Zusammenfassung
Formulare sind Grenzobjekte. Eine besondere Bedeutung kommt in ihrem Fall der Unterscheidung von (vorgeschriebenem) Text, den auszufüllenden Lücken und ihren Rändern zu. Der lückenhafte Text weist demjenigen, der das Formular ausfüllt, einen präzise ausgemessenen Raum für seine Textergänzungen zu. Aber Formulare gestatten noch einen anderen Typ von Textergänzung, dessen Schauplatz die Ränder sind: Auf ihnen finden sich gelegentlich Inskriptionen, die in den vorgegebenen Lücken, die das Formular lässt, nicht vorgesehen sind und die sich zugleich als Kritik an den Klassifizierungszwängen dieser Textsorte lesen lassen. Vor diesem Hintergrund geht der Aufsatz den literarischen Spielräumen einer Textgattung nach, der es scheinbar allein auf bürokratische Genauigkeit ankommt: Ernst von Salomon orientiert in seinem umstrittenen Nachkriegs-Bestseller „Der Fragebogen“ (1951) seine Lebensgeschichte am Raster des sogenannten „großen Fragebogens“, mit dem das „Military Government of Germany“ das Kriegsziel der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung auf bürokratischem Wege erreichen wollte. Indem er sich weigert, seine Geschichte in die Kategorien der Verwaltung zu transformieren und sie stattdessen in allen anekdotischen Details ausfabuliert, benutzt von Salomon die Möglichkeiten der Literatur, um die Asymmetrie zwischen fragender Behörde und Auskunftsgebenden zu verkehren.
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Aufschreibesysteme der Moderne
Formulare gehören zu jener ausdifferenzierten Sorte von Schriftstücken, die in Verwaltungen zirkulieren, genauer: an der Schnittstelle zwischen Bürokratien und Publikum. Wenn sich die soziale Umwelt ins System übersetzt (statt es bloß unspezifisch zu irritieren), dann nach Maßgabe von Formularen. Mit ihrer Hilfe nötigt man uns, Auskunft über unser Leben zu geben und es zu Papier zu bringen. Formulare sind die wahren Aufschreibesysteme der Moderne, all jenes paperwork, das eine verwaltungssensitive Medien- und Literaturwissenschaft längst zu ihrem Gegenstand gemacht hat (vgl. Gitelman 2014; Guillory 2004). Seit der Nachkriegszeit gehen Bürokratien der kollektiven Daseinsfürsorge verstärkt dazu über, den Bürger durch den Einsatz spezifischer Textsorten, also von Formularen und Vordrucken, zur aktiven Mitwirkung an ›seiner‹ Verwaltung und damit zu Akten der selektiven Selbstdokumentation zu bewegen. Formulare bilden die mediale Schnittstelle zwischen daseinsversorgender Verwaltung und Bürger. Zwar waren die Bürger auch vorher schon »an der Herstellung des Sachverhalts beteiligt.« Allerdings stand hier das »persönliche Gespräch mit den Beamten, die den Sachverhalt feststellten«, im Vordergrund. Es erlaubte mehr Flexibilität, »weil die Einlassungen der Antragsteller nicht dem bürokratischen Schema folgen mussten. Der Beamte konnte als eine kompetente Instanz die individuellen Geschichten in die Programmlogik übersetzen« (Becker 2009, 292).
Die Lektüre von Formularen unterliegt einer Norm, die John Guillory als »technicity« (Guillory 2004, 130) bezeichnet. Sie verlangt, dass Lesen und anschließendes Schreiben (›Ausfüllen‹) sich in dafür vorgesehene Felder oder Leerstellen einfügt, statt z. B. auf endlosen Seiten Zeilen aneinanderzureihen, die ein diffuses Publikum von Lesern adressieren. Formulare sind vor-, aber nicht ausgeschriebene Texte, woraus ihre Ergänzungsbedürftigkeit folgt. Ein Autor findet sich dagegen üblicherweise mit einem leeren Blatt oder screen konfrontiert. Vorgeschrieben sind Formulare aber auch in dem Sinne, dass die Mitwirkung an ihnen obligatorisch ist, damit die Bürokratie den individuellen Fall zu ›schematisieren‹ vermag. Das korrekt ausgefüllte Formular erzeugt erst eine bestimmte, sogar rechtliche Verbindlichkeit und zieht ein bestimmtes Anschlusshandeln nach sich. So ist die Gewährung etwa von staatlichen Zahlungen an die Vorschriften zur korrekten Supplementierung (›bitte in Großbuchstaben und mit Kugelschreiber ausfüllen‹) der Lücken gebunden, die das Formular lässt, wobei sich das Ausfüllen im Grenzfall auf die Markierung von angebotenen Alternativen (›Ankreuzen von Kästchen‹) reduziert.
