sich ebenfalls als diese Figur verkleidet. Hierin drückt sich Aufmerksamkeit aus, ein fokussiertes bei-der-Sache-Sein, ein sich-interessieren für die eingebrachten Redebeiträge der Kinder, deren Pläne und Wünsche. Zugleich wird Merkfähigkeit angesprochen und die Kinder werden adressiert, sich als kompetent (im Merken) zu zeigen (ähnlich OT 3, kompetent-sein in der Zähl-Praktik). Die genannten Verkleidungen entsprechen mehrheitlich Figuren aus Filmen und Serien, die auch in Merchandising-Produkten eine breite Repräsentation erfahren. Anders als Spider-Man, entstammen Elsa, Anna und der Paw-Petrol-Hund jedoch medialen Darstellungen, die genuin Kinder als Konsument:innen adressieren.

Anders als in UT 3.2, wo die Präsenz der Forscherin beim Zählen zwar kurz zu einer Irritation führt, sie aber letztlich von Robin nicht mitgezählt wird, da ausschließlich das Kinder-Kollektiv zum Adressaten jener Praktik wird, wird die Forscherin in UT 5.3 von der Fachkraft explizit angesprochen, sich verbal in die Interaktion einzubringen. Der Mittagskreis scheint an dieser Stelle ein über das Kinder-Kollektiv hinausgehendes Geschehen zu sein, dass alle anwesenden Personen zu Akteur:innen erhebt, um Praktiken zur Aufführung zu bringenFootnote 80. Das kollektive Setting erzeugt hier ein Unbehagen bei der Forscherin, das sich in den kursiv markierten Einschüben des Protokolls ausdrückt. Jene möchte sich nicht äußern und antwortet letztlich, „dass das eine Überraschung ist“ (UT 5.3). Hier wird sichtbar, dass die Kollektivierung der individuellen Praktiken – sich äußern zu wollen – zu einem Zugzwang – sich äußern zu müssen – führt, obwohl die Fachkraft deskriptiv mit den Redebeiträgen umgeht, resp. keine Wertungen vornimmt.

Wie schon angedeutet, fungiert der Mittagskreis inkludierend, indem alle teilnehmenden Akteur:innen in dessen Vollzug integriert werden: So äußern sich nicht nur die Kinder (und die Forscherin) zu den geplanten Verkleidungen, sondern auch die Fachkräfte. In Kontrast zu den vorwiegenden Äußerungen der Kinder stellen sich die von den Fachkräften angesprochenen Rollen nicht in den Kontext gegenwärtig medial vermittelter Figuren; die Fachkräfte geben vielmehr an, sich entsprechend des gewählten Märchens zu verkleiden. Hiermit sind die Fachkräfte der gesamten Einrichtung auf ein übergreifendes Thema verwiesen und zeigen sich im Fasching als Fachkraft-Kollektiv. Mit der Rollenwahl im Fachkraft-Kollektiv geben die Fachkräfte schließlich nur wenig über sich selbst und über ihre individuellen Interessen preis, sondern bringen die jeweilige Figur mit pädagogischem Bezug zum später zur Aufführung gebrachten Theaterstück prominent zur Darstellung.

Tabelle 4.28 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 6

Kai, der als letztes über seine Verkleidung spricht und damit die an ihn gestellte Aufforderung elaboriert, nutzt die Gelegenheit, um einen über die Verkleidungs-Erzähl-Praktiken hinausgehenden Bedarf anzumelden: Er möchte „etwas herzeigen“ (UT 6.1) (Tabelle 4.28). Er adressiert mit dieser Information die Fachkraft Doreen, ihm Raum und Zeit in dem Setting des Mittagskreises zur Verfügung zu stellen, wobei erst noch unklar bleibt, worum es (thematisch) gehen soll. Damit bringt er eine Zwischenkonklusion ein, die die Fachkraft validiert; zugleich zeigt sich hierin erneut eine quasi ‚sternförmige‘ Kommunikation zwischen Kindern und Fachkraft. Angedeutet ist hiermit, dass sich die Fachkraft im Zentrum der Kommunikation befindet – metaphorisch gesprochen: die Fachkraft im Zentrum des Sterns positioniert ist und sich bei ihr die Kommunikationsbeiträge bündeln, resp. jene von ihr gesteuert werden. Darin zeigt sich erneut eine Zuschreibung von Deutungs-, Handlungs- und Entscheidungsmacht – seitens des Kindes, die Fachkraft in ihrer Rolle validierend.

Im Vollzug dieser Anfrage transformiert sich die kollektive Praxis hin zur Geltendmachung eines individuellen Anliegens. Das Kinder-Kollektiv verhält sich – dem stabilen Skript entsprechend – hierzu ratifizierend: Es gibt keine Widerstände oder Störungen des Geschehens und es werden auch keine alternativen Anliegen formuliert. Die Ruhe und die Blickrichtung (zur Türe), als Kai kurz den Raum verlässt, deuten auf die gemeinschaftliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf etwas – noch Unbestimmtes, aber zugleich Bedeutungsvolles – hin. Individuell in prominenter Position – und zugleich im Kollektiv – kann Kai eine Transposition sowie dessen Elaboration auf korporierter Ebene zur Aufführung bringen. Sich in der Mitte des Kreises auf dem Teppich positionierend, zeigt er eine mitgebrachte Mappe. In ihr befinden sich bedruckte Blätter, auf denen die TitanicFootnote 81 auf unterschiedliche Weise in verschiedenen Kontexten vielfach abgebildet ist. Die schon angedeutete Besonderheit kommt hier erneut zum Ausdruck: Auf einer inhaltlichen Ebene lässt sich hervorheben, dass der Titanic bis heute besondere Popularität und Aufmerksamkeit zuteilwird. Auf der Ebene der Abbildung wird sichtbar, dass gerade die quantitativ umfangreiche Abbildung des Schiffes auf einer Vielzahl an Blättern seine Bedeutsamkeit herausstreicht. Auch die Art und Weise der Positionierung Kais spricht für die Exklusivität jener von ihm zum Vollzug gebrachten Praktiken: Er bewegt sich im Inkreis des Mittagskreises, gleichsam einer Bühne (materiell repräsentiert durch den Teppich), und damit zentriert im Fokus des Kollektivs. Der Raum schafft hier die Möglichkeit einer Bühne, zu dem sich die Akteur:innen verhalten und hierbei potenziell unterschiedliche Rollen einnehmen können. Diese Möglichkeiten werden auch genutzt: Kai positioniert sich exponiert im Zentrum und bringt (aktiv) korporierte Zeige-Praktiken zur Aufführung. Das Kollektiv der Kinder, der Fachkräfte und der Forscherin fungiert als (eher passive) Zuschauer:innen, indem sie Kai und dem von ihm gezeigten Gegenstand erhebliche Aufmerksamkeit schenken und damit die Bedeutung des Artefakts, bzw. der Zeige-Praktik selbst, verstärken. Schließlich bringt sich Kai auch verbal in das Geschehen ein, indem er elaborierend, im Modus der Erzählung, verbalisiert, dass die Mappe sich als Geschenk seiner Mutter versteht. Damit wird die eben herausgearbeitete, mehrfache Besonderheit des Gegenstands und dessen Präsentation im Kreis nochmal mit Relevanz aufgeladen.

