Die herkömmliche Assoziation, wenn nicht Hoffnung, Kunst könne in der ihr eigenen Deutungsoffenheit, Selbstreferenz und Gebrochenheit das andere der Bürokratie sein, eine Gegenwelt zur Rationalität und Funktionalität der ›verwalteten Welt‹Footnote 1, ist weniger evident und etabliert als es auf Anhieb scheinen mag. Das verdeutlicht überraschenderweise ausgerechnet ihre Fundierung in bzw. Reflexion von Fragen der Form, anhand derer ästhetische Theorien seit Kant ihre spezifische Differenz zu pragmatischen und interessegeleiten Artikulationen bestimmen, zu denen man auch die funktional orientierte Sprache und Logik von Verwaltung zählen wird (vgl. Becker 2014).»Der Formbegriff markiert« aber nicht nur »die schroffe Antithese der Kunst zum empirischen Leben« (Adorno 2003, 213), sondern verweist in seiner Bezogenheit auf strukturelle Rahmen und wiederkehrende Anordnungen auch auf Verfahrensweisen und Einrichtungen außerästhetischer Kommunikation. Dass der Begriff form im Englischen ein Homonym ist, das nicht nur ›Form‹, sondern auch ›Formular‹ bedeutet, insinuiert sogar eine Nähe zwischen künstlerischen und bürokratischen Kommunikationsformen, um die es im Folgenden exemplarisch gehen soll.

Grundlage für diese Annäherung ist ein weiter Begriff von Form, der nicht genuin ästhetisch verstanden wird, sondern als allgemeine Kategorie für Artikulationen und Artefakte. Ein solches Verständnis von Form hat Niklas Luhmann im Anschluss an George Spencer Brown seiner Theorie der Gesellschaft als Theorie der Kommunikationssysteme zugrunde gelegt – in einem breiten Bogen von einer Theorie der Verwaltung zu einer Theorie der Kunst (vgl. Luhmann 1969 und Luhmann 1995). Als ›Form‹ wird hier jede Operation begriffen, die aus einem Medium lose gekoppelter Elemente – also etwa Sprachlauten oder Schriftzeichen – feste Kopplungen – also etwa Sätze oder Texte – selegiert, dadurch als kontingent gegenüber anderen möglichen Formen beobachtet werden kann und Anschlussoptionen für Folgekommunikation bietet (vgl. Luhmann 1995, 165–214).Footnote 2 Das hat den Vorzug, dass der Formbegriff nicht mehr auf die kommunikativen Operationen des Teilsystems der Kunst beschränkt ist, auch wenn dieses anhand der Unterscheidung von Redundanz und Varietät der gekoppelten Elemente in besonderer Weise auf den Primat des Ornamentalen vor dem Repräsentativen setzt.

Aber auch bürokratische Kommunikation auf Formularen ist eine solche Selektion medialer Elemente und mithin auf dieselbe Weise zu beschreiben. Einen solchen übergreifenden Formbegriff hat auch der Ansatz des New Formalism im Blick, wenn er die Analogien zwischen der Form von Kunstwerken und der Form gesellschaftlicher Rituale oder Institutionen, also auch bürokratischer Prozesse, betont – so z. B. die Geschlossenheit der Anordnung von Elementen, ihre geregelte Wiederkehr, die hierarchischen Beziehungen zwischen ihnen sowie ihre Vernetzung untereinander, wie Caroline Levine sie beschreibt:

›form‹ always indicates an arrangement of elements – an ordering, patterning or shaping. Here, then, is where my own argument begins: with a definition of form that is much broader than its ordinary usage in literary studies. Form, for our purposes, will mean all shapes and configurations, all ordering principles, all patterns of repetition and difference. (Levine 2015, 3)