Formulare und ihre Ränder
Formularbasierte Interaktion zeichnet sich durch eine
fortwährende Spannung aus, die aus dem Missverhältnis vorgegebener Kategorien, Klassifikationsarbeit und individuellem Fall entsteht. Eine solche Art von ›mismatch‹ würde man ebenso wie das Inrechnungstellen ›unsauberer‹ Daten […] als konstitutiv für den Umgang mit schlecht strukturierten Lösungen erachten. (Gießmann 2017, 163)
Für Susan Leigh Star sind Formulare daher Beispiele für sogenannte »Grenzobjekte« (boundary objects):
Grenzobjekte sind Objekte, die plastisch genug sind, um sich den lokalen Bedürfnissen und Beschränkungen mehrerer sie nutzender Parteien anzupassen. Sie bleiben dabei robust genug zur Bewahrung einer gemeinsamen Identität an allen Orten. Grenzobjekte sind schwach strukturiert in der gemeinsamen Verwendung und werden stark strukturiert in der individuellen Verwendung. Diese Objekte können abstrakt oder konkret sein. Sie haben verschiedene Bedeutungen in unterschiedlichen sozialen Welten, aber ihre Struktur ist für mehr als eine Welt gemeinsam genug, damit sie als Mittel der Übersetzung erkennbar sind. (Starr und Griesemer 2017, 87)
Formulare sind (neben Repositorien oder Idealtypen) Beispiele für derartige Grenzobjekte. Im Fall der Formulare kommt der Unterscheidung von Text und seinem Rand eine besondere Bedeutung zu. Der lückenhafte Text weist demjenigen, der das Formular ausfüllt, einen präzise ausgemessenen Raum für seine Textergänzungen zu. Formulare bewirken eine Standardisierung des Wissens durch die Verknappung des zu seiner Darstellung verfügbaren Raums. Sie bringen übersichtlich angeordnetes, tabellarisch formatiertes Wissen hervor und löschen dabei gleichzeitig alles das aus,
das sich ihren Kategorien, Tabellen usw. nicht fügt. Spuren des Herausfallens finden sich allenfalls noch auf den Rändern der Fragebögen als handschriftliche Kritzeleien und Reste. Erst der Blick hierauf lässt erahnen, wie viel unsichtbare Arbeit in Standardisierungsprozessen enthalten sein mag oder auch: dass es sich weniger um ›Grenzobjekte‹ als um ›Grenzarbeit‹ handelt (Bergermann und Hanke 2017, 124),
wobei das Jenseits der Grenze, das hors cadre, in bestimmten Fällen an ›nicht dazugehörigen‹, aber dennoch appräsentierten Spuren ablesbar ist. So stark und starr der Formulartext in seinem Binnenbereich organisiert ist: Er verfügt über ein Außen, das sich als weiße Fläche an ihn anlagert und dazu einlädt, es als Raum für ›wilde‹ Inskriptionen zu nutzen. Latour hat in »Drawing Things Together« darauf hingewiesen, dass die Konstruktion härtester Fakten von dem Aufwand an Inskriptionen abhängt, der betrieben wird, um in einer Kontroverse einen Gegner zu besiegen. Das Formular gerät leicht in den Verdacht, lediglich die Perspektive der formularproduzierenden Instanz zu ›formulieren‹ und jede Möglichkeit der Inkorporierung inkongruenter Perspektiven auszuschließen: Es auszufüllen, heißt zugleich, zum Erfüllungsgehilfen der Behörde zu werden, die auf diesem Wege Daten erhebt. Wäre es nicht sinnvoller, das Formular als Raum einer »agonistischen Begegnung zweier Autoren« zu konzipieren – wobei ›Autoren‹ hier keine selbstgenügsamen Einheiten bezeichnen, sondern auch all diejenigen umfassen, »die sie dazu brauchen, um eine Aussage A aufzubauen«, wie Latour mit Blick auf wissenschaftliche Aufzeichnungspraktiken feststellt (Latour 2006, 264). Formulare sind immutable mobiles, aber was hier mobilisiert wird, ist deshalb doch nicht ›einsinnig‹: Die Unveränderbarkeit kann gerade auch, wenn man an die Ränder des Formulars denkt, Informationen festhalten, deren Fixierung das Formular von sich aus nicht ermutigt, ja die es seiner kategorialen Logik nach ausschließt, ohne sie deshalb aber von seiner medialen Oberfläche verbannen zu können. Auf die Frage, die Latour aufwirft, wer in einer »agonistischen Begegnung zweier Autoren« gewinnt, antwortet er daher: »Derjenige, der in der Lage ist, am schnellsten die größte Anzahl gruppierter und treuer Alliierter aufzubieten.« Und er fügt hinzu: »Diese Definition von Sieg ist dem Krieg, der Politik, dem Recht und – wie ich jetzt zeigen werde – der Wissenschaft und der Technik gemeinsam« (Latour 2006, 264).
Star hingegen untersucht Formulare als Methoden gemeinsamer Kommunikation zwischen verstreuten Arbeitsgruppen, betont also zunächst weniger den agonalen, als den kooperativen Aspekt des Formulars bzw. der Grenzobjekte insgesamt:
Sowohl in der Neurophysiologie als auch in der Biologie fand die Arbeit an hochgradig verteilten Orten statt und wurde von einer Reihe verschiedener Personen durchgeführt. Wenn Amateursammler ein Tier erbeuteten, waren sie mit einem standardisierten Formular ausgerüstet. Im Krankenhaus war es ähnlich: Nachtwächter bekamen Formulare ausgehändigt, in denen sie Daten über die epileptischen Anfälle und die entsprechenden Symptome eines Patienten auf standardisierte Weise aufnehmen sollten. Diese Informationen wurden später auf eine größere Datenbasis übertragen, die von klinischen Forschern bei dem Versuch zusammengetragen wurden, Theorien der Funktion des Gehirns und Nervensystems aufzustellen. Die Ergebnisse dieses Grenzobjekttyps sind standardisierte Indizes und das, was Latour ›immutable mobiles‹ nennen würde – Objekte, die über eine weite Distanz transportiert werden können und unveränderliche Information aufweisen. Die Vorzüge solcher Objekte liegen in der Löschung lokaler Unsicherheiten, wie z. B. beim Sammeln von Tieren oder bei der Beobachtung epileptischer Anfälle. (Star 2017, 145)
Star erläutert die Rolle der Formularränder für die Formularkommunikation am Beispiel der Epilepsieforschung im England des 19. Jahrhunderts und wirft die Frage auf, welche Möglichkeiten die standardisierte Formularkommunikation bereithält, die Selektivität der Klassifikationen zu konterkarieren. Dass das Formular auf »Löschung lokaler Unsicherheiten« abzielt, heißt nicht, dass diese Löschoperation in jedem Fall gelingt. So
verpflichteten die Forscher die Familien von epileptischen Patienten dazu, Informationen über Krampfanfälle auf sogenannten ›Anfallblättern‹ festzuhalten – gedruckten Formularen mit Checklisten über Symptome, Zeiten und andere Daten. Die ausnahmslos armen, unglücklichen Familienangehörigen versuchten verzweifelt, dem Auftrag zur Datensammlung nachzukommen. Die Formulare, die sie ausfüllten, sind bewegende Dokumente, die die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Klasse und Medizin im England des späten 19. Jahrhunderts offenbaren – mit Bleistift ausgefüllt, voller Rechtschreibfehler und beflissen den Akten des Arztes zugeführt. Und sie erzählen noch eine andere Geschichte. An die Dokumentränder sind Nachrichten an den Arzt gekritzelt, die nicht in das eigentliche Formular passen: ›Hatte gestern zu viel heiße Suppe‹, ›der Nachtluft ausgesetzt‹, ›fuhr allein in der Kutsche‹. Eine ganze folkloristische Medizin existiert in den Randbemerkungen – neben den ausgefüllten Formularen. Doch dieser Informationsreichtun wurde als unwichtig abgetan und ging in den Akten unter, obwohl die Patienten in einem gewissen Sinn als Forschungsassistenten für die Klinikärzte handelten. Diese Anomalie lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Problem des Sammelns, fachlichen Zuordnens und Koordinierens von verteiltem Wissen. (Star 2017, 218 f.)
