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Im Jahr 1733 erschien in der Druckerei des Institutum Judaicum et Muhammendicum in Halle eine kommentierte jiddische Übersetzung des Römerbriefs.Footnote 1 Dies war nicht das erste Mal, dass Werke des Neuen Testaments ins Jiddische übersetzt wurden. Bereits im 16. Jahrhundert gab es derartige Bibelübersetzungen, begleitet von Stimmen, die zur Übermittlung der christlichen Botschaft in der Volkssprache der Juden aufforderten.Footnote 2 Allerdings erfuhren diese Vorschläge und Pläne zur Judenmission erstmals durch die Gründung des pietistischen Institutum Judaicum im Jahr 1728 eine systematische Umsetzung. Die kommentierte Römerbriefübersetzung war Teil dieses missionarischen Großunternehmens.

Das Institutum Judaicum, das im Kontext chiliastischer Erwartungen zu verorten ist,Footnote 3 markiert den Anfang der aktiven Judenmission im Protestantismus.Footnote 4 Es unterscheidet sich von anderen christlichen Missionsunternehmungen in mehrfacher Hinsicht. Im Gegensatz etwa zur Dänisch-Halleschen Missionsgesellschaft wurde es durch keine staatliche oder kirchliche Initiative gegründet und finanzierte sich fast ausschließlich durch private Spenden.Footnote 5 Es errichtete ferner auch keine Bildungsanstalten in den jüdischen Gemeinden, wie es unter Überseemissionen, etwa der Jesuiten, üblich war,Footnote 6 sondern konzentrierte seine Arbeit auf drei Felder: Die erste Aufgabe war die Publikation von Missionsschriften auf Jisddisch in der eigens dafür gegründeten Verlagsdruckerei. Neben einer Vielzahl an Übersetzungen biblischer und katechetischer Werke entstanden auch etliche Traktate, die speziell für die Mission verfasst wurden.Footnote 7 Die Entsendung von ‚reisenden Studiosi‘,Footnote 8 welche die Missionsschriften unter den Juden verteilten und religiöse Überzeugungsgespräche mit ihnen führten, umfasste den zweiten Arbeitsbereich des Instituts. Dabei reisten die Institutsmitarbeiter nicht nur zu den großen, städtischen jüdischen Gemeinden, sondern suchten Jud*innen auch in Kleinstädten und auf dem Land auf. Ihre Reisen erstreckten sich neben den deutschen Territorien auf weitere Länder in Europa sowie das Osmanische Reich. Schließlich war man drittens bemüht, Konversionskandidat*innen zur Taufe vorzubereiten und zu vermitteln, sowie Konvertit*innen zu betreuen.Footnote 9 Dabei wurde auf Konversionszwang und restriktive Maßnahmen verzichtet wie verpflichtenden Besuch von Missionspredigen oder öffentliche Disputationen, welche die früheren Methoden der Judenmission charakterisierten.Footnote 10 Der Institutsgründer und -leiter Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) pflegte Kontakt zu einem breiten Netzwerk an Unterstützer*innen und Sympathisant*innen, die die Arbeit des Instituts mit Geldspenden finanzierten und bei der Verteilung der Missionsschriften halfen.Footnote 11 Trotz dieses umfangreichen Unterfangens löste das Institutum in seinem 64-jährigen Bestehen keine Konversionswelle unter den europäischen Juden aus.

Dieser Aufsatz behandelt die 1733er Übersetzung des Römerbriefs durch Heinrich Christian Immanuel Frommann (gest. 1735), der eine wichtige Rolle in der halleschen Judenmission spielte. Neben Frommanns Einfluss auf das Verlagsprogramm der Institutsdruckerei werden seine Übersetzungstechniken, der Aufbau seines Kommentars und seine Argumentationsweise im Zentrum der Analyse stehen. Nach einem Versuch, den Charakter der Schrift und ihr Zielpublikum zu bestimmen, soll schließlich die Bedeutung der Schrift für die praktische Missionsarbeit des Institutum Judaicum bewertet werden.

1 Frommann und die Missionsschriften

Frommanns Übersetzung des Römerbriefs entstand im Rahmen der Bemühungen in Halle, das gesamte Neue Testament ins Jiddische zu übersetzen und damit „das arme jüdische Volk zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit“ anzuleiten.Footnote 12 Mit dem Wissen, dass die Mehrheit der im 18. Jahrhundert lebenden aschkenasischen Juden der hebräischen Liturgie- und Gelehrtensprache nicht wirklich mächtig war, wollte man die christliche Botschaft ins Jiddische übertragen, das auch den ungelehrten jüdischen Männern, Frauen und Kindern als ihre Muttersprache verständlich war.Footnote 13 Davon ausgehend entwickelte Callenberg sein Verlagsprogramm. Neben den Bibelübersetzungen (des Alten und Neuen Testaments) gab Callenberg Schriften heraus, die den Zweck hatten, „die Gemüther [der jüdischen (A.S.)] Nation [zu] präpariren, daß sie die […] Schriften, darinnen der HErr JEsus als der Meßias und hochgelobte Sohn GOttes ihnen angepriesen wird, […] aufnehmen möchten.“Footnote 14 So veröffentlichte er vor dem Erscheinen des Römerbriefs bereits mehrere Missionsschriften, wie die populären Werke Or le-et erev (Licht am Abend, 1728) und Mikhtav ahava (Liebesbrief, 1732) des Gothaer Pastors Johann Müller (1649–1727) sowie eine Übersetzung der Confessio Augustana.Footnote 15

