Zusammenfassung
This paper takes a critical look at how the first German translation of Homer – Simon Schaidenreisser’s Odyssea from the sixteenth century – deals with the identity-forming categories of gender and divinity. The shifts in power structures within these categories, which occur in the transcultural target language-oriented translation, are examined in an intersectional analysis. For this purpose, the translation is contrasted with the Latin translation of the Odyssey by Raphael Volaterranus (1534), Schaidenreisser’s direct source, as well as with Homer’s Greek source text. The subjects of this analysis are the two powerful, antagonistic, female divinities of the Odyssey: Circe and Calypso. The paper illustrates how the depiction of the goddesses is reshaped in the Early Modern cultural context of the translation and how power structures shift within the narrative, resulting in a loss of power and intersectional complexity for the goddesses and a re-evaluation of the narrative’s hero, Ulysses.
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Schlüsselwörter
1 Einleitung: Literatur und Intersektionalität
Einer der ältesten Texte der westlichen Literaturgeschichte und eines der wenigen Werke, die man zweifellos als Weltliteratur bezeichnen kann, ist Homers Odyssee, die Erzählung von der zehnjährigen Irrfahrt des Odysseus und seiner Rückkehr nach Ithaka. Ihre zahlreichen Mythen und Motive haben nicht nur die antike Kultur nachhaltig geprägt: Bis heute wird die Odyssee zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Medien immer wieder neu übersetzt und adaptiert.Footnote 1 Doch auch, wenn der narrative Kern der Erzählung in der Regel erhalten bleibt, ist die Erzählung selbst keineswegs zeitlos: Sie unterliegt kulturbezogenen Umdeutungen und jede Übersetzung transferiert den Ausgangstext, mal mehr und mal weniger frei, in die eigene soziokulturelle Wirklichkeit. Übersetzen verstehe ich also als eine Tätigkeit, die über eine rein sprachliche Transcodierung hinausgehtFootnote 2 und, wie für die Sektion 2 des SPP charakteristisch, definiert werden kann als „kulturstiftende Praxis, bei der Inhalte in ein neues Sprachsystem überführt, Literatur- und Wissensformationen ausgebildet und zugleich Machtrelationen austariert werden.“Footnote 3
Unser Projekt ‚Translationsanthropologie. Die deutschen Homer- und Ovidübersetzungen des 16. Jahrhunderts aus der Perspektive der Intersektionalitätsforschung‘ hat zum Ziel, die Mechanismen einer solchen ‚kulturstiftenden Praxis‘ anhand der Übersetzung literarischer Texte zu ergründen, indem es untersucht, wie in der Übersetzung Machtverhältnisse und Identitätskategorien der Zielsprache entsprechend neu austariert werden. Dafür wird die sozialwissenschaftliche Intersektionalitätstheorie auf die literarische Übersetzung angewendet. Denn eine Übersetzung ist, so die Grundthese, immer auch ein anthropologischer Entwurf.
Das Verhältnis von Literatur und Kultur ist vielschichtig und komplex; Literatur kann Kultur oder Natur spiegeln, kann Identität aus- und abbilden und Alterität anzeigen.Footnote 4 Dabei bewegt sie sich über die Ebene der Repräsentation weit hinaus:
Der Literatur wohnt die genuine Fähigkeit zur Konstruktion imaginärer Welten inne, die Teil der realen Welt sind und sie in entscheidender Weise mit prägen. Literatur ist, um eine andere Metapher zu benutzen, immer auch ein Probehandeln, der Versuch, einen Spielraum zu schaffen, in dem Unvordenkliches gedacht und Unanschauliches zur Anschauung gebracht werden kann.Footnote 5
Literatur bietet einen Erprobungs- und Reflexionsraum für die Rezipient*innen, kann Grenzen ausloten und absteckenFootnote 6 sowie in historischer Perspektive Aussagen über Wissens- und Wertesysteme ermöglichen – und greift so in ab- ebenso wie in ausbildender Form auf die Kultur zu. An dieser Schnittstelle ist der Versuch des Projekts ‚Translationsanthropologie. Die deutschen Homer- und Ovidübersetzungen des 16. Jahrhunderts aus der Perspektive der Intersektionalitätsforschung‘ anzusiedeln, die kulturellen Umbrüche in der Übersetzung mithilfe der Intersektionalitätstheorie sichtbar zu machen.
Der Begriff der ‚Intersektionalität‘ geht grundlegend auf die Juristin Kimberlé Crenshaw zurück, die ihn in den 1980er Jahren als Bezeichnung für das Zusammenwirken verschiedener Identitätsmerkmale und Diskriminierungsfaktoren einführte. Crenshaw zeigt in ihren Arbeiten, wie schwarze Frauen in den USA weder in feministischen noch in antirassistischen Bemühungen bedacht werden, weil sie in beiden Gruppierungen nicht zur unmarkierten Norm – weiße Frauen bzw. männliche People of Color – gehören, und in dieser intersectional invisibility eine doppelte Diskriminierung erfahren. Dafür verwendet sie die Metapher einer Straßenkreuzung (engl. intersection),Footnote 7 an der die Gefahr aus zwei (oder mehr) Richtungen kommen könne:
If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.Footnote 8
Die daraus geborene Intersektionalitätstheorie ist somit von Beginn an tief im amerikanischen black feminism verwurzeltFootnote 9 und mit der Forderung nach empowerment verbunden. Sie hat den grundlegend aktivistischen Anspruch, die systematische Ausblendung mehrfach Diskriminierter aufzuzeigen und zu überwinden. Dafür analysiert und hinterfragt sie die bestehenden Machtstrukturen, die solche systematischen Marginalisierungen etablieren oder begünstigen.
Als traveling theory hat die Intersektionalitätstheorie schnell internationalen Anklang gefunden. In der europäischen Forschung ist sie seit den 1990ern insbesondere in den Sozialwissenschaften produktiv aufgenommen worden. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Diskurs wird hier jedoch vielfach die klassische Trias von race, class und gender aufgebrochen und nach weiteren Kategorien gefragt.Footnote 10 Außerdem setzt die europäische Forschung den Fokus verstärkt auf die Dekonstruktion von Kategorien – verstanden als gesellschaftliche Konstrukte – im Gegensatz zur amerikanischen empowerment-Forderung.Footnote 11
Inzwischen ist die Intersektionalitätstheorie auch für das Feld historischer und literarischer Forschung fruchtbar gemacht worden. Während die Geschichtswissenschaft das Modell eher langsam adaptiert,Footnote 12 hat insbesondere die germanistische Mediävistik die Intersektionalitätstheorie gewinnbringend für ihre Forschung nutzen können:Footnote 13 etwa in kritischen Auseinandersetzungen mit hochmittelalterlichen AventiureromanenFootnote 14 oder in einer transmedialen Untersuchung der Nibelungenlied-Adaption.Footnote 15 Auch die narratologische Forschung unternimmt Versuche, Intersektionalität und Narratologie zueinander zu bringen.Footnote 16
Was jedoch für die Sozialwissenschaften gilt, ist ebenso für die Kultur- und Literaturwissenschaft gültig: Bislang ist die Intersektionalitätstheorie, so ergiebig sie auch ist, ein äußerst loses und unkonkretes theoretisches Konzept in einer „disparaten terminologischen Situation“Footnote 17. Klar ist, dass die untersuchten Ungleichheitskategorien nicht universell anwendbar sind, sondern historisiert und literarisiert werden müssen.Footnote 18 Umstritten ist dagegen, ob dabei induktiv oder deduktiv vorgegangen werden soll, wie sich Kategorien definieren und systematisieren lassen und auf welchen Ebenen eine intersektionale Analyse greift. Ein einschlägiger Strukturierungsvorschlag kommt von Gabriele Winker und Nina Degele. Sie identifizieren drei soziologische Untersuchungsebenen: Die Makro- und Mesoebene der gesellschaftlichen Sozialstrukturen, die Mikroebene der sozial konstruierten Identitäten und die Ebene symbolischer Repräsentation.Footnote 19 Für die Übertragung des soziologischen Modells auf die Literaturwissenschaft haben unter anderem Susanne Schul und Mareike Böth einen Orientierungsrahmen vorgeschlagen: Sie unterscheiden zwischen der „Interaktionsebene der Figurenhandlung“ (doing intersectionality), der „Narrationsebene der Textstruktur“ (narrating intersectionality) und der „Kontextebene der kulturhistorischen Bedingtheit des Textes“, wobei sie Letztere erneut auf das soziologische Dreiebenenmodell rückbeziehen.Footnote 20
So offen die Theoriebildung bisher auch sein mag, hat sich die Fruchtbarkeit des Ansatzes jedoch durchaus erwiesen: Die Intersektionalitätstheorie stellt in erster Linie gezielte Fragen nach der Entstehung von Machtverhältnissen und gesellschaftlich konstruierten Identitäten an ihren Gegenstand – in diesem Fall an den Text – und macht ein Denkangebot, das die Aufforderung beinhaltet, das Ineinandergreifen von Identitäts- und Ungleichheitskategorien zu beleuchten und Unsichtbares sichtbar zu machen. In diesem Sinne formuliert auch Kimberlé Crenshaw gut dreißig Jahre nach ihrer Entwicklung des Ansatzes den Anspruch der Intersektionalitätstheorie, der noch vor politischem Aktivismus ansetzt: „Intersectionality is an analytic sensibility, a way of thinking about identity and its relationship to power“.Footnote 21 Als eine solche analytische Sensibilität hat die Intersektionalitätstheorie insbesondere für die Translationswissenschaft und den hier vertretenen Übersetzungsbegriff eine große Bedeutung: Wenn Übersetzungen Machtrelationen abbilden und gar etablieren, dann ist es unerlässlich, einen geschärften Blick auf die Wechselwirkungen und Entstehensbedingungen zu werfen, aus denen sich diese Macht konstruiert.