Halten wir fest: Star betont einerseits die standardisierte Ergänzbarkeit, die Lücken, durch deren Ausfüllung die Teile eines Formulars ergänzt werden können und müssen, und andererseits eine Ergänzbarkeit, die in der Standardisierung nicht vorgesehen ist – aber der Anlass für neue und andere Standardisierungen sein kann, oder der Anlass, auf die geforderte Standardisierung zu verzichten, weil man andere Zwecke verfolgt. Rund um jedes Formular und jeden Formularbetrieb gibt es – in jeder Bürokratie, in jeder Wissenschaft, in jeder Klassifizierungstechnik – diese Art von Ergänzungen, die ganz andere Kategorien verwenden und mögliche neue Rubriken aufwerfen. Das Formular artikuliert, anders gesagt, ein Wechselverhältnis von Rahmung und Überschuss und eröffnet damit genau jenen Raum der Agonalität, von dem Latour mit Blick auf die immutable mobiles spricht. Formulare können also durchaus auch »eine andere Geschichte« erzählen, wie Star andeutet: Die Angehörigen der Patienten ›kritzeln‹ Nachrichten an den Arzt, die sich nicht in das Raster der geforderten Informationen einfügen lassen. Warum tun sie das? Weil sie den Arzt zu ihrem Alliierten machen möchten, weil sie die agonistische Situation für sich »günstiger zu gestalten« versuchen, indem sie dem individuellen Fall mehr Aufmerksamkeit und Beschreibungskraft widmen. Der »Informationsreichtum« in den Randbemerkungen mag in dem von Star angeführten klinischen Fall von den Ärzten als »unwichtig abgetan« worden und in den Akten »untergegangen« sein. Er ist damit aber nicht nichtig und noch nicht einmal verloren gegangen. Es gibt andere Fälle, die Star untersucht, in denen sich bestimmte Krankheiten als inhärent instabile Größen erweisen, wie etwa die Tuberkulose, die als eine »protean disease« beschrieben wird, weil die Formulare, die sie erfassen sollen, so »multislotted« sie auch sein mögen, ihrer ›messiness‹ und der Komplexität, die aus ihrem zeitlichen Verlauf resultiert, nicht gerecht werden können: »Throughout the history of tuberculosis classification, one of the key problems has been to convert a progressive, protean disease to a single mark on a sheet of paper« (Bowker und Star 2000, 176). Klassifikationssysteme, die Krankheiten zu erfassen suchen, sollten, so Star und Bowker, sowohl räumliche wie auch zeitliche Dimensionen zu erfassen versuchen, »but standardized classifications have tended to exist in pure space. As the problems of time emerge in the lives of patients and the work of classifiers, those spatial compartments break down in interesting ways.« Wenn Klassifikationssysteme den »flow of historical time« (Bowker und Star 2000, 168) ignorieren, kann ihr Standardisierungsziel nur um den Preis der Undurchlässigkeit der Kategorien erreicht werden. Wie ich im Folgenden zeigen werde, können Formulare, die sich explizit zum Ziel machen, historische Ereignisse und die Verstrickung von Akteuren in ihnen aufzuarbeiten, auf eine Weise problematisiert werden, die darauf abzielt, die historische (und juristische) Urteilsfindung, die auf klare Subsumptionen der jeweiligen Fälle angewiesen ist, systematisch zu unterlaufen.
Formulare sind mithin auf ihre überschießenden Kommentare und supplementären Kategorisierungen zu untersuchen: Alles das, was abgezogen und neutralisiert werden muss, damit die Standardisierung den möglichst reibungslosen Austausch der Formate und die – tendenziell automatisierte – Verarbeitung der Daten bestimmt. Formulare bestehen insgesamt aus ergänzbaren Teilen, aus obligatorischen, zugelassenen oder explizit ausgeschlossenen Einsetzungen, aber auch aus Ergänzungen, die das Formular von seinen Grenzen her in seiner diskursiven Erschließungskraft bestreiten und es, wie in dem Fall, der mich im Weiteren interessieren wird, überwuchern.
David Graeber, Ernst von Salomon und das ›Scheitern‹ beim Versuch, einen Fragebogen zu beantworten
Formulare definieren den Standard bürokratischer Genauigkeit. Utopisch sind sie daher, und utopisch sind Bürokratien, so David Graeber in seinem Buch The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, weil sie die Leute mit Anforderungen konfrontieren, denen sie, so wie sie nun mal sind, »niemals genügen können« (Graeber 2016, 35) – es sei denn, man hat alle Zeit der Welt, wie Schriftsteller, die den Schriftstücken der Bürokratie sogar ein gewisses Vergnügen abgewinnen können. Ein Großteil der Leute, die mit öffentlichen Bürokratien in Kontakt kommen, müssen immer wieder erfahren, dass sie nicht in der Lage sind, den bürokratischen Anforderungen erwartungsgemäß zu entsprechen, wobei dieses Scheitern an einer zugleich hochgradig spezialisierten und vermeintlich alltagskommunikationstauglichen Textsorte von dem Anthropologen und Anarchisten Graeber als ein aufschlussreiches Symptom und als eine Geste des politischen Widerstandes codiert wird.