In dieser Praktik zeigt sich zudem auch eine Bearbeitung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit. Dass Kai einen für ihn wichtigen Gegenstand von zuhause mit in die Kita bringt, weist jedoch nicht nur auf die Bedeutsamkeit des Artefakts selbst hin. Er bearbeitet anhand dieser Praktik auch das Verhältnis privat-familialer und öffentlich-institutioneller Sphären. Dabei wird ihm aus beiden Bereichen erhebliche agency zugesprochen, welche die Möglichkeitsbedingung dafür darstellt, diese Praktik überhaupt erst als solche hervorbringen zu können. Dies drückt sich insbesondere durch das Einverständnis beider Sphären aus: So erklärt sich einerseits die Fachkraft bereit, Kai das Artefakt prominent in der Gruppe positionieren zu lassen, was wiederum vom gesamten Stammgruppen-Kollektiv mitgetragen und unterstützt wird. Andererseits wird hier auch das familiäre Feld vakant, indem es sein Einverständnis dazu gibt, den mehrdimensional mit Bedeutung aufgeladenen Gegenstand mit in die frühpädagogische Einrichtung zu nehmen. Die agency Kais zeigt sich schließlich auch darin, dass er sein Anliegen aktiv äußert und er darum bittet, es zu Geltung bringen zu können. Nach dem Einverständnis nutzt er das Kreissetting explizit, um den persönlichen und zugleich privaten Gegenstand öffentlich zu machen. Die korporierte Praktik des im-Kreis-Gehens ermöglicht hierbei, dass alle Akteur:innen an der Praktik beobachtend teilhaben können. Nach jeder Runde blättert Kai um, sodass die Aufmerksamkeit des Kollektivs aufrechterhalten wird und jeweils auf die neuen Bilder gerichtet ist. Die Fachkräfte bringen sich – nun beide – in das Geschehen verbal ein. Sie stellen Fragen, die sich individuell an Kai richten und zeigen sich hiermit als aktive Zuschauer:innen. Die Kommunikation vollzieht sich dabei dialogisch (Fachkraft-Kind) bis trialogisch (Fachkraft-Kind-Fachkraft). Die anderen Kinder – und auch die Forscherin – bringen stetig Praktiken des passiven Zuschauens und Zuhörens hervor, ohne sich verbal einzubringen oder zu „stören“, womit das Skript durchgängig gesichert und validiert wird.

Tabelle 4.29 Mittagskreis: Übersicht Passage OT 7

Beendet wird der individualisierte Akt des Herzeigens der Titanic-Mappe durch Kai selbst (Tabelle 4.29). Als er „fertig“ ist – resp. alle Bilder vorgestellt hat – setzt er sich zurück auf seinen Platz im Kollektiv. Er bringt damit die Praktik zu einem sichtbaren Abschluss, um daran unmittelbar ein weiteres Anliegen in Form einer Transition anzuschließen: Er stellt Blickkontakt zur Fachkraft Doreen her und bittet darum, die Mappe ein zweites Mal, in noch größerer Runde – nämlich beim Ausatmen, wo sich die gesamte Institution versammelt – vorstellen zu dürfen. Die Fachkraft ratifiziert, das Anliegen zu verstehen und differenziert zugleich, indem sie darauf hinweist, dass die Entscheidungsmacht hier bei einer anderen Person – nämlich bei Heidi, der Leiterin der Einrichtung – liegt. Die Akteurschaft Kais wird dabei erneut anerkannt: Die Zuständigkeit und Entscheidungsgewalt sowie die (geringe) Wahrscheinlichkeit, den Wunsch realisieren zu können, werden transparent und damit nachvollziehbar gemacht und es wird ihm die Möglichkeit offeriert, das Anliegen an die Kita-Leiterin Heidi persönlich heranzutragen. Jenes Angebot nimmt Kai validierend auf korporierter Ebene an, indem er aufsteht. Hierauf fragt die Fachkraft, ob Kai alleine zur Leiterin gehen möchte oder er sich Begleitung wünscht. Auch dieses Angebot nutzt Kai, indem er die Option, gemeinsam hochzugehen, bejaht. Hierauf setzt sich die Fachkraft Cornelia – korporiert – ins Verhältnis, indem sie aufsteht und mit Kai gemeinsam den Raum verlässt (Zwischenkonklusion). An dieser Stelle findet keine Aushandlung statt – in dem Sinne, dass besprochen würde, wer Kai begleitet –; es scheint für alle Akteur:innen konjunktiv klar zu sein, dass jene Rolle der Begleitung Cornelia zukommt.

Die Bedeutung des Skripts im Kontext des Mittagskreises zeigt sich in OT 7 erneut: Es ist stabil und flexibel zugleich, indem es einen klaren Rahmen für kollektive wie individuelle Praktiken zur Verfügung stellt und Rollen eindeutig verteilt. Während die Fachkraft Doreen als Rahmen-Erzeugerin und -Aufrechterhalterin im Vordergrund agiert (ähnlich einer Moderatorin), fungiert die Fachkraft Cornelia unterstützend im Hintergrund und tritt nur „bei Bedarf“ zutage. Die Kinder werden in diesem Arrangement als Adressat:innen angesprochen, sich an der Gestaltung inhaltlich-thematisch zu beteiligen (bspw. beim Sprechen über Verkleidungen, OT 5) und Vorschläge für das Einbringen individueller Interessen und Anliegen zu machen (bspw. beim Herzeigen eines persönlichen Gegenstands, OT 6). Den Interaktionsbeiträgen der Kinder wird Zeit und Raum eingeräumt, um gemeinschaftlich bearbeitet, resp. elaboriert werden zu können. Die Kinder treten hierbei einerseits als Kinder-Kollektiv auf, das den Mittagskreis rahmt, sowohl im Hinblick auf ihre Körperpositionierung als „Kreis“, als auch bezugnehmend auf die gemeinsame Hervorbringung von Fokussierungs- und Aufmerksamkeitspraktiken, wenn sie sich kollektiv auf Personen, Gegenstände und/oder Interaktionen ausrichten und damit einen kollektiven Fokus herstellen bzw. zugleich inkludierend zentrieren. Darüber hinaus erlaubt die enge Rahmung auch Öffnungen, die sich bereits räumlich andeuten (Offenheit in der Stuhl-Reihe) und sich auch auf Ebene der Praktiken wiederfinden, etwa wenn Kai die Möglichkeit eingeräumt wird, ein persönliches Anliegen einzubringen und damit seine individuellen Interessen von der Fachkraft als relevant – und möglicherweise prioritär vor ihren eigenen Intentionen – gesetzt und von der gesamten Gruppe als solche validiert werden.

Auch das Verlassen des Raumes seitens Kai und Cornelia und die hiermit einhergehende Veränderung des relationalen Gefüges im Raum, erschüttern das Skript nicht. Doreen beginnt transpositionell – und ohne weitere verbale Erläuterung – ein Lied zu singen. ÄhnlichFootnote 82 der Sequenz Rutsche, wird hier ein Lied am raum-zeitlichen Übergang platziert: Dort ruft es dazu auf, das Freispiel zu beenden und Aufräum-Praktiken zur Aufführung zu bringen; hier läutet es die Beendigung des Mittagskreises ein. Die Kinder setzen sich dazu elaborierend und ratifizierend ins Verhältnis, indem sie mitsingen. Das Geschehen scheint sich dabei im Modus des Konjunktiven zu vollziehen: Alle Akteur:innen wissen implizit, wie das gemeinschaftliche Singen funktioniert und kommen dem Aufforderungscharakter des Lieds unmittelbar nach. Im Anschluss stehen Fachkraft (transpositionell) und Kinder (elaborierend) auf und gehen in den Bewegungsraum zum „Ausatmen“. Das gemeinschaftliche Verlassen des Raums kann als echte Konklusion gedeutet werden.

4.5 Zusammenfassende Falldarstellung

Folgend werden die Fälle Atelier, Ritter, Rutsche und Mittagskreis in verdichteter Form – auf Basis der reflektierenden Interpretationen (vgl. Abschnitte 4.1 bis 4.4) – präsentiert.

4.5.1 Zusammenfassende Darstellung: Atelier

Anhand des Bildungsangebots Atelier lässt sich der Vollzug eines Geschehens rekonstruieren, das durch Spannungsfelder von Freiheit und Ordnung, von Passivität und Aktivität, von Selbstbestimmung und Disziplinierung geprägt und auf normative gesellschaftliche Vorstellungen (Erwachsener) verwiesen ist. Die Transformation eines spezifischen, erwachsenenzentriert-professionellen Arrangements, wie jenes des Ateliers, in die institutionelle Logik der frühpädagogischen Einrichtung bedeutet für die Akteur:innen die Zuweisung spezifischer Rollen, die wiederum mit einer spezifisch raum-zeitlichen Exklusivität von Position(ierung)en, Bewegungs-/Aktionsradien und Nutzungsmöglichkeiten einhergehen.

Das augenscheinlich „freie“, „kreative“ Malen wird so in einem Spannungsfeld von Aktivität und Passivität und vor dem Hintergrund eines – relativ engen, (bildungs-)bürgerlich geprägten – Ordnungs- und Kunstverständnisses, das nur bestimmte Nutzungspraktiken zulässt, aufgeführt. Die Aufrechterhaltung dieses pädagogischen Settings erfordert eine permanente Ordnungsleistung, die von allen beteiligten Personen zu erbringen ist: von der pädagogischen Fachkraft, den als Nutzer:innen adressierten Kindern sowie jenen Kindern, die der Exklusivität des Arrangements als Wartende besondere Bedeutung verleihen.