2 Schaidenreissers Übersetzung
Die Praxis des Übersetzens – zunächst allgemein verstanden als Überführung eines Textes von einer Ausgangs- in eine Zielsprache – unterliegt einem massiven zeitlichen Wandel. Dabei folgt jede Epoche eigenen Vorstellungen davon, was eine ‚gute Übersetzung‘ leisten muss, und hat eigene Begriffe von Werk und Autorschaft.
Für den Übersetzungsbegriff der germanistischen Mediävistik hat Franz Josef Worstbrock einen bedeutenden Beitrag geleistet. Demnach ist die mittelalterliche Praxis des Wiedererzählens von der frühneuzeitlichen Übersetzung zu unterscheiden. Die mittelalterliche Adaption beziehe sich auf das Wiedererzählen der materia, des Stoffes, der in neuer Form den Rezipient*innen präsentiert werde: Insbesondere die antiken Erzählstoffe werden kulturell umgeformt, christianisiert und höfisiert.Footnote 22 Die frühneuzeitlichen Übersetzer dagegen sind bemüht, Form und Stil ihres Ausgangstextes zu erhalten. Zudem betonen sie die Leistungen des ursprünglichen Autors. Worstbrock formuliert die These, dass „Wiedererzählen und methodisches Übersetzen […] demgemäß, ungeachtet aller Fälle von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, historisch einander inkompatibel, Positionen verschiedener Historizität sind.“Footnote 23 Es geht in dieser Unterscheidung aber auch darum, wessen Autorität beansprucht wird: hier der Autor des Ausgangstextes, dort die materia, die Geschichte selbst. Die humanistischen Übersetzer gehen mit der Literarizität ihres Materials bewusster um als ihre Vorgänger, allein schon deshalb, weil die Würdigung des Autors die nötige Distanz zur materia schafft.Footnote 24
Worstbrocks Ausführungen haben zwar inzwischen vielfach Modifizierungen und Kritik erfahren. Als heuristisches Unterscheidungsmittel sind sie aber weithin etabliert, auch wenn die Unterscheidung darüber hinaus genauerer Spezifizierung bedarf.Footnote 25 Denn natürlich lässt eine solche Gegenüberstellung, wie jede Generalisierung, viel Spielraum: Zum einen gibt es Übergangsphasen und Zwischenräume. Zum anderen sind weder die mittelalterlichen Wiedererzähler noch die frühneuzeitlichen Übersetzer eine homogene Gruppe: Blickt man in den zeitgenössischen Übersetzungsdiskurs des 16. Jahrhunderts, findet man auch hier verschiedene Positionen. Die Dispute entzünden sich insbesondere an der Frage, ob und wie man bedeutende Texte in die Volkssprache übersetzen solle, die in den Augen vieler noch nicht weit genug entwickelt ist, um die Komplexität lateinischer oder griechischer Sprache angemessen wiedergeben zu können,Footnote 26 und ob dies ausgangssprachenorientiert, wort usz wort, oder zielsprachenorientiert, sin usz sin, geschehen solle – wobei beide Positionen lediglich Pole in der durchaus vielfältigen frühneuzeitlichen Übersetzungstheorie und -praxis sind.Footnote 27 Besonders religiöse Texte stellen die frühneuzeitlichen Übersetzer vor das Dilemma, entweder den Wortlaut des Ausgangstextes zu verfremden oder der Verständlichkeit zuliebe Veränderungen vornehmen zu müssen. Von der Uneinigkeit der historischen Akteure kündet wohl am besten Luthers Sendbrief vom Dolmetschen, in dem er sehr entschieden der Verständlichkeit in der Zielsprache den Vorzug gibt:
den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deutsch reden / wie diese esel thun / sondern / man mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / und den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden / und darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / und mercken / das man Deutsch mit jn redet.Footnote 28
Die hier formulierten Übersetzungsmaximen, Zielsprachenorientierung und Verständlichkeit, können dabei als Maßstab eines frühneuzeitlichen volkssprachigen Übersetzungsbegriffs angesetzt werden, der – unter Berücksichtigung der erwähnten gegenläufigen Strömungen – neben Bibelübersetzung auch Übertragungen bedeutender lateinischer und griechischer Werke in die Volkssprache einschließt.
Neben einer breiten Vergil- und Ovid-Übersetzung werden im 16. Jahrhundert auch erstmals Homers Texte ins Deutsche übertragen: 1584 wird die Prosa-Ilias des Übersetzers Johannes Baptista Rexius abgeschlossen, einige Jahre später fertigt Johannes Spreng eine Versübersetzung der Ilias an. Beide Übersetzungen basieren auf lateinischen Vorlagen. Die früheste deutsche Homer-Übersetzung ist jedoch die Odyssea des humanistischen Münchner Stadtschreibers Simon Schaidenreisser, die um die Jahreswende 1537/38 bei Alexander Weissenhorn in Augsburg gedruckt wurde.Footnote 29 Seine direkte Vorlage waren dabei die lateinischen Übersetzungen der italienischen Humanisten, zum größten Teil die Prosaversion des Raphael Volaterranus, die 1534 erschien, sowie ergänzend die Übersetzung des Gregorius Maxillus (1510).Footnote 30
Schaidenreissers Textauswahl ist sowohl beachtlich als auch bezeichnend für das neue Übersetzungs- und Literaturverständnis der Humanisten, denn ihr geht eine lange Zeit voraus, in der Homer nicht rezipiert wurde. Im Mittelalter wurden die Ereignisse um den trojanischen Krieg weithin als historisch betrachtet, was Homer, der in seinen Epen den antiken Götterapparat stark einbindet, zum heidnischen Lügner machte. Die Grundlage der durchaus breiten mittelalterlichen Trojarezeption waren historisierende Texte, etwa die vermeintlichen Augenzeugenberichte des Dictys Cretensis und Dares Phrygius. Erst als die italienischen Humanisten beginnen, sich näher mit dem Griechischen zu befassen, wird Homer wiederentdeckt. Nun wird die Fiktionalität der Erzählung betont, was Homer nicht mehr als Historiographen, sondern als Poeten wahrnehmbar macht;Footnote 31 in dieser Rolle wird er wertgeschätzt und, etwa von Schaidenreisser, als ‚Vater aller Poeten‘ glorifiziert.Footnote 32
Schaidenreissers Übersetzung hat bisher nur in sehr überschaubarem Umfang das Interesse der germanistischen Forschung wecken können. Das Urteil besonders der älteren Forschung fiel dabei meist negativ aus: Man befand die Übersetzung für „holzschnittartig“Footnote 33 und sprach ihr mitunter die humanistische Grundlage ab.Footnote 34 Die neuere Forschung betrachtet Schaidenreissers Werk dagegen durchaus differenziert und fragt etwa nach Poetologie, Übersetzungsprogramm oder Mythographie. Dabei wird das frühe Urteil weitgehend revidiert: Schaidenreissers Odyssea dokumentiere „nicht nur die typische humanistische Wertschätzung des größten Poeten aller Zeiten […], sondern [stelle] einen genuinen Beitrag zeitgenössischer Poetik [dar]“; sie „reflektiert ihre Literarizität“ und „fungiert als Medium frühneuzeitlicher Poetologie“.Footnote 35
Schaidenreisser stellt seine Odyssee-Übersetzung in einen Rezeptionsraum, der die direkte Homer-Rezeption nicht kennt. Damit überbrückt er eine große Zeitspanne von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, was sich in einer deutlich veränderten Gesellschaft niederschlägt, für die der Wechsel vom antiken Polytheismus zum Christentum nur ein Beispiel ist. Daher muss auch die antike Erzählung Umdeutungen erfahren, gerade dann, wenn der Übersetzer die Aktualität bzw. Zeitlosigkeit des Erzählten betont:
Vnnd warlich […] ist gantz wunderbar das er […] seyn schreyben / sprüch / sententzen also geschicklich gemasset vnnd gestelt hatt / das sie sich auff ainer jeden zeit / ains jeden alters / gepreuch / sitten / vnd institut / so aygentlich rewmen /å als wer in so langer zeit kain aͤnderung nie geschehen. (Sch. iiii).