Graeber macht die Probe aufs Exempel, als er vergeblich versucht, sich eine Vollmacht für seine schwer kranke und bereits hospitalisierte Mutter zu beschaffen. Trotz redlicher Bemühungen gelingt es dem Sohn nicht rechtzeitig, die Vollmacht zu erhalten. Die Mutter stirbt vorher. Der Sohn hatte zwei Zeilen in einem Formular vertauscht: Dort, wo er unterschreiben sollte, hatte er seinen Namen in Druckbuchstaben eingetragen, in die Zeile, wo genau dies gefordert war, aber unterschrieben. Graeber muss zugeben, dass er sich tatsächlich im Umgang mit den Formularen »wie ein Dummkopf angestellt hatte«. Es stand doch deutlich da, wo er auf dem Formular was machen sollte. »Ich halte mich«, schreibt er,
im Grunde nicht für besonders dumm. Für meine Karriere war es sogar vorteilhaft, andere häufig davon überzeugen zu können, ein ziemlich schlauer Bursche zu sein. Und dennoch hatte ich mich offenkundig dumm verhalten – nicht, weil ich unaufmerksam gewesen wäre; ich hatte mich vielmehr mental und emotional in dieser Angelegenheit außerordentlich engagiert. (Graeber 2016, 61)
Anders als Schriftsteller können gewöhnliche Bürger ihr Missverhältnis zu den Anforderungen des Formulars kaum genießen oder literarisch produktiv machen. Der Fragebogen, den Ernst von Salomon als Vorlage für seinen gleichnamigen literarischen Text und großen Bucherfolg von 1951 wählt, ist der berühmte große Fragenbogen, den die alliierte Militärregierung ab 1946 nutzte, um die individuelle, nicht zuletzt auch strafrechtlich zu ahnende Schuld ehemaliger NS-Parteimitglieder festzustellen. Von Salomon nimmt den großen Fragebogen, mit dem das Military Government of Germany das Kriegsziel der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung auf bürokratischem Wege erreichen wollte, zum Anlass, seine problematische Lebensgeschichte, die sich auf eigentümliche Weise zwischen Politik und Literatur bewegt, in größtmöglicher Ausführlichkeit und unter Umgehung der programmlogischen Übersetzungsarbeit, die der Fragebogen als eine spezifische Ausprägung des Formulars verlangt, zu erzählen. Der zwischen 1946 und 1948 allen NS-Parteimitgliedern vorgelegte Fragebogen bestand aus immerhin 131 Fragen bzw. Fragekomplexen, deren Beantwortung die alliierten Behörden in den Stand setzen sollte, umfassende Information über den Grad der NS-Beteiligung der Betroffenen zu gewinnen. Was Formulare Graeber zufolge so besonders und komplex macht, ist inzwischen nicht mehr ihre ornamentale Ausgestaltung, sondern die
schier endlose Zunahme sehr einfacher, aber anscheinend widersprüchlicher Elemente, wie in einem Labyrinth, in dem ausschließlich zwei oder drei geometrische Motive einander endlos gegenüberstehen. Nichts bei der Papier- oder Schreibarbeit liegt außerhalb von ihr wie in einem Labyrinth. Papier- oder Schreibarbeit eröffnen relativ wenige Interpretationsmöglichkeiten. (Graeber 2016, 65)
Damit hat Graeber präzise das literarische Apriori Ernst von Salomons beschrieben, der sich, kurz gesagt, nicht damit abfinden will, im Labyrinth des Fragebogens ziellos herumzuirren und der deshalb unverdrossen jenes Außerhalb anvisiert, das der Fragebogen wie jedes Formular (zunächst einmal) ausschließt. Obwohl er sich den Fragebogen (nicht zuletzt durch seinen Verleger als Thema seines Buches) vorgeben lässt und die Fragen in seinem Text getreu reproduziert, behält er sich vor, sie in einem anderen als dem formulartechnisch vorgegebenen elliptischen Stil zu beantworten.