In der Gesamtsicht lässt sich die hier vorgestellte Sequenz als ein von frühpädagogischen Fachkräften arrangiertes Geschehen (pädagogisches resp. Bildungsangebot) verstehen, das sich vor dem Hintergrund einer doppelt konstituierenden – generationalen und institutionellen – Fremdrahmung (Nentwig-Gesemann & Gerstenberg, 2018, S. 135) zum Zweck eines spezifischen (ästhetischen) Tätigseins einer Adressat:innengruppe (der Kinder der Institution) vollzieht. Diese doppelte Rahmung durchzieht die gesamte Sequenz. Schon der Eintritt der Forscherin in den Raum wird von einer Erwachsenen- bzw. pädagogischen Logik markiert, welche das gesamte Geschehen über die Passage hinweg durchdringt.

Die gesamte Szene wird von einem präformierenden Skript getragen, das die Ordnung von Raum, Zeit und personalen Relationen herstellt und sichert. Es ist nicht willkürlich oder beliebig, sondern schließt an (reform)pädagogische Konzepte wie Reggio, Montessori oder den Malort nach Arno Stern an (vgl. bspw. Barz, 2018; Stern, 2021). Diese sind explizit und differenziert ausgearbeitet, nur wenig variierbar und verfügen über eine erhebliche Deutungsmacht und -hoheit. In seiner Wirkung entfaltet das Skript ein Regelsystem, das das gesamte Setting strukturiert und habituelle Reziprozität hervorbringt: Die involvierten Personen wissen implizit genau, was, wann, mit wem, womit und auf welche Weise (nicht) möglich ist; sie teilen einen spezifischen kollektiven Erfahrungsraum. In diesem wird das Skript auf zweifache, spannungsgeladene Weise zur Entfaltung gebracht: Es ist einerseits sichernd; mittels Überschaubarkeit und Planbarkeit sorgt es für eine Form von Ruhe, nämlich in dem Sinne, dass es potenziell „störenden“ Handlungen vorbeugt (kein drängeln, kein „wegnehmen“, keine hohe Lautstärke, keine umfassenderen/ablenkenden Bewegungen). Das arrangierte Material weist zudem einen hohen Aufforderungs- bzw. appellativen Charakter zur Nutzung auf, sodass die Sicherung des Skripts unterstützt wird. Vertieftes ästhetisches Tun wird hiermit in einer potenziell störungsfreien, nach außen abgegrenzten Weise ermöglicht.

Andererseits sind es genau diese Grenzen, die die Handlungsmacht der Akteur:innen einschränken. Und dies wiederum betrifft alle Personen im Raum, wenngleich in unterschiedlichem Maße, im Sinne einer Zuschreibung eines höheren Grades an Handlungsmacht für die Fachkraft als für die Kinder, wenngleich dies mittels der zugewiesenen Rollen gleichsam relativiert werden muss; im Sinne einer ausschließlich „dienenden“ Rolle der Fachkraft (Stern, 2021) und der exklusiv-aktiven Rolle der malenden (vs. der passiv-wartenden) Kinder.

In der vorgestellten Szene dokumentiert sich, wie stark agency und structure verknüpft sind: Die Ordnungselemente (hier v. a. Raum, Zeit, Materialität – sowie Generationalität, Organisation und pädagogisches Konzept) strukturieren die Handlungspraxis bzw. deren Möglichkeitsbedingungen in erheblichem Ausmaß vor, das Skript weist klar verteilte Rollen mit spezifischen Handlungsoptionen zu. Das ästhetische Tun wird innerhalb des Arrangements als spezifische und zugleich prioritäre Handlungspraxis gesetzt, das andere Formen des (kindlichen) Tätigseins, bspw. alternative ästhetische Praktiken oder Modi des „freien Spiels“, exkludiert. Das Arrangement schafft somit ein Format, das Kinder und Fachkraft in spezifische Relationen setzt und mit ausdifferenzierten Rollen, Aufgaben und Zugänglichkeiten ausstattet. Im Fall von Irritation, wirft es die Handlungspraxis auf die zentrale Rahmung zurück (vgl. Pinsel-Nutzungspraktiken, OT 4).

Der pädagogischen Fachkraft kommt – wie schon ausgeführt – die Aufgabe zu, zu „dienen“ (im Sinne der Terminologie Arno Sterns), was sie in eine „Bringe-Logik“ manövriert und bedeutet, dass sie als verantwortlich für die Inszenierung des Angebots adressiert wird. Dies umfasst die Vorbereitung, Eröffnung, Aufrechterhaltung und Schließung (in der vorgestellten Sequenz sind Eröffnung und Schließung nicht/nur in geringem Ausmaß enthalten), nicht jedoch dessen Nutzung. Dieses pädagogische Tun oszilliert zwischen normativen Bildungs- und Erziehungs- bzw. Ordnungsansprüchen und vollzieht sich im Kontext konzeptueller, institutioneller, raum-zeitlicher sowie personen-/rollenbezogener Dimensionen. Die besondere Bedeutung des Skripts zeigt sich insbesondere darin, dass die Fachkraft am Ende der Sequenz (UT 4.5) in einem machtstrukturierenden Modus agiert und die Rahmung (das ‚Atelier‘) prioritär vor dem Kind (Niklas) und dessen Grenzen setzt.

Vor der Folie aktiven, sinnlich-ästhetischen Tätigseins werden Kinder hier zu Ko-Produzent:innen einer spezifischen Ordnung; jedoch nur in geringem Ausmaß im Sinne einer aktiven Produktion eines Arrangements. Als Agierende treten die Kinder in erster Linie in den Praktiken des Malens selbst zutage. In die Gestaltung und Aufrechterhaltung der Ordnung sind sie stärker passiv, als Re-Agierende, involviert. Das Skript sichert dieses Verhältnis von Aktion und Reaktion, wenngleich es sich mit einem weiteren (analytischen) Spannungsfeld überlagert; jenem von Individualität und Kollektivität. Während das kindliche Wirken im Atelier per se als ein individuelles gefasst wird (als individuell-schöpferischer Ausdruck im Akt des Malens), so kann es ebenso als ein (ver-)kollektiviertes gedeutet werden. Denn in der analysierten Sequenz konstituiert sich auch eine gewisse Homogenisierung der Kinder: So weist das Skript allen Kindern die gleiche Rolle – im Spannungsfeld von als aktiv adressiertem Malen und als passiv adressiertem Warten – zu. So haben potenziell alle Kinder der Institution den gleichen Zugang zu den gleichen Handlungsoptionen (Möglichkeit zu Malen bzw. zu Warten, Zugriff auf das gleiche Materialangebot, auf die gleiche Raumstruktur, auf den gleichen Bewegungsradius, …), womit alle Kinder mit den gleichen Optionen und Regeln konfrontiert werden.

Das Skript ist als impliziter Wissensbestand in die Handlungspraxis eingelagert und so lange keiner Explikation bedürftig, so lange es von keiner Irritation erschüttert wird bzw. keinen Bruch erfährt. So lange alle Personen auf konjunktiver Ebene wissen, was sie wie, wo, in welcher Form und mit wem tun können und sollen und sie sich damit entsprechend der impliziten Regularia verhalten, so lange wird die hergestellte Ordnung selbstläufig performativ aufrechterhalten. Einen Bruch erfährt das Skript dort, wo ihm entgegengehandelt wird, bzw. wo dieses gebrochen wird. In der Sequenz zeigt sich dies beim Eintreten eines NovizenFootnote 83, der eine Handlungsoption wählt, die das Skript nicht vorsieht (Exploration Niklas’ mit dem Pinsel, OT4; in geringerem Ausmaß auch beim Eintreten der Forscherin, OT1). Der konjunktive Wissensbestand wird sodann von der Fachkraft in kommunikatives Wissen überführt, denn diese Transformation ermöglicht eine reflexive Bearbeitbarkeit der Rahmung und sie schafft die notwendige Voraussetzung dafür, den Novizen derart (korrigierend) einzuführen, dass die Ordnung aufrechterhalten bzw. wiederhergestellt werden kann.