Schaidenreisser präsentiert in seiner Vorrede Homer als Erzähler allgemein und überzeitlich geltender Wahrheiten. Dann bedient er sich der Autorität, die er selbst Homer verliehen hat, um seinen zeitgenössischen Rezipienten ein derart zeitloses vnd damit unbestreitbares Exempel männlicher Tugendhaftigkeit zu geben: Er stilisiert Odysseus zum Musterheros, wertet ihn über die Erzählung hinweg immer wieder auf. Die Odyssee und ihr Personal seien
ain lob der tugent / ain klarer rechter spiegel menschliches lebens / darinn ain yeder […] sich beschawen […] was wol ansteende oder nit / was nachzůfolgen oder zůfliehen / zůthůn und zůlassen sey / leichtlich mag abnemmen. (Sch. iiv).
Der Übersetzer versucht also, die antike Erzählung für sein frühneuzeitliches PublikumFootnote 36 relevant zu machen, indem er auf die Zeitlosigkeit der darin vermittelten Werte verweist. Doch nicht nur diese Werte, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Identitätskonstruktionen sind historisch gebunden und erfahren in der Übersetzung grundlegende Veränderungen. Besonders evident werden diese Veränderungen dort, wo große kulturelle Umbrüche überwunden werden müssen – etwa in der Darstellung weiblicher heidnischer Gottheiten. Stellt man hier die intersektionale Machtfrage, kann man, so die These, die systematischen Umwertungen greifbar machen, die Schaidenreisser in seiner Übersetzung vornimmt und mit denen er den Text an die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums anpasst.
Im Folgenden möchte ich mit einer intersektionalen Analyse diese Umwertungen in Bezug auf die weiblichen Gottheiten ermitteln. Die Intersektionalitätstheorie wird dabei als methodisches Vorgehen genutzt, als besagte ‚analytic sensibility‘, die die verhandelten Machtkategorien induktiv aus ihrem Forschungsgegenstand ableiten und so den Blick auf Machtstrukturen und ihre Veränderung schärfen soll. Denn die mächtigen Frauenfiguren Homers verändern, wie zu zeigen sein wird, in der Übersetzung auf je unterschiedliche Art ihre Position im intersektionalen Machtgefüge der Erzählung.
3 Göttlichkeit und Geschlecht in der Odyssea
Die Odyssee folgt epostypisch über weite Strecken einer homosozialen Ordnung: Die wichtigste zwischenmenschliche Beziehung ist nicht gegengeschlechtliches Begehren, sondern Waffenbruderschaft und militärische wie soziale Führerschaft. Frauen spielen eine untergeordnete Rolle. Doch das Epos beinhaltet zwei Episoden, in denen Frauen mit ungewöhnlicher Machtfülle auftreten, nämlich die Circe-Episode des X. Buches und die Calypso-Episode des V. Buches. Beide Frauen sind zunächst eine Bedrohung für den Heros und sein Heimkommen, beide Frauen gehen eine sexuelle Verbindung mit ihm ein und beide Frauen sind der Göttersphäre oder zumindest dem ÜbermenschlichenFootnote 37 zuzuordnen.
3.1 Calypso zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit
Die Calypso-Episode schließt im V. Buch direkt an die sogenannte Telemachie an und ist damit die erste Episode, in der die Figur Odysseus in Erscheinung tritt. Man begegnet Odysseus hier am Tiefpunkt seiner Reise, all seine Gefährten sind tot, er selbst wird seit sieben Jahren von der Göttin auf deren Insel Ogygia als Geliebter festgehalten. In dieser Situation ist er machtlos. Die statische Situation muss durch göttliches Eingreifen überwunden werden: In der vorgeschalteten Götterratsszene befiehlt Zeus auf Athenes Fürbitte hin Calypso, Odysseus freizugeben, und lässt Merkur den Befehl überbringen.
Die Machtstruktur wird bei Homer im Zusammenspiel zweier Kategorien ausgehandelt: Göttlichkeit und Geschlecht. Göttlichkeit wird dabei verstanden als eine vorchristliche, nicht an Glauben und Frömmigkeit gebundene Nicht- bzw. Übermenschlichkeit, die weniger auf Heiligkeit zielt als vielmehr die Identität der Figur mitkonstituiert – und eben durch einen deutlichen Machtüberschuss gegenüber den menschlichen Figuren gekennzeichnet ist.Footnote 38
In dieser Matrix sind ‚männlich‘ und ‚göttlich‘ die ermächtigenden, ‚weiblich‘ und ‚menschlich‘ die marginalisierten Eigenschaften, wobei die Kategorie der Göttlichkeit deutlich höher zu gewichten ist als die Kategorie Geschlecht, wie sich aus den Götterratsszenen ablesen lässt. Es wird also eine klare Hierarchie etabliert. Am entscheidenden Schnittpunkt zwischen Odysseus und Calypso bedeutet dies: Obwohl Odysseus in der Kategorie Geschlecht gegenüber Calypso ermächtigt ist, hat sie durch ihre Überlegenheit in der Kategorie Göttlichkeit die Machtposition inne. Die signifikante Machtfülle Calypsos im Vergleich zur Machtlosigkeit Odysseus’ lässt sich nur mit der Kategorie Göttlichkeit erklären.
Der lateinische Übersetzer folgt Homer auch in der Calypso-Episode recht genau. Schaidenreisser nimmt in seiner deutschen Übersetzung jedoch viele kleinere, aber systematische Veränderungen vor.
Zunächst verschiebt er in der Götterratsszene die Kompetenzen. Bei Homer erinnert Zeus die bittende Athene an ihre eigene Macht und geht ihrem Wunsch nach: οὐ γὰρ δὴ τοῦτον μὲν ἐβούλευσας νόον αὐτή, / ὡς ἦ τοι κείνους Ὀδυσεὺς ἀποτίσεται ἐλϑών;Footnote 39 (Hom. V, 23‒24). Volaterranus lässt den Bezugspunkt des Beschlusses offen: „Non enim hanc et ipsa nosti mentem ac consilium, quemadmodum Vlysses illos probe plectet“Footnote 40 (Vol. 34). Der Beschluss, Odysseus zu unterstützen („mentem ac consilium“), geht nun nicht mehr von Athene aus, wird aber auch nicht explizit an Zeus gebunden. Stattdessen bleibt er als ungewisser Ausgangspunkt, am ehesten noch als gemeinsame Einigung mit einem Demonstrativum ohne Bezug („hanc“) stehen. Schaidenreissers Jupiter dagegen ist eindeutig: „du versteest mein gemuͤt vnd mainung nit / hastu nit als ain goͤttin vorlangst erkant / wie in meinem ewigen verstand vnnd rath ewigklich beschlossen ist / das Vlysses die Werber […] soll straffen“ (Sch. XX). Schaidenreisser tilgt die Ambiguität der lateinischen Übersetzung, indem er den Beschluss als Jupiters Willen verdeutlicht, nicht als Minervas, und fügt darüber hinaus einen Satz hinzu, der die Autorität Jupiters klarstellt. Der unumstößliche Geltungsanspruch des Beschlusses (‚ewig‘) wird dabei stark betont. Der Einfluss der homerischen Athene bzw. Minervas schwindet, der Entschluss Jupiters wird gleichsam als unverrückbare Vorherbestimmung ausgelegt.
