An dieser Stelle muss man zunächst Philologisch-Biografisches rekapitulieren: Franz Kafka hat drei Romane geschrieben. Deren erster rührte noch aus frühen Jünglingstagen, und vermutlich sogar vor der Jahrhundertwende, her. Wurde dann im Sommer/Herbst des Weltkriegsausbruchs 1914 abgeschlossen, nach intensiver Arbeit an diesem Text auch noch im Jahr 1913. Viele Wege, teilweise bereits beleuchtete, führten zu diesem Projekt: Jugenderlebnisse des Autors als Knabe und Jüngling; später dann Arthur Holitschers „Amerika-Reportage“ (die bereits Wolfgang Jahn als eine Art „Vorlage“ für Kafkas Text umfassend herausgearbeitet hat, ist ein weiterer).Footnote 1 Hinzu kam schließlich der Kino-Einfluss: Franz Kafka hatte sich wie geschildert für den „deutschen Freiheitskämpfer“ und Poeten Theodor Körner, Pulverdampf und weißes Pferd inklusive, begeistert, der Nachtschreiber ein bis zum Tränenfluss beeindruckbarer großstädtischer Kinogänger.Footnote 2 Das „Hotel Occidental“ im „Amerika“ des Verschollenen erweist sich bei näherem Hinsehen als eine weitere Spielform von Kafkas damaligem „altösterreichischen“ Arbeitgeber, dem „Staate“, in dessen noch Maria-Theresia-artiger Ausformung. Die Geschehnisse in diesem Hotel mit seinem programmatischen Namen (samt aller in ihm stattfindenden altösterreichisch-ungarischen Verbrüderungen und Rivalitäten) versteht nur, wer diese historische Phase der Habsburgischen Monarchie zu Rate zieht.Footnote 3 Solche spezifisch „altösterreichischen“ Interessen verbanden den Prager mit seinem anderen „Blutsbruder“ Franz Grillparzer, diesem – ebenfalls unverheirateten und nachtschreibenden Staatsbeamten und mithin Seelengefährten – noch des frühen, gerade verbeamteten Kafka. Grillparzer hatte u. a. über den Armen Spielmann geschrieben. Kafka hatte den Text gelesen und war an dessen Ende überzeugt: Das gesamte Habsburger Imperium erschien vor allem auf Musik gebaut, mithin auf einen wohltönenden, aber nicht allzu verlässlichen Stoff. „Papa“ Haydn gehört in diesen Zusammenhang, später Gustav Mahler, aber eben auch ganz direkt Franz Kafkas musizierender und komponierender Dioskur Max Brod, – vor allen aber der „göttliche Mozart“, wie nun dargestellt werden soll. Dabei hilft ein weiterer Blick in den Jugendroman: Kafkas Held „Karl Rossmann“ (der Vorname gleicht dem seines Autors, und den Nachnamen bekam der Protagonist von Kafkas Körner-Erlebnis im frühen Kino), gelangte, nach einer außerordentlich intensiven Identifizierung mit dem „deutschen“ Heizer auf dem Überseedampfer, endlich in New York an. Bereits auf dem Schiff hat er sich als ein, wie es heißt, „ehrlicher“ und „geschickter Deutscher“ bewährt. In Amerika angekommen, wird er die Verhältnisse mit seiner (Klavier)Musik verbessern wollen, ausgerechnet. Warum musste dieser „deutsche“ Held auswandern? Weil er ein Dienstmädchen verführt hat, ganz wie in Kafkas Prager Familie es einmal realiter geschehen war, lautet die bisherige Antwort. Ferner: Er hat wie gesagt im Kino den antifranzösischen Freiheitskämpfer und Poeten Theodor Körner glänzen gesehen, auch der ein Jurist von seiner Ausbildung her. Beides ist wichtig – und trifft dennoch womöglich nicht den harten, eigentlichen Kern der Angelegenheit. Der wiederum scheint uns einer zu sein, der noch viel mehr aufschließt, als lediglich den Roman-Erstling des Pragers. Denn der neue