Die Herstellung und performative Aufrechterhaltung des Skripts ist dabei nicht nur als Ausdruck des Feldes zu sehen (der Fachkraft, der Institution, des pädagogischen Konzepts und der Kinder selbst) – auch die Forscherin ist in die Leistung der Hervorbringung involviert. Dies zeigt sich exemplarisch an der (Ver-) Kollektivierung von Kindern in der beobachteten Situation selbst, indem die Forscherin der Logik des Skripts folgt (insbesondere im sich-zuweisen-lassen von Platz und Position, resp. der Ratifizierung der beschränkt zugewiesenen Handlungsoptionen), aber auch in den Praktiken der Verschriftlichung im Rahmen der Feldnotizen und des Protokolls. So wurden die Rahmung (u. a. durch Raum und Material repräsentiert) sowie die Handlungspraxis der pädagogischen Fachkraft relativ detailliert beschrieben. Die Praktiken der Kinder – als Kinder – wurden weniger individuell, dafür stärker im Kollektiv (u. a. repräsentiert durch eben die Markierung „Kind:er“ vs. namentliche Nennung), dargestellt. Deren Tätigsein, insbesondere das prominent inszenierte „Malen“, wurde in nur geringem Maße (auf deskriptiver Ebene) ausdifferenziert verschriftlicht. Es wurde de-thematisiert, was als Malpraktiken beobachtbar wurde, hingegen in scheinbarer Klarheit – normalisiert und normativ – vorausgesetzt, was konkret unter jenen zu verstehen ist. Hierbei sei auf den impliziten Wissensbestand, auf eine (Vor-)Erfahrung und (Vor-)Positionierung der Forscherin in anderen, dem Forschungsprozess zeitlich vorgelagerten, Rollen – als ehemalige (angehende) Fachkraft und als Mutter von Kindern in frühpädagogischen Institutionen – und eine damit (zumindest teilweise) zu Tage tretende Involvierung in den konjunktiven Erfahrungsraum Kita verwiesen.

In ihrer Gesamtheit zeigt sich die vorliegende Passage als ein komplexes Arrangement, das performativ durch unterschiedliche Akteur:innen (in spezifischen Relationen zueinander) vor dem Hintergrund einer Rahmung von Raum, Zeit und Material sowie Generation, Institution und pädagogischem Konzept hervorgebracht wird.

4.5.2 Zusammenfassende Darstellung: Ritter

In Komparation zur Sequenz Atelier steht in der Sequenz Ritter nicht die Gestaltung und Nutzung eines spezifisch strukturierten pädagogischen Angebots im Fokus, sondern ein (relativ) offenes, freies, unstrukturiertes „Spiel“ resp. Spielpraktiken von Kindern in einer frühpädagogischen Institution. Die Sequenz vollzieht sich als Hervorbringung einer sozialen Situation resp. einer gemeinsamen und zugleich exklusiven Spiel- und Beobachtungspraxis zweier (bzw. dreier) Kinder und einer Forscherin im pädagogischen Arrangement des „Freispiels“. Diese kennzeichnet sich durch eine doppelte Rahmung im Hinblick auf eine Rahmenkongruenz auf Ebene der Peers, die sich in den Spielpraktiken im Modus des Selbstverständlichen dokumentiert, sowie durch eine Rahmeninkongruenz zwischen Peers und Forscherin. Die Spielpraktiken werden vor dem Hintergrund einer institutionellen, raum-zeitlichen, konzeptuellen und generationalen Ordnung hervorgebracht, welche vorwegnimmt, was sich auf welche Weise (nicht) als (Spiel-)Praxis realisieren lassen kann – und damit: was an Hervorbringungsleistung (nicht) möglich ist. Diese Rahmung materialisiert Praktiken, sie öffnet und schließt. Sie schafft die Voraussetzung, performative Praktiken mittels propositionellem Gehalt anzuregen, zu befördern und zu ermöglichen, zugleich schränkt sie ein, limitiert und begrenzt.

Die terminologisch in der zeitlichen Phase des „Freispiels“ adressierte Freiheit muss somit relativiert werden, wenn insbesondere die raum-zeitliche Struktur der Institution und die pädagogische Darbietung des Raums bzw. die Vorauswahl des Materials im Hinblick auf deren proponierenden Gehalt mitgedacht werden. Denn Kinder haben in der o.g. mehrfachen Rahmung (nur) die Möglichkeit, in einem anerkannten Raum (z. B. dem Gruppenraum der Kita) zu einer anerkannten Zeit (z. B. der Phase des Freispiels) anerkanntes Material (z. B. industriell gefertigtes, von den Fachkräften zur Verfügung gestelltes Spielzeug) auf einem anerkannten Platz (z. B. dem großen Teppich) anerkannte Praktiken (z. B. Spiel) zu vollziehen. Spielpraktiken werden eben nicht losgelöst von der generationalen, pädagogischen, institutionellen und auch gesellschaftlichen Ordnung zur Aufführung gebracht, sondern sind in diesen Kontext unmittelbar eingelagert, verhalten sich zu ihm. Spielpraktiken können somit zugleich als Ausdruck (Produkt) und als Beitrag zur Herstellung (Reproduktion) von Ordnungsprozessen verstanden werden.

Kindliche Spielpraktiken sind so als von Kindern und Erwachsenen (mit)erzeugte Praktiken zu verstehen. Nicht nur die frühpädagogische Institution der Kita selbst ist (gerade auch im Hinblick auf deren historisch-kulturellen Genese) schon als ein von Erwachsenen für Kinder spezifisch konstruiertes räumliches Segment zu fassen; die erwachsenen Fachkräfte rahmen mit der Gestaltung des Raums – vom Mobiliar bis zum Spielmaterial – bereits, welche Spielpraktiken eben überhaupt (nicht) zur Performanz bringbar sind. Exemplarisch sei hier auf den appellativen Gehalt, die Exklusivität und Relevanz des großen runden Teppichs verwiesen und der damit geschaffenen Strukturierung, resp. der von Kindern zu erbringenden Adaptionsleistung (vgl. OT 1).

In der Sequenz wird diese Hervorbringung einer Spielpraxis von den Peers konjunktiv zur Darstellung gebracht. Getragen wird sie von einem Skript, das Positionen und Relationen regelt, dahingehend, welche Positionen es (nicht) gibt, wer sie (nicht) besetzen darf, welche Rolle bzw. welche Praktiken, Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse mit welcher Position (nicht) verbunden sind. Die auf den ersten Blick wahrnehmbare Unabhängigkeit des Tuns, das Nebeneinander der Spielpraktiken (Suchen vs. Bauen), realisiert sich jedoch vielmehr als ein reziprokes Miteinander – bei dem ein Ohneeinander nicht funktioniert. Die jeweilige Praktik (Bauen/Suchen) ist unmittelbar auf die andere abgestimmt und von dieser abhängig. Es bedarf keiner Aushandlung, weder im Hinblick auf die inhaltlich-thematische Ausrichtung oder Ausgestaltung noch in Bezug auf (Re-)Positionierungen oder (Re-)Adressierungen. Den Praktiken ist die Kraft inhärent, das Skript herzustellen und zu sichern. Gemeinsam ist den Peers eine Orientierung an der Hervorbringung einer gemeinsamen, reziproken Spielpraxis. Dies dokumentiert sich insbesondere darin, dass das Skript nur im Beisein beider Kinder zur Entfaltung kommen kann und das Tun hierin seinen Sinn erfährt. Dabei lässt sich das Gefüge als ein asymmetrisches, aber einvernehmliches rekonstruieren, bei dem die Handlungsmacht vertikal und horizontal verteilt wird. Das Spiel vollzieht sich im konjunktiven Modus des Selbstverständlichen.

Offen bleibt, inwieweit soziale Dimensionen (gender und ‚race‘) für die Sequenz konstitutiv sind, resp., ob diese empirisch rekonstruiert werden können und auch sollen – oder aber umgekehrt die Thematisierung (k)eine (Re-)Konstruktionsleistung darstellt, im Sinne (k)eines (in)adäquaten theoretischen Herantragens an die Empirie.