Zeus bzw. Jupiter hat seit jeher eine Sonderrolle unter den Göttern, in der griechisch-römischen Philosophie steht er für die weltliche sowie – besonders im Griechischen – kosmische Ordnung und wird von den Stoikern mit dem göttlichen λογός, im Römischen mit dem fatum gleichgesetzt.Footnote 41 Die Tendenz, ihn in Anlehnung an das christliche Gottesverständnis noch weiter zum alleinigen göttlichen Willen zu stilisieren, ist auch kein Novum Schaidenreissers; schon im Mittelalter haben Bearbeiter antiker Stoffe so ihre Erzählungen an die christlichen Gewohnheiten angepasst. Man könnte Schaidenreissers Eingriff also zunächst eher als Angleichung an die monotheistische Rezeptionsgewohnheit deuten, nicht als Herabsetzen der weiblichen Gottheit – wenn diese Neuanordnung der Machtverhältnisse nicht im Weiteren mehrfach wiederholt würde.
Denn nicht viel später verfährt der deutsche Übersetzer ganz ähnlich. Calypso klagt über die ungerechte Behandlung der Göttinnen durch die Götter (in allen drei Texten) und erzählt dabei als Analogie unter anderem von Orion und Eos: Die Göttin habe den sterblichen Orion geraubt, was die Götter mit Eifersucht und der Ermordung Orions durch Artemis quittierten (Hom. V, 119‒124). Handelnde ist hier unmissverständlich die Göttin Eos, die sich den Sterblichen zum Geliebten nimmt. Orion selbst wird nicht perspektiviert. Volaterranus behält die Handlung der Göttin bei („Sic Orionem Aurora rosea sibi sumpsit“Footnote 42, Vol. 36). Schaidenreisser dagegen spricht nicht von Raub, sondern bezeichnet Orion abschwächend als den „liebhaber“ der Göttin, also als den aktiven Teil, und lässt ihn in einer Anmerkung ebenso aktiv – und nicht ganz stimmig – das Verhältnis zu Diana suchen. Eos wird zudem als „morgenroͤte“ enthumanisiert (Sch. XXv); der Raub ist also getilgt, der passive menschlich-männliche Geliebte wird zum aktiven Liebhaber stilisiert.
In beiden Textbeispielen werden die starken homerischen Göttinnen in ihrer Macht beschnitten. Gestärkt wird dieses Bild durch die vermenschlichende Darstellung Calypsos: In Schaidenreissers Übersetzung nimmt sie etwa nicht Nektar und Ambrosia zu sich, wie noch bei Volaterranus (Vol. 35v), sondern „speiß vnd getranck“ (Sch. XXv), bewohnt statt einer Grotte ein Haus und assistiert Odysseus bei dem Bau seines Floßes, wo sie ihn bei Homer lediglich anleitet.
Parallel zur hierarchischen Abwärtsbewegung Calypsos erfährt Odysseus bei Schaidenreisser eine starke Aufwertung. Diese beginnt in Athenes Lob, das Schaidenreisser ohne Vorlage hinzugefügt hat:
Ey wie gar ain guͤttiger vatter ist Vlysses seinen underthonen gewesen. Wie hat er sie so freundtlich / lieblich / gnaͤdigklich / arm vnnd reich / gleich regiert / vnnd wie seine leibliche kinder gehalten / wie vil hundert opffer seind vns goͤttern durch yhn geschlachtet. (Sch. XX).
Diese Eigenleistung Schaidenreissers steht symptomatisch für die generelle Aufwertung Odysseus’ zum exemplarischen Tugendhelden und Musterherrscher, die schon in der Vorrede angekündigt ist („ain exempel […] aines weldt weysen gescheyden / vil erfarens tapfferen mans“, Sch. iiiv) und sich durch die gesamte Übersetzung zieht. Dazu passend wird immer wieder, auch in der Calypso-Episode, Odysseus’ Sehnsucht nach seinem Vaterland hervorgehoben, was mit Schaidenreissers patriotischen Zielsetzungen zu erklären ist: Er will die deutsche Nation sprachlich bereichern und damit den Bildungssprachen gleichstellen.Footnote 43
Schaidenreissers Odysseus ist deutlich souveräner als das homerische Vorbild: Er widersteht der weiblichen Versuchung Calypsos viel konsequenter. Sein Vaterlandswunsch, der schon bei Homer als Gegenkraft zur weiblich-göttlichen Verführung fungiert, wird hier noch stärker. Besonders evident wird diese gewachsene Souveränität in der Umformulierung, mit der der deutsche Übersetzer die Beziehung Odysseus’ zu Calypso beschreibt. Bei Homer hieß es noch: „ἐπεὶ οὐκέτι ἥνδανε νύμφη“ (Hom. V, 153).Footnote 44 Schaidenreissers Odysseus kennt kein ‚nicht mehr‘ und durchlebt keinen solchen Wandel, sodass man davon ausgehen muss, dass sein Unwille von Beginn an beständig ist; außerdem wird hier neben seinem Vaterlandswunsch auch die Sehnsucht nach „weib und kinden“ (Sch. XXI) angeführt, was zu seiner Darstellung als treuer Familien- und Landesvater passt (s. o.) und seiner Beziehung zu Calypso weitere Distanz verleiht. Auch im Gespräch zwischen Odysseus und Calypso werden Bemerkungen, die die Überlegenheit der Göttin beschreiben, von Schaidenreisser getilgt oder abgeschwächt. Folgerichtig ist Schaidenreissers Odysseus am Ende ermächtigt, sich zum Abschied bei der Göttin wie bei einer Gastgeberin zu bedanken (vgl. Sch. XXIv). Homer und Volaterranus gestehen ihrem Odysseus keine solche Geste zu.
Indem Schaidenreisser die Autorität Calypsos abschwächt und Odysseus’ Souveränität erhöht, nähert er die beiden einander an, sodass schlussendlich von einer Gleichstellung des Menschen Odysseus mit der Göttin Calypso gesprochen werden kann. Auch diese zeigt sich am deutlichsten im Essen: Beiden wird „die speiß der goͤtter Ambrosiam“ (Sch. XXI) aufgetragen, während bei Homer und Volaterranus noch Calypsos Ambrosia von Odysseus’ ‚Speise der Menschen‘ unterschieden wurde.
Aus diesen Einzelpassagen lässt sich ein klares Bild der Umdeutungen konstruieren, die Schaidenreisser an der Episode vornimmt: In der Kategorie Geschlecht wertet er Männlichkeit auf und Weiblichkeit ab, Göttlichkeit verliert im Weiblichen ihre Bedeutung. Männlichkeit scheint nun gleichwertig mit weiblicher Göttlichkeit, sodass Odysseus Calypso gleichgestellt ist. Gleichzeitig wird die Vaterlandstreue zum Leitmotiv, dessen Gegenkraft die weibliche Versuchung ist – welcher der Heros bei Schaidenreisser bravourös widersteht.
3.2 Circe und die Wollust
Die zweite Episode, in der eine mächtige, göttliche Frau den Heros bedroht, ist die Begegnung mit Circe. Hier wird die Frau jedoch nicht durch Verschiebungen innerhalb der Handlung entmachtet, sondern in ihrer Figürlichkeit der Handlungsebene entrückt. Zunächst jedoch zur Ausgangssituation bei Homer:
Die Ereignisse um Circe sind, wie der Großteil der Irrfahrten, Odysseus in den Mund gelegt, der gegenüber den Phäaken seine Reise bis zur Ankunft auf Ogygia nacherzählt. Nachdem Odysseus und seine Gefährten auf ebendieser Reise vor monströsen Feinden fliehen mussten, kommen sie entmutigt auf Circes Insel Aiaia an. Die Gefährten begegnen Circe und lassen sich von ihr verführen. Durch eine mit magischen Kräutern versetzte Mahlzeit lässt sie die Männer ihre Heimat vergessen und durch einen Schlag mit der Gerte verwandelt sie sie in Schweine. Diese magische Dopplung kann einerseits mit den Kräutern Helenas parallelisiert werden, mit denen sie den Wein des Telemachos versetzt, um seine Trauer um den verschollenen Vater zu lindern (Hom. IV, 219‒232), andererseits mit der späteren Verwandlung des Odysseus durch Athene, die ebenfalls eine Rute (ῥάβδος, Hom. XIII, 429) verwendet: Circe vereint beide weiblichen Zauberhandlungen in sich und kehrt sie ins Negative.Footnote 45 Odysseus erhält jedoch gegen beide Gefahren Hilfe von Hermes. Dieser gibt ihm das Kraut Moly, das ihn gegen Circes Kräuter immun macht, und eine Anleitung, wie er Circe bezwingen kann:
ὁππότε κεν Κίρκη σ҆ ἐλάσῃ περιμήκεϊ ῥάβδῳ,
δὴ τότε σὺ ξίφος ὀξὺ ἐρυσσάμενος παρὰ μηροῦ
Κίρκῃ ἐπαΐξαι ὥς τε κτάμεναι μενεαίνων.