Die ersten neutestamentarischen Übersetzungen des Institutum Judaicum ins Jiddische waren 1730 die Bergpredigt und der erste Johannesbrief, die ohne Kommentar und von einer deutschen Vorlage gefertigt wurden.Footnote 16 Sie sollten als eine „Probe der Heiligkeit der Lehre“ Jesu dienen und elementare theologische Konzepte des Christentums wie die „Gerechtigkeit des Glaubens“ und die „Heiligkeit des Lebens“ erklären.Footnote 17 Obwohl zuerst veröffentlicht, waren diese Schriften nicht die ersten in Auftrag gegebenen Übersetzungsarbeiten des Instituts. Sie sollten aber unter Juden so lange verteilt werden, bis Frommann seine Übersetzungen des Lukasevangeliums (1730) und der Apostelgeschichte (1732) fertiggestellt hatte.Footnote 18 Diese umfangreicheren Texte wurden im Gegensatz zu den ersteren Schriften aus dem griechischen Original ins Jiddische übertragen und mit einer Vorrede versehen.Footnote 19 Callenberg schrieb zum Lukasevangelium, dass die Juden damit „eine vollständige Nachricht von dem Leben und der Lehre unsers Heylandes bekämen“; die Apostelgeschichte sollte sie ferner unterrichten, „wie die christliche Religion zuerst sowohl im jüdischen Lande, als auch in andern heydnischen Ländern gegründet worden; wovon ihnen sonsten ihre Rabbinen sehr ärgerliche und anstößige Fabeln beygebracht haben.“Footnote 20 Insgesamt sollten die Bibelübersetzungen die christliche Lehre in ihrer Gesamtheit darstellen und jüdische Argumente gegen das Christentum widerlegen. Wie gezeigt werden wird, eignete sich der Römerbrief vor allem in seiner kommentierten Übersetzung besonders gut dafür.

Die meisten Übersetzungen neutestamentarischer Werke im Institutum Judaicum erstellte der Konvertit Heinrich Christian Immanuel Frommann (gest. 1735), ein Medizinstudent in Halle, der ca. 1722–1723 vom Judentum zum Christentum übergetreten war. Frommann war derjenige, der Callenberg 1728 den Anstoß zum Kauf von hebräischen Drucklettern und somit den Impuls zur Errichtung der Druckerei des Institutum Judaicum gab. Er wurde vermutlich in Breslau geboren und lernte vor seiner Konversion Talmud in einer Jeschiwa (jüdische Hochschule) in Dessau. Nach seinem Übertritt erhielt Frommann eine christliche Ausbildung im Gymnasium des pietistischen Pädagogen Gottfried Vockerodt (1655–1727) in Gotha. Dort hatte er auch Kontakte zu weiteren Pietisten, darunter v. a. zum bereits erwähnten Pastor und Beichtvater Callenbergs, Johann Müller. Durch diese Beziehungen gelangte Frommann ab 1726–1727 nach Halle, wo er im Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen Hebräisch unterrichtete und neben seiner Tätigkeit in der Callenbergschen Druckerei außerdem in Medizin promovierte. Er verstarb 1735 plötzlich nach kurzer Krankheit.Footnote 21

Aufgrund seiner Biographie und insbesondere der Bildung, die er genossen hatte, war Frommann ausgezeichnet für missionarische Übersetzungsarbeiten qualifiziert. Als ehemaliger Jeschiwa-Student und Konvertit beherrschte er nicht nur die Muttersprache der deutschen Juden, Jiddisch, sondern hatte auch umfassende Kenntnisse jüdischer Religion und Theologie.Footnote 22 Zudem erscheint sein Wissen über die christliche Lehre aufgrund seines Gymnasialstudiums sowie besonders seiner Zugehörigkeit zum pietistischen Umfeld in Gotha und Halle ebenfalls beträchtlich. Seine Verwurzelung in beiden religiösen Kulturen offenbaren seine Kommentare und Vorreden zu Übersetzungen wie dem hebräischen Lukasevangelium,Footnote 23 dem jiddischen Römerbrief und der jiddischen Apostelgeschichte, die nicht zuletzt seine Kenntnisse auch über die Geschichte und Kultur der christlichen Urgemeinden als dem ursprünglichen Entstehungskontext dieser Texte belegen. Durch seine Tätigkeit in Halle fungierte Frommann als Vermittler zwischen jüdischer und christlicher Religion.Footnote 24

Tatsächlich war Frommann nicht der einzige Konvertit, der Übersetzungen im Verlag des Institutum Judaicum anfertigte. Callenberg beauftragte zu verschiedenen Zeiten weitere konvertierte Juden mit Übersetzungs- oder Setzarbeiten in der Institutsdruckerei. Er bemühte sich bei manchen sogar um geregelte Arbeitsverträge und volle Unterhaltungszahlungen. Allerdings erwiesen sich diese in der Regel nur für kurze Zeit angestellten Personen als wenig zuverlässig.Footnote 25 So blieb Frommann, der Callenbergs Vertrauen und Wertschätzung genoss, derjenige Mitarbeiter des Instituts, der mit seinen Übersetzungen und Schriften das Verlagsprogramm in den ersten Jahren seines Bestehens – neben Müller – am stärksten prägte. In der Tat erschienen nach Frommanns Tod keine „institutseigene[n] Traktate“ mehr, sondern man begann, Schriften anderer Provenienz und „vorhandene Übersetzungen als Vorlage für die Institutsschriften“ zu verwenden.Footnote 26

Zu Frommanns Übersetzungen zählen neben dem Römerbrief die erwähnten jiddischen und hebräischen Lukas-Ausgaben und die Apostelgeschichte wie auch die jiddischen Übertragungen des Johannesevangeliums (1734), des Hebräerbriefs (1734), des 1. und 2. Korintherbriefs (1734 und 1735) und des Galaterbriefs (1735). Frommann lektorierte und überarbeitete außerdem die Mehrheit der Schriften des Institutum Judaicum, wie beispielsweise Or le-et erev, Confessio Augustana und einige Auszüge aus Caspar Calvörs Gloria Christi (1710). Schließlich war Frommann bis zu seinem Tod der hauptverantwortliche Setzer im Callenbergschen Verlag.Footnote 27