und hier einzig angemessene (seinerseits, wenn man so will, „unerhörte“) „neuhistorisch“-hermeneutische Ansatz steht vor uns als ein Amalgam aus Auswanderung, „Deutschsein“ und Musik-Verpflichtung, was alles zusammen im Jahr 1913 auch die zu Freunde werdenden Autoren Kafka und Weiss einander nähergebracht hatte. Denn es finden sich eine Reihe prägender Elemente im Bewusstsein des nun erst „wirklich“ zum „Staatsschreiber“ gewordenen Franz Kafka ebenso rekonstruierbar vor, wie umgekehrt auch in des heimgekehrten Weltreisenden Ernst Weiss’ Erinnerung. Ersterer errichtete im Verschollenen eine Art Collage aus „altösterreichischen“ „sozialen Energien“, wenn man so will, eine Parallele zur „Überwindung“ Newtons durch Einsteins Theorien, was beides zusammen in Kafkas Debutroman bewirkte, dass er am Ende auch einen Text über das Licht (und damit für den Goethe-Fan und Einstein-Zuhörer Kafka unvermeidbar auch über die Kontroverse zwischen Goethe und Newton, die Natur dieses Lichts betreffend) darstellte. Nicht nur dies. Abgesehen davon, dass das Mozart’sche Don-Juan-Thema durch die Zeiten hindurch eine lange Reihe von Schriftstellern angezogen hat, von Byrons Epos, das nach Goethes Urteil als sein „eigenster Gesang“ zu verstehen war, bis hin zum famosen Theaterstück des Max Frisch in neueren Tagen; – wo immer Mozart ertönte, wurde es hell sogar in der Verwaltungsfinsternis Altösterreichs. Mehr vermochte Kafkas Literatur der Begegnung ihres Autors mit dem mythisch-„kakanischen“ Musik-Genie doch eigentlich gar nicht zu verdanken. Hinzu kam das besondere Ambiente: Eine Metropole an der Moldau mit jahrhundertealten alchimistisch-astrologischen Traditionen. Um Mozarts Emanation gerade in Prag zu verfallen, musste man weder „musikalisch“ sein, noch der Lebensfreund des Musikkundigen kat exochen Max Brod. Man musste nur den „sozialen Energien“ der Moldau-Stadt lange genug ausgesetzt sein, wie es sich dann sogar im Fall Albert Einsteins bewähren würde. Darum steckt in „Karl Rossmann“ neben Theodor Körner, – vor allem Wolfgang Amadeus Mozart. Also der „geschickte Deutsche“ Karl alias Mozart, den die „Welschen“ anfeinden und der dann immer mehr absteigt, in Kafkas Roman ebenso, wie zuvor in seinem Wiener Leben. (Daß diese kräftige und ins Auge fallende Unterströmung in Kafkas Jugendroman vor allem in der deutschen Kafka-Forschung so gut wie gar nicht vorkommt, hat nichts mit dem Text, sondern eher mit zeitgenössischer „political correctness“ zu schaffen?) Jedenfalls: Der im Verschollenen dargestellte Umschwung in Karls Schicksal ereignet sich dramatisch. Er setzte in der Wiener Realität nach dem erotisch-gesellschaftlichen Skandal des Figaro ein, dem bei Kafka die Nahezu-Verführung der Jiu-Jitsu-Kämpferin Klara entspricht. Sie geschieht ja auch durch Klaviermusik, Mozarts Instrument phantasierender Verführung; Klara „gehört“ bereits dem Oberklassenangehörigen Mack, der, ein „Reiter“ und gesellschaftlich Mächtiger, keinen „Figaro“ neben sich dulden wird. Folglich „ist“ Karl aus diesem Blickwinkel betrachtet niemand anderes als Mozart. Jener Mozart also, den die in Wien herrschenden Gesellschaftskreise nach dessen Versuch der erotischen Dienstboten-Emanzipation qua Figaro-Oper systematisch in den Ruin getrieben hatten. Wie zuvor der Komponist, muss nun auch der Karl des Verschollenen abrupt sozial absteigen.