Luhmanns und Levines Formbegriffe erlauben es – anhand des in beiden Modellen zentralen Begriffs des »Arrangement[s]« (Luhmann 1995, 188) –, auch die spezifische Form von Formularen zu charakterisieren: Auch hier werden mediale Elemente – Schriftzeichen, typographische Einrichtung, Linien, Spalten, Rubriken sowie nicht zuletzt weiße Räume zum Ausfüllen – auf der zweidimensionalen Fläche eines Papierbogens angeordnet, und in diesen Konfigurationen lassen sich wiederkehrende Ordnungen und Muster beobachten, denen die Varietät der jeweils angeforderten individuellen Einträge und Daten gegenübersteht (vgl. Gitelman 2014). Und auch die Angewiesenheit eines Formulars auf Anschlusskommunikation ist deutlich erkennbar: Neben dem mitunter explizit, durch die Leerstellen aber stets implizit artikulierten Appell »Ausfüllen!« sind Formulare typischerweise Bestandteil eines komplexen und institutionell vorgegebenen Wegs der durch sie geformten Daten durch unterschiedliche Abteilungen und hierarchische Ebenen, der als solcher mit Levine selbst als gesellschaftliche Form beschrieben werden kann. Und aufgrund der Zugehörigkeit der Form von Formularen zur Form eines Amts, einer Behörde oder einer sonstigen Institution sind Formulare auch kommunikativ überdeterminierte Formen im Sinne Luhmanns. Denn sie ermöglichen Anschlusskommunikation nicht nur allgemein über die Codierung der in ihnen enthaltenen Elemente (datenförmig vs. nicht datenförmig),Footnote 3 sondern kanalisieren diese Anschlusskommunikation durch – nicht selten kleingedruckt mitkommunizierte – Vorgaben zum Ausfüllen und Weiterleiten sowie Sanktionen im Fall von Fehlangaben – allen voran die Ungültigkeit, also das Misslingen der Kommunikation. Auf diese Weise disziplinieren Formulare ihre Nutzer zweifach: indem sie ihre Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen an die Generierung von Daten koppeln, und indem sie Vorgaben für diese Datengenerierung machen.

Formulare reduzieren mit anderen Worten die doppelte Kontingenz, auf der innerhalb des systemtheoretischen Modells alle Kommunikation beruht, indem die Kommunikationspartner ihre potentiell offenen Formselektionen durch wechselseitige Erwartungen (und Erwartungserwartungen) anschlussfähig halten (vgl. Luhmann 1984, 153–201). Formulare sind hier Formen in einem starken Sinn, insofern sie den Spielraum für Anschlusskommunikation durch weitgehende Erwartungen reduzieren – hier eröffnet eine Analyse der mit Formularen verbundenen Kulturtechniken den Blick auf das Funktionieren kommunikativer Abläufe, bei denen das Element der situativen Selbststeuerung von einer vorgängigen Programmierung überlagert wird, sodass man Luhmanns Theorem der doppelten Kontingenz an dieser Stelle relativieren kann. Aus demselben Grund sind Formulare aber zugleich Formen im schwachen Sinn, insofern sie das kommunikative Potential der Variationsmöglichkeit, das kommunikative Anschlüsse interessant hält, minimieren.

Die Ursache für die gängige Kontrastierung von Formen der Kunst und den Formularen der bürokratischen Verwaltung liegt in eben diesem Mangel an Offenheit, der insbesondere einem modernen Literaturbegriff diametral entgegenzulaufen scheint: Literatur, die nicht mehr den Vorgaben der Rhetorik folgt und Gattungsschemata nur mehr als Vorlage für intertextuelle Hybridisierungen nutzt, realisiert ihren Innovationscode und den Anschluss an das Kreativitätsdispositiv durch eine gezielte Absage an frühere ›Formulare‹ der Literatur – und also durch eine programmatische Aufwertung der Kontingenz auf Seiten der Kunstproduktion.Footnote 4

Diese Ausdifferenzierung zunehmend autonomer Kunstformen und zunehmend heteronomer Formularpraktiken lässt sich auch in der Geschichte der Kultur- und Medientechniken der Verwaltung nachvollziehen. So hat etwa Volker Hess am Beispiel der Patientenanamnese in medizinischen Institutionen des 19. Jahrhunderts gezeigt, wie die – aus der Brief- und Ärztetagebuchkultur der Frühen Neuzeit stammende – ›freie‹ Erzählung einer Krankengeschichte, die bis um 1800 in Klinikakten üblich ist, von einer durch typographisch abgegrenzte Rubriken klar systematisierten, nicht-narrativen Datenerfassung abgelöst wird:

Dieser souveräne Umgang mit der ›Geschichte‹ ist [...] der Effekt einer tabellarischen Aufzeichnungsform, die die fortlaufende Aufzeichnung am Krankenbett in ein listenförmiges Schema umbricht. Die traditionelle ›Observatio‹ wird hierbei in einzelne Elemente zerlegt, die dann im Vergleich der isolierten Elemente [...] das Material für eine gute Geschichte liefert. (Hess 2011, 122)

Das Formular fungiert hier nicht nur als Ermöglichung einer statistischen Auswertung und Vernetzung von Patientendaten durch topische Anordnung auf der Seite und Vergleichbarkeit der Angaben im Kontext moderner Hygiene- und Biopolitiken einer Gesellschaft. Die Ablösung narrativer Kontextualisierungen, Kausalverknüpfungen und Perspektivierungen durch Einzeldaten gemäß vorgegebener Kriterien und Rubriken wirkt auch selegierend auf den ärztlichen Blick sowie die Codierungen anamnestisch-diagnostisch relevanter Wahrnehmungen und Beobachtungen zurück, sodass man sagen kann, dass die Etablierung von Formularen die Form des klinischen Wissens selbst prägt. Für andere Wissensfelder lässt sich diese Verschiebung von narrativen auf informatische Dokumentationsweisen auf ähnliche Weise festhalten.Footnote 5