ἡ δέ σ҆ ὑποδείσασα κελήσεται εὐνηϑῆναι·(Hom. X, 293‒296).Footnote 46
Nachdem Odysseus die Anweisungen umgesetzt hat, erweist sich die so Unterworfene als tadellose Gastgeberin, verwandelt die Gefährten zurück und unterstützt Odysseus auf seinem weiteren Weg.
Der Konflikt liegt bei Homer in den invertierten Machtverhältnissen in der Kategorie Geschlecht: Circe bedient sich zur Verwandlung der Gefährten körperlicher Gewalt, die eigentlich den Männern vorbehalten ist. Die Männer hingegen erscheinen geschwächt und zögerlich auf Circes InselFootnote 47 – ein weiterer Verstoß gegen die archaische Geschlechterordnung. Dieser Vorzeichenwechsel führt für Odysseus’ Partei bis zum Verlust der Männlichkeit: Hermes warnt Odysseus zur Vorsicht beim Beischlaf, μή τί τοι αὐτῷ πῆμα κακὸν βουλευσέμεν ἄλλο, / μή σ’ ἀπογυμνωθέντα κακὸν καὶ ἀνήνορα θήῃ (Hom. X, 300‒301).Footnote 48 Das Adjektiv ἀνήνωρ (‚entmannt, unmännlich‘) weist dabei explizit auf die Männlichkeit und damit in die Kategorie Geschlecht.
Die Inversion wird in dem Moment korrigiert, als Odysseus zum Schwert greift, in dem also die Gewalt wieder auf männlicher Seite steht; der Konflikt wird durch männlich-göttliche Intervention und männliche Selbstermächtigung beendet. Folgerichtig kann auch die männliche Gemeinschaft als Ganze Gewinn aus der Wiederherstellung der Ordnung ziehen: Als die Gefährten zurückverwandelt werden, erscheinen sie jünger, schöner und größer als vorher (Hom. X, 394‒396).
Auch in dieser Episode folgt der lateinische Übersetzer Homer überwiegend sehr genau, wohingegen Schaidenreisser erneut anders vorgeht.
Die Figur der Circe wird konsequent mit magischen Attributen versehen: Aus ihrer Gerte („ῥάβδος“, Hom. X, 238) wird ein Zauberstab, der durch das Diminutiv seine Härte verliert („baculum“, Vol. 74; „staͤblin“, Sch. XLIIv), das Kraut, das sie ins Essen mischt, wird zu einem Zaubertrank.Footnote 49 So wird aus dem Zaubermittel eine Zauberei, die unmittelbarer als in den Vorlagen von Circe selbst ausgeht: Wo sich bei Homer übernatürliche Kräuter und zauberische Handlung in der komplexen Circe-Figur vereinenFootnote 50 – Volaterranus behält diese Ambiguität bei –, bleibt bei Schaidenreisser nur die zaubernde Frau. Circe wird von der kräuterkundigen Göttin zur Zauberin mit unnatürlichen Kräften. Schaidenreissers Circe schlägt zwar die Gefährten ebenfalls, damit sie sich verwandeln. Doch wirkt dieser Schlag mit dem „staͤblin“ nun eher wie eine zauberische Geste als wie eine gewaltsame Handlung. Gegenüber Odysseus erhebt sie im Gegensatz zu allen Vorlagen nicht einmal mehr die Hand.
Durch diese Änderungen wird die Figur der Circe simplifiziert, das Spannungsverhältnis zwischen göttlichem Verwandlungsakt und menschlichem Kräutermischen wird zugunsten des einheitlicheren Bildes einer Zauberin gelöst; das Identitätsmerkmal ‚göttlich‘ der Circe-Figur wird abgeschwächt. Eine noch deutlichere Verwandlung erfährt die Figur, wenn man die Randnotizen einbezieht, die Schaidenreisser in dieser Episode zahlreich anfügt. Marginalien verwendet der Übersetzer viel und häufig, meist in Form geographischer oder mythologischer Erläuterungen. Gerade in dieser Episode gehen seine Notizen jedoch über solche wissensvermittelnden Ergänzungen weit hinaus und greifen tief in die Ebene der Erzählung ein.Footnote 51 Denn er deutet die übernatürlichen Mächte der Episode konsequent allegorisch, und gerade Circe wird bereits bei der ersten Nennung ihres Namens, noch lange vor ihrem eigentlichen Auftreten, entsprechend allegorisiert: „Durch Circem will Homerus […] die wollust zůversteen geben / welche durch iren siessen tranck / das seind die leiblichen raitzungen / vihische vngeperdsam / vnd vnvernünfftige leüt macht.“ (Sch. XLII).
Mit der Allegorisierung Circes als Wollust folgt Schaidenreisser einer langen Tradition der Circe-Deutung, die schon in der griechischen Homerkritik ihren Ursprung hatFootnote 52 und zu seiner Zeit also durchaus üblich ist. Besonders im christlichen Kontext ist diese Auslegung ein willkommener Ausweg aus der problematischen Konstellation, dass eine mächtige Frau die Männlichkeit des Helden – zumal des so exempelhaften Odysseus – bedroht. Mit der Allegorisierung eröffnet Schaidenreisser einen Metadiskurs, der eine unproblematische Erklärung für die Handlung und für die ohnehin simplifizierte Circe-Figur bietet. Auch wenn man sicherlich nicht von einem bewussten Vorgehen des Übersetzers sprechen kann, zeigt diese in ihrer Konsequenz absolut singuläre Allegorisierung doch sein Widerstreben, von der mächtigen Frau zu erzählen. Und diesem gibt er nach, indem er Circe im wörtlichen Sinne marginalisiert: nämlich, indem er den Konflikt in die Marginalien verlagert. In diesem Metadiskurs nimmt er Circe – bewusst oder unbewusst – als Figur aus dem Spiel und schafft somit eine Leerstelle, die mit einem neuen Konflikt gefüllt werden muss.
Dieser entsteht nun, indem eine Dichotomie zwischen Odysseus und seinen Gefährten erzeugt wird. Die homerischen Akteure waren verbunden durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zum Geschlecht ‚männlich‘, und als einheitliche männliche Gemeinschaft teilten sie das Konflikterlebnis. Die Kategorie Stand spielte bei Homer kaum eine Rolle – und durfte es in der homosozialen Idealität auch nicht. Diese Homogenität wird bei Schaidenreisser aufgebrochen. Er legt großen Wert auf den Standesunterschied zwischen Odysseus und seinen Gefolgsleuten und betont die ständische Überlegenheit des Heros, indem er ihn etwa durch Circe besser bewirten lässt als seine Gefährten: Durften diese bei Homer und Volaterranus noch auf „κλισμούς τε θρόνους“ („Sesseln und Thronen“, Hom. X, 233) bzw. „lectulis et thoris“ (Vol. 74) sitzen – auch Odysseus erhält später einen θρόνος –, müssen ihnen bei Schaidenreisser „banck vnd […] stiel“ (Sch. XLIIv) genügen, während Odysseus fürstlich empfangen und bewirtet wird. Darüber hinaus wird Odysseus’ Verantwortung für die Untergebenen hervorgehoben und seine Rolle als Musterherrscher betont, wenn er von Circe vehement die Rückverwandlung seiner Gefährten einfordert, wo er sich bei Homer nur um seine Männlichkeit gesorgt hatte.Footnote 53 Die Reduktion der ursprünglichen 22 Gefährten auf die biblische Zahl von zwölf (vgl. Sch. XLIIv) weist ebenfalls auf eine Idealisierung des Odysseus hin.