2 Der jiddische Römerbrief

Frommanns Übersetzungstechnik war nicht von Anfang an standardisiert. So übersetzte er das Lukasevangelium aus dem Griechischen zuerst ins Hebräische, bevor er eine jiddische Übertragung des Werks anfertigte. Dabei strebte er, wie Callenberg berichtet, keine Wort für Wort Übersetzung an, sondern achtete auf die „indolem linguae Hebr. […] sonsten [wir] eine denen Juden nicht nur unverständliche, sondern höchst eckelhafte Version würden überkommen haben.“ Die anschließende Übertragung aus dem Hebräischen ins Jiddische musste allerdings entsprechend zeitgenössischer jüdischer Übersetzungspraxis wortwörtlich erfolgen. So habe er nicht „vermeiden können, daß sich nicht in dem Jüdisch-teutschen Luca wunderliche Constructiones und auch einige abweichungen von den griechischen Worten befinden solten“.Footnote 28 Diese Arbeitsweise wurde von den reisenden Mitarbeitern des Institutum Judaicum kritisiert, die den pragmatischen Grund für die Abweichungen vom griechischen Original nicht kannten und sie schlichtweg als eine Verfälschung des heiligen Textes ansahen.Footnote 29 Bei seiner Übersetzung des Römerbriefs ins Jiddische verfuhr Frommann dann anders und bemühte sich um eine wortgetreue Wiedergabe des griechischen Textes.

Dass Frommann in seinen Übersetzungen neutestamentarischer Werke den griechischen Originaltext als Vorlage nutzte, ist nicht anzuzweifeln. So erfährt man aus Callenbergs Antwort auf die Kritik der Missionare, dass er Frommanns Übersetzung selbst überprüfte, indem er den griechischen Originaltext in der Hand hielt, während Frommann ihm seine Übersetzung vorlas.Footnote 30 Es besteht dennoch Grund zur Annahme, dass er vorhandene deutsche und jiddische Übersetzungen zu Rate zog, wie etwa die Lutherbibel (1522/1545) oder deren Übertragungen ins Jiddische durch Elias Schadeus (1592) und Christian Moller (1700).Footnote 31 Allerdings deuten die sehr zahlreichen Abweichungen zwischen Frommanns Text und diesen früheren Übertragungen auf eine weitgehend unabhängige Übersetzung des Römerbriefs.Footnote 32

Die kommentierte Übersetzung des Römerbriefs ist mit ihren 670 Seiten (bzw. 550 Seiten zzgl. der Einleitung) bei Weitem die längste Missionsschrift des Institutum Judaicum.Footnote 33 Der Kommentar war nicht überall gleichmäßig ausführlich. In den ersten elf Kapiteln kommentierte Frommann fast jeden einzelnen Vers, wobei er manchmal zwei Verse oder mehr gruppierte. Dabei waren seine Kommentare in den ersten drei Kapiteln am umfangreichsten. Mit 324 Seiten machen diese Kapitel knapp 60 % des Werkes aus. Den längsten Kommentar verfasste Frommann zu Röm 3, 25–26, seiner Ansicht nach die Wurzel und Essenz der Lehre des Neuen Testaments. Allein diesen zwei Versen widmete Frommann 98 Seiten.Footnote 34 Die Kommentierung der restlichen 13 Kapitel des Römerbriefs fällt weit weniger umfangreich aus. Hier sind die Kommentare selten länger als ein paar Seiten und werden zum Ende des Werkes immer kürzer. Die letzten vier Kapitel enthalten lediglich vereinzelte oder gar keine Kommentare.

Die Einleitung ist als Bestandteil des Kommentars anzusehen. Zwar schildert sie vordergründig den historischen Kontext der Entstehung des Römerbriefs, aber zugleich wird dort der Grundstein für Frommanns Argumentation im Verskommentar gelegt. Es ist sein Ziel, rabbinische Autorität zu diskreditieren und so das jüdische Wissen über historische Begebenheiten und theologische Fragen des Alten und Neuen Testaments in Frage zu stellen. Zu diesem Zweck vergleicht Frommann beispielsweise rabbinische Auslegungen, sog. Midraschim, mit christlichen Überlieferungen.Footnote 35 Die ca. 20 Seiten lange Diskussion jüdischer und nicht-jüdischer Quellen über die Datierung der Entstehungszeit Roms dient ihm dazu festzustellen, dass

jeder vernünftige Mensch sehen kann, dass die Worte von den jüdischen Weisen in dieser Sache gar keinen Grund haben […] Es könnten einige Hundert von solchen Fehlern aus den Middraschim angeführt werden, woraus jeder, der Verstand hat, sehen kann, dass die Rabbiner keine Engel und ihre Worte keine Thora sind.Footnote 36

Ganz in der Tradition christlicher Polemik wirft Frommann den Rabbinern nicht nur Fehlbarkeit vor, sondern auch Lügen. So sei das Bild falsch, das die jüdischen Quellen von Kaiser Titus zeichnen. Während die jüdische Überlieferung Titus als boshaften Herrscher verteufle, soll er tatsächlich ein friedenssuchender und barmherziger Kaiser gewesen sein, der durch die rebellierenden Juden regelrecht dazu getrieben worden sei, Jerusalem zu erobern und den Tempel zu zerstören.Footnote 37 Frommann gründete sein Titusbild allem Anschein nach auf die anonyme hebräische Nacherzählung und Erweiterung der Geschichte des jüdischen Kriegs des Josephus Flavius, das Buch Yosippon (Mitte 10. Jahrhundert)Footnote 38 und warf den Rabbinern Unredlichkeit vor. Zwar würde keiner von ihnen die Richtigkeit dieses Werkes anzweifeln, jedoch würden sie an den Schilderungen im Talmud festhalten, die im Widerspruch zu Flavius ständen.Footnote 39 Am Ende seiner Argumentation zog Frommann den Schluss, dass „kein Buchstabe [aus der Gemarah] wahr ist“.Footnote 40

Im Kontext dieser Auseinandersetzung um historische Wahrheit manifestiert sich zum ersten Mal Frommanns Bewusstsein zum Thema Übersetzung. So schreibt er, dass von allen jüdischen Gelehrten nur Isaak Abrabanel „die Dreistigkeit [gehabt habe], zu sagen, dass der Yosippon trügerisch gehandelt“ und mit seinen positiven Schilderungen des Kaisers nur Gefallen in den Augen der Römer gesucht habe.Footnote 41 Frommann wendet gegen diese Beschuldigung ein, dass sich Abrabanel auf eine lateinische Übersetzung des Yosippon berufen habe, „die sehr fehlerhaft gewesen sein“ muss und nicht auf das griechische Original, eine Sprache, die Abrabanel offensichtlich nicht beherrschte.Footnote 42 Interessanterweise führt Frommann diesen Punkt an, obwohl er Flavius Josephus ebenfalls nicht aus dem Original zitiert.