Wie auch schon an anderen Stellen der Analyse (OT 1/OT 2) ausgeführt, ist hierbei insbesondere die kritische Reflexion der Standortgebundenheit der Forscherin angefragt. Folgt man der Annahme, dass die Dimensionen in der Sequenz angelegt sind und rekonstruiert werden können, so könnten folgende Ausführungen als – vorsichtiges – Interpretationsangebot dienen. Die thematische Aushandlung nach der Dichotomie von gut vs. böse könnte als eine Prozessierung von Differenz gelesen werden, die antithetisch organisiert ist. Zwar nehmen beide Peers (Katharina und Tobias) Attributionen auf Andere totalitär vor, im Sinne des Umfassens der gesamten Person oder sozialen Gruppe. Auf wen sich diese Zuschreibung bezieht, wird jedoch von beiden unterschiedlich, nur indirekt aufeinander bezugnehmend, beantwortet. Während Tobias explizit homogenisiert, also alle Frauen verbal als böse etikettiert, individualisiert Katharina, indem sie zweimal jeweils eine Figur markiert, die mit dem Attribut böse verbal besetzt werden. Dass es gerade die beiden (einzigen im Spiel ersichtlichen) Figuren sind, denen auch die Dimensionen weiblich und ‚schwarz‘ zugeschrieben werden können, wird von Katharina nicht verbal thematisiert, dies zeigt sich nur auf einer korporierten Ebene. Mit Bezug auf Bourdieu können diese konjunktiven Praktiken als distinktiv bezeichnet werden: Das Eigene wird hier als das Legitime und Anerkannte gesetzt, das Andere bzw. Fremde hingegen abwertend positioniert. Die Bedeutsamkeit des Raumes und seiner materiellen Ausstattung (durch erwachsene Fachkräfte) erfährt hier erneute Relevanz: Denn, wie schon ausgeführt, erzeugt das Material das Spiel mit. Im Kontext der vorgestellten Szene scheint gerade das figurale Angebot – in Form einer scheinbar eindeutigen Dichotomie (Frauen und Männer, Erwachsene und Kinder, weiße und ‚schwarze‘ Figuren) –, das als erhebliche Reduktion realer Vielfalt auf wenige, ausschließlich binär konstruierte Dimensionen zu verstehen ist, die Hervorbringung von Differenzpraktiken – bzw. stärker normativ: das Prozessieren von othering und Distinktion – zu befördern. Die intersektionale Überschneidung sozialer Strukturkategorien zeigt sich insbesondere dort, wo nach ‚Gefahr‘ resp. ‚Schutz‘ gefragt wird. Unterschiedlichen sozialen Gruppen wird im Spiel ein unterschiedlicher Grad an ‚Gefährlichkeit‘ und ‚Schutzbedürftigkeit‘ zugewiesen. Und die sozialen Gruppen werden hier auch auf unterschiedliche Weise adressiert, mit Schutz und Gefahr – passiv vs. aktiv – umzugehen.

Besonders interessant zeigt sich dies für die soziale Gruppe der Kinder: In OT 5 spricht Katharina – als ein individuelles Kind – dem Kollektiv von Kindern (hier im Kontext der Spielwelt um die Ritterburg) nicht nur Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit zu, sie bringt sie auch als besonders schützenswerte Gruppe hervor. Während andere soziale Gruppen zur aktiven oder passiven Wachsamkeit verpflichtet werden, stehen die Kinder hier unter dem Schutz der Ritter, also jener sozialen Gruppe, die ganz besonders für die aktive Verteidigung gerüstet ist: Ritter besitzen entsprechende Waffen und verfügen über hohes Ansehen, sie sind aber auch körper-leiblich, allein schon aufgrund deren Größe und Kraft, (den Kindern) deutlich überlegen. Die erwachsenen, männlichen Ritter nutzen deren Überlegenheit aber nicht aus, im Gegenteil; sie sind zu ihnen „lieb und freundlich“ (UT 4.3.), sie sorgen für Schutz. Und die Kinder bringen durch deren Anerkennungs-, Adressierungs- und Positionierungsleistung auch die Ritter als solche, insbesondere als Handlungsmächtige und Schutzgebende hervor. Kindheit wird hiermit als geschützte Lebensphase konstruiert, die in einem reziproken Verhältnis zur Erwachsenheit steht. Die wechselseitigen Praktiken von Tobias und Katharina, die von einer konjunktiven Orientierung am Schaffen einer gemeinsamen Spielpraxis getragen sind und sich im Miteinander als ein soziales Aufeinander-Verwiesen-Sein artikulieren, zeigen sich damit – wenn auch thematisch anders gelagert – auch auf der inhaltlichen Ebene des Spiels.

Aufschlussreich scheint in der Sequenz auch die Berücksichtigung der ‚pädagogischen‘ Dimension zu sein. So wird die Rolle der Fachkraft in der vorgestellten Passage nur indirekt besetzt, insbesondere im Hinblick auf deren repräsentative Funktion in der institutionellen Ordnung und des (passiven) Da-Seins im Hintergrund der SzeneFootnote 84.

Zwischenzeitlich wird die Rolle von Katharina und der Forscherin aktiv besetzt, ohne in ihr aufzugehenFootnote 85. So nimmt die Forscherin beim Eintritt in die Sequenz eine Haltung ein, die als Ausdruck generationaler und pädagogischer Ordnung gelesen werden kann. Dies zeigt sich im langsamen korporierten Annähern an die beiden Kinder, an der bewussten Überwindung der horizontalen und vertikalen Distanz, am expliziten Einholen einer Einverständnis, auf Augenhöhe partizipieren zu dürfen, am Einnehmen einer zwischen Nähe und Distanz changierenden (Sitz-)Position und letztlich auch in der Art der Teilnahme, im Sinne eines Beobachtens, aber eben nicht Mit-Spielens. Die Forschende stellt hierbei aktiv eine spezifische Relation zu den Kindern her, sie macht sich dabei selbst zur erwachsenen, pädagogisch orientierten, aber doch unbestimmten Anderen. Die Kinder wiederum beantworten diese relationale Herstellung im Sinne einer Validierung. An dieser Stelle bedarf es, wie auch an anderen Stellen der Sequenz, offenbar keiner Aushandlung. Später, in OT 5 (durch Katharina) und auch – wenngleich nicht in der Tiefe analysiert – in OT 7 (durch Tobias), wird die zumindest partikular angelegte Offenheit der Forschungsrolle jedoch zur Aushandlung gebracht, indem die Forschende adressiert wird, dem je geäußerten Apell der Kinder zu folgen.

Auch Katharinas Position beinhaltet Aspekte des Pädagogischen. So führt sie die Forschende in das Geschehen ein und bedient sich dabei mehrfach der erzieherischen Figur des Zeigens. Angedeutet ist eine Verflechtung mit dem Aspekt gender; möglicherweise zeigt sich hier mit der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe weiblicher Personen eine implizite Adressierung pädagogischer Sorge resp. Verantwortlichkeit. Während Tobias der Konstruktion des Artefakts über die Passage hinweg folgt und hierin seinen Fokus legt, übernimmt Katharina eine Doppelrolle: In erster Linie ist es zwar ihre Aufgabe, sich um das Suchen neuer, brauchbarer Teile zu bemühen, zugleich ist sie aber auch für die Grenzen des exklusiven Territoriums verantwortlich, indem sich die Spielprozesse ereignen. Im Sinne einer Territorialpraktik sichert sie das Innen – u. a., indem sie sich um die Forschende kümmert (kommunikative Einführung ins Spiel) – und grenzt das Außen ab – was u. a. bedeutet, die Spielpraxis exklusiv zu halten. Dies impliziert, dass Teresa nicht ins Spiel inkludiert wird, da hier das Skript aufzugeben oder zumindest zu modifizieren wäre. Teresa ist selbst Teil des konjunktiven Erfahrungsraumes; damit verfügt sie über den atheoretischen Wissensbestand bzw. hat Zugriff auf die impliziten Regeln, denen das Spiel folgt und zu denen sie sich verhalten muss. Sie erkennt die exklusiven Grenzen des Territoriums (visuell gerahmt durch den Teppich) an und erhebt keinen (potenziellen) Anspruch auf ein Dabei-Sein-Können. Teresas Rolle kann so als Kontrastfolie zur Forschungsrolle herangezogen werden: Während der Forschenden als (nicht-störenden) erwachsenen, unbestimmten Anderen eine Teilnahmemöglichkeit im exklusiven Territorium (in Distanz und im Modus der Beobachtung) gewährt wird, wird Teresa als Peer in der Funktion einer (potenziell) Mitspielenden an der Grenze indirekt, im Sinne einer Nicht-Kommunikation, seitens Katharina (und Tobias) abgewiesen.