Zu diesen Feldern gehört nun aber überraschenderweise – und das wird Gegenstand der exemplarischen Veranschaulichung der bisherigen Überlegungen sein – auch und gerade die Literatur, die sich entgegen dem angedeuteten Anschein und trotz des dem Kunstsystem eigenen Innovations- und Kreativitätsgebots nicht einfach als Kontraposition zur Welt der Bürokratie und zum Format des Formulars beschreiben lässt. Zwar ist das Programm der Autonomieästhetik, wie es etwa von Friedrich Schiller entworfen wird, tatsächlich mit einer Kulturkritik an der Natur- und Kunstferne des »Staat[s]« verknüpft (vgl. Schiller 1795/2004, hier v. a. 577, 667), und auch die wirkmächtige Hegel’sche Ästhetik beklagt die »prosaische Wirklichkeit« der bürgerlichen Verhältnisse und die unpoetische, weil unidealisierbare Alltäglichkeit bürokratischer Abläufe:

Das Individuum, wie es in dieser Welt des Alltäglichen und der Prosa erscheint, ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständlich. Denn der einzelne Mensch steht in der Abhängigkeit von äußeren Einwirkungen, Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen, welche er vorfindet, und sich ihnen [...] beugen muß. (Hegel 1818-28/1970, 197 f.)Footnote 6

Diese programmatische Absage beruht aber weniger auf einem tatsächlichen Unterschied zwischen Kunst und Bürokratie, sondern reagiert vielmehr auf deren unheimliche Nähe: Gerade der von G.W.F. Hegel als ›prosaisch‹ inkriminierte Bildungsroman in seiner prototypischen Form bei Johann Wolfgang Goethe erzählt weniger von der Flucht eines Künstlers aus der bürgerlichen Gesellschaft, als vielmehr von seiner Eingliederung in deren bürokratische Abläufe. In dieser Hinsicht hat Friedrich Kittler Wilhelm Meisters Lehrjahre im Anschluss an Foucaults Analysen zum bürokratischen Grund bürgerlicher Subjektivitätskonzepte als Vorklang derjenigen Allianz von literarischer Kultur und Berufsbeamtentum decouvriert, die dem hohen Status der Literatur in Bildungseinrichtungen bis heute zugrunde liegt (vgl. Kittler 1977; Vismann 2000, 135–142; Gretz und Pethes 2016). Und dass diese Zusammengehörigkeit nicht nur das verdrängte Unbewusste der Texte ist, sondern immer wieder an deren Oberfläche dringt, belegen im 19. Jahrhundert Erzählungen wie Honoré de Balzacs Le Colonel Chabert (1832), Hermann Melvilles Bartleby, the Scrivener (1853) oder Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896). Für die literarische Moderne wurde insbesondere für Franz Kafka gezeigt, wie sehr literarische Schreibweisen von der Aktenführung in Versicherungsbüros geprägt sein können (vgl. Wagner 2008).

Vor allem aber weist die im Vergleich zwischen dem weißen Papier, auf dem eine literarische Erzählung notiert wird, und einem vorstrukturierten Formularbogen deutlich ins Auge tretende materielle Medialität bürokratischer Kommunikation eine große Schnittmenge mit den Experimenten der literarischen Avantgarden auf, die programmatische Distanz zu klassizistisch-idealistischen Gehaltsästhetiken durch eine Formästhetik zu gewinnen, in der asemantische Ornamente oder Materialmontagen die Reflexion von Kunst und Literatur auf ihre Medialität hervorheben.Footnote 7 Die vormals kulturkritisch beklagte mechanische Leere formularbasierter Kommunikation wird hier selbst zum Prinzip einer selbstreferentiellen und materialitätsbewussten Ästhetik – eine Konstellation, deren Formularförmigkeit insbesondere die kombinatorischen Projekte der Pariser »Werkstatt für potentielle Literatur« (Oulipo) ausbuchstabiert haben (vgl. Gropp 1990, 70–120).