Das Formular bzw. der als Formular gestaltete Fragebogen verlangt, dass Lesen und anschließendes Schreiben (›Ausfüllen‹) sich in dafür vorgesehene Felder oder Leerstellen einfügen, statt auf endlosen Seiten Zeilen zu folgen (und gelegentlich zu überspringen) oder aneinanderzureihen, die ein diffuses Publikum, eine ›literarische Öffentlichkeit‹ adressieren. Die Struktur des Fragebogens ist im Kern die einer Liste. Von Salomon arbeitet diese Liste in seinem Text der Reihe nach ab, allerdings so, dass der Fragebogentext von seinen Antworten überwuchert wird, obwohl der Autor kein Jota am Buchstaben des Fragebogens selbst ändert. Von Salomon, so meine These, glaubt, den kommunikativen Pakt zwischen (Besatzungs-)Behörde und Bürger zu brechen, wenn er sich weigert, seine Geschichte in die Kategorien der Verwaltung zu transformieren, und sie stattdessen in allen anekdotischen Details ausfabuliert, wodurch er jede Menge ›unsaubere Daten‹ produziert, also Literatur.Footnote 1 Von Salomon benutzt die Möglichkeiten der Literatur, um die Asymmetrie zwischen fragender Behörde und Auskunftsgebenden zu verkehren. Vor allem macht er sich einen Spaß (mit problematischem Hintersinn) aus der Beantwortung der Fragen, wie beliebig herausgegriffene erste Antwortsätze deutlich machen: Ihre Stellung? »Es ist wohl bedacht, wenn ich mit dem Hinweis beginne, daß an der entscheidenden Ecke meines Lebens eine Frau gestanden hat« (Salomon 2003, 10). – Name? »›Salomo‹ (hebr. Schelomeh, d. h. Friedemann), jüngerer Sohn Davids von der Bathesba …« – Geburtsort: »Der Ort meiner Geburt ist auf jedem beliebigen Globus leicht zu finden« (Salomon 2003, 28). – Gewicht: »schwankend«, worauf immerhin zwei Seiten detailliertere Angaben folgen, gipfelnd in dem Bekenntnis: »Ich bin gerne dick. Ich habe in meinen behäbigen Zeiten bereitwillig Kredit gefunden, ich habe nie so behaglich gearbeitet wie im Gefühl auch körperlicher Fülle« (Salomon 2003, 39) – und schließlich ein letztes Beispiel, das von Salomon zum Anlass für grundlegende Reflexionen über die »Magie der Macht« nimmt:
Haarfarbe: (...) »Von jeher auch wissen die Ämter um die Magie der Macht, die den Einzelnen am sichersten dadurch bannt, daß sie ihn erfaßt. Die Registratur ist die sublimste Form des Terrors […] Ein Mann in der Kartei ist schon so gut wie ein toter Mann. […] Kein Formular hat je ein Amt, das diesbezüglich etwas auf sich hält, verlassen, ohne daß es den Charakter des Steckbriefs angenommen hat. Aber hat der Wahnsinn auch Methode, so kommt immer ein Punkt, an dem sich erweist, daß die Methode selber Wahnsinn ist«. (Salomon 2003, 40 f.)
Die politisch einigermaßen irritierende Nähe dieser Reflexionen zu den Ausführungen Graebers, der dort, wo von Salomon »Magie« sagt, von der Utopie der Bürokratie und ihrer Regeln spricht, springt in die Augen. Weiter heißt es bei von Salomon im Hinblick auf den Wahnsinn der bürokratischen Methode: »In diesem Fragebogen ist es die Frage der Haarfarbe. Diese Frage enthüllt am ehesten den Charakter des Fragebogens als Steckbrief, und gleichzeitig enthüllt sie die Minderwertigkeit dieses Charakters«. Dass »dunkelblond« als Angabe nie gestimmt habe, obwohl Beamte diese Haarfarbe in frühere Formulare umstandslos eingetragen haben, soll den »unglaublichen Leichtsinn« der Zuständigen offenlegen und zugleich den weithin fiktiven Charakter der Angaben belegen: »Ich bin keineswegs dunkelblond und bin es meiner Ansicht nach nie gewesen, ohne daß ich irgendeinen Beleg für meine Ansicht zu bringen vermag.« Jetzt kann von Salomon nur resigniert feststellen: »Caesar hätte seine Freude an mir gehabt, auch was den glatten Kopf betrifft« (Salomon 2003, 41).
Der so entstehende Text entzieht sich, wie man an diesen Beispielen gut sieht, dem Binarismus von Ja/Nein-Antworten auf vorgegebene Fragen ebenso wie er die vom Fragebogen geforderte tabellarische und damit übersichtliche Anordnung der Informationen unterläuft, um die narrativ und konversationell (den Leser häufig direkt adressierende, in ein Gespräch verwickelnde) amplifizierte vita zum ›wahren‹ Maßstab der Beurteilung seiner Schuld zu erheben. Indem die literarische Ausführung bei der Beantwortung der an seinen Autor gerichteten Fragen jedes bürokratische Maß vermissen und sich nicht auf den Raum der vorgesehenen Leerstellen einschränken lässt, kehrt von Salomon im Kern das in den Fragebogen eingelagerte Souveränitätsverhältnis auf imaginäre Weise um und maßt sich selbst die Position des Beamten in eigener Sache an, der über die uneingeschränkte Deutungshoheit seines Lebens verfügt. Statt sein Leben und seine kompromittierenden politischen Aspekte in eine Serie von ausgefüllten Leerstellen zu überführen, beharrt von Salomons Autobiographie (denn um eine solche handelt es sich, vgl. Lejeune 1994Footnote 2) darauf, diese long history im Modus textueller Expansion zu erzählen.
Hätte Ernst von Salomon den Fragebogen allerdings wirklich so genau gelesen, wie er eingangs in ironischer Absicht behauptet,Footnote 3 hätte er verstanden, dass das von ihm beanspruchte Recht zur maßlosen Beantwortung der an ihn gerichteten Fragen keineswegs eine poetische Lizenz ist, eine Freiheit, die er sich als Schriftsteller nimmt und mit der er sich über die Pedanterie des Befehls zum Lückenschluss, den das Military Government of Germany erteilt, hinwegsetzt, um auf diese Weise den Auskunftsbefehl mit seiner politisch motivierten Verweigerung zusammenfallen zu lassen. Der vierseitige Text, den er dem Buch voranstellt, enthält seinerseits eine merkwürdige Lücke. Der blinde Fleck, den von Salomons ›Vorwort‹ produziert, ist das Resultat eines symptomatischen Überlesens einer Bestimmung, die im Text des zitierten Fragebogens unmissverständlich formuliert ist. Ernst von Salomon ›übersieht‹ in seinem so kenntnisreichen und subtilen ›Vorwort‹Footnote 4 ausgerechnet die von Amts wegen und im Fragebogen ausdrücklich erteilte Lizenz zur Überschreitung des Raumes, den die (vielen) Lücken oder blank spaces im Text des Formulars lassen. Er geht schweigend über einen wichtigen Satz hinweg. Der Satz lautet in der deutschen Fassung: »In Ermangelung von ausreichendem Platz in dem Fragebogen können Bogen angeheftet werden« (Salomon 2003, 5). Wenn das Formular der Inbegriff eines Schreibraums ist, auf dem der Platz knapp ist, und zwar ganz bewusst von der fragenden Institution knapp gehalten wird, dann eröffnet die Erlaubnis, Bogen anzuheften, zumal sie in keiner Weise durch quantitative oder stilistische Vorgaben eingeschränkt wird, ausdrücklich die Möglichkeit zu jener literarischen Operation, von der sich von Salomon offensichtlich erhofft, dass sie die Lektüre- oder Datenverarbeitungskapazität der fragenden Institution systematisch überfordert und in ihrer Funktionalität beeinträchtigt.