So gesehen erweist sich Mozart in umfassenderer Weise als „stilbildend“ für Kafka. Wie einst Shakespeare seinem Hamlet und dem Othello eine tendenziell unendliche Rezeption und „ewiges Interesse“ zu sichern vermocht hat, indem er ein Schlüsselelement zur Erklärung der Figuren herausnahm (dies Stephen Greenblatts Erkenntnis in Will in The World)Footnote 4, so vermochte Kafka insbesondere das Paradoxe an Mozarts großen Opern wie Cosí oder vor allem Don Giovanni zur Kenntnis zu nehmen. Denn ob es „Liebe“ ist, was die zwei Pärchen praktizieren, oder ob Don Giovanni als der atheistisch-erotomanische, stolze und heroische Rebell gegen einen „lustfeindlichen Gott“ zu gelten hat (wobei der Katholizismus, in dem Mozart lebte, alles andere als „lustfeindlich“ war). Oder ob dieser Held nicht eher als ein pharisäerhaft von der Spießer-Meute Verurteilter, und dann auch noch reuiger Sünder zu verstehen war – das blieb offen. Und machte den Giovanni dank seines doppelten Schlusses zur womöglich bedeutendsten Oper der gesamten Musikgeschichte (wie immer das Stück auch ein wenig die Zurücknahme von Figaros Hochzeit gewesen sein mochte; Komponist wie Librettist hatten schmerzhaft lernen müssen, wo die rote Linie im sexuellen Kampf um die Damen verlief, nämlich dort, wo die frauenverfügende Macht des Adels eingeschränkt zu werden drohte). Dennoch: Mozarts genannte Opern hatten ihre „strategic opacity“ (noch einmal Stephen Greenblatt) mit Shakespeares reifen Tragödien gemeinsam. Im Othello ist es der Intrigant Jago, diese bestechende Inkorporation des Bösen, über die Rüdiger Safranski in seinem Buch Das Böse. Oder Das Drama der Freiheit nachgedacht hat,Footnote 5 dessen Motivation konsequent uneindeutig verbleibt. Womit das Stück sogar abschließt, gegen „alle Regeln der Kunst“: „Demand me nothing. What you know, you know/ From this time forth I never will speak word.“ Dieses „letzte Wort“ als ein lakonisch-opaker Schluss macht die beachtliche Faszination aus, die aus dem Schauspiel dann auch die Guiseppe Verdi’sche Oper hat entstehen lassen. Shakespeare sowie Mozart waren Praktiker. Wolfgang Hildesheimer hat diesen Punkt in seinem bemerkenswerten MozartFootnote 6 herausgearbeitet, wie später dann auch Stephen Greenblatt es mit Blick auf die Dramen Shakespeares getan hat. Der Komponist spielte vor allem das frühe Klavier ganz hervorragend. Shakespeare arbeitete selbst als „actor“. Alle Romane Kafkas (allerdings mit der charakteristischen Einschränkung des Verschollenen, ist dieser, als einziger Romanheld Kafkas, doch von seinem Autor als noch „Unschuldiger“, als ein Nicht-Jude nämlich, gedacht), weisen „strategic opacity“ auf. Letztere entstand zudem „wirklich“ erst in Kafkas zwei späteren (und eben darin „reifen“) Romanen: Dass nämlich die nunmehr „Schuldigen“ zu Helden wurden und damit die „Aporie der Assimilation“ höchstselbst jene elektromagnetisch wirksame, dabei auch gesellschaftliche „strategic opacity“ zu bewirkten vermag, mit der Franz Kafka als der erste Moderne der europäischen Romanliteratur bis heute zu exzellieren vermag. Ferner: Shakespeare war der Psychologie noch durchaus verhaftet gewesen. Hatte er doch im Hamlet den „Ödipuskomplex“ zum movens des Geschehens gemacht, was Sigmund Freud mit einem epochemachenden Aufsatz honorierte. Franz Kafka seinerseits wurde von seinen Deutern immer schon des „Ödipus-Komplexes“ verdächtigt; durchaus mit Recht. Doch des Pragers reife Romane haben die Psychologie, jene große Domäne des „realistischen Romans“ aus dem 19. Jahrhundert, weitgehend verabschiedet, so wie etwa gleichzeitig Einsteins Physik den Äther als seinerseits das „Schmiermittel“ noch innerhalb der Newtonschen Himmelswelt. Kafkas Texte haben die Psychologie ersetzt durch die erregend vibrierenden „sozialen Energien“ der (zu seiner Zeit bereits erkennbar scheiternden) „Emancipation der Jüden“ in einem Kontinent Europa, der damals noch die Welt bedeutete. Bei dem Prager ist „Gesellschaft“ zu einem elektromagnetischen Feld geworden, und die Demonstration solcher unsichtbar wirkender Kräfte vermochte schliesslich zum selbst „Kafkaesken“ zu avancieren. Weshalb auch der Prager Romanschreiber Kafka, der von Mozarts Don Giovanni die Doppeldeutigkeit lernen und von dessen „kakanischem Genie“ insgesamt fasziniert sein konnte, vom Wiener Franz Werfel als selbst ein „Neutöner“, aber einer des Prosaschreibens, aufgefasst zu werden vermochte, wie bereits ausgeführt.