Und schließlich lässt sich seit dem 20. Jahrhundert eine Untergattung des Romans identifizieren, die man als ›Büroroman‹ bezeichnen könnte, und die die Arbeit mit Formularen selbst zum Gegenstand der literarischen Erzählung macht – im Anschluss an Siegfried Kracauers Angestellten-Studie etwa Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko (1932), im Kontext einer Hinwendung zur Arbeiterliteratur in den 1970er Jahren Walter E. Richartz’ Büroroman (1976) und Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie (1977–1979); und in der Gegenwart eines neoliberalen Wirtschaftssystems und einer zunehmend digitalisierten Bürokratie die siebenbändige Büro-Reihe von J.J. Voskuil (1996–2017), Kathrin Rögglas Dokumentarfiktion aus einer Unternehmensberatung wir schlafen nicht (2004), Joshua Ferris’ Then We Came to the End (2006), Rainald Goetz’ Johann Holtrop (2012) oder David Foster Wallace’ The Pale King (2011).Footnote 8

Insbesondere der letztgenannte Text ist dabei geeignet, vorzuführen, auf welche Weise im Genre des Büroromans bürokratische Kulturtechniken im Allgemeinen und die Medientechnologie des Formulars im Besonderen nicht nur als Kontext oder Motiv einer Romanhandlung verstanden werden können, sondern auch die Form des Romans selbst zu beeinflussen vermögen. In Wallaces Pale King, so meine These, wird das Formular poetologisch anschlussfähig und produktiv gemacht, indem es selbst Medium der Formbildung des Romans ist. Das legt bereits die Tatsache nahe, dass die Einzelkapitel des posthum veröffentlichten Fragments als Paragraphen durchnummeriert sind (von §1 bis § 50) und ein Teil des Personals mit Dienstgraden der US-amerikanischen Steuerbehörde Internal Revenue Service (z. B. GS-9 oder GS-11) vorgestellt wird. Und tatsächlich besteht der Roman aus einer Serie von Einzelbiographien, deren Zusammenhang nicht über eine übergeordnete Handlung hergestellt wird, sondern durch den Sachverhalt, dass die betroffenen Personen am Midwest Regional Examination Center des IRS, Post 047 in Peoria, IL angestellt sind – einer Zweigstelle, in der Wallace selbst von 1985 bis 1986 gearbeitet hatte.

Trotz ihrer unterschiedlichen Provenienzen und Verläufe weisen diese Einzelbiographien in den Kapiteln bzw. Paragraphen des Romans damit einen gemeinsamen Ziel- und Fluchtpunkt auf – bei dem es sich allerdings um einen Ort handelt, der die Erwartungen an den Schauplatz eines interessanten Romangeschehens programmatisch unterläuft. Denn insofern alle Personen in The Pale King »called to account« (Wallace 2011; 179)Footnote 9 sind, also eine nachgerade schicksalhafte Berufung zu einem Leben mit Taschenrechnern in Großraumbürowürfeln zu haben scheinen, ist auch die Dramaturgie ihrer Biographien von bürokratischen Prozessen oder Problemen geleitet – so wenn zu Beginn an »the Rome REC debacle in ’82« (8 f.) erinnert wird, im Zuge dessen es zu einem Rückstau der Steuererklärungen gekommen war und der behördliche Kommunikationsfluss im nicht-metaphorischen Sinne zum Stillstand kam, nachdem einzelne Individuen versucht hatten, den Anschein von Funktionalität aufrechtzuerhalten: »the department attempting to hide the growing pile of returns and cross-audit receipts and W-2/1099 copies rather than duly reporting the backlog and requesting that some of the excess be rerouted to other centers.« (9).

Diese Katastrophe, von der der Roman seinen Ausgang nimmt, ist mithin das unkontrollierte und ungebremste Überhandnehmen eines Formulars, des Standardformulars W-2/1099 für Steuererklärungen, auf dem das Kommunikationssystem der Behörde im Normalfall beruht, das hier nun aber im ganz materiellen Sinne zur Verstopfung der Kanäle führt: »Locking desk drawers so filled with cross-reference forms that they could not open anyhow.« (13).

Anstelle eines personalen Konflikts ist es also der formulargestützte Prozess bürokratischer Kommunikation selbst, der den Erzählanlass bietet – wodurch Wallace interessanterweise just aus deren Stillstand und also mangelnder Anschlussfähigkeit im Eigensystem Potential für einen literarischen Anschluss bezieht: Nur die Tatsache, dass die Kommunikation der Formulare im Rome REC zum Abbruch gekommen ist und keine bürokratische Anschlusskommunikation mehr erlaubt, ermöglicht es der literarischen Kommunikation, an die dysfunktionalen Formulare auf eine ästhetisch produktive – dabei dem Format der Formulare aber weiter verpflichtete – Weise anzuschließen. Auf diese Weise kann das Formular, das die Form der Kommunikation der US-amerikanischen Steuerbehörde darstellt, zum Medium für die Formbildung einer literarischen Erzählung über diese Behörde werden.