Im Hinblick auf die generationale Ordnung resp. Hervorbringung von (früher) Kindheit gibt die Szene in mehrfacher Hinsicht Aufschluss. Im Kontext der schon ausgeführten gesellschaftlichen Ordnungsprozesse steht die Passage grundsätzlich und exemplarisch für die Herstellung von (früher) Kindheit (und Erwachsenheit) vor dem Hintergrund eines spezifisch kulturell-historischen Standorts, der von der Situation selbst nicht entkoppelt werden kann. Eben schon die gesamte gesellschaftliche Rahmung (Schaffung einer von den erwachsenen Lebensrealitäten getrennten Institution, die die Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern initiiert), die institutionell vermittelt und ausgestaltet wird (z. B. Schaffung von Räumen mit hohem Anregungsgehalt, von pädagogisch ausgebildeten, erwachsenen Fachkräften für Kinder), bestimmt die Passage erheblich mit und strukturiert sie vor. Die Frage nach der kindlichen Akteur:innenschaft bzw. den Prozessen der Hervorbringung von (früher) Kindheit auf Ebene der Kinder lässt sich nur vor dem Hintergrund dieser Strukturen beantworten. Den Kindern kommt in dieser Passage (auch in Komparation zur Atelier-Sequenz) erhebliche Handlungsmacht zu, sie können agency zur Entfaltung bringen. Diese wird jedoch durch die mehrfachen Strukturierungen (generationale, pädagogische, institutionelle, raum-zeitliche und materielle Ordnung), welche das Spielgeschehen proponieren und die den Kindern Adaptionsleistungen abverlangen, beschränkt, wenngleich – wie schon ausgeführt – die Begrenzungen sowohl (er-)öffnend als auch schließend wirken.

In der Gesamtsicht vollzieht sich die Sequenz zugleich als Ausdruck und Herstellung gesellschaftlich-sozialer Realität, insbesondere im Hinblick auf die Hervorbringung des generationalen Gefüges. Agency wird von den Kindern einerseits aktiv ausgestaltet und die machtvolle generationale Ordnung auch aufgeweicht (bspw. OT 5), in ihrer Ordnungs- und Deutungsfunktion aber nicht grundsätzlich destabilisiert. Gerade im Gegenteil: Kinder und Erwachsene zeigen sich, vor dem Hintergrund wirkmächtiger gesellschaftlicher Ordnungsprozesse, an der Hervorbringung von (früher) Kindheit im Kontext generationaler Ordnung beteiligt und als reziprok aufeinander verwiesen.

4.5.3 Zusammenfassende Darstellung: Rutsche

In der Sequenz Rutsche stehen Interaktionen im Gruppenraum einer Kita, vollzogen von unterschiedlichen Akteur:innen, im Fokus – konkret: den Kindern der Einrichtung (vornehmlich Leyla), der Forscherin sowie einer Fachkraft (Bettina). Ähnlich der Sequenz Ritter konnte rekonstruiert werden, dass Kinder im institutionellen Arrangement adressiert werden, in der Phase des ‚Freispiels‘ anerkannte Praktiken – nämlich ‚Spielpraktiken‘ – zum Ausdruck zu bringen. Der Raum ist so vorbereitet bzw. mittels Material so ausgestattet und vorarrangiert, dass er zur Nutzung dieser bzw. zur Hervorbringung entsprechend anerkannter Praktiken aufruft. Dass diese auch tatsächlich zum Vollzug gebracht werden, zeigt sich in der korporierten Performanz – im Sinne der konjunktiven Praktiken der Kinder. Begrenzt werden jene u. a. durch die Konstruiertheit und Beschaffenheit des zur Verfügung gestellten ‚Spielmaterials‘: In ihm materialisiert sich eine bestimmte Form von (gesellschaftlicher) Wirklichkeit, es präformiert zugleich, was (nicht) auf welche Weise gespielt werden kann. (Frühe) Kindheit wird somit durch Raum und Materialität mithervorgebracht.

Vor dem Hintergrund dieses institutionellen Arrangements, in dem sich relativ (in Bezug auf die Anzahl der Personen) wenige erwachsene Fachkräfte und viele Kinder zueinander verhalten, kann die Interaktionsanfrage des Kindes Leyla im zweiten Oberthema der Sequenz als Praktik des Versuchs der Herstellung einer Dyade mit der erwachsenen Forscherin gedeutet werden, die als exklusiv markiert werden kann. Aus dieser Anbahnung entsteht eine Interaktion, in der aufeinander bezogene, aber zugleich verschiedene – verbale und korporierte – Kommunikationsmodi genutzt werden. Hierbei kommt kein geteiltes Skriptwissen zum Tragen, das den reziproken Kommunikations- und Interaktionsverlauf steuern könnte – die Relationen müssen vielmehr erst hergestellt, aufrechterhalten und gesichert werden. Kind und Forscherin sind somit darauf verwiesen, die Praktiken wiederholt performativ hervorzubringen und zu (re-)produzieren, um damit die fragile, aber zugleich exklusive, dyadische Interaktion zu sichern.

Dass sich die Rolle der Forscherin damit von jener der Fachkraft unterscheidet – trotz der gemeinsamen „Zugehörigkeit“ zur generationalen Kategorie Erwachsenheit –, zeigt sich in der Sequenz an mehreren Stellen bzw. in unterschiedlichen Weisen der Hervorbringung der Praktiken, wofür folgend zwei Beispiele herausgestellt werden sollen. Während die Fachkräfte auf großen Hockern, in jenen sich die generationale Ordnung materialisiert, positioniert sind, sitzt die Forscherin am Teppich und realisiert damit auf vertikaler Ebene eine größere Nähe zur körper-leiblich gebundenen (Augen-)Höhe der Kinder. Jene sind es, die den Teppich im institutionellen Alltag vorrangig nutzen, resp. ‚bespielen‘, während die Fachkräfte hier nur sehr selten – und wenn, dann wiederum auf Stühlen oder Hockern auf oder neben dem Teppich sitzend, in kollektiven Zusammenkünften der Gruppe – positioniert sind. Auch die Art und Weise des Miteinander-Sprechens artikuliert sich auf unterschiedliche Weise: Während die Fachkräfte vornehmlich kollektive Adressierungen und Aufforderungen verbalisieren und nur selten – sofern keine akuten Konflikte bestehen – mit Kindern dialogisch kommunizieren, wird die Forscherin von Leyla angesprochen, mit ihr in eine dyadische Interaktion zu treten – und jene elaboriert diese Anfrage auch.Footnote 86

Eine Besonderheit des analysierten Protokolls stellt – gerade auch in Komparation zu den anderen vorgestellten Fällen – seine Beschaffenheit dar: Auf Ebene der Darstellung geben kursiv markierte Textteile reflexive Einblicke in gedankliche Prozesse aus der Perspektive der forschenden Erwachsenen. Hierin zeigt sich einerseits das Bemühen, reflexive Aspekte sichtbar und für die Analyse fruchtbar zu machen, gerade, weil die Passage auf Deutungen der oftmals nonverbalen Kommunikation verwiesen ist. Damit wird ein tiefer Einblick in die eigene Rolle, in auftretende Ambivalenzen und Unsicherheiten gewährt und mit dieser Zugänglichkeit auch eine potenzielle „Angreifbarkeit“ ermöglicht. Andererseits artikuliert sich hierin auch eine spezifische Relevanzsetzung: Mit der Thematisierung gedanklicher und emotionaler Vorgänge der Forscherin wird Raum beansprucht und der Fokus auf sie selbst, als in die Szene involviertes Subjekt, gelenkt. Alternative Aspekte bleiben zugleich – zumindest potenziell – unbelichtet. Der Umfang der kursiven Einschübe variiert dabei im Protokoll. In OT 1, in dem die Sequenz kontextualisiert wird, finden sich keine entsprechenden Ergänzungen. Insbesondere in OT 2, OT 3 und OT 4, in denen sich die Interaktion mit Leyla anbahnt und festigt, sind diese jedoch relativ prominent vorhanden. In OT 5 und OT 6, welche sich durch die Präsenz der Fachkraft, in Rahmeninkongruenz mit Leyla, kennzeichnen, nehmen sie deutlich ab, wodurch die Prekarität der Szene, bzw. der hier zur Aufführung gebrachten Praktiken, auch durch die veränderte Protokollierung – im Sinne der Reduktion des Zugriffs auf reflexive und emotionale Prozesse der Forscherin – verdeutlicht werden kann.