Frommann will nachweisen, dass die Lügen der Rabbiner nicht nur historische Fakten betrafen, sondern das gesamte Wissen der Juden über Christen und Christentum. So würden die meisten Juden denken, dass die Christen an einen anderen Gott glaubten als sie selbst oder dass sie gar ungläubig seien.Footnote 43 Um diese ‚Wissensdefizite‘ zu beseitigen, empfahl er die Lektüre des Neuen Testaments – und hier ganz konkret des Römerbriefs, in dem die christliche Lehre erklärt wird. So würden die Juden erkennen, dass im Christentum „nichts zu finden sein kann, dass da wider die Thora Mose und wider den Propheten wäre“.Footnote 44 Diese Argumentation sollte der jüdischen Leserschaft verdeutlichen, dass die göttliche Wahrheit nur aus der Heiligen Schrift zu gewinnen sei. Den rabbinischen Auslegungen hingegen könne kein Vertrauen geschenkt werden. Frommann folgte mit seinen Ausführungen also dem lutherischen Prinzip der ‚sola scriptura‘, welche die Autorität der Heiligen Schrift über jegliche Art menschlicher Interpretation stellt. Außerdem orientierte sich Fromman damit auch an den Vorschlägen zum theologischen Austausch mit Juden, die Martin Luther in seinem Traktat Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523) machte. Laut Luther würden viele Juden „rechte Christen werden“, wenn „man mit [ihnen] freuntlich handelt und [sie] aus der heyligen Schrifft […] seuberlich unterweyßet.“Footnote 45 Frommann ging aber einen Schritt weiter als Luther, indem er nachbiblische jüdische Quellen in seine Beweisführung im Kommentar integrierte.

Frommanns extensive Kommentierung schließt sich nahtlos an das theologische Unterfangen des Römerbriefs an, in dem Paulus die Verwurzelung des Christentums im Alten Testament beweisen und dennoch eine Abgrenzung zum rabbinischen Judentum markieren wollte. Dies veranlasste Frommann dazu, die christlichen Positionen möglichst ausführlich zu erläutern sowie jüdische theologische Auffassungen umfangreich zu widerlegen. Da sein Kommentar im Großen und Ganzen der Paulinischen Argumentation folgt und eine zu große Anzahl an verschiedenen theologischen Themen, Konzepten und Positionen behandelt, als in diesem Rahmen untersucht werden kann, konzentrieren sich folgende Ausführungen vorwiegend auf Frommanns Übersetzungspraxis.Footnote 46

Wie allgemein in der frühneuzeitlichen Bibelübersetzung, versuchte auch Frommann in seiner Übersetzungsarbeit, eine möglichst große Nähe zum Ursprungstext, d. h. zur göttlichen Offenbarung, zu erhalten.Footnote 47 Diese Originaltreue führte dazu, dass Frommann dem ansonsten schwer verständlichen biblischen Text häufig Ergänzungen, Erläuterungen und Worterklärungen bzw. Alternativübersetzungen in Klammern beifügen musste. Zum Teil wurden diese Zusätze auch dadurch notwendig, dass ein mehrere Seiten umfassender Kommentar den Textfluss unterbrach.

Diese Eingriffe in den übersetzten Text sollten der Leserschaft beim Verständnis des Inhalts helfen. Sie waren vor allem in Abschnitten notwendig, die Frommann nicht kommentierte. So erforderte seine Übersetzung von Röm 13, 12–13 etliche Ergänzungen im Text:

Die Nacht (oder die Finsternis des falschen Glaubens, worin wir vorher waren) ist vorüber gegangen, aber der Tag (das Licht des Messias) hat sich genähert; so lasst uns nun die Werke der Finsternis abtun und die Waffen des Lichts ankleiden. Lasst uns züchtig (mit Sittsamkeit) einhergehen wie am Tag, nicht mit Fressgelagen und Trunkenheit, nicht in den Kammern (von Prostituierten) und Unzucht, nicht in Zank und in Neid.Footnote 48

Alternative Übersetzungen finden sich zudem in Frommanns Kommentaren. Diese beginnen sehr häufig mit einer Erklärung zum Inhalt des Verses nach dem sensus literalis, die insofern als Übersetzung bezeichnet werden kann, als sie die biblische Botschaft in alternativer, vereinfachter Formulierung wiedergibt.Footnote 49 So erklärt Frommanns Kommentar Röm 6,13 auf folgende Weise:

Die Glieder zu Waffen der Ungerechtigkeit übergeben heißt, wenn man zugibt, dass der Satan und der böse Trieb die Glieder des Menschen als eine Waffe und Handwerkszeug für allerlei Boshaftigkeit, Missetaten und Verbrechen gebraucht. Solches sollten die Diener des Messias nicht tun, sondern [sie] sollten vielmehr ihren Körper mit allen Gliedern zur Heiligkeit ermahnen, damit Gott, gesegnet sei er, dadurch allerlei gute Sachen bewirken kann.Footnote 50