Dieser Formbildungsprozess des Romans aus dem Format des Formulars wird in dem metafiktionalen »Author’s Foreword« in §9 und seiner Fortsetzung in §24 reflektiert, in dem David Foster Wallace nicht nur ein postmodernes Spiel mit Identitäten seines Namens außerhalb und innerhalb seines Romans (bzw. von dessen fiktionaler Welt) und dem literaturtheoretischen Modell eines autobiographischen Pakts (vgl. Lejeune 1994) spielt. Denn dieser an zwei Stellen inmitten des Fragments (und also nicht ›davor‹) platzierte Paratext leitet den Roman unmittelbar aus bürokratischen Verfahrensformen ab, zu denen nicht zuletzt ein Vertrag mit dem Leser gehört:

The Pale King is basically a nonfiction memoir, with additional elements of reconstructive journalism, organizational psychology, elementary civics and tax theory, & c. Our mutual contract here is based on the presumptions of (a) my veracity, and (b) your understanding that any features or semions that might appear to undercut that veracity are in fact protective legal devices […]. (75)

Was bei Philippe Lejeune noch juristische Metapher für eine spezifische Performativität der Lektüre ist, wird hier im Romantext selbst – durch den juristischen Duktus, das Vokabular und die ›Untergliederung‹ des ›Paragraphen‹ in (a) und (b) – zu einer verwaltungsrechtlichen Textur, die sich an ihrer Oberfläche nicht von derjenigen realer Formulare unterscheidet. Das zeigt auch die ausführlichste der Mitarbeiterbiographien in §22, die vom Rekrutierungs- und Einstellungsprozesses als IRS-Mitarbeiter berichtet. Dabei wird in einem ersten Schritt nahegelegt, dass Formulare nicht etwa sekundäre Dokumentationen, sondern primäre Möglichkeitsbedingungen bürokratischer Abläufe sind – und das schließt auch die erstmalige Transgression in die Sphäre der Verwaltung (und also der Gültigkeit der Formulare) selbst ein:

I remember the Service recruiter continually referred to an elaborate color chart or diagram that depicted the administrative structure and organization of the IRS [...] and the whole thing was so complicated, and consisted of so many branches, sub-branches, divisions, and coordinating offices and sub-offices, as well as parallel or bilateral sub-offices and technology support divisions, that it appeared impossible to comprehend even the general sense of well enough to take a general interest in [...]. Also, there were upwards of twenty different forms to fill out, many of which were redundant – it wasn’t clear to me why one couldn’t simply fill out one copy and then xerox a number of duplicates, but I again chose to keep my own counsel and fill out the same essential info over and over again. (247 f.)

In dieser Schreibszene des Büros ist das Formular nicht Medium der, sondern Schwelle zur Bürokratie und das Ausfüllen von Formularen der Passagenritus in ihr Innerstes, sodass der einzige »input«, den ein Rekrut erhält und geben kann, in »the form of forms« erfolgt (250).

Dass diese selbstreferentielle Figur auch der Form des Romans zugrunde liegt, wird nur einen Absatz darauf deutlich, wenn die Akte, die alle Dienstanwärter erhalten, beschrieben wird:

Anyhow, the recruiting office’s binder full of homework was so unbelievably dry and obscure that you essentially had to read each line several times to derive any sense of what it was trying to say. [...] The largest single packet in the binder was something on low-toner Xerox called Statement of Procedural Rules, which is actually from Title 26, §601 of the Code of Federal Regulations. A ninety-five-word section of a page that I remember that I flipped to at first at random and read, just to get an idea of what I would be having to try to read and process, was #1910, §601.201a(1)(g), subpart xi: (250)

Der Text lässt hier nicht nur die Zahlencodes und Gliederungsstrukturen der Formularsprache in den literarischen Text eindringen, er zitiert nach der Stellenangabe die fragliche Passage auch in Form eines eingerückten Blockzitats (250 f.) und lässt auf diese Weise den Text der Verwaltungsvorschrift selbst in den Romantext eingehen.Footnote 10

Auf vergleichbare Weise dokumentiert §27 den durch Diabilder unterstützten Unterricht über das Ausfüllen der unterschiedlichen Formulare, die in einer Steuerbehörde zum Einsatz kommen, und wird so zu einem meta-bürokratischen Pendant des meta-fiktionalen »Author’s Foreword«:

The projector was still on, and a photo of several black women in horn-rim glasses keypunching data was superimposed on the Training Officer as she pointed at the codes for corporate returns, 1120; trusts and estates, 1041; partnerships, 1065; and the well-known Individual 1040 and 1040A; plus S corporations, which also filed 1120s. (323)