Susan Leigh Star hat, wie erläutert, zwei Formen der Ergänzbarkeit des Formulars unterschieden: einerseits die standardisierte Ergänzbarkeit, die Lücken, durch deren Ausfüllung die Teile eines Formulars vervollständigt werden können und müssen, und andererseits eine Ergänzbarkeit, die in der Standardisierung nicht vorgesehen ist. Sie könnte aber der Anlass für neue und zukünftige Standardisierungen sein oder der Anlass, auf die Standardisierung für andere Zwecke zu verzichten. Man kann Ernst von Salomons Fragebogen vor diesem Hintergrund als den hypertrophen Versuch verstehen, die standardisierte Ergänzbarkeit durch die Ergänzbarkeit dessen, was angeheftet werden darf, nicht zu ergänzen (so wie die Kritzeleien am Rand von Formularen die ausgefüllten Leerfelder ergänzen), sondern zu ersetzen und diesen Ersetzungsakt als Ausdruck wiedergewonnener Verfügung über den ›Sinn‹ des eigenen Lebens und über die Justiziabilität einer eventuellen politischen Mittäterschaft zu gewinnen.
Indem er den Fragebogen, das bürokratische Formular, zum Anlass einer ausufernden politischen Autobiografie nimmt, die das nationalistische Milieu, dem von Salomon in der Weimarer Republik angehörte, vom nazistischen Regime zu unterscheiden und zu trennen versucht, entzieht von Salomon ihn den bürokratischen Adressaten, für die er eigentlich bestimmt wäre. Korrekt ausgefüllt und mit dem einen oder anderen Bogen versehen, der zur »umfassenden Beantwortung« bestimmter Fragen nötig erscheinen mochte (während von Salomon sogar die Fragen zu Gewicht, Haar und Augenfarbe in Form von »Anlagen« beantwortet), hätte der Fragebogen den zuständigen Spruchkammern zur Prüfung und Abmessung der Schuld vorgelegt werden müssen. Von Salomon entscheidet sich aber dafür, die Fragen des Formulars literarisch zu beantworten und den so entstandenen Text einem Publikum vorzulegen, das der alliierten Militärregierung rundheraus die Kompetenz und das Recht absprach, in zentralen politischen Fragen, die Deutschland und Fragen der eigenen Schuld betreffen, ein Urteil zu haben.
Fragebogen und Liste
Die Struktur des Fragebogens ist im Kern die einer Liste. Listen ähneln Jack Goody zufolge Tabellen und Formeln und stehen dem »Fluß und der Verbindungslogik der gewöhnlichen Form der Rede – Gespräch, Vortrag etc. – geradezu entgegen« (Goody 2002, 349). »Normalerweise«, so Goody, »sind Wörter in Sätze eingebettet« und nicht isoliert in Spalten angeordnet: »In den vorliegenden Listen ist genau dies nicht der Fall. Die Wörter stehen allein da, sie sind allenfalls durch Ziffern miteinander verbunden, arithmetisch angeordnet in der Art einer Addition« (Goody 2002, 360). Die administrativen Listen, für die auch der Fragebogen ein Beispiel ist, begnügen sich mit kurzen, »›separaten‹ Sprachstücken« (Goody 2002, 360) als Antworten, die gar nicht erst die Form von Sätzen annehmen. Die Wort- oder Begriffsensembles, die Listen produzieren, erzeugen einen Dekontextualisierungseffekt.
Es ist genau dieser Effekt, den von Salomon im Fragebogen rückgängig zu machen versucht: Die Daten, die in den Fragebögen erster Ordnung, sofern nichts angeheftet wurde, nur eingehen konnten, indem sie von der sozialen Situation, der sie entnommen worden waren, und ihren Motivationsketten weitgehend abstrahierten, werden im Fragebogen zweiter Ordnung, dem Text der Autobiografie, wiedereingebettet, also mit dem ganzen Kontextwissen angereichert, das dem Autor zu ihrem ›Verständnis‹ nötig erscheint – wie immer er dieses Wissen auch fabulatorisch und apologetisch modifiziert. Von Salomon hält sich viel darauf zugute, listig mit der Liste (Löffler 2006, 200) und ihren diskursiven Besonderheiten umzugehen. Weil er nach einjährigen Aufenthalten in amerikanischen Internierungslagern als »irrtümlich Verhafteter« (erroneous arrestee) entlassen wurde (Hermand 2002, 16 f.), fiel er nicht unter das Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus und musste den Fragebogen daher auch nicht ausfüllen. Dass er es dennoch tat, war nicht einmal seine eigene Idee. Der Fragebogen erweist sich als eine Auftragsarbeit, wie von Salomon in einem Brief an Alfred Kantorowicz schreibt: »Rowohlt sagte mir, daß ich, wenn ich irgend etwas publizieren wolle, den großen Fragebogen ausfüllen müsse. Er gab mir so ein Ding und ich machte mich daran, die Fragen einzeln zu beantworten« (Klein 1994, 266). Ausgerechnet den Fragebogen, der doch die »Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus« versprach, funktioniert von Salomon zu einem Medium der nationalpolitischen Erneuerung Deutschlands um. Indem er ihn zum Anlass einer ausufernden Autobiografie nimmt, begräbt er ihn nicht nur unter der endlosen Geschwätzigkeit von Anekdoten, sondern entzieht ihn zugleich auch den institutionellen Adressaten, für die er eigentlich bestimmt ist. Wenn es stimmt, wie Hannah Arendt schreibt, dass die Entnazifizierungskampagne eine »ungute neue Interessengemeinschaft« der Kompromittierten hervorbrachte, die sich »systematisch untereinander versicherten, daß die ganze Angelegenheit nicht so ernst zu nehmen sei« (Arendt 1989, 55),Footnote 5 dann ist von Salomons Der Fragebogen der literarisch eloquente Ausdruck dieser Haltung. Die Staatsangehörigkeit, die er sich zuschreibt, ist, um derartigen (nicht selbst gestellten) Fragen nach der eigenen politischen Schuld während des NS-Regimes oder an seiner Entstehung auszuweichen, konsequenterweise retrofiktiv, ein Vorgang, der bis in die politischen Zugehörigkeitsbehauptungen und Jurisdiktionsansprüche nachwirkt, wie sie von sogenannten ›Reichsbürgern‹ aufgestellt und gelegentlich auch mit Waffengewalt gegen staatliche Autoritäten verteidigt werden. Die Überschreibung seiner tatsächlichen politischen Zugehörigkeit nach 1945 durch eine historisch gewordene Pseudoidentität klingt bei von Salomon entsprechend so: »Ich bin Preuße. Die Farben meiner Fahne sind schwarz und weiß« (Salomon 2003, 45).Footnote 6 Zu dieser Fiktionalisierung der politischen Zugehörigkeit greift er auch deshalb, weil er ›den Amerikanern‹ zur großen Genugtuung seiner Leserschaft mit dem Rückgriff auf historisches Schulbuchwissen elementare historische Vergesslichkeit ausgerechnet in Sachen Preußen attestieren kann: Friedrich der Große war der »erste Monarch des alten Kontinents […], welcher mit der freiheitsliebenden und unabhängigen Republik des großen Washington in freundschaftliche Verbindungen trat« (Salomon 2003, 46).