Daneben gab es noch die Prager Diskussionen um das neue Weltbild der sich durchsetzenden Atomphysik, die, wie noch detailliert darzustellen sein wird, uns Kafkas „changierende“ Beamten-Darstellungen als auch eine literarische Analogie zur Heisenbergschen „Unschärferelation“ verstehen lassen. Auch dies eine physikalische Entdeckung, die zeitlich zwar nach der Durchsetzung von Einsteins neuem Weltbild gemacht wurde, und die von diesem sogar wenig goutiert wurde, aber die Kafka ihrerseits dennoch erreichte? Mozart dagegen hatte unbezweifelbar eine Art altösterreichischen Coach auf dem Gebiet des Paradoxalen in einer immer mehr auf Paradoxalität abgestellten Kunst der Wiener Moderne abgegeben. Dieses Rhizom besass seine Gründe, die mit der doppelten Lesbarkeit wiederum des Don Giovanni in Zusammenhang standen, dieser weltweit vielleicht einflussreichsten Oper der Musikgeschichte überhaupt. So hatte etwa Gustav Mahler, als Operndirektor in Budapest und dann in Wien, stets die doppelte Lesbarkeit des Don Giovanni herausgearbeitet.Footnote 7 Der Prager Kafka wiederum hatte just im Jahr der Weiss’schen Rückkehr aus Asien, also im Herbst 1913, in der abschließenden Arbeit an seinem Jugendroman begriffen, und immer schon von einer fixen Mozart-Identifikation bestimmt, in der damals jüngsten, gerade erschienenen, viel besprochenen Mozart-Biographie von Arthur Schurig Neues über seinen Helden nachlesen können.Footnote 8 Schurigs Werk war damals beim Insel Verlag in Leipzig erschienen, einem renommierten Druckort. Was für ein Produktionsanstoß, neben das Kino gestellt, und neben die ständig in den Zeitungen stehenden, ganz groß aufgemachten Nachrichten über Gustav Mahlers letzte Skandale, erst in Budapest, nun auch in Wien; stets berichteten Prager Tagblatt wie auch Bohemia darüber, man nahm es bei den Kafkas zur Frühstückszeit zur Kenntnis. Spätere Auflagen dieses Werks enthielten die folgenden Sätze (die bereits zuvor in den Brief-Ausgaben von Mozarts reger Korrespondenz, beispielsweise aus dem Jahr 1865, in Salzburg, und dann im Jahr 1910 bei Curtius in Berlin) gestanden hatten: „Keinem Monarchen in der Welt diene ich lieber als dem Kaiser; aber erbetteln will ich keinen Dienst. Will mich Deutschland, mein geliebtes Vaterland auf das ich stolz bin, nicht aufnehmen, so muß … Frankreich oder England wieder um einen geschickten Deutschen reicher werden – und das zur Schande der Deutschen Nation! Sie wissen wohl, daß in allen Künsten immer die Deutschen diejenigen waren, die exzellierten … In drei Monaten hoffe ich so ganz passabel die englischen Bücher lesen und verstehen zu können.“Footnote 9 Mozart also ein „geschickter Deutscher“ ganz wie dann wieder wortwörtlich Kafkas Karl! All das erweckte damals die Kafka’sche Mozart-Identifikation als Kern der „Werk-Phantasie“ (Peter von Matt) beim Zu-Ende-Schreiben des Verschollenen zu neuem Leben. Dieser cluster markierte die Verschmelzung von „Deutschsein“, Musik und Künstlertum, von Körner und Mozart, – und bedingte das weitere Ergehen Karls bis hin zum Unterworfensein unter die schwüle Sängerin Brunelda samt ihres Franzosen Delamarche, und schliesslich die darauffolgende wundersame Rettung durch das „Naturteater“. Karls Schicksal wird nun vollends in das des „altösterreichischen“ Kulturhelden per excellence hinübergespielt, dessen „deutsche Oper“ 1783 in Wien zugunsten der italienischen aufgelöst worden war. „Salieri war und blieb des Kaisers Lieblingskomponist, und die Wiener jubelten immer wieder der italienischen Musik zu.