§34 besteht schließlich sogar in Gänze und ohne jede Kontextualisierung aus einem Textausschnitt von §781(d) des Internal Revenue Manuals, eines Handbuchs, das sicherstellt, dass Konzerne den geringstmöglichen Einkommenssteuersatz (alternative minimum tax) bezahlen, der wiederum mithilfe von Formular Nr. 4626 berechnet werden kann.Footnote 11

Noch mehr aber als in Gestalt solcher dokumentarischen Zitate und Montagen kulminiert die ›form of forms‹ in demjenigen Kapitel, das den praktischen Umgang mit Akten und Formularen als einziges Geschehen innerhalb eines Büros auf eine Weise wiedergibt, die jegliche Anmutung von Handlung durch deren Äußerlichkeit, Redundanz und Austauschbarkeit unterläuft:

›Irrelevant‹ Chris Fogle turns a page. Howard Cardwell turns a page. Ken Wax turns a page. Matt Redgate turns a page. [...] Robert Atkins turns two separate pages of two separate files at the same time. Ken Wax turns a page. [...] David Cusk turns a page. A yawn proceeds across one Chalk’s row by unconscious influence. Ryne Hobratschk turns a page. [...] (312)

§25, der als einziger im Zweispaltendruck erscheint, ist auf diese Weise ein Stück konkreter Prosa, das auf vier Seiten weitere solcher Sätze aneinanderreiht, darunter zahlreiche Wiederholungen derselben Namen, allen voran desjenigen von Chris Fogle, dessen Lebenslauf in §22 zwar noch ausführlich erzählt wurde, der aber im Rahmen von §25 angesichts der immer gleichen Routine aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seiner individuellen Eigenheit bis zur ›Irrelevanz‹ verlustig geht. Umgekehrt beginnen vor dem Hintergrund dieser zunehmend in ein informationsloses Rauschen übergehenden Textstruktur bereits leichte Variationen oder Einsprengsel von anders gearteten Büroaktivitäten und Tagträumen wie tatsächliche narrative Elemente zu wirken:

Chris Fogle turns a page. Rosellen Brown turns a page. Chris Acquistipace signs a Memo 20. Harriett Candelaria turns a page. [...] Jay Landauer feels absently at his face. Every love story is a ghost story. [...] Exterior temperature/humidity 96°/74%. [...] The cart comes up the group room’s right side with its squeaky wheel. (314 f.)

Begreift man §25 auf diese Weise als Kulmination der Schreibweise eines Romans, die die für die Kommunikation innerhalb des Kunstsystems relevante Variation ästhetischer Erwartungen durch die Redundanz der Form des Formulars erzielt, so lassen sich für diese Formularpoetik zwei Konsequenzen ableiten, die in den selbstreflexiven Passagen von The Pale King auch beide explizit benannt werden. Die erste dieser Konsequenzen ist die Auflösung personaler Identität innerhalb des Kommunikationssystems einer Behörde, die durch die Benennung von Personen durch ihre Dienstgrade zu Beginn bereits anklingt, in §38 aber am Phänomen der »ghost redundancies« (413) weiter ausgeführt wird. Von ›ghost redundancies‹ spricht man, wenn in der Aktenführung des IRS zwei Einträge unter dem gleichen Personennamen geführt und versehentlich überblendet werden, sodass die Steuerbiographie eines der beiden Individuen gelöscht wird:

Suppose, for example, that Mr. John Q. Doe, a GS-9 rote examiner, was promoted in grade to GS-11. The system would then generate a whole new personnel file, and thereafter would recognize two separate files for what appeared to be two separate employees, John Q. Doe GS-9 and John Q. Doe GS-11, causing extraordinary hassle and confusion for both payroll and Systems planning protocols down the line. […] In cases of what appeared to be two different employees with the same name and IRS Post code, the system was now directed to recognize only the ›John Q. Doe‹ of higher GS grade. (413)

Frei nach dem rechts- und kanzleipraktischer Wahlspruch quod non est in actis non est in mundo erweist sich die Kybernetik formularbasierter Informationsverarbeitung innerhalb des behördlichen Kommunikationssystems als anschlussfähiger als die faktische Existenz einer Person in Raum und Zeit außerhalb dieses Systems. Das Resultat einer solchen bürokratischen Tilgung ist in The Pale King einmal mehr Spielart eines postmodernen literaturtheoretischen Topos, hier desjenigen vom Tod des Autors, auf den der in den USA übliche Platzhaltername für unidentifizierte männliche Leichen, »John Doe«, bereits implizit vorwegweist. Wenige Zeilen darauf heißt es dann explizit:

In effect, David F. Wallace, GS-9, age twenty, of Philo IL, did not exist; his file had been deleted, or absorbed into, that of David F. Wallace, GS-13, age thirty-nine, of Rome NY’s Northeast REC. This absorption occurred at the instant that David F. Wallace (i.e. the GS-13)’s Regional Transfer Form 140(c)-RT and posting Form 141-PO were generated […]. (413)

Es ist also der Autor selbst, der zum Opfer eines bürokratischen ghostings wird – eines ghostings, das den Roman aber insofern nicht gefährdet, als er ohnehin von der autonomen Textmaschine der Formulare mitgeschrieben wird und insofern das Subjekt »David Foster Wallace« in einer metaleptischen Figur, die die autorskeptischen Verfahren der literarischen Moderne weniger ironisiert als auf ihren bürokratischen Grund zurückführt, nicht mehr als Urheber behandelt wird, sondern als Datensatz, den die Archive des IRS produzieren und löschen können. Es ist dieses Eingehen nicht nur der ästhetischen Kategorien ›Inhalt‹ und ›Form‹, sondern auch jeglicher subjektiver Perspektive innerhalb des Romans in das Aufschreibesystem der Formulare, das das Romanfragment The Pale King als Form des Formulars erscheinen lässt.

Die zweite Konsequenz, die sich neben dieser Marginalisierung von Einzelpersonen aus dem die Poetik des Romans experimentell zuspitzenden §25 ableiten lässt, betrifft die Frage, warum von derartigen Nicht-Individuen bzw. Nicht-Ereignissen überhaupt erzählt wird. Das »Author’s Foreword« bekennt sich ausdrücklich zur »boredom« (84) der Abläufe beim IRS – eine Langeweile, die aber eigentlich ein Schutzschild gegen diejenige öffentliche Aufmerksamkeit ist, die die verschiedenen Pannen und Konflikte der Steuerbehörde erregen würden:

The real reason why US citizens were/are not aware of these conflicts, changes, and stakes is that the whole subject of tax policy and administration is dull. Massively, spectacularly dull. [Absatz] It is impossible to overstate the importance of this feature. Consider, from the Service’s perspective, the advantages of the dull, the arcane, the mind-numbingly complex. The IRS was one of the very first government agencies to learn that such qualities help insulate them against public protest and political opposition, and that abstruse dullness is actually a much more effective shield than is secrecy. (85)

Und doch ist es das Oxymoron ›spectacularly dull‹, das die Dialektik dieses Versteckspiels in Gänze offenlegt, denn Wallaces Roman tritt ja gerade an, diese Langeweile und Routine literarisch anschlussfähig und das heißt interessant zu machen (vgl. Pethes 2017).

Die dieser Programmatik korrespondierende Erzähltechnik lässt sich abschließend im bereits erwähnten längsten Paragraphen des Romans anschaulich nachvollziehen, der die Geschichte von »›Irrelevant‘ Chris Fogle« in einem einhundert Seiten langen Monolog erzählt. Dabei kommt es durchaus zu dramatischen Wendungen, so z. B. zum Unfalltod des Vaters. Ansonsten beschreibt Fogle seine Kindheit aber als »abstract and unfocused as I was myself« (159) sowie als »vague and indistinct« (159) und leitet seine Berufswahl unmittelbar aus diesen Gemütszuständen ab:

I’m not sure I even know what to say. To be honest, a good bit of it I don’t remember. I don’t think my memory works in quite the way it used to. It may be that this kind of work changes you. [...] From what I understand, I’m supposed to explain how I arrived at this career. [...] I think the truth is that I was the worst kind of nihilist – the kind who isn’t even aware he’s a nihilist. [...] My essential response to everything was ›Whatever‹. (156)

Der Mangel an Erinnerungen, die in irgendeiner Weise spezifisch und also identitätsstiftend sein könnten, resultiert hier aus einer Alltagsroutine, die ebenfalls von vollständiger Gleichförmigkeit geprägt ist und auf diese Weise nicht nur mögliche unterschiedliche Eigenschaften von Chris Fogle und seinen Kollegen irrelevant werden lässt, sondern auch jedes Interesse an den inhaltlichen Bezügen der Tätigkeit – die ja in Gestalt der Steuererhebung ebenfalls auf konkrete Individuen bezogen ist, die aber alle durch die gleichen Formulare und Berechnungsweisen gerastert und also ›normalisiert‹ werden. Dieses Ausblenden von Inhalten spiegelt der Roman auch in Fogles Umgang mit Sprache, die ihm kein Kommunikationsmedium ist, sondern Objekt eines mathematischen Kalküls, nämlich seiner Angewohnheit, Wörter zu zählen, inklusive die seines Monologs: »For instance, I’ve said 2,752 words right now since I started.« (163).