Die Rekontextualisierung der Daten, die der Fragebogen verlangt, wird aber nicht erst auf der Ebene der politischen Zugehörigkeit wirksam, die über Leben und Tod entscheidet, sondern schreibt sich bereits in den Eigenamen und damit die familiale Genealogie ein. Selbst die Fragen, die sich auf den Familienstand des Befragten beziehen, nimmt dieser zum Anlass, die erfragten Daten einer sofortigen Fiktionalisierung zu unterziehen:
Bei dieser und noch weiteren, sich über eine Seite hinziehenden Angaben handelt es sich zufolge des Schriftstellers, der auch hier um philologische Korrektheit bemüht ist,Footnote 7 um ein Zitat aus dem Großen Brockhaus »in der Ausgabe von 1898« (Salomon 2003, 26), ein Lexikon, das seinerseits in Form einer Liste (von Lemmata) organisiert ist, die sich der Dichter für sein Werk zunutze macht. Zu den ersten überlieferten Listen überhaupt gehören bekanntlich Königslisten. Für diese wie für andere Listen ist nun aber nicht nur das Aufzählen, sondern der »Klassifikationsakt« (Goody 2002, 380) und die aus ihm resultierende Verbindlichkeit einer Unterscheidung maßgeblich. Das Schreiben in Listen führt zu einer »Schärfung der Kategorien in ihren Umrissen« sowie zu »Hierarchiebildung innerhalb des Klassifizierungssystems« (Goody 2002, 382). Von Salomon rückt durch den von ihm selbst vorgenommenen Klassifikationsakt aber nicht nur in eine Reihe mit König Salomo, ein Zusammenhang, der sich allein auf der Basis phonetischer Äquivalenzen herstellt. Die Antwort auf Frage 18 (»Aufzählung aller Ihrerseits oder seitens Ihrer Ehefrau oder Ihrer beiden Großeltern innegehabten Adelstitel«) nimmt er zum Anlass, die Familien- bzw. Verwandtschaftsforschung, an der er selbst keinerlei Interesse habe, insgesamt als politisch motivierten Prozess vorzuführen, der überhaupt erst durch das totalitäre Projekt der NS-Ahnenforschung ausgelöst wurde.Footnote 8
Von Salomon kann sich bei seinem Versuch, fiktive Genealogien zu erfinden, einen medientechnisch spezifizierbaren Gebrauch der Liste zunutze machen. Denn wenn es die von Goody herausgestellte Wirkung der Liste ist, einer Sache dabei zu helfen, »unzweideutig oder wenigstens eindeutiger zu werden« (Goody 2002, 377), dann vermag ein anderer, spielerischer Gebrauch der Liste, wie er bereits für deren früheste Verwendungen nachweisbar ist (nämlich dort, wo die Listenführung z. B. im schulischen Kontext eingeübt wurde), die vermeintliche Eindeutigkeit wieder aufzulösen, auf die der Fragebogen und das genealogische Auskunftsbegehren abzielen:
Ich habe mich niemals viel um die Geschichte meiner Familie gekümmert. Es lag kein Anlaß vor, dies zu tun, wir waren zu offensichtlich ohne ›Ar und Halm‹, gänzlich von Boden und Besitz entbunden und durch nichts an ruhmreiche Traditionen erinnert. Der Gothasche Taschenkalender, jenes Standard-Werk, das sich der Adel geschaffen hat, in welchem jedes Geschlecht seine Ahnentafel aufgezeichnet findet, soweit sie bekannt und belegt ist, weiß ebenfalls nichts Rechtes mit unserer Familie anzufangen. Es ist da von einem geheimnisvollen venezianischen Edelmann die Rede, der unerwartet aus dem Dunkel der Geschichte an gänzlich unvermutetem Ort auftauchte, sich als Stammvater etablierte und verging, ohne genauere Auskunft zu geben. (Salomon 2003, 53)
Ausgerechnet der Stammvater erweist sich damit als ein fragebogentechnisch höchst unzuverlässiger Ausgangspunkt der Genealogie: Auftauchen und Verschwinden, oder wie es im Weiteren heißt, in der Lage zu sein, »plötzlich den Hut vom Haken [zu] nehmen und [zu] gehen« (Salomon 2003, 78), ist der Inbegriff eines Verhaltens, das der Klassifizierbarkeit und fragebogentechnischen Erfassung der Welt entgegensteht. Ernst von Salomon will in der Situation nach 1945 seinem fiktiven Stammvater aus durchsichtigen Gründen ausgerechnet in diesem Punkt die Treue halten: Sein ›dickes Buch‹ ist trotz allem, was es zu erzählen weiß, einzig darum bemüht auch über die Zeit zwischen 1933 und 1945 viel zu erzählen, aber keine genauere Auskunft zu geben.