Zu dieser Trennung Odysseus’ von seiner Gefährtenschaft fügt Schaidenreisser erneut eine deutende Marginalie hinzu: „Das gemain gesind wirt liederlich durch wollust verfuert“ (Sch. XLIIv), notiert er, als Circe die Gefährten verwandelt. Damit ist erneut die Allegorisierung Circes als Wollust aufgerufen, darüber hinaus erhalten aber nun auch die Gefährten wertende Kommentare: Sie seien aufgrund ihres Standes anfällig für die Verführung. Die Widerstandskraft gegen Circe erscheint hier also als eine Standesfrage, niederer Stand wird mit Willensschwäche verknüpft. Diese Willensschwäche spezifiziert Schaidenreisser in einer weiteren Marginalie, in der er das Molykraut, das Hermes bzw. Merkur Odysseus gibt, auslegt: „Mercurius […] ain gott der gelerten vnd weisen / gibt Vlyssi die wurtzel Moly / das ist die weißhait / durch welcher krafft der theüre held all anfechtung der schedlichen wollust über windet“ (Sch. XLIII). Das Kraut wird als Weisheit allegorisiert, und diese sei nötig, um die Wollust – Circe – zu überwinden. Auch eine spätere Randnotiz bestätigt: „den weisen mag kain wollust noch vnordenliche liebe nit bethoren“ (Sch. XLIIIv). Der Verführbarkeit, die zuvor dem niederen Stand zugeschrieben wurde, steht die Weisheit als Gegenpol gegenüber. Schaidenreisser verknüpft also die Kategorie Stand mit der Kategorie Weisheit: Der Edelmann ist hier, natürlich durch männlich-göttliche Ermächtigung, weise, der Gemeine verführbar. Diese Gleichsetzung wiederum zielt nicht ins Allgemeine, sondern auf die Widerstandskraft gegen die Wollust, und ist damit weiterhin an Männlichkeit gebunden; bei weiblichen Figuren, die schon in der Odyssee und noch stärker in Schaidenreissers Übersetzung unter dem Generalverdacht der Wollust und Unkeuschheit stehen, stellt sich diese Frage gar nicht erst.Footnote 54
Die archaische Männlichkeitsvorstellung, die Männlichkeit in erster Linie an Gewalt knüpft, wird bei Schaidenreisser also neu konfiguriert, indem sie mit Stand zum einen, mit Weisheit zum anderen verknüpft wird. Letztlich wird die komplexe Ausgangssituation, die Göttlichkeit und Menschlichkeit in der ambigen Circe-Figur in Spannung setzte und so das Machtverhältnis zwischen ihr und der männlich-menschlichen, aber körperlicher Stärke temporär beraubten Gemeinschaft in Frage stellte, zum Konflikt des Standes innerhalb der Männergruppe umgedeutet. Das weibliche Geschlecht fungiert hierbei nur mehr als Bedrohungskulisse. Und ganz folgerichtig sind Schaidenreissers Gefährten nach ihrer Rückverwandlung nicht schöner und jünger, sondern bleiben dieselben – denn nicht sie als Männer haben den Sieg davongetragen, sondern allein Odysseus als deren Anführer.
4 Fazit
Beide hier untersuchten Episoden porträtieren in der homerischen Version machtvolle Frauen, die eine Gegenmacht auf dem Weg des Heros darstellen, welche mit männlicher Selbstermächtigung und männlich-göttlicher Unterstützung, legitimiert durch die Endgültigkeit des Jupiter-Beschlusses, überwunden wird. Beide Frauen erfahren in der frühneuhochdeutschen Übersetzung systematische Umdeutungen: In der Calypso-Episode wird die Göttin in der ihre Macht bestimmenden Kategorie dem Menschlichen angenähert, was eine Abwertung bedeutet, Odysseus dagegen wird durch moralische Integrität aufgewertet. Die Circe-Episode wird weitgehend umgedeutet, sodass nun Stand und Weisheit die fokussierten Identitätsmerkmale sind, die eine soziale Trennung von Odysseus und seinen Gefährten herbeiführen; Circe wird in ihrer Komplexität reduziert, mit der Folge, dass insbesondere durch den Metadiskurs der Marginalien die Kategorie Göttlichkeit bedeutungslos wird und Circe als Inbegriff weiblicher Verführungskraft zur eindimensionalen Folie für den Standeskonflikt der Männergruppe gerät, was letztlich erneut zur Aufwertung des Odysseus führt.
In diesen komplexen kategorialen Verschiebungen büßen beide weiblich-göttlichen Figuren an Macht ein, entweder direkt durch den Erzähler oder durch eine Verlagerung des Konflikts mithilfe der paratextuellen Deutung. Die Eingriffe Schaidenreissers lassen sich aus dem veränderten soziokulturellen Umfeld der frühneuzeitlichen Rezeption erklären: Das Konzept autonomer und mächtiger Göttinnen, wie es der antike Götterapparat vorsieht, ist dem christlichen Weltbild der frühneuzeitlichen Rezipient*innen fremd. Die Göttinnen werden deshalb als menschliche Frauen gedacht. Damit wird die Machtdiskrepanz in der Kategorie Geschlecht für die Frühe Neuzeit jedoch umso augenfälliger – wird Göttlichkeit getilgt, bleibt die Weiblichkeit, und aus dieser allein ist die Machtposition der beiden weiblichen Figuren nicht zu erklären. Eine Anpassung ist also nötig. Die mächtigen Göttinnen Homers verlieren bei Schaidenreisser folglich ihre Autonomie; Macht und Weiblichkeit sind ohne die Kategorie Göttlichkeit nicht mehr miteinander vereinbar. Odysseus wird erhöht, die mächtige Frau entmachtet oder, wo dies narrativ nicht möglich ist, als Versuchung allegorisiert. Die Tugenden des neuen Heldentypus, Vaterlandstreue und Weisheit, sind die ‚Medizin‘ gegen diese Versuchungen.
Am Beispiel der Odyssee-Übersetzungen zeigt sich auch, welchen Einfluss die Zielsprache einer Übersetzung haben kann: Schaidenreisser, der seine Übersetzung auf Deutsch verfasst, will sie damit einem breiten Publikum zugänglich machen, wie er selbst in seiner Vorrede formuliert. Das macht für ihn eine Anpassung des Stoffes dringender notwendig als für Volaterranus, der die lateinische Übersetzung eher zu Studienzwecken gebildeter Humanisten angefertigt hat.
Zum Schluss lässt sich für die Anwendung der Intersektionalitätstheorie auf die frühneuzeitliche Antikenübersetzung ein positives Fazit ziehen. Natürlich muss dabei die Literarizität der untersuchten Kategorien hervorgehoben werden: Die hier gewonnenen Erkenntnisse sind zunächst einmal literarisch und haben vorerst nur hier Geltung. Inwiefern sich hieraus Aussagen über die frühneuzeitliche Gesellschaft ableiten lassen, bleibt zu diskutieren – und wird an weiteren Antikenübersetzungen zu überprüfen sein. Jedoch ist ersichtlich geworden, dass eine Umwertung von Machtkategorien innerhalb der Übersetzung stattfindet, und zwar auf stringente und systematische Weise. Die untersuchten Kategorien werden anders gewichtet und neu verbunden, sodass ein und dieselbe Erzählung – derselbe plot – abhängig vom kulturellen Kontext ihrer Rezipient*innen und Bearbeiter*innen unterschiedliche Lesarten erhält. Die intersektionale Analyse kann also, wie gezeigt wurde, die veränderten kulturellen, religiösen und epistemischen Voraussetzungen der Zielkultur in der Übersetzung sichtbar machen. Insofern zeigt sich in der Übersetzung immer auch ein anthropologischer Entwurf ihrer Zielkultur.
Notes
- 1.
Als Beispiele sind verschiedenste Übersetzungen aufzuführen, etwa die des 18. Jahrhunderts von Alexander Pope ins Englische oder Johann Heinrich Voß ins Deutsche, aber auch mediale Transformationen wie Comic-, Theater- oder Filmadaptionen. Die vermutlich bekannteste deutschsprachige Übertragung stammt von Gustav Schwab (19. Jahrhundert). Wo die Übersetzung endet und die Adaption beginnt, ist dabei freilich am Einzeltext festzustellen.
- 2.