Meist enthalten diese Erklärungen eine dezidiert christliche Deutung, verbunden mit einer polemischen Sicht auf das Judentum. Röm 2,23 bietet ein anschauliches Beispiel hierfür. So wird der Vers, der nach der Lutherübersetzung „Du rühmst dich des Gesetzes und entehrst Gott durch Übertretung des Gesetzes“ (‚Das heißt, ihr Juden prahlt damit, dass ihr die Thora und Gebote habt, und entehrt Gottes Namen vielmehr, da ihr sie übertretet…‘).Footnote 51

Frommanns Ausführungen im Kommentar befassen sich aber nicht nur mit der christologischen Interpretation des Alten Testaments, sondern versuchen auch, die Wahrheit der christlichen Botschaft mithilfe jüdischer Quellen zu begründen. Dabei werden Stellen aus dem Talmud und der rabbinischen Kommentarliteratur, aus der jüdischen Mystik, der Kabbala, sowie der jüdischen Philosophie zitiert. Frommanns bevorzugte jüdische Quellen sind das kabbalistische Moralbuch Schnei luḥot ha-berit (‚Die Zwei Gesetzestafeln‘) des Jesaja ben Abraham Ha-Levi (1565–1630) und verschiedene Michna-Traktate.Footnote 52 Weitere jüdische Werke, die Frommann anführt, sind z. B. Isaak ben Josef von Corbeils Amudei ha-gola (‚Säule der Diaspora‘, 1277), Josef Albos Sefer Ikkarim (‚Buch der [Glaubens-]Prinzipien‘, 1485) und verschiedene Midraschim.

Frommanns Umgang mit jüdischen Quellen erscheint auf den ersten Blick eklektisch und dementsprechend wirkt die Auswahl der zitierten Werke etwas willkürlich. Allerdings ist seine Beweisführung systematisch und strukturiert. Sehr oft verbindet er seine Erklärung eines Verses des Römerbriefs mit Stellen aus dem Alten Testament und begründet die christologische Deutung dieser Verse mit Zitaten aus dem rabbinischen Schrifttum. Dabei löst er die alttestamentarischen und rabbinischen Textpassagen häufig von ihrem textuellen und argumentativen Zusammenhang. So verbindet er im Kommentar zu Röm 1,3 die Aussage, dass Gottes Sohn „von dem Samen David dem Körper nach“ geboren sei, mit Ps 2,7 („du bist mein Sohn, heut hab ich dich geboren“).Footnote 53 Dieser nur bruchstückhaft zitierte Vers handelt laut Frommann vom Messias.Footnote 54 Er versucht, diese Deutung zu untermauern, indem er auf Abraham Ibn Esra (ca. 1090–ca. 1165) verweist,Footnote 55 der in seiner Exegese dieses Psalms ebenfalls den Messias erkannte. Diese Erkenntnis bringt Frommann in Verbindung mit einer Aussage des mittelalterlichen jüdischen Bibelexegeten Maimonides (ca. 1135–1205) zu Ps 2,7, der ebenfalls über die Nähe des Messias zu Gott schrieb.Footnote 56 Auf diese Weise lässt Frommann die jüdischen Schriftgelehrten die christliche Interpretation über die Göttlichkeit des Messias implizit bestätigen. Interessant ist dabei, dass die rabbinische Autorität, die Frommann in der Einleitung zu diskreditieren versuchte, nun dazu gebraucht wird, um christliche theologische Positionen mit einem ‚Koscher-Stempel‘ zu versehen.

In dieser Methode der Kommentierung manifestieren sich neben der Inhaltswiedergabe der Verse nach dem sensus literalis zwei weitere Übersetzungsleistungen Frommanns. Zum einen gibt er die zitierten Stellen aus jüdischen Werken stets in der Originalsprache, Hebräisch oder Aramäisch, wieder, bevor er auch sie ins Jiddische übersetzt.Footnote 57 Er achtete dabei offensichtlich auf eine korrekte Wiedergabe und Übersetzung der Originalzitate, vermutlich um Vorwürfe der Verfälschung und Sinnverdrehung durch skeptische Leserinnen und Leser abzuwehren.Footnote 58 Zum anderen stellt seine Nutzung rabbinischer Literatur zur Begründung christlicher Lehre eine kulturelle Übersetzung dar, da sie das Christentum in jüdisches Denken überträgt, um es als Fortführung des Judentums darzustellen.

Dabei fungierte die jiddische Sprache, die sowohl große Nähe zur vormodernen (mittelhoch-)deutschen Sprache aufweist, als auch viele Begriffe aus dem Hebräischen enthält, als eine Brücke zur Übermittelung der Botschaft des Neuen Testaments an Juden. Frommann und andere Missionare aus Halle nutzten diese sprachliche Nähe zum Deutschen bewusst, um emisch-jüdische Begriffe christlich zu verkleiden. So setzt er (Teschuva=‚Buße/Umkehr zu Gott‘) mit der pietistischen Vorstellung von der Herzensbekehrung gleich und bringt die Umkehr tun [heißt] nicht nur Reue haben über vergangene Sünden […], sondern man muss ein ganz anderes Herz und ein ganz anderes Gemüt erlangen, welches nicht mehr so ist wie das vorherige‘).Footnote 59