Eine zentrale Rolle nimmt in der Sequenz das Kind Leyla ein. Ihm kommt in den Phasen des Interaktionsverlaufs agency in unterschiedlichem Ausmaß und heterogener Ausgestaltung zu. Während sich Leyla in OT 2, OT 3 und OT 4 selbst als aktiv positioniert und mit der Forscherin propositionell, transpositionell sowie elaborierend interagiert, kommt es mit OT 5 und OT 6 zu einem deutlichen Bruch: Als die Fachkraft aktiv und propositionell in die Passage eintritt und das Aufräumlied zu singen beginnt, vollzieht sich hiermit eine raum-zeitlich-materiellen Transformation des Arrangements, zu dem sich Leyla zugleich passiv und oppositionell verhält. Waren Leylas Praktiken zuvor nach außen – hin zur Forschenden, hin zum Spielmaterial – gerichtet, transformieren sie sich schon nach dem ersten akustischen Reiz nach innen – auf sich selbst gerichtet –, was sich insbesondere in der veränderten Körperhaltung und Blickrichtung Leylas dokumentiert. Während das Kind in dieser Einrichtung – repräsentiert durch Leyla – über beschränkte Entscheidungs-, Deutungs- und Handlungsmacht verfügt, welche sich innerhalb der Institution jedoch in verschiedenen Settings heterogen ausgestalten zu scheinen, scheint der Fachkraft eine durchgängig klar bestimmte, machtvolle Rolle zuzukommen: Sie verfügt – raum-zeitlich überdauernd – über Entscheidungs-, Deutungs- und Handlungsmacht, insbesondere hinsichtlich der Gestaltung der raum-zeitlich und materiellen Ordnung und der Einflussnahme auf bzw. dem Umgang mit institutionellen Skripts. Zudem verfügt sie über die Möglichkeit, andere Akteur:innen – insbesondere die Kinder der Gruppe – über die getroffenen Entscheidungen nicht nur zu informieren, sondern jene – auch bei Widerstand – ebenso ohne inhaltlicher bzw. interaktiver Aushandlung durchzusetzen (vs. gemeinschaftliche Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, vgl. Sequenz Mittagskreis). Am Beispiel des Aufräumens zeigt sich, dass hierbei prioritär von kollektiven Adressierungen der Kinder Gebrauch gemacht wird – nur bei Bedarf folgen individualisierte Handlungsaufforderungen (vs. dyadische Kommunikation, vgl. Sequenz Atelier).

Auch wenn die Macht in der Kita-Gruppe klar – zugunsten der aktiven Positionierung der Fachkraft – verteilt zu sein scheint: Die Ordnung, für die sich die Fachkraft adressiert sieht zu sorgen, verhält sich nicht durchgängig als stabil. Sie muss gesichert sowie im Bedarfsfall wieder hergestellt werden. Es bedarf einer beständigen Ordnungsleistung, die bspw. anhand pädagogischer Instrumente (hier des Aufräumlieds) von der Fachkraft initiiert und von den Kindern zur Artikulation gebracht werden muss. Schon in OT 1, bei der Positionierung des Puzzles am Tisch, bzw. in der Uneindeutigkeit, wie es dort „gelandet ist“, zeigt sich, dass die pädagogische Ordnung eben nicht einmal hergestellt zeit-räumlich überdauernd vice versa beständig ist, sondern, dass nur die Performanz von Ordnungspraktiken den ständigen Irritationen wirkungsvoll zu begegnen vermag. Und dies wird auch beim dramaturgischen Höhepunkt der Sequenz in OT 5 und OT 6 erneut vakant: Das institutionelle Arrangement lässt nur bestimmte, eben anerkannte, Praktiken zu, die für bestimmte Adressat:innen – die Kita-Kinder – gelten. Die Kinder der Gruppe werden hiermit als Kollektiv adressiert, diese Praktiken zur Aufführung zu bringen. Alternative Praktiken können nur in oppositionellem Modus vollzogen werden. Jene werden dann auch individualisiert von der Fachkraft beantwortet, mit dem Ziel, die Ordnung des Arrangements wieder herzustellen.

Die Fachkraft setzt in OT 5 und OT 6 die kollektive Ordnung des Geschehens prioritär vor individuelle Bedarfe. Dies wird von den meisten Kindern auch anerkannt; die Praktiken des Kollektivs ratifizieren und/oder validieren die an sie gestellte Forderung, aufzuräumen. Dies legt die Deutung nahe, dass sich die Orientierungen von Fachkraft und Kita-Kindern in der Sequenz vorrangig durch Rahmenkongruenz auszeichnenFootnote 87. Demgegenüber steht die Irritation dieser Ordnung durch Leylas Praktiken: Sie fügt sich den Anforderungen gerade nicht, sie bringt – beinahe provokativ – Praktiken zum Ausdruck, die die Aufforderung der Fachkraft klar, wenn auch passiv, ablehnen. Daraufhin positioniert sich die Fachkraft als Macht wahrnehmend und ausübend und überschreitet dabei klar und mehrfach körper-leibliche Grenzen des Kindes. Der oppositionelle Modus deutet darauf hin, dass die Orientierungen von Fachkraft und Kind nicht miteinander vereinbar sind (Rahmeninkongruenz): Es kommt zu keiner konsensfähigen Konklusion zwischen Fachkraft und Kind, sondern zur rituellen Beendigung der Passage.

Komparativ dazu kann die Sequenz Atelier aufgerufen werden. Hier greift eine Fachkraft ebenso körper-leiblich auf ein Kind zu und setzt dabei die Ordnung des Geschehens prioritär vor dem Kind und dessen Grenzen: Als das Kind einen Pinsel auf nicht-anerkannte Weise nutzt, legt die Fachkraft ihre Hand über jene des Kindes. Die Fachkraft führt die anerkannte Praktik dann für das Kind – „gemeinsam“ und zugleich von ihr gelenkt – durch. Sie nutzt hierbei eine Zeige-Geste, um die Hervorbringung anerkannter Nutzungspraktiken seitens des Kindes zu befördern. Dabei bedient sie sich einer verbalen Begleitung der Praktik, um dessen Vollzug transparent und kommunikativ erschließbar zu machen, resp. darüber aufzuklären, was sich gerade ereignet. Dieser in der Sequenz Atelier rekonstruierte machtstrukturierende Modus tritt in der Sequenz Rutsche erneut – auf eine noch deutlich prekärere Weise – zu Tage: Hier wird das Kind von der Fachkraft kaum verbal adressiert (ab UT 6.2). Die körper-leiblichen Zugriffe ereignen sich mit Ausnahme der Äußerung „die bleiben jetzt da“ (UT 6.3) ohne verbale Begleitung, womit gerade nicht expliziert wird, welche Praktiken sich aus welchen Gründen ereignen. Das Kind ist somit gefordert, sich jenes Wissen zu erschließen und mit den prekären Erfahrungen unbegleitet resp. allein umzugehen.

4.5.4 Zusammenfassende Darstellung: Mittagskreis

In der Sequenz Mittagskreis stehen Interaktionen in einer Kreissituation im Gruppenraum einer Kita, zeitlich im Anschluss an die Freispielphase, im Fokus, welche von den Fachkräften und Kindern einer „Stammgruppe“ (sowie der Forscherin) vollzogen werden. Ähnlich den Sequenzen Atelier, Ritter und Rutsche, zeichnet sich auch die Sequenz Mittagskreis durch eine Präformierung der zur Aufführung gebrachten Praktiken durch das raum-zeitlich-institutionelle Arrangement aus. Hier ist es vor allem die Gestaltung des „Kreises“ anhand von Mobiliar (Stühlen, Bänken, Teppich), die das kollektive Arrangement prägt. Im Kreis, der, strenggenommen, weniger als Kreis, sondern eher als Quadrat sichtbar wird, materialisiert sich eine Art Inklusivität dergestalt, dass das Format einen klaren, kollektiven Rahmen mit sicherer Struktur schafft, in dem Praktiken gemeinschaftlich und zentriert zum Vollzug gebracht werden können. Zugleich zeigt sich das Arrangement an seinen Grenzen auch lückenhaft und eröffnet damit – zumindest potenziell – (individuelle) Flexibilität.