Der hier zugrundeliegende Übersetzungsbegriff orientiert sich an der Skopostheorie, die von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer entwickelt wurde und Translation als interkulturelle Kommunikation auffasst: als „ein Informationsangebot in einer Sprache z der Kultur Z, das ein Informationsangebot in einer Sprache a der Kultur A funktionsgerecht (!) imitiert“. Translation ist demnach eine „komplexe Handlung, in der jemand unter neuen funktionalen und kulturellen und sprachlichen Bedingungen in einer neuen Situation über einen Text (Ausgangssachverhalt) berichtet“, wobei das Translat, also das Produkt der Translation, einen neuen Text darstellt, der den Kontext seiner Zielkultur und seines Zielpublikums abbildet. Sprache und Kultur sind in diesem Übersetzungsbegriff interdependent und untrennbar aufeinander bezogen, vgl. Vermeer (1986), S. 32‒35, Zitate S. 33; zur Skopostheorie und der Übersetzungstheorie als Handlungstheorie vgl. Stolze (2018), S. 183‒194.
- 3.
Toepfer in diesem Band (s. Kap. 10).
- 4.
Vgl. Wehle et al. (2004), S. 74‒79.
- 5.
Kraß (2014), S. 18.
- 6.
Vgl. Schul und Böth (2017), S. 14.
- 7.
Kritik am Begriff der Intersektionalität wurde unter anderem von Katharina Walgenbach angebracht: Demnach werde mit der Metapher der Straßenkreuzung das Zusammenwirken verschiedener Kategorien punktuell und monodirektional gedacht, sodass unklar sei, was vor und nach der Kreuzung geschehe. Walgenbach schlägt dagegen den viel diskutierten Begriff der interdependenten Kategorien vor, vgl. Walgenbach (2012), S. 61‒64. Hier soll jedoch mit dem etablierten Begriff der Intersektionalität gearbeitet werden.
- 8.
Crenshaw (1989), S. 149.
- 9.
Noch vor Crenshaws Intersektionalitätsansatz formulierten die schwarzen Feministinnen des ‚Combahee River Collective‘ 1977 in einem Manifest ihre spezifischen Differenzerfahrungen. Damit brachten sie den Diskurs um Mehrfachunterdrückung nachhaltig in die wissenschaftliche Debatte. Zahlreiche spätere Forscher*innen stehen in ihrer Nachfolge, vgl. Lutz (2001), S. 217‒218.
- 10.
Neben den klassischen Kategorien race, class und gender werden häufig vor allem Sexualität und Nationalität genannt, durch den Einfluss der Disability Studies ist auch Dis/Ability als Kategorie in den Fokus gerückt, vgl. Raab (2012). Winker und Degele plädieren dagegen für den Körper als vierte Grundkategorie, vgl. Winker und Degele (2009), S. 38‒42, 49‒51; Lutz und Wenning (2001), S. 20 identifizieren insgesamt 13 verschiedene Differenzkategorien, stellen aber klar, dass „simple universalistische Modelle und Vorstellungen […] nicht mehr ausreichen“ – sprechen sich also für ein offenes Modell aus (Lutz 2001), S. 228.
- 11.
Vgl. Winker und Degele (2009), S. 12‒15.
- 12.
Wichtige Beiträge kommen aus den Sammelbänden von Beattie und Fenton (2011), die die Überschneidung von Geschlecht mit weiteren Kategorien im Mittelalter untersuchen und insbesondere die Religion als historisch wichtige Kategorie hervorheben, sowie von Bähr und Kühnel (2018), die sich auf die Frühe Neuzeit fokussieren; dagegen sprechen sich Griesebner und Hehenberger (2013) gegen Intersektionalität als historisches Konzept aus und schlagen stattdessen ‚Relationalität‘ vor. Jedoch bezieht sich ihre Kritik in erster Linie auf die vermeintliche Ahistorizität der intersektionalen Kategorien, deren notwendige Historisierung jedoch von anderen Arbeiten bereits hervorgehoben wurde und eine der wenigen Übereinkünfte der Intersektionalitätsforschung ist.
- 13.
Für eine mediävistische Zwischenbilanz sowie viele weiterführende Einzelstudien vgl. den Sammelband von Bennewitz et al. (2019).
- 14.
Vgl. Schul et al. (2017).
- 15.
- 16.
- 17.
Klein und Schnicke (2014), S. 11.
- 18.
- 19.
- 20.
Schul und Böth (2017), S. 22.
- 21.
Crenshaw (2015).
- 22.
Zur Antiken- und Trojarezeption im Mittelalter vgl. grundlegend Lienert (2001), S. 103‒162.
- 23.
Worstbrock (1999), S. 130.
- 24.
Vgl. Toepfer (2005), S. 328‒347.
- 25.
- 26.
Vgl. Hermans (2008), S. 1423‒1424.
- 27.
Vgl. Müller (2017), S. 33‒34. Während für die wortgetreue Übersetzung die Translatzen Niklas’ von Wyle berühmt-berüchtigt sind, in denen er die lateinische Sprache bis zum Verlust der Verständlichkeit genauestens im Deutschen nachahmt, wird für die Gegenseite Heinrich Steinhöwel angeführt, der sich für eine zielsprachenorientierte Übersetzung ausspricht und auf den die vielzitierte Phrase nit wort usz wort, sunder sin usz sin zurückzuführen ist, vgl. Müller (2017), S. 39‒41; Toepfer (2009), S. 108‒110. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Übersetzens in der Frühen Neuzeit siehe auch Toepfer et al. (2017a) sowie Limbeck (1999).
- 28.
Luther (1530), a iiiiv. Abbreviaturen werden hier und im Folgenden stillschweigend aufgelöst.
- 29.
Eine zweite Auflage erscheint 1570 bei Sigmund Feyerabend. Darüber hinaus benutzten unter anderem Jörg Wickram und Hans Sachs Schaidenreissers Übersetzung, woraus sich eine nicht geringe Reichweite der Übersetzung bei Zeitgenossen erkennen lässt, vgl. Toepfer (2019), Sp. 464.
- 30.
- 31.
Hieraus mag sich auch die im Vergleich zur Ilias erst späte und auch in den griechisch-lateinischen Editionen deutlich geringere Rezeption der Odyssee erklären: Während die Ereignisse um den Trojanischen Krieg historiographisch betrachtet werden, weisen die märchenhaften Irrfahrten des Odysseus mit ihrem listreichen Protagonisten einen höheren Fiktionalitätsgrad auf. Entsprechend findet in der Volkssprache die Odyssee größeren Anklang, wohingegen zu Bildungszwecken weiterhin die Ilias bevorzugt wird, vgl. Toepfer (2005), S. 334‒336.
- 32.
Vgl. Toepfer (2009), S. 79‒82. Schaidenreisser selbst macht bereits im Titelblatt die Position seiner Vorlage deutlich: „Odyssea, Das seind die aller zierlichsten vnd lustigsten vier vnd zwaintzig b cher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri […].“
- 33.
Newald (1932), S. 50.
- 34.
- 35.
Toepfer (2009), S. 130.
- 36.
Sein Zielpublikum benennt Schaidenreisser mit der aus intersektionaler Perspektive durchaus interessanten Allgemeinheitsformel, nach der „ain yeder hohes vnd niders stands / was alters / geschlechts / vnd wesens der ist“ Nutzen aus der Lektüre ziehen könne (Sch. iiv).
- 37.
Die Darstellungen Circes schwanken zwischen Zauberin und Göttin. Genealogisch wird sie häufig, auch bei Homer (und seinen Übersetzern), als Tochter des Helios, mitunter aber auch in direkter Verwandtschaft zu Medea beschrieben, vgl. Paetz (1970), S. 11‒14. Eine göttliche Verehrung der Circe beteuert unter anderem Cicero (de natura deorum III, 48). Homer bezeichnet sie mehrfach als Göttin, was die Ambiguität der Figur jedoch nicht vollständig löst. Indes scheint jedoch auch intradiegetisch Ungewissheit über Circes Wesen zu herrschen: ἢ θεὸς ἠὲ γυνή (‚ein Gott oder eine Frau‘, Übers. J.H., Hom. X, 228), beschreiben sie Odysseus‘ Männer. Die scheinbare Exklusivität männlicher Göttlichkeit, die von der maskulinen Form θεὸς impliziert wird, ist hier beachtlich, wird von der modernen Übersetzung („Frau oder Göttin“, Übers. Hampe) allerdings nicht wiedergegeben. Sie mag der Figurenperspektive geschuldet sein, da der homerische Erzähler das Femininum θεὰ ansonsten nicht scheut.
- 38.