Der Beweis der christlichen Wahrheit aus nachbiblischen jüdischen Quellen hatte eine lange Tradition im christlichen Hebraismus.Footnote 60 Allerdings war Frommanns systematische Vorgehensweise eine Ausnahme und er war einer der ersten Konvertiten, die diese Methode nutzten.Footnote 61 Dabei orientierte er sich offensichtlich an dem Vorbild der ersten Missionsschrift des Institutum Judaicum, Or le-et erev, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Während der Autor des Or le-et erev die Botschaft von der Messianität Jesu verschleierte, indem er die Schrift als ein Gespräch zweier Juden über jüdische Messiashoffnungen tarnte,Footnote 62 waren Frommanns missionarische Absichten hingegen explizit und unübersehbar. Frommanns Argumentationsweise scheint indes eher repräsentativ für den Missionsstil des Institutum Judaicum als das populäre Or le-et erev. Seine Beweisführung christlicher Glaubensgrundsätze verlässt in aller Regel nicht die Positionen der orthodox-lutherischen Kirche und weist vor allem nicht die chiliastischen Züge auf, die charakteristisch für Müllers Schrift sind.Footnote 63 Auch finden sich mystische Deutungen nur in seltenen Fällen und fehlen oft sogar dort, wo Frommann kabbalistische Werke und Konzepte anführt. So bewertet er kabbalistische Ansichten von der Reinkarnation der Seele als Unsinn und widerlegt mit rationalen Argumenten aus der Anatomie die traditionelle Deutung, wonach die 613 Gebote der Juden der Zahl der Glieder und Adern im menschlichen Körper entsprächen.Footnote 64 Insgesamt verzichtete die hallesche Missionsstrategie weitgehend auf mystische Überzeugungsarbeit und es lassen sich dementsprechend nur wenige Missionsschriften finden, die ein pietistisch-spirituelles Buß- und Bekehrungserlebnis evozieren sollten.Footnote 65

Es ist wenig überraschend, dass Frommanns Kommentar an zahlreichen Stellen polemisch und apologetisch erscheint; der Römerbrief selbst ist in weiten Teilen eine Polemik gegen die angeblichen jüdischen Irrtümer. Interessanter ist, wie Frommann die Übersetzungsthematik zu polemischen Zwecken nutzt. Neben den erwähnten Attacken gegen die Lügen, Verfälschungen und Verzerrungen der Rabbiner kritisiert Frommann sie auch dafür, dass sie derart schlechte Sprachkenntnisse besäßen, dass sie einfache Bibelverse nicht übersetzen könnten und somit deren Inhalt offensichtlich nicht verstünden. Diese Kritik ergänzt er spöttisch mit Jes 29,14: „dass die Weisheit seiner [des jüdischen Volkes (A.S.)] Weisen vergehe und der Verstand seiner Verständigen sich verbergen müsse.“Footnote 66 Korrektes Übersetzen als Argument diente Frommann nicht nur als eine Waffe gegen die Rabbiner, sondern auch zur Abwehr jüdischer antichristlicher Polemik. So rechtfertigt Frommann die paulinische Übersetzung von alttestamentarischen Versen mit einer ausführlichen Erklärung der Übersetzungsmethoden des Apostels. In seinem Kommentar zu Röm 3,4 nimmt er Paulus gegen jüdische Einwände in Schutz, die ihm eine falsche Übersetzung von Psalm 51,6 aufgrund fehlender Hebräischkenntnisse vorwarfen:

Da darf kein Jude denken, dass der Apostel eben ein solcher Ignorant in der Bibel gewesen ist, wie die Mehrheit ihrer Gelehrten zu sein pflegt, sondern man muss wissen, dass sich der Verfasser dabei nach der Kopie oder Übersetzung der 24 Bücher der Bibel gerichtet hat, welche die siebzig Gelehrten […] aus der heiligen Sprache in die griechische Sprache übersetzt haben.Footnote 67

Allerdings erforderte Paulus’ Nutzung der griechischen Übersetzung statt des hebräischen Originals ebenfalls eine Begründung. Frommann erklärt, dass das Griechische zur Zeit der Apostel unter mehr Menschen gesprochen worden sei als das Hebräische, besonders außerhalb des Heiligen Landes, wo das Zielpublikum des apostolischen Briefs lebte.Footnote 68 Zudem sah sich Frommann dazu genötigt, zu erklären, warum die Übersetzung der Septuaginta sich vom hebräischen Original unterschied:

Die Ursache aber [...], warum die Gelehrten dieses so übertragen haben, ist diese: Wenn man etwas aus einer Sprache in eine andere übersetzen will, so muss man wohl wissen, wie ein SachverhaltFootnote 69 aus der einen Sprache in der anderen Sprache heißt und da muss man sich auch nicht völlig nach den einzelnen Worten richten, sondern nach der gesamten Sprache, denn ansonsten kommt eine Kopie heraus, die kein Mensch verstehen kann.Footnote 70

Eine Übersetzung musste also in Frommanns Augen den Sinnzusammenhang in der Zielsprache beachten und durfte daher nicht nur eine Wort-für-Wort-Übertragung sein. Derartige wortwörtliche Übersetzungen taugen ihm zufolge kaum, um die biblische Botschaft unverfälscht zu übermitteln. Als ein Beispiel für solche, wenig brauchbare Übersetzungen bringt Frommann die jiddischen Thoraübersetzungen seiner Zeit. Darin sei alles ohne Rücksicht auf Sinn, Grammatik zugleich die heilige Sprache kennt, [diese Übersetzungen (A.S.)] verstehen [kann], obgleich alle Wörter deutsch sind‘).Footnote 71 Die Septuaginta sei daher derartigen Über- man übersetzen soll; darum haben sie darauf abgezielt, so zu übersetzen, dass ein Grieche, der kein Hebräisch kann, doch gleich die einfache Bedeutung des Verses verstehen könnte‘).Footnote 72

Diese Rechtfertigung der paulinischen Übersetzungsweise setzte Frommann an mehreren Stellen gezielt gegen die jüdische Polemik ein.Footnote 73 Sein Hauptwidersacher war dabei der Autor des polemischen Buches Ḥizzuk emunah (‚Stärkung im Glauben‘) des Isaak ben Abraham Troki (1533–1594). Er attackierte Troki mehrfach und warf ihm vor, dass er die griechische Sprache nicht beherrschte. Denn (‚hätte der Autor von Ḥizzuk emunah die griechische Sprache verstanden, in welcher alle Bücher des Neuen Testaments geschrieben sind, so hätte er gewiss nicht so oft Unsinn in seinen Behauptungen gegen den christlichen Glauben geschrieben, dass es, Gott bewahre, ein Schmach ist‘).Footnote 74

Während Frommanns Auseinandersetzung mit Troki an mehreren Stellen explizit fortgeführt wird – z. B. im Kommentar zu Röm 9,33 und 10,3–8, findet sich im gesamten Kommentar nur eine Erwähnung eines weiteren polemischen Werkes der Juden, Sefer ha-nitzaḥon (‚Buch des Sieges‘, 15. Jahrhundert) des Yom-Tob Lipmann Mülhausen (gest. ca. 1440).Footnote 75 Daneben reagiert Frommann mehrfach implizit auf jüdische Polemik ohne Nennung einer Quelle.