“Footnote 10 So stand es 1913 in Schurigs neuer Mozartbiographie zu lesen. Und ferner auch, dass der enge Mozart-Bekannte Lorenzo Daponte, ein Venezianer jüdischer Herkunft, 1805 nach Amerika ausgewandert war. Wo er hochbetagt 1838 verstarb, nach einem offenbar geglückten Leben. Verblüffende Parallelen eröffnen sich: Kafkas Karl stürmt als „deutscher Jüngling“ am Anfang in Amerika gesellschaftlich so nach oben, wie Mozart in Wien als Begründer einer „deutschen Oper“ es in Wien getan hatte. Sein Rivale war stets, wie bekannt, der italienische Komponist Salieri gewesen. Manche haben diesen sogar des Giftmords an dem Musikgenie verdächtigt. Bevor dann in Kafkas Roman der schwüle Franzose Delamarche zu Karls Salieri werden kann, führt Kafkas Held im klavierspielend betriebenen Verführungsversuch gegenüber Klara seinen Figaro auf: Er spielt Klara auf dem Klavier (Mozarts notorisch verführerischen, freie Klavierphantasien!) erotisch schwindlig, revanchiert sich derart für der jungen Dame amerikanischen Jiu-Jitsu-Sieg. Eine Peripetie hat sich ereignet, ein fürchterlicher Absturz beginnt. Es ist vorbei mit Mozart/Karls oder auch Karl/Mozarts Fortune. Im Falle Mozarts war dies sogar ein Zusammenstoß mit dem Kaiser selbst gewesen, nota bene, und ein spektakulärer Abstieg in jedem Fall. Der oberste Machthaber, der Österreichische Kaiser, respektive der Kafka’sche „Onkel“ in New York, verstößt einen Rebellen. Alle erotische Insubordination hat schlimme Folgen, im alten „Kakanien“ ebenso wie im „neuesten Amerika“. Denn nicht nur das „Mütterchen Prag“, sondern auch das „Mütterchen Wien“ besaß seine „Krallen“, wie Kafka sehr wohl wußte. So, und nur so kommt es danach zu Karls Unterwerfung unter die fette, durch ihre Bauchatmung notgeile, widerwärtige Sängerin Brunelda. Die Dame scheint, und nicht nur auf den ersten Blick, mit der Logik der „Amerika“-Reportage von Arthur Holitscher nichts zu schaffen zu haben. Sie kann in ihrer Umfänglichkeit ja auch nur begriffen werden mit Blick auf die zugrunde liegende Matrix: Nämlich die alles bestimmende, heroisch-herostratische Mozart-Phantasie des noch jungen Romanautors Franz Kafka.

Die bestimmt nun durchgehend, bis hinein in die Schlussutopie, den Fortgang des Verschollenen. Der nunmehr, gesehen im Spiegelbild der Mozart-Mythe, zu einem „Wiedergefundenen“ mutierte? Denn bislang schien unbegreiflich, dass Kafkas Erstling neben die taylorisierte Amerika-Welt, die sehr viel mit der „Vorlage“ Holitschers zu tun hatte, nun auch noch die schwülstige Brunelda-Welt gesetzt hatte, die ganz eindeutig der der „altösterreichischen“ Bordelle in Wien und Prag (und womöglich einem Gartenhäuschen bei Wien zur Produktionszeit der Zauberflöte?) glich. Unter Bruneldas Sexualfuchtel kommt eine Karriere an ihr Ende, die einmal „deutsch“ verheißungsvoll begann; und nun im Sumpf „wälscher Liederlichkeit“ (vor allem Bruneldas liederliches Verhältnis zu Delamarche!) enden muss. Die Sängerin bringt Karl immer stärker in Bedrängnis, bis dann die Schlußutopie den „Deutschen“ final (aber auch nur scheinbar) erlöst – in die Mobilmachung des Ersten Weltkriegs hinein. Eine Schlussvolte, die an den Thomas Mann’schen Zauberberg gemahnt, oder auch umgekehrt. Dem entsprach in der „kakanischen“ Wirklichkeit der Mozart’schen Karriere deren letzte Station als Komponist der Zauberflöte. Zieht man diesen Vergleich, so herrscht eine „Exaktheit“, die dem verzweifelten Aufruf aus inzwischen auch nicht mehr jüngster Zeit: „Genug dekonstruiert“Footnote 11, seine Verwirklichung als „Rekonstruktion“ nun wirklich auch liefert. Wie vor ihm Mozart, der Kämpfer auf dem Feld der Oper gegen die damalige „wälsche“, also italienische, Dominanz, verludert nunmehr auch Karl. Bei ihm ist die Sängerin Brunelda dafür verantwortlich. Bei Mozart war, den Erzählungen nach, es Barbara Gerl, die spätere erste Papagena und, auch das noch, angetraute Frau des ersten Sarastro. Ein Kenner Mozarts hat dazu geschrieben (selbstverständlich ohne den Verschollenen im Blick zu haben):“ Schikaneder soll Mozart mehr als eine Woche lang, natürlich unter Lieferung genügend leiblicher Erfrischung, zu denen, der lockeren Legende nach, auch noch zeitweilig Barbara Gerl … gehört habe, in ein hölzernes Gartenhäuschen gesperrt haben.“Footnote 12 Dort, in offenbar nicht nur asketischer Klausur, entstand dann die Zauberflöte, Mozarts letzte Oper und sein größter Erfolg. Das Gartenhäuschen wiederum wurde später nach Salzburg transportiert. Als Sehenswürdigkeit ist der Tatort bis heute zu besichtigen; in sehr gut renoviertem Zustand.