Notes
- 1.
Dass Literatur ihrerseits ein spezifisches Verhältnis zur Formel und zum ›Formular‹ hat, dass die Freiheit des Schreibaktes sich rhetorischer Techniken verdankt, die die Spielräume des historisch und kulturell Sag- und Darstellbaren festlegen, muss von Salomon ausblenden, der sein Schreiben ja als einen Akt ›eigensinnigen‹ Widerstandes gegen die vermeintlichen Zumutungen eines bürokratischen Auskunftsbegehrens anpreist, womit er zugleich den politisch-bürokratischen Zivilisationsbruch des NS-Regimes und seine eigene Involviertheit in die Geschichte, die ihn möglich gemacht hat, herunterspielt.
- 2.
Wenn der Name des Protagonisten mit dem des Autors identisch ist, liegt eine Autobiografie vor, argumentiert Philippe Lejeune – und das gilt auch dann, wenn der kritische Leser Widersprüche zwischen dem berichteten und dem tatsächlichen Leben des ›Protagonisten-Autors‹ erkennt. Die autobiografische Wahrheit tritt im Falle des Fragebogens sogar in erklärte Konkurrenz mit einer bürokratischen Wahrheit, die ja ausdrücklich die rechtsverbindliche Feststellung der Identität der Person sowie aller von ihr schriftlich gegebenen Auskünfte umfasst. Sie manifestiert sich in der Unterschrift des Auskunftsgebenden, eine Geste, die von Salomon daher am Ende seines Texte ausdrücklich wiederholt – in parodierender Absicht, denn kein literarischer Text, auch keine Autobiografie, muss durch eine Unterschrift beglaubigt werden, da sie nicht in behördlichem Auftrag angefertigt wird.
- 3.
»Ich habe nun den gesamten Fragebogen sorgfältig durchgelesen. Ich habe ihn sogar, ohne dazu besonders aufgerufen zu sein, mehrfach durchgelesen, Wort für Wort, Frage für Frage, die Sätze in deutscher und die in englischer Sprache.« (Salomon 2003, 5).
- 4.
Die vier Seiten, die von Salomon seinem Text voranstellt und die keinen Titel tragen, vollziehen eine interessante Bewegung. Sie insistieren einleitend auf einer genauen Lektüre des Fragebogens, die sich am Ende sogar zu einer philologisch-pedantischen Kritik an sprachlichen Ungenauigkeiten der englischen Fassung steigert. Danach wird die politische Dimension des Fragebogens historisch und ›kritisch‹ entfaltet (u. a. mit gelehrten Hinweisen auf Schiller und Marx), wobei auch Überlegungen zur institutionengeschichtlichen Herkunft des behördlich ausgegebenen Fragebogens aus der christlichen »Ohrenbeichte« (Salomon 2003, 6) und ihren Sündenkatalogen angestellt werden. Am Ende markiert der Text seinen ›nationalpolitischen‹ Einsatz (wie er ganz ähnlich in bestimmten Essays Ernst Jüngers aus dieser Zeit vorgetragen wird), indem er eine »andere Möglichkeit« beschwört, die in der »Unterwerfung« unter den Fragebogen »beschlossen« liege: Der Fragebogen sei »angenehm umfangreich. Gerade die Fülle seiner Fragen bedingt eine Fülle von Antworten.« Dieses diskursive Paradox wird zudem machttheoretisch ausgebaut: »Es gehört zu den merkwürdigsten Erscheinungen, daß jede Macht in sich eine eigene Gegenkomponente entwickelt, die einzige Gewalt, durch die sie gestürzt werden kann« (Salomon 2003, 8).
- 5.
Arendt hebt ausdrücklich auch Gründe für diese Haltung hervor, die im europäischen Rechtssystem liegen, das die »Zeugenaussage in eigener Sache nicht zuläßt«, so dass man »Befragungen« mit Misstrauen begegne.
- 6.
Der Fragebogen wird vom Rowohlt Verlag unverdrossen als »einer der größten Bucherfolge unserer Zeit« beworben. Man fragt sich, wie weit diese Zeit eigentlich reicht, also ob man auch heute noch von »unserer Zeit« sprechen kann – zumal, wenn man bedenkt, dass der Umschlag des Buches weiterhin in den Farben des Deutschen Kaiserreichs prangt: Schwarz, Weiß, Rot.
- 7.
Das ›Vorwort‹ endet mit einer philologischen Maßregelung: »Unter Frage 131 [Kenntnis fremder Sprachen und Grad der Vollkommenheit, FB] wird man die Antwort finden, daß meine Kenntnis der englischen Sprache sehr gering ist, lachhaft gering, aber doch nicht so gering, daß mir nicht der fürchterliche Verdacht aufsteigen konnte, gleich die ersten Worte des Fragebogens müßten schon zwei Druckfehler enthalten« (Salomon 2003, 9).
- 8.
»In den Jahren der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland freilich bestand wegen des verdächtigen Beiklangs unseres Namens hinreichend Anlaß, sich näher mit meiner Familie zu befassen« (Salomon 2003, 54).
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Balke, F. (2021). Ausfüllen/Überfüllen. Wie Ernst von Salomon den ›großen Fragebogen‹ beantwortet. In: Plener, P., Werber, N., Wolf, B. (eds) Das Formular. AdminiStudies. Formen und Medien der Verwaltung, vol 1. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64084-5_8
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