Freilich sind die Grenzen in den antiken Stoffen dabei durchlässiger als in moderner Theologie: Grenzüberschreitungen sind häufig und machen oft den narrativen Kern der Erzählungen aus, es gibt vielerlei Zwischenwesen und gerade Heroen können ihre Abstammung in der Regel auf Götter zurückführen und wechseln mitunter ins Göttliche. Trotz dieser tendenziellen Offenheit ist jedoch ein Hierarchiegefälle zwischen Göttlichem und Menschlichem deutlich zu erkennen. Nicht zuletzt dieses Hierarchiegefälle, das eben nicht auf christliche Heiligkeit verweist, sondern in den Götterfiguren in gewisser Weise gesetzt ist, zeichnet Göttlichkeit als Identitäts- und Machtkategorie der Odyssee aus.
- 39.
Übersetzung (hier und im Folgenden Hampe 1979): „Hast du es denn nicht selbst in deinem Herzen beschlossen, daß sich Odysseus räche an jenen bei seiner Heimkehr?“
- 40.
‚Kennst du denn nicht auch selbst diese Absicht und den Beschluss, wie Odysseus jene [Werber] passend bestrafen soll‘ (Übers. J.H.).
- 41.
- 42.
‚So nahm sich die rosige Aurora den Orion‘ (Übers. J.H.).
- 43.
In seiner Vorrede benennt der Übersetzer deutlich die Abicht seiner Arbeit. Denn es müssten nicht nur die Bibel, sondern auch „die geschrifften vnd erfindung der eltesten Theologen Philosophen Oratorn Poeten vnnd geschicht schreiber / auß dem Idioma darinn sy geredt haben / […] verdolmetscht werden“, damit „also der grosse vnder der sonnen Nation / nicht allain mit waffen / vnd triumphen / sonder auch mit weyßhait / vernunfft / hoffligkait / sytten / redbarkait / in summa mit aller wolkündigkait geziert ist“ (Sch. iiiiv‒v); vgl. auch Toepfer (2009), S. 112‒115.
- 44.
„[D]enn nicht mehr gefiel ihm die Nymphe“; kurioserweise sind die Bezüge bei Volaterranus vertauscht: „qui Nymphae nullo modo placebat“ (Vol. 35). Diese Formulierung scheint gegen die These von der Abwertung der Göttinnen zu sprechen, doch da Volaterranus‘ Variante sich in keiner Weise in der restlichen Übersetzung bestätigt und somit singulär bleibt, kann man hier eher von einem Übersetzungsfehler ausgehen, der in seiner Widersprüchlichkeit Schaidenreissers Auslassung ausgelöst haben mag. Maxillus spart die Bemerkung ebenfalls aus (Max. XII).
- 45.
Vgl. Heubeck (1992), S. 57.
- 46.
„Wenn aber dann die Kirke dich mit der Gerte, der langen, schlägt, dann ziehe das scharfe Schwert von der Hüfte und stürme drohend auf Kirke los, als ob du sie umbringen wolltest. Sie aber wird sich fürchten und wird zum Lager dich bitten.“
- 47.
Das Zögern der Irrfahrer wird plausibel erklärt durch die unmittelbar vorangehenden verlustreichen Begegnungen mit Polyphem und den Lästrygonen (Hom. X, 198‒201): Alle, Odysseus eingeschlossen, sind zunächst zutiefst niedergeschlagen bei dem Gedanken, erneut Kontakt mit einer fremden, potentiell böswilligen Macht aufzunehmen, und können sich nur weinend zum Handeln durchringen. Die Kausalität der zaghaften Verfassung der Männer, die auf Vergangenes zurückweist, tilgt jedoch nicht die Finalität, die sich hier im bereits zu Beginn der Episode vorweggenommenen Zusammentreffen mit der mächtigen Göttin ankündigt und auf den kommenden Konflikt vorausweist: Da Circe lange vor ihrem eigentlichen Auftreten direkt bei der Ankunft der Reisenden auf Aiaia vom Erzähler vorgestellt wird (Hom. X, 135‒139), ist sie den Rezipient*innen in der Darstellung der zögerlichen Männer von Beginn an präsent.
- 48.
„[D]ass sie kein anderes Übel dir ausdenkt und nicht, bist du entblößt, die Manneskraft nimmt und dich schwach macht.“
- 49.
Hom. X, 236: „φάρμακα λύγρ’“ („böse Kräuter”); Vol. 74: „perniciosa […] pharmaka”; dagegen Sch. XLIIv: „zauberey der goͤttin“, „nachtailig […] trunck“.
- 50.
Während der mit Kräutern versetzte Wein die Gefährten ihre Heimat vergessen lässt, wird die Verwandlung durch den Gertenschlag herbeigeführt. Ersteres kommt bereits auf ähnliche Weise in der Lotophagen-Episode zum Einsatz (Hom. IX, 94‒97); dass eine körperliche Verwandlung dagegen körperlicher Handlung bzw. Aggression bedarf, ist verbreitet.
- 51.
Dass die Randbemerkungen unbedingt in die Erzählung einzubeziehen sind, legen nicht nur ihre in dieser Episode überdurchschnittliche Häufigkeit und ihr Inhalt nahe, sondern auch das Layout: An vielen Stellen treten Kommentierungen ebendieser Art innerhalb des Textes auf, getrennt nur durch Klammern oder ein abweichendes Druckbild. Eine größere Nähe von Text und Auslegung ist kaum herstellbar. Manfred Kern (2012), S. 173 bezeichnet die Marginalien der Circe-Episode treffend als „kleine mythographische Meta-Erzählung zum mythologischen Bericht“.
- 52.
Bereits ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. finden sich allegorische Interpretationen. Circe wird fast immer als sexuell-erotische Versuchung Odysseus‘ geriert, oft als Hetäre dargestellt (Antisthenes oder Heraclitus Mythologus) und mit der stoischen Polarität von Tugend und Laster ausgedeutet (Fulgentius u. a.). Diese stoizistische Auslegung ist auch die Grundlage für die Allegorese christlicher Bearbeiter, vgl. Paetz (1970), S. 25‒28.
- 53.
Bei Schaidenreisser ist die Rückverwandlung der Gefährten zweimal Teil des von Circe geforderten Schwurs (vgl. Sch. XLII, XLIIv); bei Volaterranus fehlt die Rückverwandlung dagegen an der ersten Stelle (vgl. Vol. 75‒75v) noch, bei Homer ist sie an beiden Stellen von dem Schwur getrennt, der nur die Sicherung von Odysseus’ Männlichkeit beinhaltet (vgl. Hom. X, 299‒301; 343‒345).
- 54.
Die Bindung an Männlichkeit belegt in dieser Episode auch eine weitere Bemerkung des Übersetzers, laut der Merkur Odysseus mit dem Molykraut die „mannhait und tugent“ gegeben habe, den „raitzungen der wollust“ zu widerstehen (Sch. XLIIIv). Wie die Frauen zur Wollust stehen, macht Schaidenreisser unter anderem in einem sehr ausführlichen, in den Erzähltext eingelassenen Exkurs deutlich, in dem er die bekannte Geschlechtertausch-Episode des Teiresias wiedergibt (vgl. u. a. Ovid Met. III, 316‒339): Im Streit darüber, ob Männer oder Frauen die größere „lust und beger“ hätten, wenden sich Jupiter und Juno um Rat an Teiresias, der einmal in eine Frau verwandelt worden war und deshalb beide Seiten kennt. Teiresias beteuert, „die weiber entpfiengen groͤssern lust / vnnd weren im werck gailer / vnkeüscher dann die maͤnner“, woraufhin Juno ihm im Zorn das Augenlicht nimmt (Sch. XLVI). Schaidenreisser referiert die Episode ohne Vorlage und verweist dabei auf Ovid als Quelle. Da die Unterweltfahrt, in deren Kontext der Exkurs platziert ist, unmittelbar auf die Circe-Episode folgt (Buch XI), liegt ein Rückverweis nahe. Die Stelle ist jedoch symptomatisch für die misogyne Grundhaltung insbesondere in Schaidenreissers Odyssea, die Weiblichkeit im Allgemeinen der Wollust anklagt.
Bibliograpie
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Hagedorn, J. (2021). Der Heros und die starken Frauen. In: Toepfer, R., Burschel, P., Wesche, J. (eds) Übersetzen in der Frühen Neuzeit – Konzepte und Methoden / Concepts and Practices of Translation in the Early Modern Period. Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit, vol 1. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62562-0_12
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