Insgesamt weist Frommanns Werk also vier Übersetzungsdimensionen auf, die sich gegenseitig ergänzen und miteinander verwoben sind. Diese sind 1) die Übertragung des Römerbriefs aus dem Griechischen ins Jiddische, 2) die Inhaltswiedergabe nach dem sensus literalis, 3) die Übersetzung hebräischer und aramäischer Passagen aus dem Alten Testament und der jüdischen Literatur im Kommentar und 4) eine kulturelle Übersetzung, welche die christliche Lehre jüdisch ausdrückte.Footnote 76 Dabei zeigt sich im Kontext der jüdisch-christlichen Polemik, dass Übersetzung nicht nur eine Technik der Übertragung von Wörtern oder Ideen zwischen sprachlichen bzw. kulturellen Systemen bedeutete, sondern auch als rhetorisches Argument fungieren konnte.

3 Im Dienst der Mission

Mit Frommanns Römerbriefausgabe war ein zentrales Werk des Christentums einer breiten jüdischen Leserschaft in ihrer Alltagssprache zugänglich. Aus protestantischer Sicht bedeutete dies einen wichtigen Schritt zur Verkündigung von Gottes Wort an die ‚verirrten‘ Juden, das sie schließlich zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit führen sollte.Footnote 77 Der große Wert des kommentierten Römerbriefs für die Judenmission lag nicht nur in einer enormen Vielfalt von Argumenten sowohl für den christlichen Glauben, als auch gegen das Judentum, sondern auch in der Verwendung zahlreicher rabbinischer und kabbalistischer Werke zur Begründung dieser Argumente. Da Frommann damit eine lange Tradition christlicher Schriftauslegung mit den Erkenntnissen des christlichen Hebraismus vereinte, stellte seine kommentierte jiddische Übersetzung des Römerbriefs letztlich ein Kompendium zur Judenmission dar.

Tatsächlich bot das Werk den reisenden Mitarbeitern des Institutum Judaicum umfangreichen Stoff für ihre Gespräche mit Juden. Oft nutzten sie die von ihnen verteilten Missionsschriften als Anlass und als Leitfaden für den interreligiösen Austausch. So berichtet der Missionar Johann Andreas Manitius (1707–1758) von einer Begegnung seines Gefährten Widmann in Schartzenborn bei Schwalmstadt mit einer jüdischen Frau und ihrem Kind, bei dem er ihnen die „Epistel an die Römer“ zeigte. Als die Frau nach dem Werk verlangte, gab Widmann „ihrs aber nicht sogleich, sondern lase ihr erst einen POSUK (‚Vers‘) daraus vor von der Gerechtigkeit des Glaubens von den MESCHIACH, die vor Gott gibt“.Footnote 78 Ferner erzählte Widmann von einem Juden in Celle, wo die Missionare etliche Werke verteilten, dass jener im Römerbrief las und „es nicht aus der Hand“ ließ. Darauf sprach ihn Widmann an und sagte: „Dieses Buch ist mit großem fleiß gemacht, ein Jud muß aber zuerst das dritte Capitel lesen; wie ihr Lust darzu habt, so soll es euch geschencket seyn […] leset aber im dritten Capitel sonderlich die 17. 18. 19.p und so mehr.“Footnote 79

Die argumentative Komplexität der Römerbriefübersetzung und ihr reichhaltiges biblisches, rabbinisches und kabbalistisches Quellenmaterial erschwert die Bestimmung des jüdischen Zielpublikums. Die Pietisten im halleschen Umfeld strebten nicht vordergründig die Taufe der Juden, sondern deren echte Herzensbekehrung an.Footnote 80 Dies lässt die Vermutung zu, dass eine gelehrte Leserschaft, welche die zum Teil hochkomplexen jüdischen Belegtexte überprüfen und sich selbständig mit Frommanns theologischer Argumentation auseinandersetzen konnte, den idealen Adressatenkreis der Schrift ausmachte. Die Verwendung der jiddischen Sprache und die ausführlichen, in einfacher Sprache geschriebenen Erklärungen der Bibelverse deuten hingegen darauf hin, dass das Buch gleichzeitig an ein eher ungebildetes jüdisches Publikum gerichtet war. Vermutlich wollte Frommann Jüdinnen und Juden aus allen Schichten, Bildungsgraden und Alters mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen und Ansprüchen erreichen. Zumindest kann nachgewiesen werden, dass der jiddische Römerbrief sowohl an jüdische Männer, Frauen und Kinder mit rudimentärer Bildung, als auch gezielt an Studenten und Gelehrte übergeben wurde.Footnote 81

Ein dritter, wahrscheinlicherer Adressatenkreis des Werks waren Konvertit*innen und Konversionskandidat*innen. Diese sollten sich idealiter längerfristig und tiefgründig mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen und sich von der Wahrheit des Christentums überzeugen lassen. Tatsächlich berichtet Callenberg, dass in Halle ansässige Proselyten von ihm sowohl Missionstraktate, als auch Unterweisung „[d]es Sontags Abends von 6 bis 7“ Uhr in Gemeinschaft mit „andern Personen von christlichem Geschlecht“ bekamen.Footnote 82 Aber auch auswärtige Konvertiten wurden, wenn sie sich in Halle aufhielten, „täglich eine Stunde lang von einem geschickten Studioso Theologiae in der christlichen Wahrheit weiter unterwiesen und zur wahren Bekehrung, daran es den meisten noch fehlet, […] ermahnt.“Footnote 83