So stimmig angesichts solcher Gewohnheiten seine Berufswahl auch erscheinen mag, so wenig ist aber auch sie Resultat einer Entscheidung oder Vorliebe: Fogle gerät auf dem College versehentlich in eine Lehrveranstaltung zum Steuerrecht und erfährt, dass für bestimmte Berufe gerade Eigenschaftslosigkeit die entscheidende Eigenschaft sein kann:

The fact is that there are probably just certain kinds of people who are drawn to a career in the IRS. People who are […] ›called to account‹. Meaning we are talking about almost a special kind of psychological type, probably. [...] And there are no doubt core characteristics that these people have in common, predictive factors which at some point or other kick in and cause a genuine calling to pursue tax accounting and systems administration and organizational behavior and to devote themselves to helping administer and enforce the tax laws of this country as spelled out in Title 26 of the Code of Federal Regulations and the Revised Internal Revenue Code of 1954, plus all the statutes and regulations entailed by the Tax Reform Act of 1969, the Tax Reform Act of 1976, the Revenue Act of 1978 and so on and so forth. (178 f.)

Auch hier wird wieder der Text selbst zum Abbild des fraglichen Eigenschaftsprofils für Routine und Bürokratie, d. h. in Gestalt des steuerrechtlichen Fachjargons zur Prosa der Wirklichkeit einer Tätigkeit beim IRS. Was dieses Eigenschaftsprofil aber jenseits des schieren Zitats von Gesetzesprosa in einem konkreten figurenpsychologischen Sinne sein könnte, vermag Chris Fogle dabei gerade nicht anzugeben und verweist auch diese Frage nach solchen Eigenschaften in die Zuständigkeit eines bürokratischen Kalküls:

What these reasons and factors are, and to what extent they coexist with the particular talents and dispositions the Service is in need of – these are interesting questions, which today’s IRS takes an active interest in understanding and quantifying. In terms of myself and how I got here, the important thing is that I discovered I had them – the factors and characteristics […]. (179)

Entsprechend ist auch das Bewerbungsgespräch von Fogle beim IRS gerade nicht darauf angelegt, seine individuellen Eigenschaften oder Eignungen zu erfragen:

To be honest, I had expected to be interviewed and asked all sorts of questions about my background, experience, and direction in terms of career and commitment. I expected that they would want to verify I was serious and not just there to scam the IRS out of free tuition funding. [...] To the best of my recollection, though, I was required to say almost nothing that first day of recruiting after the initial hello and one or two innocuous questions – as well as my name, of course. Nearly all my input was, as I’ve mentioned, in the form of forms, many of which had bar codes in the lower left corners – this detail I remember because these were the first bar codes I can remember ever being aware of in my life up to then. (249 f.)

Das Ergebnis einer solchen Rekrutierungsstrategie ist nicht nur ein Mitarbeiter ohne Eigenschaften, sondern auch eine Romanfigur, die sich als Negativfolie zum Programm existentialistischer Selbstbestimmung über das Fehlen von Eigenschaften definiert:

I was free to choose ›whatever‹ because it didn’t really matter. But that this, too, was because of something I chose – I had somehow chosen to have nothing matter. [...] The point was that, through making this choice, I didn’t matter, either. I didn’t stand for anything. If I wanted to matter – even just to myself – I would have to be less free, by deciding to choose in some kind of definitive way. (225 f.)

Und auch über die im engeren Sinne ästhetischen und literaturtheoretischen Konsequenzen dieses dialektischen Umschlags von Eigenschaftslosigkeit in Bürotauglichkeit wird Fogle bei seiner versehentlichen Steuerrechtsvorlesung belehrt. Ist eine Tätigkeit beim IRS

Exacting? Prosaic? Banausic to the point of drudgery? Sometimes. Often tedious? Perhaps. But brave? Worthy? Fitting, sweet? Romantic? Chivalric? Heroic? [...] [G]entlemen, here is a truth: Enduring tedium over real time in a confined space is what real courage is. Such endurance is, as it happens, the distillate of what is, today, in this world neither I nor you have made, heroism. (231)

Und in eben diesem Sinne sind eigenschaftslose Büroangestellte nicht etwa der satirische Gegenentwurf zum literarischen Helden, sondern seine zeitgemäße Gestalt: »You have wondered, perhaps, why all real accountants wear hats? They are today’s cowboys. As will you be. Riding the American range. Riding herd on the unending torrent of financial data.« (235).