In Komparation zu den anderen Fällen ist die Sequenz Mittagskreis als ein kollektives Geschehen einer gesamten Gruppe in einer frühpädagogischen Institution zu fassen, in dem ein konjunktives, stabiles Skript zum Tragen kommt. Der gesamte Fall ist von einer Orientierung an einem inklusiv-kollektiven wir getragen, das zugleich offen ist für individuelle Anliegen und Bedarfe. Das Skript scheint sowohl stark als auch flexibel zu sein, dass es auch bei unterschiedlichen Irritationen und Abweichungen keine nennenswerte Erschütterung erfährt. Es wird von allen Beteiligten anerkannt; validierende Praktiken werden gemeinschaftlich hervorgebracht.

Das Spannungsfeld von ich und wir wird während der unterschiedlichen raum-zeitlichen Arrangements in der Kita vielfältig bearbeitet. So ist bspw. das einrichtungsspezifische „Reisen“, das von den Fachkräften im Sinne eines teiloffenen Hauses arrangiert wird, in die Freispielphase eingelagert, wo Kinder – zwar im Kontext von Ordnungsprozessen, u. a. auf räumlicher, zeitlicher und materieller Ebene sichtbar – relativ ‚frei‘ tägig sein und Handlungsmacht zum Ausdruck bringen können, indem sie individuell über das wann, wo und womit, mit wem und wie der hervorzubringenden (Spiel-)Praktiken (mit-)entscheiden können, Fachkräften hingegen „nur“ eine ordnende Rolle zukommt.

Die vorgestellte Sequenz versteht sich per se als kollektiviert: Jene Entscheidungen werden ritualisiert nach einer institutionellen Logik gefällt und von den Fachkräften vermittelt. Der Mittagskreis vollzieht sich (fast) immer zur selben Uhrzeit, am selben Ort mit (fast) denselben Personen auf (fast) die gleiche Weise. Variationen erfährt das Geschehen durch dessen gegenständlicher Bespielung: Während die Strukturen des Arrangements von der Fachkraft herzustellen sind, sind die Kinder adressiert, dieses inhaltlich-thematisch (mit) zu gestalten und zu bearbeiten. Das schon mehrfach angesprochene wir artikuliert sich schon bei der Formierung als (Stamm-)Gruppe im Mittagskreis, wo bspw. durch die gleiche und zugleich gleichrangige Positionierung aller Körper aller Akteur:innen – unabhängig deren generationalen Status – Gemeinschaft aufgerufen und hergestellt wird. Jenem Arrangement sind auch ritualisierte, wiederkehrende Praktiken inhärent (z. B. tägliches „Zählen“), die konjunktive Erfahrungen anrufen und zugleich festigen. Auch durch die Nutzung von einrichtungsspezifischen Begrifflichkeiten und Metaphern wird die Vergemeinschaftung des Ichs-im-wir gefestigt (bspw. „Reisen“). Einerseits schafft dieses Ich-im-wir Teilhabemöglichkeiten sowie das Erfahren von Gemeinschaft in hoher sozialer Eingebundenheit, andererseits bedeutet es auch die Einschränkung von Autonomie. Denn: sich einzuordnen heißt letztlich auch, sich – zumindest teilweise – unterzuordnen, auch, wenn Freiräume vorhanden sind, was sich in der Sequenz insbesondere darin zeigt, dass individuelle Bedarfe und Interessen von Fachkräften (und auch Kindern) wahrgenommen und berücksichtigt werden.

An den meisten Stellen bleibt das Skript implizit: Kinder und Fachkräfte „wissen“, wie der Mittagskreis funktioniert, wie er abläuft, wie er mit Praktiken ausgestaltet werden kann. Sie verfügen über ein entsprechendes konjunktives Erfahrungswissen, das es ihnen erlaubt, die Praktiken im Modus des Selbstverständlichen hervorzubringen. An einigen Stellen macht die Fachkraft den impliziten Wissensbestand explizit, womit sie jene Akteur:innen „abholt“, die (noch) nicht Teil des konjunktiven Erfahrungsraums sind. Im Besonderen betrifft dies die Forscherin, die mit den Strukturen dieser Kita noch nicht (hinlänglich) vertraut istFootnote 88 und in dieser Sequenz erneut als unbestimmte, erwachsene Andere zutage tritt, die sich nicht in die binäre Unterscheidungslogik Kita-Kind vs. erwachsene Fachkraft übersetzen lässt.

Prinzipielle Handlungs-, Deutungs- und Entscheidungsmacht kommt in der Sequenz allen Akteur:innen zu, unabhängig ihres konjunktiven Wissensbestands und unabhängig ihres Status in der Gruppe. Dennoch zeigt sich jene als ungleich – zugunsten der FachkraftFootnote 89 – verteilt: Ihr kommt eine klare Leitungs- und Moderationsfunktion zu. Sie stellt einen inkludierenden Rahmen her, in dem sich Praktiken ereignen können. So spricht die Fachkraft den Kindern viel Zeit und Raum zu, sich in der Gruppe auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß zu äußern, sofern sie dies möchten. Äußerungen von Kindern werden von ihr nicht bewertet, sondern teilweise deskriptiv paraphrasiert; alle eingebrachten Anliegen werden tatsächlich bearbeitet und auf Fragen erfolgt – verlässlich – eine Antwort. Im Fallvergleich zeigt sich, dass zwar auch in dieser Sequenz generationale Ordnung zutage tritt, diese aber als deutlich weniger machtvoll erscheint. Auch hier wird das Arrangement von der Fachkraft als solches gestaltet, Kommunikations- und Interaktionsbeiträge werden auf eine bestimmte Weise präformiert und begrenzt; dennoch wird in dieser Sequenz deutlich, dass die Strukturierung auf eine recht egalitäre Weise vorgenommen wird (bspw. gleiche Positionierung aller Akteur:innen).

Seine Begrenzung erfährt die egalitäre Gestaltung im Falle der gleichberechtigten Teilhabemöglichkeit jedoch dort, wo sie zur Teilhabeverpflichtung wird. Dies wird in UT 5.3 sichtbar, als die Fachkraft der Reihe nach alle Akteur:innen aufruft, sich zur geplanten Faschingsverkleidung zu äußern. Zwar scheint es die Möglichkeit zu geben, sich nicht äußern zu müssen (ein Kind nimmt diese Option auch wahr), dass dennoch ein „Zugzwang“ herrscht, sich der kollektiven Praktik elaborierend hinzugeben, wird in der reflexiven Anmerkung der Forscherin im Protokoll deutlich, als sie auf ihr Unbehagen in dieser Situation hinweist. In Summe stellt sich die Szene jedoch als eine pädagogische Alltagssituation dar, in der Bedarfe von Kindern wahrgenommen und aufgegriffen werden, in der individuelle Interessen und Anliegen eingebracht werden können und auch sichergestellt wird, dass jene Bearbeitung und Berücksichtigung erfahren. Der hierin liegende inkludierende Modus drückt die Rahmenkongruenz der Akteur:innen (Fachkräfte und Kinder) aus: Das Skript trägt die Interaktion auf stabile Art und Weise und wird zugleich kollektiv durch die Akteur:innen gesichert. Die schon angesprochene räumliche Geschlossenheit und zugleich Offenheit des Arrangements drückt sich auch in der Handlungspraxis aus: Der kollektive Rahmen, der doch zum Teil durchlässig ist, wirkt zwar schließend und exklusiv nach innen zentrierend. Er öffnet aber zugleich und ermöglicht Flexibilität. Exklusivität bedingt hier keine Exklusion. Es kommt daher auch zu keinen Widersprüchen oder Brüchen (bspw. im Sinne oppositioneller Handlungen), das Geschehen vollzieht sich einvernehmlich. Der Mittagskreis realisiert sich gewissermaßen als ein Arrangement, in dem sich Interaktion und Kommunikation kollektiv gestalten, wo sich Akteur:innen vergemeinschaftend auf etwas oder jemanden hin ausrichten, wo ein sich-individuell-im-Kollektiv-äußern potenziell möglich ist. Im Zentrum der Ausrichtung stehen Akteur:innen, Gegenstände und/oder deren (relationierte) Praktiken, in denen sich die Aufmerksamkeit des Kollektivs bündeln und zugleich Individualität realisiert werden kann.