Die Versorgung von Konversionskandidat*innen und Konvertit*innen wurde, wie erwähnt, in den ersten Jahren seines Bestehens als eine der zentralen Aufgaben des Institutum Judaicum formuliert. Man plante sogar, Konvertitengemeinden bzw. -kolonien zu gründen, in denen die Neubekehrten einige Elemente ihrer alten Religion wie das Barttragen, Befolgung der jüdischen Speisevorschriften, Beschneidung und die Nutzung der hebräischen Sprache beibehalten konnten. Auf diese Weise wären die Konvertit*innen nicht dazu genötigt worden, ihre jüdische Identität sofort vollkommen aufzugeben, was ihren Übergang von einer Religionsgemeinschaft in die andere erleichtern sollte.Footnote 84 Man kann mit gewisser Sicherheit annehmen, dass Institutstraktate, vor allem kommentierte Werke wie der Römerbrief, in diesen Gemeinden gelesen werden sollten, um die Neugläubigen in der christlichen Lehre zu unterrichten und mögliche bestehende Zweifel anhand der Argumente im Kommentar zu zerstreuen.

Allerdings kann nicht von einer herausragenden Rolle des Römerbriefs im Bereich der Konversionsförderung vor Ort in Halle ausgegangen werden. Dies hängt weniger mit dem Werk an sich, als vielmehr mit der Tatsache zusammen, dass die Betreuung von Konversionskandidat*innen und Neubekehrten in Halle ungeachtet aller Pläne „ein[en] untergeordnete[n] Zweig des Instituts“ darstellte. Bis 1734 waren es nur 22 Katechumenen, „die über das Institutum Judaicum zur Taufe vermittelt wurden“.Footnote 85 Zudem wurden die Erbauungsstunden in Halle innerhalb der ersten zwei Jahre nach ihrer Einführung bereits wieder eingestellt.Footnote 86 Schließlich wurde auch das Vorhaben der Errichtung einer Konvertitengemeinde aufgegeben, bevor es umgesetzt werden konnte.Footnote 87 Möglich bleibt lediglich, dass Exemplare des Römerbriefs auswärtigen Taufanwärter*innen und Konvertit*innen, die Kontakt zum Institut und zu Callenberg hatten, mit auf den Weg gegeben wurden.

Der Einsatz des Römerbriefs im Rahmen der Mission scheint auch aus finanziellen und logistischen Gründen nicht unproblematisch gewesen zu sein. So muss berücksichtigt werden, dass der Druck einer 670 Seiten langen Schrift vermutlich sehr kostspielig war. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die Auflage des Römerbriefs sicher nicht über 1000 Exemplare hinausging, wie dies bei vielen anderen, wesentlich kürzeren Institutstraktaten der Fall war.Footnote 88 Zudem ist nichts von einer Neuauflage des Werkes bekannt, die einen relativ großen Aufwand bei der Setzungsarbeit erfordert hätte. Tatsächlich kann die Verteilung des jiddischen Römerbriefs anhand der ausgewerteten Reisetagebücher der Studiosi nur für 1733 und 1734 belegt werden.Footnote 89

Obwohl Frommanns kommentierte Übersetzung des Römerbriefs offenbar nur für eine kurze Phase in der halleschen Missionstätigkeit zum Einsatz kam, blieb ihre Wirkung auf das Verlagsprogramm Callenbergs noch einige Jahre bestehen. Dies hängt mit dem steigenden Bedarf an neuen Missionstraktaten zusammen, der nach Frommanns Tod 1735 umso größer wurde, als die Übersetzungsarbeit des Instituts praktisch zum Erliegen kam. Als Reaktion auf diesen wachsenden Druck begann Callenberg 1736 Auszüge aus der kommentierten Übersetzung des Römerbriefs als eigenständige Missionsschriften zu drucken. Diese mit minimalen Veränderungen gedruckten Schriften umfassen verschiedene Themen aus dem Kommentar Frommanns. So befasst sich z. B. die Schrift Yehudi she-bal-ev (‚Ein Jude im Herzen‘) mit der Innerlichkeit des Glaubens und begründet mithilfe von Bibelzitaten und Schnei luḥot ha-berit die pietistische Auffassung über echte Glaubensfestigkeit.Footnote 90 In Schriften wie Mahut ha-avoda zara (‚Vom Götzendienst‘) widerlegte Frommann jüdische Polemik, die Christen als Götzendiener und Ungläubige diffamierte.Footnote 91 Andere Schriften kritisieren die Rabbiner und ihre Lügen. Hirzu gehört beispielsweise Dikdukei lo tineaf (‚Zum Verbot des Ehebruchs‘), in der die Heuchelei der Rabbiner angeprangert wird, die die strengste Auslegung dieses Gebots predigen, sich daran selbst aber nicht hielten.Footnote 92 In Zeḥut ha-milah (‚Vom Vorzug der Beschneidung‘) wendet sich Frommann gegen jüdische Auffassungen, wonach die Juden aufgrund ihrer Beschneidung gerecht vor Gott seien.Footnote 93 Neben Schriften, welche die jüdische Überlieferung historischer Ereignisse widerlegen,Footnote 94 dienten andere Traktate dazu, Positionen der christlichen Theologie anhand jüdischer Quellen zu beweisen.Footnote 95 Insgesamt lassen sich 12 Kurztraktate identifizieren, die aus der kommentierten Übersetzung des Römerbriefs entstanden sind.Footnote 96 Sein Einfluss überdauerte also die Zeit, in der er in der aktiven Missionsarbeit des Institutum Judaicum eingesetzt wurde, und prägte in den Jahren 1736–1737 das Profil der Druckerei stark. Mit ihren kreativen Übersetzungsdimensionen, vielfältigen Argumentationsweisen und Beweisführungen diente Frommanns umfangreichste Missionsschrift für einige Jahre als eine Art Reservoir für die pietistische Judenmission.